Читать книгу Urod - Die Quelle - Sarah LeVine - Страница 4

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Kapitel 2

Eine letzte Angelegenheit war noch zu erledigen, bevor alles enden würde.

Wie ein Schwall Wasser brach die permanente Geräuschkulisse über sie herein, sobald ihre Konzentration nachließ. Ihr Gehör nahm selbst feinste Nuancen wahr. Stimmen, Verkehrslärm, Schritte, das Atmen und Schnaufen des Mannes vor dem Haus, der mit seinem Besen über den Asphalt schrabbte, das Säuseln des Windes, das Tänzeln der Blätter, die sanft den Boden berührten und wieder in die Luft stiegen, um sich gegenseitig zu necken.

Das Knattern des Mofas - es war noch mehrere Kilometer entfernt. Sie zwang sich, sich zu konzentrieren, isolierte es und blendete alles andere aus. Nun hörte sie, wie es sich näherte, wie es Kurven nahm und die Geschwindigkeit verringerte, kurz abbremste und dann, wütend, wieder an Tempo gewann.

Sie hörte Geräusche, von denen sie vorher gar nicht wusste, dass sie existierten. So vielfältig war das Leben auf dieser Erde. So wundervoll.

Die anderen wussten es nicht. Sie verstanden nicht, dass sie sich inmitten eines paradiesischen Kaleidoskops der Sinneseindrücke befanden. Sie lebten dieses versperrte, verrammelte Dasein. Die überbordende Synästhesie ging einfach an ihnen vorbei. Sie rochen nicht, sie hörten nicht, sie sahen nicht.

Alles hier war eins. Alles erzählte eine Geschichte. Alles bebte und war verbunden in einer solch bestürzenden Melodie, dass es einem die Tränen in die Augen trieb.

Sie wollte das nicht verlieren, denn es erschien ihr so richtig. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie. Das Suchen hatte ein Ende. Alles war da. Es war immer da gewesen, aber erst jetzt war sie in der Lage, es zu begreifen. Erst jetzt ergab alles einen Sinn.

Doch schon bald würde auch sie diese Dinge nicht mehr zu schätzen wissen. Die Gleichgültigkeit hatte sie bereits befallen. Sie spürte sie herannahen wie das ferne Donnergrollen eines Gewitters, das immer näher kam.

Das Empfinden ihres eigenen Körpers, der sich in einen fremden verwandelte, nahm mehr und mehr Raum ein. Sie hatte versucht es aufzuhalten. Bei Gott das hatte sie.

Als es anfing, als sie es zum ersten Mal bemerkte, hatte sie sich in ihrer Verzweiflung ganze Hautlappen weggeschnitten. Doch es hörte nicht auf. Und ihre Wunden verheilten schnell. Viel zu schnell.

Da wusste sie, dass auch sie verdammt war.

Sie musste jetzt handeln. Denn ihre Verzweiflung wurde mit jedem Tag kleiner. Im selben Maß, in dem der Hunger wuchs. Er schwoll an zu einem reißenden Fluss, dessen wilde Strömung sie mit sich fort trug. Diese hysterische Gier, alles zu verschlingen, was ihr zwischen die Finger kam. Sie konnte sich immer seltener zähmen. Das widerte sie an. Sie kämpfte dagegen. Kämpfte und verlor doch viel zu oft. Der Hunger würde alles verdrängen. Würde ihr Lebensinhalt sein. Nicht mehr lange und es wäre ihr egal, was aus ihr geworden war. Nicht mehr lange und nichts anderes hätte noch Bedeutung. Nichts als Nahrung.

Das Dröhnen des Mofas draußen auf der Straße wurde sehr laut und erstarb kurz darauf. Sie hörte ein dumpfes Schnappen, dann ein Klappern - der Pizzakurier nahm die Pizza aus einem Behältnis. Das Knirschen seiner Lederjacke verriet ihr, dass er den Arm ausstreckte, um zu klingeln. Sie kam ihm zuvor, drückte den Türsummer und flüsterte "Zehnter Stock". Ihre Kehle war ein raues, kratziges Stück Sandpapier.

Dann das monotone, mechanische Summen des Aufzugs. Als der Kurier den Flur ihres Stockwerks betrat, war es nicht der Pizzageruch, der sie überwältigte. Es war seiner. Es war ein junger Geruch. Ein männlicher Geruch. Sie roch das Nikotin und den Teer auf seinen Händen, nahm den Uringestank seiner Unterhose wahr, seinen Schweiß, den Knoblauchdunst seines Atems, den süßlich-fauligen Geruch seiner Füße, so durchdringend wie der eines überreifen Apfels. Und den zarten, unendlich feinen Geruch seines festen, jungen Fleisches.

Hastig verkroch sie sich im dunkelsten Schatten des Raumes. Alles lag bereit. Der Draht. Die Benzinkanister. Polly miaute in ihrem tragbaren Käfig. Sie miaute so kläglich. Es brach ihr das Herz. Und dennoch regte sich da noch etwas in ihr. Ein Verlangen, das sie immer noch erschreckte. Sie anekelte.

Sie atmete den Geruch der Katze ein. So verführerisch. Ihre Hand bewegte sich langsam in Richtung des Käfigs. Die Katze fauchte ängstlich.

Im gleichen Moment klopfte es an der Tür.

„Komm rein, es ist offen!“ flüsterte sie so laut sie konnte. Trotz des Flüsterns klang ihre Stimme als seien die Stimmbänder aus einem unbiegsamen, spröden Metall, das jeden Moment brechen konnte.

Vorsichtig wurde die Tür aufgestoßen und das grelle Licht des Flurs drang in den dunklen Raum. Sie entwischte noch weiter zurück in die Düsternis. Der Kurier blinzelte und schien zu warten, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Er war irritiert. Zögerte, näher zu kommen. In sein junges Gesicht hatten sich noch keinerlei Lebensspuren eingegraben. Es war saftig, prall, lebendig und stark.

Ein undefinierbares Rauschen drang durch den Raum. Sie bekam sofort Panik .

„Was ist das für ein Geräusch?“

„Keine Ahnung, was Sie meinen...“

„Irgendwas Mechanisches. Du hast es mit reingebracht."

Der Junge schaute fragend in ihre Richtung.

„Ausmachen! Sofort!“ befahl sie.

Die Panik schraubte ihre Stimme in die Höhe und der Junge verzog das Gesicht, als hätte jemand mit seinen Fingernägeln über eine Tafel geschrappt. Er überlegte fieberhaft, was sie meinen könnte, dabei war ihm deutlich anzusehen, dass er sie für eine Verrückte hielt. Er zuckte hilflos die Achseln.

„Da ist nichts, das..."

Plötzlich hielt er inne und wurde verlegen. Ungläubig starrte er in die Dunkelheit, aus der ihre Stimme kam.

„Das können Sie doch unmöglich hören."

Er zog sein T-Shirt hoch. Darunter kam eine Art Bauchgurt zum Vorschein. Von ihm ging das Geräusch aus. Ein elektronisches Gerät zum passiven Trainieren der Bauchmuskeln. Der Junge fummelte an seinem Hosenbund herum und das Geräusch verstummte. Seine Körperhaltung war gespannt, um jederzeit aus der Wohnung sprinten zu können. Sie musste ihn beruhigen, bevor er es sich anders überlegte.

„Siehst du den Katzenkäfig da? Unter dem Käfig liegt ein Umschlag. Darin findest du eine kleine Kassette und die Adresse, zu der du sie und Polly bringen sollst…“

Der Kurier nickte zwar, beeilte sich aber zu erklären, dass er nur zum Pizza-Ausliefern gekommen war. Sie brachte ihn mit einem Zischen zum Schweigen. Erschrocken verstummte er.

Das Geld darin ist für dich.“

Das interessierte den Burschen dann doch. Er ging zum Käfig und warf einen Blick in den Umschlag. Sein anerkennender Pfiff sagte alles. Er würde den Auftrag in jedem Fall erledigen. Sie hatte es gewusst. Wie leicht waren sie zu durchschauen. Wie armselig ihre Wünsche.

Wow – also dafür kriegt die Muschi hier noch 'n paar Extra-Streicheleinheiten.“

Das Geld hatte ihm neues Selbstbewusstsein verliehen. Seine Naivität amüsierte und verärgerte sie zugleich und für einen Moment loderte der Impuls in ihr auf, sich ihm zu zeigen. Gleichzeitig erschrak sie über ihren Gedanken und versuchte den Jungen nun so schnell wie möglich loszuwerden.

Das ist alles. Du kannst jetzt gehen. Und beeil dich!“

Er ließ sich das nicht zwei Mal sagen, schnappte sich den Käfig und war bereits auf dem Weg zur Tür, als sie ihn aufhielt.

Warte!“

Er drehte sich um.

Die Pizza – lass sie hier.“

Ich dachte, Sie wollten... Egal! Soll ich sie Ihnen rüber bringen?"

Nein!“

Ihr Schrei glich einem Gurgeln. Der Junge zuckte zusammen und schauderte unwillkürlich. Dann stieß er die Pizza mit seinem Fuß über den glatten Boden und verließ, ohne sich noch einmal umzusehen, den Raum. Er hastete zum Aufzug und hämmerte auf den Knopf ein, der ihn in Sicherheit bringen würde. Seine Angst roch metallisch und scharf. Sein Herz pochte schnell und laut. Der Aufzug schloss die Türen und setzte sich in Bewegung. Der Atem des Jungen beruhigte sich allmählich.

Sie stellte sich vor, wie sie die Treppen nach unten rannte. Wie sie sich vor den Aufzug stellte und in dem Moment, in dem sich die Aufzugtüren öffneten ihre Zähne in sein makellose Haut hieb, sein Blut kostete, seine Wange herausriss und das zarte Fleisch auf ihrer Zunge zergehen ließ.

Nein! Das durfte nicht sein. Niemals!

Sie wartete, bis sie das Rattern des Mofas hörte, das sich eilig entfernte und atmete auf. Dann langte sie nach der Pizza und verschlang sie, ohne zu kauen. Der heiße Käse klebte an ihrem Gaumen und verbrannte die seidige Haut dort. Sie spürte den Schmerz kaum. Obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, vermisste sie den Schmerz. Konnte ihn nicht gehen lassen und klammerte sich daran wie ein Baby an die Finger seiner Mutter. Sie hielt nicht inne, bis sie die Pizza vertilgt hatte, die ihren Hunger lediglich besänftigte.

Dann war es soweit.

Mit schnellen, geschmeidigen Bewegungen wickelte sie den Draht von der Spule und dann um jedes einzelne ihrer Gelenke. Obwohl er ihr ins Fleisch schnitt, genoss sie seine Festigkeit. Das Drahtgeflecht gab ihr Halt. Bestärkte sie in dem, was sie vorhatte. Nahm ihr einen Teil der Furcht. Wenn auch längst nicht alles. Als auch ihr Hals umwickelt war, rollte sie den Rest der Spule ab und befestigte das Ende des Drahtes am Heizkörper. Sie näherte sich einem Kanister und schraubte den Deckel ab. Der Benzingeruch fraß sich durch die Luft wie Säure durch Metall und bereitete ihr Übelkeit. Sie verteilte es in der ganzen Wohnung, dann öffnete sie einen zweiten Kanister, dessen dickflüssigen Inhalt sie sich über den Kopf goss. Der beißende Gestank nahm ihr den Atem. Dann endlich war auch diese Dose geleert. Mühevoll schleppte sie sich zum Fenster und öffnete es. Eine Windbö bauschte die Vorhänge auf, die sie umfingen und an ihrem Körper kleben blieben.

Wie eine letzte Umarmung“, dachte sie und das Bild ihrer Geliebten tauchte vor ihrem inneren Auge auf. So deutlich und lebendig als stünde sie vor ihr. Sie hätte sie so gerne noch ein letztes Mal gesehen. Sie gerochen und berührt. Allein, es wäre zu gefährlich gewesen. Und auch diese Sehnsucht begann bereits zu verblassen, versank mehr und mehr in der Apathie, die sie bald völlig in ihren sirupartigen Fängen halten würde.

Sie stellte sich auf das Fensterbrett und ließ ihren Blick über die nächtliche Stadt schweifen, deren Lichter in der Dunkelheit schimmerten wie ein Echo des sternenübersäten Himmels. Unter ihr fand auf einer Terrasse eine Party statt. Elegant gekleidete Menschen, die sich miteinander unterhielten. Angenehme Musik, klingende Gläser, Lachen und Schmatzen, das Rascheln von Stoff, das Klackern von Absätzen, das Klirren der Eiswürfel in einem Glas, das Gluckern, wenn Getränke nachgeschenkt wurden. Sie konnte jedes Wort verstehen. Eine Konfirmation wurde dort gefeiert. Ein Mädchen trat einer Gemeinde bei. Gehörte nun zu ihnen. Betete mit ihnen zum selben Gott. Glaubte, jetzt ein Teil des Ganzen zu sein.

Wie erbärmlich sie waren.

Sie konnte in ihren Stimmen lesen wie in einem Buch. Jede Nuance war so klar und deutlich, jede Falschheit und Lüge, jeder Schmerz so offensichtlich, dass sie sich wunderte, warum diese Menschen beieinander waren. Doch da war noch etwas anderes. Sie spürte den Stolz und die tiefe Liebe, die die Mutter des Mädchen für ihre Tochter empfand. So viel Liebe.

Wie beneidenswert sie waren.

Diese Menschen, die aus einer anderen Welt zu kommen schienen. Nicht ihre Welt.

Denn ihre war der direkte Weg in die Hölle.

Es war gut, sie zu sehen und zu hören, denn für sie würde sie tun, was zu tun war. Für ihre Rettung.

Sie nahm das Feuerzeug und zündete sich eine Zigarette an. Zwei, drei kräftige Züge, dann hielt sie das glühende Ende an ihr Haar. Es dauerte nur Sekunden und ihr Haarschopf stand in Flammen, die sofort auf die Vorhänge und den Rest ihres Körpers übergriffen.

Jetzt spürte sie den Schmerz. Welch unerträgliche Marter. Sie wollte aus ihrer Haut fahren, sie abstreifen wie ein peinigendes Kleidungsstück. Jetzt wollte sie wirklich sterben. Jetzt konnte sie es. Wie ein Adler seine Schwingen breitete sie die Arme aus und stürzte kopfüber in die Finsternis.

Die Gäste der kleinen Terrassen-Party blickten allesamt verwundert in den Himmel, als etwas Brennendes auf sie herabstürzte. Was sollte das werden? Hatte ihr Gastgeber das arrangiert? Eine Performance? Ein brennender Drache? Was?

Es dauerte Sekundenbruchteile, dann wurde ihnen klar, dass es sich um einen Menschen handeln musste, der da vom Himmel fiel. Und genau in dem Moment, in dem sie diese Monstrosität begriffen, spannten sich die Drähte um den Leib der Frau und es gab ein Geräusch, als risse man Seide entzwei.

Die abgetrennten Körperteile platschten auf die Terrasse wie schwere, nasse Laken. Der Kopf knallte auf den Boden und barst wie eine reife Melone. Versengtes, noch loderndes Fleisch. Ein durchdringender Geruch breitete sich aus. Doch unter dem ätzenden Benzingestank roch es gut. Es roch nach gegrilltem Steak. Wie bei einem Barbecue. Und es war genau dieser Geruch, den niemand der Anwesenden je vergessen sollte.

Die Hitze hatte die Luft in einen flirrenden Schleier

verwandelt und die Straße, die sich durch das sperrige

Bergmassiv der bulgarischen Rhodopen schlängelte, war

genauso marode wie der altersschwache, mit Reklame

zugekleisterte Bus, Marke Ikarus, der schwarze

Dieselwolken auskeuchte. Tiefe Krater hatten sich in die

zerfurchte Straße gefräst und machten ihr Befahren so

mühselig wie irgend möglich.

Obwohl mehrere Fenster geöffnet waren, bekam Viola in der stickigen Luft Beklemmungen. Ihre langen, dunklen Haare klebten ihr im Nacken, ihre blasse Haut und das Weiße ihrer dunkelblauen Augen waren von einer feinen Röte überzogen. Ihre Füße erschienen ihr dick wie Kürbisse, so sehr pulsierte das Blut darin. Als würde es kochen. Zudem verursachte ihr das Geschaukel beim Erklimmen der Serpentinen Übelkeit. Die Luft im Bus war erfüllt von Abgasen und so durchdringendem Schweißgeruch, dass Viola Angst hatte, er würde sich in jede ihrer Poren schleichen und dort verharren, bis sie ihn mit einer Wurzelbürste wieder heraus schrubbte. In der Hoffnung auf eine kleine Erfrischung, band sie sich die Haare zusammen und beugte sich vor, um ihr Gesicht in den Fahrtwind zu halten. Dabei stützte sie sich dabei mit den Ellbogen auf Sebastian, der mit geöffnetem Mund neben ihr schlief, als läge er im bequemsten Bett und nicht mal zuckte, als sie ihr Gewicht auf seine Schenkel verlagerte. Viola beneidete ihren Verlobten um diese Gemütsruhe. Er konnte immer und überall schlafen, ungeachtet der Bedingungen. Jetzt lief ihm ein kleines Speichel-Rinnsal aus dem geöffneten Mund an seinem Kinn herab, wodurch er verletzlich und schwach wirkte und Viola empfand für einen winzigen Moment große Zärtlichkeit für ihn. Eine Zärtlichkeit, die ihr ins Herz schnitt. Schnell hielt sie ihr Gesicht in den warmen Wind, der sie kein bisschen abkühlte. Da hätte sie sich auch einen Fön ins Gesicht halten können. Nach einer Weile gab sie es auf und ließ ihren Blick schweifen.

Der Bus war gerappelt voll. Die meisten Fahrgäste schienen aus der hiesigen Gegend zu kommen. Bulgaren, die sich träge in ihren Sitzen räkelten, vor sich hin dösten und die Hitze gelassen nahmen. Einige von ihnen schienen dagegen immun zu sein, trugen sie doch langärmelige Shirts und ein paar Männer hatten sogar Jacken an. Viola stöhnte bei der Vorstellung, derart dick verpackt in diesem Backofen ausharren zu müssen. Das Dröhnen des Busses vermischte sich mit den Schnaufern der Schlafenden und dem halblauten Gemurmel zweier Bulgarinnen, die sich offenbar amüsante Anekdoten erzählten.

Ihr Blick blieb schließlich an Thomas hängen. Im Gegensatz zu Sebastian, der groß und athletisch war und ein Gesicht hatte, das wie gemeißelt schien, war Thomas schmal und wirkte schlaksig. Seine Hände waren so zart und feingliedrig wie die einer Frau, seine dunklen Augen hatten etwas Undurchdringliches und wirkten auf Fremde oft abweisend. Seine Haut war von kühler Blässe, als habe sie die Sonne noch nie gesehen und er strahlte eine solche Zerrissenheit aus, dass man in seiner Nähe unwillkürlich nervös wurde. Dennoch hatte seine tiefgründige Ausstrahlung etwas Magisches. Viola hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, sie müsse erforschen, was in Thomas verborgen schien. Sein Geheimnis lüften. Er zog sie an wie das Feuer einen Frierenden. Thomas' dunkelbraune Haare hingen ihm nun wirr ins Gesicht, das sogar im Schlaf etwas Gequältes ausstrahlte. Sie kannte den Grund dafür und es tat ihr weh, ihn so zu sehen, aber sie konnte ihm nicht helfen. Sie konnte einfach nicht.

Sie strich sich über die Stirn, als wolle sie ihre trüben Gedanken beiseite wischen und vertiefte sich in den Anblick der Landschaft, durch die sie fuhren. Bedrohlich und erhaben türmten sich die Wände des Gebirges neben ihnen auf. Eine ursprüngliche Kraft ging von ihm aus, eine Unnahbarkeit, die suggerierte, dass es der Menschheit trotzen würde. Nicht bereit, sich ihr zu unterwerfen. Seine Wülste und schorfige Oberfläche wirkten abweisend und alarmierend wie der schwarz-gelb geringelte Leib einer Wespe.

In dem Moment ging ein kräftiger Ruck durch den Bus und Viola wurde gegen den Vordersitz geschleudert. Gepäckstücke wirbelten durcheinander und weckten die Schlafenden unsanft aus ihren Träumen. Der Busfahrer hatte fluchend scharf abgebremst. Eine Weile herrschte Verwirrung und Chaos. Die Mitreisenden versuchten sich zu orientieren. Lautes Stimmengewirr komplettierte das Durcheinander. Was war passiert? Alle blickten sich um, auf der Suche nach dem Grund für diesen unwillkommenen Halt. Der Fahrer hatte die Türen geöffnet, war nach draußen gesprungen und stand jetzt schnaufend vor seinem Bus. Einige der anderen Fahrgäste folgten neugierig. Viola sah durch die verdreckte Fensterscheibe hinaus, konnte jedoch nichts erkennen. Sie reckte den Hals und erhaschte einen Blick auf die Windschutzscheibe, auf der ein riesiger Blutfleck prangte. Jedenfalls nahm Viola an, dass es Blut war, denn seine braunrote Farbe erinnerte eher an flüssigen Rost. Erschrocken stieß sie Sebastian, der immer noch schlief, kräftig in die Seite. Er stöhnte auf und rührte sich endlich. Violas Augen suchten die von Thomas und auch er hatte besorgt zu ihr herüber gesehen, wandte aber sofort seinen Blick ab, als sich ihre Augen begegneten. Herzhaft gähnend und sich ausgiebig streckend, gab Sebastian Viola einen Kuss. Sein Atem roch faulig.

„Schatz, hab ich mit offenem Mund geschlafen? Ich habe das Gefühl, die ganze Sahara verschluckt zu haben!“

Viola schüttelte ungläubig den Kopf.

„Hast du denn gar nicht gemerkt, dass wir einen Unfall hatten?“

„Wirklich?“

Sebastian wartete Violas Antwort gar nicht erst ab. Er sprang im Nu von seinem Sitz auf, quetschte sich an ihr vorbei und eilte nach draußen. Viola seufzte. Eigentlich hatte sie keine Lust aufzustehen, Trägheit und Erschöpfung hielten sie fest in ihrem Griff. Als sie sich schwerfällig erhob, schienen ihre Füße fast zu platzen, der Schweiß hatte ihre Hose an ihren Hintern gepappt und sie fühlte sich klebrig und unsauber. Nachdem sie sich aus ihrem Sitz bugsiert hatte, stieß sie mit Thomas zusammen, der regelrecht zurückzuckte. Er ließ ihr den Vortritt und folgte ihr nach draußen zu Sebastian, der bei dem Fahrer stand und zusammen mit ihm auf eine am Boden kniende Gestalt mit einem knallroten, breitkrempigen Hut hinabsah. In beider Gesichter prangte der gleiche fassungslose Gesichtsausdruck.

Als Viola sich näherte, erkannte sie die zierliche Frau, die dort kauerte. Es war Lea. Eine ihrer Kommilitoninnen und weiteres Mitglied ihrer kleinen Gruppe, die auf dem Weg zu einem Archäologie-Praktikum waren. Viola hatte mit Lea noch nie mehr als ein paar Begrüßungsworte gewechselt. Erst als sie erfahren hatte, dass Lea auch mit nach Bulgarien zu den Ausgrabungen kommen würde, hatte sie kapiert, dass sie dasselbe Fach studierten.

Viola fuhr zusammen, als sie hinter sich eine kräftige Frauenstimme vernahm.

„Was zum Teufel, tut sie da?“

Enza trat zu ihnen heran. Viola wusste nur, dass sie eigentlich Ingenieurin war, aber als Hobby-Archäologin brennend daran interessiert, mal an einer Ausgrabung teilzunehmen. Ein Wunsch, den sie sich nun, als Grabungshelferin, endlich erfüllte. Viola hatte sie bis jetzt als zurückhaltende Person erlebt, die sich nur ungern in ein längeres Gespräch verwickeln ließ.

Enza schützte ihre Augen mit der flachen Hand vor der gleißenden Sonne. Die andere hatte sie in die Hüfte gestemmt. Ihre schwarzen Haare schimmerten rötlich und ihren Ringfinger zierte ein glitzernder Diamantring. Die üppige, jetzt hochgezogene Oberlippe entblößte zwei sehr weiße Schneidezähne.

Der Busfahrer stieß wilde Flüche aus und Sebastian machte ein anerkennendes Gesicht.

„Auch wenn ich's nicht verstehe – der Typ redet mit Sicherheit übles Zeug über jemandes Mutter!“

Lea erhob sich vom Boden. Sie war das genaue Gegenteil von Enza. Klein, zierlich, blond, stupsnasig und blauäugig. Eine Person, die von anderen meistens nicht bemerkt wurde, was weniger an ihrem Aussehen, als vielmehr an ihrer Ausstrahlung lag, die etwas von einem Eierkarton hatte. Farb- und harmlos.

Mit Tränen in den Augen machte Lea einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf einen toten Vogel frei, der neben ihr lag. Oder vielmehr etwas, das wie ein Vogel aussah. Er hatte zwei Flügel und war stellenweise mit schwarz-braunen Federn bedeckt. Sein Hals war ungewöhnlich lang und der Kopf, der zu klein für seinen Körper wirkte, war komplett kahl. Sein leuchtend gelber Schnabel war wellenartig verbogen und sein Rücken bestand aus einer einzigen blutenden Wunde. Unter den Studenten wurde gerätselt, was für eine Art Vogel es sein könnte. Einige der älteren Frauen bekreuzigten sich. Die meisten Bulgaren verzogen sich gelangweilt einer nach dem anderen wieder in den Bus, auf der Suche nach Schutz vor der brennenden Sonne. Zwei ältere Männer redeten lautstark auf den Fahrer ein und schienen ihm gute Ratschläge zu geben, während es sich eine Familie mit zwei Teenager-Söhnen am Straßenrand bequem gemacht, ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte und nun ihren mitgebrachten Proviant verzehrten. Brot und eingelegte Paprika, Schafskäse, Oliven, Tomaten, Gurken und jede Menge hartgekochte Eier. Die Mutter hielt ihre weißen, mit wulstigen Krampfadern durchwirkten Beine in die Sonne. Der Vater packte eine Flasche mit der Aufschrift "Rakia" aus, nahm einen Schluck, reichte sie an seine Söhne weiter, die ebenfalls daran nippten und die Flasche dann an die anderen Fahrgäste weitergaben, die völlig selbstverständlich daran tranken.

„Wir sollten ihn begraben!“ sagte Lea.

Sie schickte sich an, den Vogel hochzuheben. Viola hörte, wie Sebastian ironisch die Luft einsog. Sie fand es zwar auch etwas übertrieben, das tote Tier zu bestatten, aber Lea schien die Sache wirklich nahzugehen und die zwei Minuten konnten sie sich jetzt auch noch Zeit nehmen, bevor sie hoffentlich endlich weiter fuhren.

Ein penetrantes Quietschen ließ die fünf plötzlich zusammenfahren. Der Fahrer hatte die Scheibenwischer eingeschaltet, um die matschigen Reste des Vogels von seiner demolierten Scheibe zu entfernen. Da ihm aber das Wischwasser ausgegangen war, stellte sich das als verheerende Idee heraus. Blutiges Geschmier, garniert mit Federn und Geweberesten war die Folge. Da hatte die Scheibe vorher wesentlich besser ausgesehen, dachte Viola und konnte sich kaum vorstellen, wie der Fahrer dadurch etwas sehen wollte. Der kam auch prompt wieder aus dem Bus gerannt und wischte wütend mit einem alten Adidas T-Shirt aus Polyester auf der Scheibe herum, was die Sache, ebenso wie seine Laune, nur verschlimmerte. Sein Kopf leuchtete einem Granatapfel gleich, der Schweiß lief ihm in Bächen das Gesicht herunter und auch unter seinen Achseln hatten sich große, nasse Flecken gebildet. Sebastian sah ihm amüsiert zu, während er mit seinem Handy auf und ab ging, und es in verschiedene Richtungen hielt.

„Kein Empfang! Das hätte ich mir denken können.“

„Wen wolltest du denn jetzt auch anrufen?" fragte Thomas trocken.

Viola verspürte nicht die geringste Lust, noch länger in der Gluthitze herumzustehen. Sie wollte endlich ins Camp, duschen und ein bisschen schlafen. Irgendwie hatte sie sich ihr Archäologie-Praktikum romantischer vorgestellt. Sie stieg bereits wieder in den Bus, als ein spitzer Schrei sie aufhielt. Er kam von Lea.

„Oh Gott, er lebt noch!“

Alle drehten sich zu ihr um, selbst der Busfahrer schien sie verstanden zu haben. Lea riss sich ihren roten Hut vom Kopf und hielt ihn vor das Tier, um es vor der Sonne zu schützen. Eine absurde Geste. Der tot geglaubte Vogel bewegte sich wirklich.

Enza sah es mit Erstaunen. Mit einer solch schweren Verletzung hätte jedwedes Leben aus ihm entwichen sein müssen. Seine Bewegungen wirkten kantig und zäh, und er öffnete den Schnabel immer wieder und schnappte dann ins Leere, als erwarte er jeden Moment seine Mutter, die ihn mit Nahrung versorgen würde. Lea flehte Viola und Thomas an, etwas zu unternehmen, doch die beiden hatten keine Chance darauf zu reagieren. Es machte Twuuuupf! und der verletzte Vogel landete in hohem Bogen in dem mit riesigen Disteln übersäten Straßengraben. Der Busfahrer hatte ihm einen gehörigen Tritt versetzt. Der Vogel gackerte kurz, es war das hohe, klingende Gackern eines Truthahns, und verstummte dann für immer.

„Mrassno Dschiwodno!“ schimpfte der Fahrer immer wieder. Dann hechtete er dem Vogel hinterher und trat wütend auf ihn ein, wobei er ihn mehrmals verfehlte, was ihn nur noch rasender machte und er schließlich dazu überging beidbeinig auf ihm herumzuspringen. Ein befremdlicher Anblick.

Endlich hatte er sich an der armen Kreatur abreagiert und stapfte zu seinem Bus zurück, als sei nichts gewesen. Einige der männlichen Fahrgäste klatschten Beifall. Nur eine blutige Lache und Lea, die immer noch wie eingefroren am Boden hockte, markierten die Stelle, wo der Vogel eben noch gelegen hatte.

„Das mit dem Begräbnis hat sich dann wohl erledigt“, bemerkte Sebastian lakonisch.

Die einheimischen Fahrgäste machten es sich wieder auf ihren Sitzen bequem, auch die vierköpfige Familie hatte ihren Proviant in einer riesigen grasgrünen Tasche verstaut und kletterte in den Bus. Mit einem selbstzufriedenen Blick scheuchte der Fahrer die fünf auf, sie mögen ebenfalls einsteigen. Viola war einerseits erleichtert, andererseits tat Lea ihr furchtbar leid, wie sie da so klein und zerbrechlich auf dem Boden kauerte. Sie ging auf Lea zu, um sie in den Bus zu geleiten, doch da hatte die sich bereits erhoben, marschierte mit versteinerter Miene auf den Busfahrer zu und boxte ihn mit aller Kraft in den Bauch, was sowohl den Busfahrer als auch die schlaulustigen Einheimischen und die vier Deutschen völlig überraschte. Wie vom Donner gerührt starrten sie auf den Fahrer, der sich vor Schmerz zusammenkrümmte und hörbar nach Luft schnappte. Keiner wagte es, sich zu bewegen. Als der Fahrer wieder atmen konnte, ballte er die Fäuste und schwankte auf Lea zu - bebend vor Zorn. Unwillkürlich rückten die fünf zusammen. Sebastian stellte sich sofort vor die kleine Gruppe.

„He, he! Immer mit der Ruhe!“ versuchte er den Fahrer zu beschwichtigen. „Was hat er denn vor?" raunte er Thomas zu, der direkt hinter ihm stand.

Trotz des Ernstes der Situation, mussten die beiden sich beherrschen, um nicht loszuprusten. Viola hingegen spürte gleich, dass eine Grenze überschritten war, diese Demütigung würde der Fahrer nicht auf sich sitzen lassen können. Ein paar Sekunden lang schien er selbst zu überlegen, was er nun tun solle und blickte feindselig von einem zum anderen. Die Mitreisenden drückten ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, gespannt, was als nächstes passieren würde. Ein paar männliche Stimmen waren zu hören. Viola konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ihr Tonfall war aufwieglerisch. Einer der Teenager hielt sich Zeige- und Mittelfinger unter die Nase und ahmte den Hitlergruß nach. Auch weibliche Stimmen waren zu vernehmen, sie schienen die Lage allerdings befrieden zu wollen.

„Ich regle das schon", sagte Sebastian und nestelte an seiner Gesäßtasche, um seine Geldbörse zu zücken.

Doch Viola war klar, dass das keine Lösung sein würde und hielt ihn davon ab. Mit einem mädchenhaft unschuldigen Lächeln trat sie auf den Fahrer zu. Im Laufe ihres Lebens hatte sie gelernt, dass sie ihr Aussehen nicht verteufeln, sondern einsetzen sollte, um zu erreichen, was sie wollte. Sie machte das nicht oft, aber, nachdem sie einmal entdeckt hatte, wie gut es funktionierte, und zwar ungeachtet des Geschlechts ihres Gegenübers, setzte sie es hin und wieder ein, besonders, wenn es nicht nur um sie selber ging. Die Gesichtszüge des Busfahrers wurden sofort weicher. Viola sah es mit Erleichterung und wies auf Lea.

„Es tut ihr wirklich leid. Aber sie liebt Tiere und…sie ist ein bisschen durcheinander, müssen Sie wissen.“

„Was redest du denn da?!“ ereiferte sich Lea empört, „Der Vogel hat noch gelebt und da kommt dieser Typ und macht ihm einfach den Garaus.“

Sebastian wollte sie zum Schweigen bringen, doch es war zu spät. Auch wenn der Fahrer offensichtlich kein Deutsch verstand, so war ihm doch klar, dass Lea alles andere als Reue zeigte und seine Miene verhärtete sich augenblicklich. Enza packte Lea unsanft am Arm und schüttelte sie leicht.

„Au, du tust mir weh!“

„Es wäre besser, du entschuldigst dich bei dem Typ!“

Doch alles, was Lea tat, war, trotzig die Unterlippe zu wölben und die Arme zu verschränken.

Aus dem Bus war nun immer lauter werdendes Genörgel zu hören. Der Busfahrer geriet in Zugzwang. Zu stolz, um die Sache auf sich beruhen zu lassen, fluchte er zweimal laut und sah Lea an. Er schien immer noch auf eine Entschuldigung zu warten. Viola drängte Lea, endlich zu sagen, was der Fahrer hören wollte. Widerwillig wandte Lea sich dem Fahrer zu und setzte an, etwas zu sagen, brach dann jedoch ab und schaute zu den Studenten herüber.

„Ich kann mich einfach nicht bei diesem Idioten entschuldigen."

„Idiot? Idiot!" schrie der Busfahrer empört.

Offenbar war das bulgarische Wort für Idiot - Idiot. Lea entgleisten die Gesichtszüge. Der Fahrer rannte zum Bus zurück, riss die Gepäckklappe auf und warf ihre Rucksäcke und Koffer einfach auf die Straße. Thomas und Sebastian versuchten ihn zu beschwichtigen, aber sie hatten keine Chance. Lea rührte sich immer noch nicht und selbst Violas flehende Bitte, sie nicht einfach in der sengenden Hitze stehen zu lassen, überhörte der Fahrer.

Bevor die fünf überhaupt so richtig begriffen, in welch unguter Lage sie steckten, war der Bus auch schon auf und davon. Die einheimischen Mitfahrer feixten, und auch wenn ihnen einige mitleidige Blicke zuwarfen, so waren sie doch alle froh, dass es endlich weiterging. Niemand setzte sich für sie ein. Der Bus ratterte davon und hüllte sie in eine Wolke aus schwarzen Abgasen.

„Wer hat die Bulgaren eigentlich in die EU gelassen?" entfuhr es Sebastian wütend.

Dann wandte er sich an Lea.

„Wenigstens wissen wir jetzt, was Idiot auf Bulgarisch heißt."

Lea sackte in sich zusammen.

Thomas klopfte seinem Kumpel beruhigend auf die Schulter. Der brummte etwas Unverständliches und machte sich daran, zusammen mit den anderen, ihre überall verstreuten Gepäckstücke aufzusammeln. Dann breitete er umständlich die Landkarte aus, Enza spähte ihm über die Schulter und versuchte einen Blick darauf zu erhaschen.

„Es sind noch ca. 18 Kilometer.“

Viola seufzte bei dem Gedanken an einen derart langen Marsch in brütender Hitze.

„Wenn wir Tempo machen, dann schaffen wir es noch, bevor es dunkel wird!“ sagte Enza, schulterte ihren Rucksack und sah die anderen auffordernd an.

Mit ihren dunklen Haare und Augen und ihrer spitzen Hakennase sah sie wie eine Krähe aus. Etwas trieb sie an. Eine innere Unruhe hatte sie im Griff, die nichts mit dem Archäologie-Praktikum zu tun hatte, ein tief sitzender Schmerz, ein verborgener Schrecken lauerte in Enza. Viola fand, dass sie genau deshalb in diese Landschaft passte, so als sei sie ein Teil von ihr, während Viola sich wie ein Eindringling vorkam. Jemand, der nichts Gutes zu erwarten hatte und es auch nicht verdiente. Sie verspürte den Drang, auf der Stelle kehrtzumachen und sich nicht mal mehr umzudrehen.

„Vielleicht kommt ja jemand vorbei, der uns mitnehmen kann“, murmelte Lea leise und fummelte verlegen an ihrer Brille herum.

Die anderen starrten zunächst sie und dann die Umgebung an. Weit und breit keine Spur von menschlicher Zivilisation, selbst die Insekten schienen an diesem gottvergessenen Ort zu träge, um sich zu bewegen. Lediglich das müde Zirpen einiger Grillen war zu hören.

Lea senkte den Blick.

Viola fühlte, wie Ärger und Mitleid in ihr kämpften.

„Lasst uns lieber losgehen, sonst kommen wir heute nicht mehr an“, sagte sie.

Sebastian nickte Viola zu. Wie immer, wenn er sie ansah, leuchteten seine Augen. Es gab keinen Menschen, den er so liebte wie sie. Nicht seine Eltern, nicht seinen besten Freund, ja nicht mal seine Karriere. Sie war alles für ihn. Viola wusste das nur zu gut. - Und es verdunkelte jeden ihrer Tage.

Sebastian schnappte sich wortlos Violas und sein Gepäck und schloss zu Enza auf, die sofort mit großen Schritten lostrabte. Viola und Thomas folgten ihnen. Viola drehte sich kurz nach Lea um, die hinter ihnen her trippelte. Ihr riesiger Rucksack schien sie noch zu verkleinern. Das Gestänge, das hinter ihr aufragte, wirkte wie ein absonderlicher, knorriger Baum, den sie mit sich herum trug.

„Sie tut mir echt leid“, sagte Viola leise zu Thomas, der zunächst nicht wusste, von wem sie eigentlich sprach.

„Wer Lea?“

Er wandte sich zu ihr um.

„Ja, das war eine echte Glanzleistung. Mit so was macht man sich nicht gerade Freunde.“

„Wenigstens hat sie Rückgrat bewiesen“, verteidigte Viola sie.

Thomas sah Viola eine Weile schweigend an.

„Stimmt! Das können die wenigsten!“ sagte er dann und beschleunigte seine Schritte.

Doch Viola hatte den schmerzlichen Ausdruck in seinen Augen gesehen. Als er bei Sebastian angelangt war, blieben die beiden stehen, um auf sie zu warten. Sie lachten über etwas, das Sebastian gesagt hatte, der Viola einen feuchten Kuss aufdrückte, als sie die beiden erreichte. Viola war ganz außer Atem. Das wunderte sie. Da sie regelmäßig Sport trieb, war sie eigentlich körperlich fit. Sie schob es auf die Hitze und die Höhe.

Enza hörte ihr Gelächter, drehte sich zu ihnen um und starrte sie misstrauisch an, ohne jedoch ihr Tempo zu verringern.

„Jetzt glaubt Enza, wir hätten über sie gelacht!“ sagte Viola.

Sebastian winkte ab.

„Na und?! Mach dir nicht immer so viele Gedanken darüber, was andere vielleicht denken könnten, Schatz.“

Obwohl die Sonne nicht mehr im Zenit stand, ließ die Hitze kein bisschen nach. Die ausgedörrte Landschaft um sie herum zeugte davon, wie erbarmungslos der Sommer hier sein musste. Der lehmige Boden war spröde und rissig als hätte jemand versucht ihn auseinanderzuzerren und die Gesteinsbrocken am Wegesrand lagen da wie poröser Baiser, als seien sie von etwas ausgesaugt worden. Etwas, das ihnen das letzte bisschen Leben ausgepresst hatte, um sich selbst zu nähren.

Sie marschierten tapfer weiter. Die Männer verlangsamten ihre Schritte, als sie bemerkten dass Viola nur mühsam vorankam. Verärgert darüber, dass ihre Schwäche bemerkt wurde, war Viola den beiden doch gleichzeitig dankbar für ihre Rücksicht. Sie drehte sich zu Lea um, die weit ins Hintertreffen geraten war.

„Sollten wir nicht auf sie warten?“

Jetzt schaute sich auch Sebastian um.

„Auf unser Rotkäppchen da hinten? --- Was macht sie da?“

Viola und Thomas folgten seinem Blick. Lea war stehengeblieben und putzte in aller Seelenruhe ihre Brille. Als sie sie wieder aufgesetzt hatte, betrachtete sie ausgiebig die Landschaft, schien etwas auf dem Boden entdeckt zu haben und hob es hoch, um es sich vor die Nase zu halten.

„Was glaubt die eigentlich, wo sie ist? Bei den Pfadfindern? - LEA!“, schrie er.

Lea blickte auf. Ihr Gesicht zeigte einen verträumten Ausdruck, der sich langsam in die Erkenntnis verwandelte, dass die drei auf sie warteten. Verwundert und erfreut ließ sie fallen, was immer sie in der Hand hatte und trabte auf Viola, Sebastian und Thomas zu. Dabei löste sich eine Schnalle ihres Rucksacks und der Inhalt einer ihrer prall gefüllten Seitentaschen ergoss sich über den Boden. Sebastian rang in gespielter Verzweiflung die Hände und marschierte kurzerhand weiter.

„Mir ist zu heiß zum Warten.“

Thomas und Viola zögerten, blieben dann aber stehen und sahen zu, wie Lea ihr Zeug vom Boden aufsammelte. Keiner der beiden sprach ein Wort, doch Viola konnte spüren, wie sich die Atmosphäre zwischen ihnen verdichtete und einhüllte wie beißender Rauch, der ihre Lungen reizte.

„Sollten wir ihr nicht helfen?“

Thomas winkte ab. Nichts schien ihn momentan weniger zu interessieren als Lea, die mit ungelenken Fingern versuchte ihre Seitentasche zu reparieren.

„Viola...“

„Tu das nicht. Wenn ich dir wirklich was bedeute, dann lass mich in Ruhe. Bitte. Es war ein Fehler. Mehr nicht.“

„Den Fehler machst du, wenn du ihn heiratest. Du weißt genauso gut wie ich, dass das zwischen uns mehr war als nur Sex. Viel, viel mehr.“

In seiner Stimme war aufrichtiger Schmerz zu hören. Viola wollte nichts mehr als sich in seine Arme zu stürzen, um sich an seinem Geruch zu weiden. Es kostete sie all ihre Kraft, dieses Bedürfnis zu unterdrücken.

„Ich habe meine Entscheidung getroffen. Bitte lass uns…“

Ihre Stimme brach. Sie wandte sich abrupt um, und eilte Sebastian hinterher, damit Thomas nicht merkte, wie aufgewühlt sie war. Gleichzeitig wusste sie um die Sinnlosigkeit dieser Flucht. Thomas spürte nur zu deutlich, was in ihr vorging. Dankbar registrierte sie, dass er sie gehen ließ, ohne ihr zu folgen.

Als Lea endlich bei Thomas ankam, leuchteten ihre grünen Augen und ihre Wangen glühten. Der rote Hut baumelte an einer Kordel hängend an ihrem Rucksack. Sie strahlte Thomas an.

„Danke, dass du gewartet hast!“

Thomas runzelte die Augenbrauen. Er starrte durch Lea hindurch als sei sie nichts weiter als ein Hirngespinst. Die leere Hülle einer Schmetterlingspuppe, die ihren Kokon längst verlassen hatte, um sich in den Himmel zu erheben.

Drei Stunden marschierte Enza nun bereits durch die alles vernebelnde Hitze, die sie in eine Art Trance versetzte. Unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Erst jetzt nahm sie das Zirpen der Grillen wahr, das zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie angeschwollen war und alle anderen Sinneseindrücke übertünchte. Das verbrannte Gras am Wegesrand stak in die Luft, als reckte es sich verzweifelt nach ein bisschen Wasser. Wasser, das Leben spenden würde, aber nie zu kommen schien. Enza hielt einen Moment inne und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie stierte in die Ferne. Rechts am Straßenrand in einer kleinen Ausbuchtung standen die Reste einer alten, verwitterten Bushaltestelle. Ein sinnloses Artefakt. Drumherum nichts als dorniges Gestrüpp und Felsen. Nicht ein winziger verkümmerter Baum, der ihr Schatten spenden könnte. Erschöpft schleppte Enza sich zu der Haltestelle, warf ihr Gepäck auf den staubigen Boden und ließ sich daneben plumpsen. Sie kramte aus ihrem Rucksack ein großes, seidenes Tuch hervor, faltete es und versuchte es so über eine Wand der Haltestelle zu drapieren, dass es ihr Gesicht beschattete. Noch während sie sich daran zu schaffen machte, erschien Sebastian auf der Bildfläche, der Viola hinter sich herzog, die trotz der Hitze blass aussah.

Mit großer Erleichterung entdeckte Viola, dass Enza sich zu einer Verschnaufpause entschlossen hatte und steuerte auf sie zu, doch Sebastian hielt ihren Arm fest.

„Lass uns da vorne in den Schatten gehen!“

Der Schatten, den er meinte, bestand aus drei verkümmerten Büschen, die ihr Bestes taten, der Sonne die Stirn zu bieten. Lange würden sie es allerdings nicht mehr durchhalten. Sebastian schleuderte das Gepäck zu Boden und legte sich dann auf den Rücken, den Kopf in den spärlichen Schatten gezwängt. Nur Sekunden später hörte Viola ihn bereits schnarchen. Sie schüttelte verwundert den Kopf und suchte in ihrer Reisetasche nach einem Buch.

Enza hatte es sich unter ihrem improvisierten Baldachin bequem gemacht, ihr Kopf ruhte auf ihrem Rucksack, ihre Augen waren geschlossen. Unruhig hielt Viola nach Thomas Ausschau. Endlich kam er in Sichtweite, Lea folgte ihm in einigem Abstand. Erst jetzt rollte Viola sich auf den Bauch und tat so als würde sie lesen.

Thomas stapfte schnurstracks auf Viola und Sebastian zu und streckte sich neben ihnen aus, während Lea stehenblieb und unentschlossen von den dreien zu Enza und wieder zurück sah. Viola konnte erkennen, wie Lea innerlich mit sich rang. Ihre Wahl fiel schließlich auf Enza.

Umständlich befreite sie sich von ihrem schweren Rucksack und ließ sich auf den harten Boden fallen. Enza blinzelte kurz und schloss ihre Lider dann wieder. Lea fischte zwei Dosen Malzbier aus einer ihrer vielen Nebentaschen und bot Enza eine davon an.

„Genau richtig – brütend heiß!“ versuchte Lea zu scherzen.

Ohne ihre Augen zu öffnen, schüttelte Enza einfach den Kopf. Lea trank in großen Schlucken, verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und betrachtete unschlüssig die Gegend, als suche sie nach etwas Bestimmtem. Dabei scharrte sie mit ihrem rechten Fuß in dem sandigen Boden und seufzte tief.

„Jetzt hassen mich alle", stieß sie unvermittelt hervor.

„Naja, der Bus war zwar nicht klimatisiert, aber wenigstens konnte man sitzen“, antwortete Enza lakonisch.

Lea überschlug sich fast, offensichtlich dankbar, sich endlich vor jemandem rechtfertigen zu können.

„Was hatte der arme Vogel ihm denn bloß getan?“

„Die Windschutzscheibe demoliert.“

„Na und? Das ist doch keine Art, ein Lebewesen zu behandeln.“

Enza winkte müde ab. Augenscheinlich nicht an einer Diskussion interessiert. Es dauerte eine Weile, aber dann verstand Lea, dass es sinnlos war, auf eine Antwort Enzas zu warten. Sie steckte diesen Dämpfer erstaunlich locker weg, als sei sie es gewohnt mit ihrer Art auf derlei Reaktionen zu stoßen. Unvermittelt wechselte sie das Thema.

„Darf ich mal fragen, wie alt du bist?“

Enza runzelte die Stirn.

„Tut mir leid, ich wollte nicht…“

„Schon gut. Ich bin 40.“

„Wow! Du siehst viel jünger aus. Deine Haut ist so...“

Sie hielt Enza ihre Wange hin.

„Guck dir meine mal an. Rau, spröde – eine absolute Katastrophe. Ich werde mit 40 bestimmt wie eine Mumie aussehen. Schlechte Gene! Meine Mutter sah schon mit 36 aus wie 50.“

Wortlos zog Enza den Rucksack zu sich heran und kramte eine weiße Dose daraus hervor, die in der Sonne wie Perlmutt schimmerte. Sie hielt sie Lea entgegen.

„Mein Geheimnis. Reinstes Mandel- und Rosenöl.“

Lea blickte so ehrfürchtig auf die Dose, dass Enza lachen musste.

„Du kannst sie ruhig mal ausprobieren.“

Lea nahm ihr die Dose aus der Hand, als wäre sie ein zerbrechliches Kleinod. Nachdem sie ausgiebig an der Creme geschnüffelt hatte, verteilte sie sie sparsam auf ihrem Gesicht und Hals und verschloss die Dose dann vorsichtig wieder. Als sie sie jedoch in Enzas Rucksack verstauen wollte, schnellte Enzas Hand hervor und riss ihr den Rucksack weg. Verblüfft hielt Lea inne.

„Ich mach das schon.“ bemerkte Enza hastig.

Lea zuckte die Schultern und hielt Enza die Cremedose hin.

„Ich packe sie an eine bestimmte Stelle, damit sie nicht ausläuft“, erklärte Enza, während sie Lea den Rücken zuwandte und sich an dem Rucksack zu schaffen machte.

Lea nickte stumm, aber es war ihr anzusehen, dass sie Enza kein Wort glaubte.

Thomas' ertrug das Herumsitzen in der Gluthitze nicht länger. Sie schien ihn zu erdrücken genau wie die Nähe zu Viola und Sebastian. Er sprang auf, um sich umzusehen und überquerte die Straße, die sich in einer Kurve den Berg hinauf schlängelte, in der Hoffnung, einen Blick in die Ferne erhaschen zu können und zu erfahren, ob es irgendwelche Anzeichen von Zivilisation ringsumher gab.

Es gab keine.

Endlos schien sich die Straße in der immer gleichen Landschaft hinzuziehen. Nacktes ockerfarbenes Felsgestein, ausgedörrt, ohne auch nur den Flaum eines Grüns. Plattes, karges Land, das ausgemergelt vor sich hin zu darben schien. Nirgendwo wartete der Schutz eines kühlenden Schattens. Alles an dieser Gegend strahlte Feindseligkeit aus und doch fühlte Thomas sich von ihr angezogen. Ihre raue Schönheit, ihr splitteriger Charme provozierten ihn und versetzten ihn in Erregung. Er breitete die Arme aus, hielt sein Gesicht der Sonne entgegen und spürte, wie seine Erschöpfung nachließ und neue Kraft ihn durchströmte. Etwas an dieser Umgebung war anders. Wie ein Lebewesen, das einen im Verborgenen beobachtete und auf etwas lauerte. Obwohl Thomas nicht an Übernatürliches glaubte, kam es ihm doch so vor, als sei seine Wahrnehmung erweitert, seitdem er sich hier befand. Er konnte es nicht erklären, aber manchmal hatte er den Eindruck, er höre Violas Gedanken und fühle, was sie fühlte. Es war verrückt und widersprach allem, an das er glaubte, aber es war ihm unmöglich, sich gegen diese Empfindungen zu wehren.

Auf der anderen Straßenseite lagen Sebastian, Lea, Enza und Viola im pulverigen Staub und dösten. Ihr Anblick versetzte Thomas für einen kurzen Moment in Panik. So stumm und leblos wie sie dalagen, sahen die vier weniger wie Schlafende als vielmehr wie Tote aus. Er kniff die Augen zusammen und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Den Gedanken, dass Viola etwas zustieß, konnte er nicht ertragen. Auch wenn ihre Nähe ihn schmerzte, so war dieser Schmerz immer noch besser als sie weit weg von sich zu wissen. Es machte ihn rasend, dass Viola sich gegen ihre Liebe entschied, weil sie Sebastian nicht verletzen wollte. „Es würde ihn vollständig vernichten", hatte sie gesagt. Und aus irgendeinem paradoxen Gefühl heraus, liebte er sie dafür umso mehr. Ihn durchpulste plötzlich große Wut und er trat mit aller Kraft gegen einen herumliegenden Felsbrocken. Im nächsten Moment durchzuckte ihn der Schmerz wie ein Messer, das ihm bis in die Eingeweide fuhr und ihm den Atem raubte. Er stöhnte geräuschvoll auf, ging in die Knie und seine Hand fuhr unwillkürlich zu seinem Fuß. Hastig zog er seinen Turnschuh aus und riss sich den Strumpf vom Fuß. Ein Fehler, denn sein Zehennagel war umgeknickt und klebte am Strumpf fest, sodass er ihn halb mit abriss. Thomas unterdrückte einen Schrei und biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskulatur krampfte. Sein großer Zeh sah aus wie ein blutiger kleiner Klumpen. Sich selbst verfluchend, humpelte er zurück zu seinem Rucksack, um sich Verbandszeug zu holen. Viola richtete sich besorgt auf, als er seinen Zeh provisorisch mit einem Pflaster zu verarzten versuchte, sagte aber nichts. In dem Moment erwachte Sebastian und räkelte sich.

„Was ist passiert?"

„Ich bin gestolpert“, erklärte Thomas kurzangebunden.

Sebastian gähnte und rieb sich durch seine flachsblonden Haare.

„Gehen wir lieber weiter, bevor sich noch jemand verletzt. Kannst du laufen?"

Thomas nickte.

„Soll ich dir beim Tragen helfen?"

Thomas warf ihm einen ironischen Blick zu. Sebastian lachte und sprang auf die Beine. Ihm schien die Hitze als einzigem nichts auszumachen. Er strahlte den Tatendrang und die Energie eines Anführers aus, der seine Truppen kilometerweit über die Alpen peitschen muss. Lauthals verkündete er Lea und Enza, dass sie weitergehen würden und noch bevor diese sich einigermaßen gesammelt und aufgerichtet hatten, war Sebastian bereits unterwegs, beladen mit seinem und Violas Gepäck .

Nach drei weiteren beschwerlichen Stunden war Viola am Ende ihrer Kräfte und wünschte sich nur noch, sich endlich irgendwo hinzulegen und zu schlafen. Tief und traumlos. Die anderen vier wirkten ebenfalls völlig erschöpft. Allerdings gab es immer noch keinerlei Anzeichen dafür, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Thomas warf Sebastian einen zweifelnden Blick zu. Sebastian hielt ihm wortlos die Karte hin. Thomas studierte sie ausgiebig.

„Könnte es sein, dass sie das Camp woanders hin verlegt haben?“, wollte Enza wissen.

Sebastian griente.

„Definitiv nicht.“

„Also wenn die Karte stimmt, dann müsste das Camp ganz in der Nähe sein“, murmelte Thomas. „Und zwar da hinten!"

Die anderen blickten in die Richtung, in die Thomas zeigte. Das Gras in dem offenen Gelände war gelb und verbrannt, aber etwa einen Kilometer weiter begann ein dichter Wald, der saftig grün in der untergehenden Sonne leuchtete und wie ein Fremdkörper in dieser trockenen Wüstenei wirkte.

„Ich schlage vor, wir gehen in westlicher Richtung durch den Wald. Laut Karte ist das die einzig logische Möglichkeit, um zum Camp zu kommen“, schlug Sebastian vor.

Thomas, Viola und Sebastian bildeten die Vorhut. Die anderen beiden trotteten hinterher.

„Auf der Karte sieht das eher aus wie ein Hain als wie ein Wald. Diese Bäume müssen ganz schön widerstandsfähig sein", bemerkte Sebastian.

„Vielleicht haben sie sich dem Klima angepasst und kommen jetzt mit ganz wenig Wasser aus. Ein evolutionärer Sprung sozusagen", antwortete Viola.

Sebastian nickte zerstreut.

„Sie graben hier seit fast einem Jahr und die Funde sollen wirklich sensationell sein. Wenn wir das Praktikum erst hinter uns haben, gehören wir vielleicht zu den Berühmtheiten unseres Fachkreises.“

„Ich bin schon froh, wenn wir überhaupt das Camp finden“, meinte Viola trocken.

Sebastian hielt noch eine Weile einen Monolog darüber, wie wichtig dieses Praktikum für sie alle war und welch sonnige Zukunft ihnen bevorstand. Viola und Thomas ließen ihn reden. Ab und zu sah Viola sich um, ob Enza und Lea den Anschluss nicht verloren hatten.

Die beiden schleppten sich mühsam über das jetzt hügelige Gelände auf den Wald zu. Lea schien sich von Stunde zu Stunde zu verkleinern, ihr riesiger Rucksack drückte ihre zierliche Gestalt zu Boden, sodass Enza drauf und dran war, ihr die Last abzunehmen, sich dann aber eingestehen musste, dass sie selbst kaum noch konnte. Ihre Kondition war auch nicht mehr das, was sie noch vor zwanzig Jahren gewesen war. Jeder Knochen im Leib tat ihr weh und ihre Füße spürte sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Insgeheim bewunderte sie Lea, die ihre Last mit stoischem Gleichmut zu tragen schien.

Plötzlich hielt Lea inne.

„Hast du das gehört?“

Enza warf ihr einen fragenden Blick zu. Lea lauschte gebannt, konnte aber keinen Ton ausmachen. Es war nachgerade unnatürlich still, nicht mal die Insekten summten und auch das Rauschen der Bäume des jetzt nahen Waldes, durch deren Kronen ein sanfter Wind strich, war nicht zu hören.

„Ich höre überhaupt nichts. Nur das Gerede von dem da."

Enza wies auf Sebastian.

„Es hat sich wie Frauenstimmen angehört.“

„Gut. Ich fände es nicht schlecht, wenn wir bald da wären.“

Lea setzte sich wieder in Bewegung, als Sebastian sie mit einer energischen Geste zur Eile aufforderte.

„Ich hoffe, er hat nur halb so viel drauf, wie er einem weismachen will.“

Hunger, Durst und Müdigkeit brachen sich jetzt Bahn in Enzas Ärger über Sebastian. Lea zuckte nur die Achseln.

„Sein Vater ist Professor Reuter, ein hohes Tier beim Deutschen Archäologischen Institut. Wenn einer von uns Karriere macht, dann Sebastian, dafür wird sein Vater schon sorgen.“

Enza schnaubte missbilligend, aber Lea sah nicht so aus, als störe sie diese Art Vetternwirtschaft. Es war, wie es war, warum sollte sie sich also darüber aufregen. Etwas anderes schien ihr aber auf der Seele zu liegen.

„Aber sein Freund, Thomas, ist total nett."

Sie brach ab, als sie Enzas amüsiertes Grinsen sah.

„Schon klar.“

„Was ist klar?"

„Du stehst auf ihn."

„Blödsinn."

„Lea!"

Lea hob abwehrend die Hände, ließ sie dann jedoch kraftlos sinken. Zu ermattet, um zu lügen.

„Ja. Ehrlich gesagt, schon seit zwei Jahren.“ Eilig fügte sie hinzu: „Ich weiß, ich bin naiv.“

In Enzas Augen flackerte Verständnis auf. Sie wusste, dass es zwecklos war, sich zu fragen, warum man einen Menschen liebte. Dabei war es egal, ob die eigenen Gefühle erwidert wurden oder nicht. Doch wenn sie erwidert wurden, war es um so unverzeihlicher, sich von dieser Person abzuwenden. Sie aus dem eigenen Leben auszuschließen und das bis zum bitteren Ende.

„Nein. Aber du solltest du ihm endlich sagen, was du für ihn empfindest. Und wenn es dann nicht hinhaut, tja, dann hast du's wenigstens versucht.“

Lea stolperte über einen Stein und wankte kurz, als habe sie dieser Gedanke völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

„Meinst du wirklich?“ fragte sie mit großen Augen.

Enzas Verständnis überraschte Lea. So wie sie sich bis jetzt verhalten hatte, hätte Lea eher gedacht, Enza würde ihr Geständnis mit einem desinteressierten Schulterzucken abtun.

„Wieso erzählst du mir nicht, was mich bei unserer Grabung erwartet“, versuchte Enza das Gespräch wieder auf neutraleren Boden zu lotsen.

„Was willst du denn wissen?“

„Alles, was dir einfällt. Angefangen mit unserem Ausgrabungsleiter.“

„Professor Harris? Der Mann ist Archäologe mit Leib und Seele. Am liebsten treibt er sich auf Ausgrabungen in aller Welt herum. Ich glaube, er hält sich heimlich für eine Art Indiana Jones. Ich freu mich schon darauf, ihn endlich mal live und in Farbe zu erleben.“

Als Lea weiter sprach, senkte sich ihre Stimme zu einem Flüstern.

„Ganz ehrlich – wenn Thomas nicht dabei wäre, dann hätte ich mich sicher nicht für dieses Praktikum gemeldet. An der Uni haben sie diese Geschichte über Harris' Assistentin erzählt.“

Enza horchte auf. Als sie sprach, klang ihre Stimme jedoch ganz beiläufig.

„Wieso, was ist denn mit seiner Assistentin?“

Lea blickt sie vieldeutig an.

„War. Vergangenheit. Es gibt das Gerücht, dass Dr. Skutta sich...“

In dem Moment brach Lea den Satz ab. Thomas, Viola und Sebastian hatten auf sie gewartet und waren jetzt in Hörweite. Lea lächelte Thomas gut gelaunt an, der das überhaupt nicht mitbekam.

Endlich hatten sie den Waldrand erreicht. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und tauchte alles in ein unwirkliches, purpurnes Licht. Die Tatsache, dass es spürbar kühler geworden war, und dass es nicht mehr weit bis zum Camp sein konnte, setzte bei allen letzte Kraftreserven frei und hob die Stimmung merklich. Mittlerweile hatten sich imposante Wolken am Himmel aufgetürmt wie schneebedeckte Berge und versprachen Regen. Sebastian fischte einen Kompass aus seiner Jeans und schob ihn auf der Karte hin und her.

„Wenn wir jetzt durch den Wald gehen, sollten wir nah beieinander bleiben“, sagte er mit einer Stimme, die daran gewöhnt zu sein schien, den Ton anzugeben.

Eine feuchte Brise strich über Violas Gesicht und kündigte einen baldigen Wetterwechsel an. Sie fröstelte mit einem Mal. Aber auch die anderen drängten sich nun dicht aneinander und es schien nicht nur die feuchte Kühle zu sein, die sie dazu veranlasste. Der aufkommende Wind ließ die Baumkronen wogen. Der Wald machte den Eindruck eines lebenden Organismus, der tief ein- und ausatmete.

Sebastian schritt beherzt voran, die Landkarte wie einen schützenden Schild an sich gepresst. Sie drangen in den Wald ein, der sie wie ein grüner Schlund sofort verschluckte. Der Boden war matschig und weich, die Luft nass und schwer. Als habe er auf ein geheimes Kommando reagiert, setzte prompt Nieselregen ein. Die fünf hatten den Eindruck, in ein völlig anderes Klima zu kommen, so als wären sie an einem strahlenden Sommertag im Zoo geradewegs durch die Tür zum Tropenhaus gegangen. Die schwüle Luft fühlte sich zäh und breiig an. Selbst ihre Stimmen klangen mit einem Mal gedämpft, als befänden sie sich in einem fensterlosen Raum, dessen Wände aus Gummi oder meterdickem Samt waren. Nach wenigen Metern lichtete sich das dichte Blätterdach und sie entdeckten einen über zwei Meter breiten Trampelpfad, der mitten durch den Wald führte. Offensichtlich markierte er den Weg zum Camp. Erleichtert beschleunigten sie ihre Schritte. Keiner sagte ein Wort. Sie alle wollten nur noch ankommen und endlich ein wenig ausruhen.

Nachdem sie eine Viertelstunde gelaufen waren, stieß Lea plötzlich einen verwunderten Schrei aus und wies auf etwas, das abseits des Weges im Schatten der Bäume verborgen stand. Es war ein kleiner Transporter - verwaist und schmutzig, mit weit aufgerissenen Türen. Als sie näher an den Wagen herangingen, erkannten sie auf der lehmverschmierten Windschutzscheibe einen Aufkleber. Sebastian machte sich daran, den Dreck mit den Fingernägeln abzukratzen und legte so das Emblem des Deutschen Archäologischen Instituts frei.

„Der gehört auf jeden Fall zu uns!“

„Ist das jetzt eine gute oder schlechte Nachricht?“

Enzas dunkle Stimme durchdrang die wattierte Stille des Waldes kaum.

Sebastian neigte den Kopf. Er war sich selbst nicht sicher.

„Auf jeden Fall sind wir auf dem richtigen Weg. Nicht, dass ich das bezweifelt hätte…“

Die drei Frauen seufzten, froh, wieder Spuren der Zivilisation um sich zu haben.

„Wieso lassen sie ihn hier einfach so offen herumstehen?“ fragte Thomas.

Sebastian warf ihm einen ironischen Blick zu.

„Wer sollte ihn hier schon klauen?"

Viola, die näher an den Transporter herangetreten war, erblickte jetzt, dass die Polsterungen im Innenraum des Wagens herausgerissen waren und sich tiefe Schrammen auf dem Armaturenbrett befanden. Beunruhigt zeigte sie es den anderen.

„Wahrscheinlich war er kaputt und sie haben ihn hier einfach seinem Schicksal überlassen“, versuchte Sebastian sie zu beruhigen. „Oder er ist einer Bärenattacke zum Opfer gefallen."

Lea schüttelte den Kopf.

„Bären gibt es in dieser Gegend keine. "

„Das war ein Witz, Rotkäppchen."

Lea hörte Sebastians Antwort gar nicht, denn sie regte sich zu sehr darüber auf, wie jemand sich erdreisten konnte, dieses unberührte Fleckchen Natur derart zu verschandeln. Enza warf ihr einen schnellen Blick zu, den Lea auf Anhieb verstand und den Mund hielt. Sie hatte den Bogen bereits überspannt und tat besser daran, sich eine Weile zurückzuhalten.

Thomas war um den Wagen herumgegangen, um ihn von allen Seiten zu begutachten. Es war jedoch nichts zu erkennen, das auf einen Unfall oder ähnliches hindeutete.

„Vielleicht ist ihnen einfach das Benzin ausgegangen“, mutmaßte er.

Enza runzelte die Stirn.

„Die nächste Tankstelle ist doch sicher einen ganzen Tagesmarsch entfernt.“

„Seht euch das an!“

Thomas war auf der Rückseite des Wagens stehengeblieben. Die Rückscheibe war zerborsten und es klaffte ein riesiges Loch in ihrer Mitte, das jemand provisorisch mit Klebeband und einer opaken Klebefolie zu reparieren versucht hatte. Sebastian war sofort zur Stelle, um die Scheibe zu begutachten. Er hielt schaltete seine Taschenlampe ein, um den Schaden im narrenden Zwielicht der Dämmerung besser in Augenschein nehmen zu können.

„Scheint wirklich, als hätten sie einen Unfall gehabt. Warte mal - was klebt denn da dran?“

Während Sebastian sich einen kleinen Ast von einem Baum abbrach, fixierte Thomas die Stelle, auf die sein Freund gewiesen hatte. Dort, an den Schnittstellen des gesplitterten Fensters hing etwas, das aussah wie ein gegerbter Hautfetzen. Sebastian schob das Hautstück mit dem kleinen Ast hin und her.

Viola wollte nicht länger darüber spekulieren, was dem Transporter zugestoßen sein könnte. Dieser Ort war ihr unheimlich und das vage Gefühl, hier nicht willkommen zu sein, hatte sich in den letzten Stunden nur noch verstärkt. Der Regen war heftiger geworden und trommelte auf den blechernen Torso des Transporters.

„Beeilen wir uns!“ rief Viola und trabte los.

Sie wollte nur weg von dem Autowrack, das ihr wie ein weiteres schlechtes Omen vorkam. Dicke Tropfen platschten jetzt vom Himmel und durchnässten die kleine Gruppe bis auf die Knochen. Sie hatten das Ende des Weges erreicht und kämpften sich tapfer durch das dichte Gebüsch, hinter dem sie einen ersten Blick auf das Camp erhaschen konnten. Es war nun nicht mehr weit, was Viola mit großer Erleichterung registrierte. Ihre Klamotten klebten nass und kalt an ihrem Körper und durch ihre Haare rannen kalte Bäche, die sich auf ihrer Nasenspitze sammelten, um von dort ihren Weg nach unten anzutreten. Sie hatte Angst, eine Erkältung zu bekommen und trieb die anderen immer wieder zur Eile an, auch wenn das gar nicht nötig war, denn ihnen ging es ganz ähnlich.

Plötzlich schien es Viola, als habe Enza oder Lea sie gerufen. Sie blieb stehen, blickte zurück und wurde prompt von Enza umgerannt, die direkt hinter ihr war. Lea konnte gerade noch abbremsen, sonst wäre auch sie in die beiden hineingelaufen. Verwundert sah Viola die beiden an. Sie hätte schwören können, ihre Stimmen von viel weiter weg gehört zu haben.

„Was ist denn?"

„Habt ihr mich gerade gerufen?“

Die beiden blickten sie verständnislos an. Auch Sebastian und Thomas waren stehengeblieben.

„Eine von euch hat mich doch gerade gerufen, oder nicht?“

Allgemeines Kopfschütteln.

„Nein, da musst du dich verhört haben."

„Aber ich bin sicher, dass…“

Doch noch ehe sie den Satz beenden konnte, ertönte der helle Klang erneut. Und dieses Mal hörten es die anderen auch.

„Das hab ich eben schon mal gehört, als wir noch weiter weg waren. Vielleicht braucht jemand unsere Hilfe“, bemerkte Lea.

„Hört sich an wie eine Frau", sagte Viola.

Wieder erklang die Stimme, gedämpft durch den niederprasselnden Regen. Die fünf lauschten angestrengt. Sebastian leuchtete nach allen Seiten die Umgebung ab, als könne er das Geräusch so besser hören. Enza schüttelte den Kopf.

„Hört sich eher wie Glocken oder so was an.“

Thomas stimmte ihr zu. Die anderen waren sich nicht sicher. Doch da erklang das Geräusch erneut und dieses Mal war klar zu erkennen, dass es sich um Glocken handelte.

„Vielleicht gibt es hier irgendwo eine Kirche?“, mutmaßte Lea.

Thomas studierte die Karte.

„Laut der hier gibt es im Umkreis von 70 km so gut wie gar nichts!“

Sebastian fuhr sich energisch mit den Fingern durch seine pitschnassen Haare und strich sie nach hinten.

„Ich weiß ja nicht, wie' s euch geht, aber mir ist, ehrlich gesagt, egal, ob das Kirchenglocken sind, oder ob sich unser Ausgrabungsleiter die Eier schaukelt. Ich brauche dringend eine heiße Du...“

Doch in dem Moment ließ ihn eine Bewegung im Gebüsch erstarren. Auch die anderen standen da wie angewurzelt und blickten erschrocken in die Richtung, aus der sie die Bewegung vernommen hatten. Mit ausgestrecktem Arm richtete Sebastian seine Taschenlampe auf die Stelle, als habe er eine Waffe in Händen, mit der er jederzeit schießen könnte. Doch außer dichtem Blätterwerk hinter dem die hereinbrechende Nacht lauerte, war in dem Lichtkegel nichts zu erkennen. Und wieder knackten ein paar morsche Zweige und einige Meter weiter bewegte sich das Gebüsch, als streiche ein Tier durch es hindurch.

„Halt die Lampe mal woanders hin, dann verschwindet es vielleicht", sagte Enza leise.

„Genau! Es bewegt sich vom Licht weg", flüsterte Viola.

„Ist wahrscheinlich nur ein Hirsch", meinte Sebastian.

Er starrte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch zuletzt gekommen war. Durch den Regen konnte er jedoch kaum etwas erkennen. Sebastian hob einen Stein vom Boden auf.

„Was soll das werden?" fragte Thomas.

„Wonach sieht's denn aus?"

„Bist du irre? Was, wenn es eine Wildsau mit ihren Frischlingen ist?!"

„Na, dann nützt Weglaufen erst recht nichts!", konstatierte Sebastian.

Thomas blickte seinen Freund einen Moment lang an und hob dann ebenfalls einen Stein vom Boden auf. Enza tat es ihm nach und reichte auch Viola und Lea einen Stein .

Es raschelte wieder. Doch anscheinend hatte sie die Kreatur lautlos umrundet, denn das Geräusch kam erneut aus einer ganz anderen Richtung. Enza, Lea und Viola drängten sich Schutz suchend dichter aneinander und starrten wie hypnotisiert auf das Gebüsch. Angespannt, bereit, jederzeit loszulaufen.

„Am besten wir ziehen uns gaaanz langsam zurück."

Sie gingen Schritt für Schritt rückwärts. Wieder war das Knacken von Zweigen zu hören. Das Tier schien ihnen zu folgen. Die kleine Truppe hielt inne.

„Weitergehen! Nicht stehenbleiben. Ruhig!“, wisperte Sebastian.

In dem Moment erhellte ein gleißender Blitz die Umgebung gefolgt von einem donnernden Grollen. Das Gewitter kam so unvermittelt, dass die Frauen laut aufschrien, ihre Steine fallen ließen und wie von Sinnen losstürmten. Thomas und Sebastian hechteten ihnen hinterher. Die dreihundert Meter waren eine Herausforderung, denn der Regen hatte den Untergrund in einen schlammigen Sumpf verwandelt, Zweige schlugen ihnen ins Gesicht und schrammten ihnen die Wangen auf und dicke Tropfen zerplatzten auf ihren Augenlidern und überzogen ihre Augäpfel mit einem schlierigen Film. Endlich erreichten sie die Lichtung, verließen die schwarze Umarmung des Waldes und fand sich direkt im Camp wieder.

Thomas und Sebastian brachen in atemloses Gelächter aus und klatschten sich ab.

„Wahrscheinlich war das nur ein Reh. Bambi, das seine Mutter sucht", japste Sebastian.

Enza und Lea mussten ebenfalls lachen, doch Viola fand die Situation überhaupt nicht komisch. Sie spähte nervös in den Wald, aber das Tier schien ihnen nicht gefolgt zu sein. Enza leuchtete zusammen mit Sebastian den Wald ab, um sie zu beruhigen. Es war nichts zu sehen. Als Viola sicher war, dass ihnen keine Gefahr mehr drohte, sahen sich die fünf im Camp um.

Als erstes fielen ihnen drei Baracken aus Wellblech ins Auge, die wenig einladend wirkten. Davor hatte man eine Zeltplane auf vier lange Holzpfähle gespannt und so einen überdachten Vorplatz geschaffen, auf dem ein paar Biertische und –bänke standen. Eine Art improvisierte Kantine im Freien. Auf der rechten Seite endete das Gelände abschüssig in einer Sickergrube für Regenwasser. Ihnen gegenüber erhob sich eine mächtig wirkende Felswand. Davor waren die Schemen einer seltsamen Holzkonstruktion zu sehen. Vielmehr konnten sie in der Dunkelheit und dem strömenden Regen nicht erkennen. Und dennoch machte das Camp einen verwahrlosten, menschenleeren Eindruck. Die fünf sahen einander irritiert an. Thomas warf sicherheitshalber noch einen Blick auf die Karte – kein Irrtum möglich! Das war ihr Ausgrabungscamp. Der Ort, an dem sie in den nächsten Wochen ihr Praktikum absolvieren sollten.

Violas spürte unter der bleiernen Müdigkeit, die sie jetzt überfiel, immer noch das Gefühl rumoren, dass es besser wäre, auf der Stelle umzukehren und, wenn es sein musste, nach Hause zu kriechen. Der angrenzende Wald machte sie nervös und sie ertappte sich dabei, wie sie immer wieder einen Blick über ihre Schulter warf. Bewegte sich dort am Waldrand nicht etwas?

„Was war das da gerade?“

Sebastian nahm ihre Hand in die seine.

„Nichts, Schatz, das ist nur der Regen. Keine Sorge, was auch immer da unterwegs war, es hatte mehr Angst vor uns als wir vor ihm.“

Doch auch er wirkte unruhig, einzig Lea schien eher verdutzt als ängstlich.

„Wo sind die bloß alle? Hallo? Keiner zu Hause?“, schrie sie.

Ihre naive Art nahm den anderen ein wenig die Anspannung.

„Wahrscheinlich sind sie im nächsten Dorf, um neuen Proviant zu kaufen und haben sich da noch einen genehmigt“, meinte Sebastian.

Enza hatte sich einige Meter nach vorne gewagt und kniff die Augen zusammen, um in dem stärker werdenden Regen etwas sehen zu können. Doch alles versank in dem grauen Schleier des Zwielichts. Sie ging auf die ganz rechts liegende, kleinste Baracke zu und leuchtete mit ihrer Taschenlampe durch das Fenster in den Raum hinein. Die anderen waren ihr gefolgt und standen nun dicht hinter ihr.

„Siehst du was?" fragte Lea.

Enza schnaubte.

„Nicht viel. Da stehen ein paar alte Bettgestelle, wenn ich das richtig erkenne. Das Fenster ist total verdreckt. Sonst wirkt es aber ziemlich verlassen. Scheint nicht so, als habe da in letzter Zeit jemand übernachtet."

„Da hinten in der Baracke brennt Licht!“ rief Lea plötzlich.

Tatsächlich! Durch die Zwischenräume der größten der drei Baracken schimmerte nun gedämpftes Licht. Lea stieß einen Freudenschrei aus und schickte sich an, zur Baracke zu laufen, doch Thomas pfiff sie zurück.

„Warte!“

Bei dem scharfen Ton seiner Stimme, hielt Lea sofort inne.

„Warum?“

„Ich geh lieber erst nachsehen, was da los ist. Wenn alles ok sein sollte, rufe ich euch“, schlug Thomas vor.

„Wieso, was soll denn los sein?" fragte Lea verwundert.

Darauf hatte niemand der vier anderen auf Anhieb eine Antwort.

„Ich komme mit!" sagte Lea und setzte sich in Bewegung.

Thomas schüttelte bestimmt den Kopf.

„Besser du bleibst hier, falls…“

„Falls was?" fragte Lea.

Sie sah dabei zunächst Thomas und dann Sebastian an, der bis jetzt immer die Initiative ergriffen hatte, nun aber ungewöhnlich still war. Zum ersten Mal hatte Lea den Eindruck, dass ihn die Situation verunsicherte, er dies aber nicht zugeben wollte.

„Was ist, wenn Harris und sein Team vorzeitig abgebrochen haben und sich jetzt Grabräuber hier rumtreiben. Das ist in Bulgarien ein echtes Problem. Und nicht nur hier. Ich checke lieber kurz die Lage und du hältst hier die Stellung", wandte Thomas sich an Sebastian.

Sebastian war hin und her gerissen. Einerseits gefiel es ihm nicht, dass Thomas so selbstverständlich das Kommando übernommen hatte, andererseits musste er seinem Kumpel Recht geben. Jemand sollte bei Viola und den beiden anderen Frauen bleiben.

Thomas lud seinen Rucksack ab und schnappte sich Enzas Taschenlampe. Lea tat es ihm nach.

„Was machst du da?“

„Ich komme mit“, erwiderte sie, verwundert über die Frage.

„Hast du nicht zugehört?"

„Wenn ich dabei bin, können wir wenigstens so tun, als seien wir nur naive Touristen, die sich beim Wandern verirrt haben und überhaupt nicht wissen, was gespielt wird."

Thomas wägte die Situation kurz ab. Vielleicht war es wirklich besser, wenn die zierliche Lea mitkam, dachte er. Das konnte die Situation zur Not entschärfen, falls... Ja, falls was denn? An die Geschichte mit den Grabräubern glaubte er eigentlich selber nicht. Dafür war die Grabungsstätte viel zu bevölkert, zumindest hatte er das angenommen. Aber was erwartete er denn in der Baracke zu finden? Natürlich kannte er die Gerüchte über Harris' Assistentin, Nicole. Die Studenten redeten davon, dass die Ausgrabungen unter einem bösen Fluch standen. Thomas war eigentlich überhaupt nicht, der Typ, der sich um derlei Tratsch kümmerte.

Und dennoch.

Jetzt, da er inmitten dieses unwirtlichen Ortes stand, erschien ihm das Gerede über den Fluch des Camps gar nicht mehr so abwegig. Lea riss ihn aus seinen Gedanken. Die Tatsache, dass diese kleine Person so gar keine Angst zu haben schien, half Thomas, seine Gedanken wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

„Also gut. Du bleibst dicht hinter mir, klar?!“

„Und du schlägst niemanden in den Bauch und nennst auch niemanden einen Idioten!" ergänzte Sebastian.

Lea hatte ihre Brille abgenommen, deren Gläser vom Regen blind waren. Ihre Begeisterung, endlich von ihm wahrgenommen zu werden, spiegelte sich darin wider. Thomas bemerkte ihre Euphorie sehr wohl, konnte sie aber überhaupt nicht einordnen. Lea irritierte ihn durch und durch, da er noch gar nicht auf die Idee gekommen war, sie könnte Gefühle für ihn haben. Er interpretierte ihr Verhalten entsprechend völlig falsch und nahm an, sie halte das Ganze für eine Art Freizeitausflug mit Abenteuer-Einlagen. Abrupt wandte er sich von ihr ab und stiefelte voraus. Sie eilte ihm nach und fasste ihn am Ellbogen.

„Ich kann ohne Brille nicht gut sehen!“

Thomas ging nicht weiter darauf ein und konzentrierte sich stattdessen darauf, nicht auf dem schlammigen Untergrund auszurutschen. Der Matsch unter seinen Füßen war glitschig und quoll bei jedem seiner Schritte mit einem quatschigen Geräusch unter seinen Schuhen hervor. Langsam pirschten sie sich weiter vorwärts, bis sie schließlich vor der Baracke standen. Vorsichtig warfen sie einen Blick durch das Fenster direkt neben der Tür, konnten aber nichts erkennen, denn es war mit irgendetwas zugestellt. Für einen Augenblick verschwand der Lichtstreifen. Jemand oder etwas bewegte sich also dahinter. Leas Griff um Thomas' Arm wurde unwillkürlich fester. Er atmete einmal tief ein, machte sich von ihr los und gestikulierte, dass er als erstes die Baracke betreten werde. Dann öffnete er die Tür.

Sie mussten ein paar Schritte in den Raum hineingehen, bevor sie die zwei Gestalten in verdreckten, dunklen Regenmänteln entdeckten, die an ein paar Bärenfallen herum werkelten. Ihre Kapuzen hatten sie tief in ihre Gesichter gezogen und wirkten dadurch wie zwei gedungene Mörder, die ihren Job im Verborgenen erledigen. Sie standen mit dem Rücken zu den beiden und hatten sie augenscheinlich nicht hereinkommen gehört, denn sie unterbrachen ihre Arbeit keine Sekunde. Der Boden war voller getrockneter und noch frischer Schlammspuren. An den Wänden des Raumes stapelten sich meterhoch Konservendosen und Plastikkisten, die in ihrer quietschigen Farbigkeit völlig fehl am Platz wirkten.

Thomas und Lea warfen sich einen unsicheren Blick zu. Was soll das sein? Thomas betrachtete die verrosteten Bärenfallen am Boden. Die Gestelle wirkten wie riesige, aufgerissene Haifisch-Mäuler aus Stahl, deren spitze Zähne eine absolut tödliche Schneidekante bildeten. Er schauderte und fragte sich, was er tun sollte. Ihm fiel keinerlei plausible Erklärung für dieses Szenario ein. Im selben Moment rief Lea hinter ihm „Hallo! Sind Sie vom Grabungsteam?!“ und Thomas fuhr vor lauter Schreck zusammen.

Doch die beiden Gestalten rührten sich überhaupt nicht. Sie blieben vollkommen durch ihre Beschäftigung absorbiert. Wieder wechselten Lea und Thomas einen verdutzen Blick. Thomas beschloss, dass sie sich erst mal zurückziehen und er Sebastian holen sollte, bevor die beiden Typen sie bemerkten. Er wollte das Lea gerade zuflüstern, als diese der kleineren Gestalt beherzt einen Arm auf die Schulter legte, noch bevor Thomas sie davon abhalten konnte.

Und Woooom!

Es dauerte keine Sekunde da hatten die beiden Gestalten eine Axt und ein Survival-Messer gepackt und wirbelten herum. Die Axt fuhr durch die Luft und Thomas konnte im letzten Moment zur Seite springen, um ihr auszuweichen, stolperte dabei aber unglücklich und landete eingeklemmt zwischen einem Tisch und einer Bank. Leas Augen weiteten sich und sie schrie aus Leibeskräften. Gleichzeitig krallte sie sich mit ihren Händen an der Tür fest, als wolle sie diese aus ihren Angeln heben, um sich zu verteidigen. Thomas robbte unter den Tisch, um dort Schutz zu suchen, doch dabei geriet ein Zipfel seiner Jacke in eine der Bärenfallen, die mit einem haarsträubenden Geräusch zuschnappte und seine Taille nur um Haaresbreite verfehlte. Jetzt saß er in der Falle. Er drehte sich dem Angreifer entgegen und versuchte auf seinem Hosenboden in Sicherheit zu rutschen, doch er hatte keine Chance. Panik erfasste ihn. Seine Lippen formten stumm das Wort „Bitte“, doch das Gesicht des Mannes mit der Axt lag im Schatten seiner Kapuze und Thomas war sich mit einem Mal nicht mal sicher, ob er es mit einem menschlichen Wesen zu tun hatte. Die Axt schnitt so messerscharf durch die Luft, dass Thomas ihr leises Summen hören konnte.

Das Geräusch seines eigenen Todes.

Der stählerne Keil sauste auf ihn zu. Reflexartig schloss er die Augen. Er konnte es einfach nicht fassen, dass sein Leben hier und jetzt enden sollte. Das war absurd, ergab nicht den leisesten Sinn, er wollte doch nichts weiter als ein Praktikum machen. Als er nach einer Weile bemerkte, dass er immer noch am Leben war, öffnete er die Augen. Sein Angreifer stand vor ihm, die Axt baumelte nun schlaff in seiner Hand. Auch die zweite Gestalt hatte das Messer sinken lassen und glitt langsam auf Lea zu, die sich immer noch an die Tür klammerte, als könne diese sie beschützen.

Atemlos keuchend standen Sebastian, Viola und Enza im Türrahmen. Sie hatten Leas Schreie gehört und waren, mit einer Holzplanke und einem altersschwachen Stuhl bewaffnet, sofort zur Baracke gerannt. Ihnen bot sich ein verwirrendes Bild. Thomas, der von einem Mann in einem verdreckten Regenmantel gerade aus einer Bärenfalle befreit wurde und Lea, die neben einem blassen Teenager mit einem großen Survival-Messer stand. Die Verwirrung in ihrer beider Gesichter ließ sie für einen Moment wie Geschwister aussehen. Dann kam der junge Bursche auf Enza, Viola und Sebastian zu, die sich unwillkürlich anspannten, aber er drängte sich lediglich an ihnen vorbei nach draußen, hielt sein Gesicht gen Himmel in den Regen und pulte sich einen dicken Klumpen gräulicher Watte oder etwas ähnliches aus dem Ohr. Sebastian sah ihm verblüfft dabei zu und versuchte das Gesehene in einen Sinnzusammenhang zu bringen, allein es wollte ihm nicht gelingen.

„Was ist hier los?“

Aufgepeitscht vom angestauten Adrenalin, überschlug sich Sebastians Stimme fast und verriet, zu seinem Verdruss, wie irritiert er war. Der Mann, der Thomas mittlerweile aus der Bärenfalle befreit hatte, begann nun ebenfalls, sich undefinierbare Klumpen aus den Ohren zu rupfen. Kein sonderlich appetitlicher Anblick. Thomas stand mit wackligen Beinen auf und winkte ab.

„Das scheint ein Missverständnis gewesen zu sein.“

Seine Stimme klang zittrig und er war aschfahl im Gesicht, durch das er sich mehrmals rieb, als wolle er einen intensiven Alptraum loswerden, aus dem er gerade erst erwacht war. Der Mann nahm seine Kapuze ab. Sein zerfurchtes, verwittertes Gesicht strahlte zugleich etwas Altersloses aus, das Sebastian irritierte. Dazu trug er eine verschmierte, wenngleich teure Markensonnenbrille für Frauen, was ihm eine düstere, beunruhigende Komik verlieh wie Clowns sie oft ausstrahlen. Sebastian blickte misstrauisch von einem zum anderen. Der Teenager schien angesichts ihres Auftauchens nervös.

„Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“

Der barsche Ton, den der Junge anschlug, passte Sebastian ganz und gar nicht.

„Ist das hier nicht der Club Med?“ entgegnete er ironisch und stellte mit Genugtuung fest, dass seine Stimme ihre Festigkeit zurückgewonnen hatte.

Der Bursche blickte hilfesuchend zu dem älteren Mann hinüber, offenbar unsicher, was er als nächstes tun oder sagen sollte. Viola spürte seine Verunsicherung und kam ihm entgegen.

„Wir sind Archäologie-Studenten der Kölner Uni und wegen des Grabungs-Praktikums hier. Professor Harris müsste längst informiert sein.“

Wieder wechselten die beiden Fremden einen Blick. Der Junge schien über etwas besorgt zu sein, doch der alte Mann machte eine Geste, als wolle er einen Hund verscheuchen.

„Die Ausgrabungen sind beendet. Unser Brief an die Uni ist wohl nicht mehr rechtzeitig eingetroffen. Tut mir Leid, dass ihr den weiten Weg umsonst gemacht habt, aber ihr müsst sofort wieder zurück!“ ratterte der Bursche eilig herunter.

Die fünf machten ungläubige Gesichter. Sebastian baute sich vor dem Teenager auf.

„Ich hoffe, das ist ein Scherz.“

Jetzt schaltete sich auch Enza ein, die ruhig und besonnen wirkte, beschwichtigend auf Sebastian einsprach, dann die kleine Gruppe einem nach dem anderen vorstellte und die beiden Fremden darum bat, sich ebenfalls vorzustellen und ihnen zu erklären, was genau eigentlich los wäre. Der Junge zögerte einen Moment und schien innerlich etwas abzuwägen. Dann wies er mit ausgestrecktem Arm auf den älteren Mann, der unbewegt da stand und die Studenten nicht eine Sekunde aus den Augen ließ.

„Das ist Professor Drago Neschev von der Uni Sofia und ich bin Miles Harris. Mein Vater leitet diese Ausgrabungen.“

Sebastian wurde mit einem Schlag freundlicher.

„Du bist Harris' Sohn?“

Miles nickte knapp.

„Hallo Miles! Professor Neschev!“, er machte einen angedeuteten Diener in dessen Richtung, was Miles zu amüsieren schien.

„Nenn ihn ruhig Drago!“ bemerkte Miles.

„Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe, aber ihr habt uns einen Mords-Schrecken eingejagt. Wir dachten schon, ihr seid Grabräuber.“

Enza fuhr ihm ungeduldig in die Parade.

„Wo ist dein Vater eigentlich?“ fragte sie Miles unvermittelt.

Miles blickte zu Boden.

Mit einer Stimme, die dem Knurren eines gereizten Rottweilers glich, erklärte Drago, dass Professor Harris im Krankenhaus sei, wegen eines Arbeitsunfalls. Sebastian setzte ein mitfühlendes Gesicht auf.

„Was ist denn passiert?"

„Er hat sich bei… einer Sprengung verletzt. Sie mussten ihm den halben Fuß wieder annähen“, antwortet Drago, obwohl Sebastian die Frage an Miles gerichtet hatte.

Viola und Lea stöhnten auf und zwischen Enzas Augen hatte sich eine steile Falte gebildet. Sie blickte Miles durchdringend an, dann wanderte ihr Blick zu Drago.

„Das ist ja schrecklich. Wie geht es ihm denn?“ fragte Viola.

„Nicht so gut“, erwiderte Miles.

„Wird er wieder ganz gesund?“ fragte Lea.

„Ja, schon, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder auf dem Damm ist. Drago und ich haben den Auftrag, hier solange die Stellung zu halten, wegen der Grabräuber usw. Damit hattet ihr also nicht ganz unrecht. Aber fürs Erste sind die Grabungen beendet.“

Sebastian unterbrach Miles empört, dass dies von offizieller Seite entschieden werden müsse und wenn diesbezüglich bereits das letzte Wort gesprochen worden wäre, hätte er das mit Sicherheit gewusst.

Miles zuckte nur die Schultern.

„Das kann ja sein. Ihr könnt trotzdem nicht hierbleiben. Drago fährt euch jetzt am besten direkt wieder zurück. Und den Rest klärt ihr dann mit eurer Uni.“

„Jetzt?“ riefen Viola und Lea wie aus einem Mund.

Den drei anderen behagte die Vorstellung, wieder hinaus in den Wald und den Regen zu müssen genauso wenig.

Drago, der bis jetzt reglos da gestanden hatte, setzte sich in Bewegung. Sein Gang war kantig und abgehackt wie der einer Schildkröte, als müsse er noch lernen, die Glieder seines Körpers zu kontrollieren, gleichzeitig bewegte er sich jedoch ungewöhnlich schnell. Er stellte sich neben Miles.

„Ja. Je eher, desto besser!“

Enza redete freundlich aber bestimmt auf den Professor ein, dass es eine Sache sei, kein Grabungspraktikum machen zu können, aber eine andere, ihnen zumindest für diese eine Nacht Unterschlupf zu gewähren. Morgen könnten sie dann immer noch in aller Herrgottsfrühe aufbrechen.

„Nein", beharrte Drago.

Miles betrachtete die Studenten. Sie waren durchnässt, hatten dunkle Ringe unter den Augen und die Erschöpfung quoll ihnen aus jeder Pore. Er packte Dragos Arm und zog ihn nach draußen. „Wartet hier!“ befahl er den anderen und verschwand mit Drago im Regen, jedoch nicht ohne die Tür vorher zuzuknallen.

Sobald die beiden die Baracke verlassen hatten, redeten alle durcheinander und machten ihrem Ärger Luft, dass sie den weiten Weg umsonst zurückgelegt hatten. Nur Enza war still und blickte sich aufmerksam in der Baracke um. Nach einer Weile rief Thomas alle zur Ruhe.

„Irgendwie glaube ich den beiden nicht. Jeder Blinde sieht doch, dass sie was zu verbergen haben!“

Sebastian stimmte seinem Freund zu und schlich zur Tür, die nur angelehnt war, um zu lauschen, doch der niederprasselnde Regen verschluckte alle anderen Geräusche. Thomas wies auf das Fenster links neben der Tür, das mit Brettern vernagelt worden war. Durch die Ritze konnten er und Sebastian beobachten, wie Miles und Drago heftig miteinander diskutierten. Miles wies immer wieder auf etwas, das an einem Holzbalken des Vordaches befestigt war und aussah wie eine Wetterstation. Die Frauen gesellten sich zu Thomas und Sebastian.

„Was sagen sie?“ fragte Viola, die vor lauter Müdigkeit bereits lallte.

„Keine Ahnung, wir verstehen hier kein Wort!"

„Sieht so aus, als würden sie sich übers Wetter unterhalten.“

Viola hielt das für einen Scherz und knuffte Sebastian in die Rippen.

„Au! Ich meinte das vollkommen ernst!“

Er und Thomas zeigten den anderen die kleine Wetterstation. Auf Leas irritiertes Nachfragen hin erklärte Thomas ihr, dass es sich dabei um eine klassische Wetterstation handelte, mit der man den Luftdruck und die Luftfeuchtigkeit mäße und so vorhersagen könnte, wie das Wetter für die nächsten paar Stunden würde, aber Enza ließ ihn nicht ausreden.

„Ja, wir wissen, wie eine Wetterstation funktioniert. Die Frage ist, wozu brauchen sie die?“

„Das Wetter ist nicht unerheblich beim Graben. Du hast ja gesehen, wie schlammig der Boden hier wird, wenn es regnet. Außerdem ist es wichtig für die Lagerung bestimmter Artefakte, vor allem was die Luftfeuchtigkeit betrifft.“

„Ich dachte, die Grabungen sind vorbei."

Sebastian beachtete den Dialog zwischen Thomas und Enza nicht. Er hatte nur Augen für Miles und Drago, die nach wie vor wild gestikulierend miteinander stritten.

„Was glauben die eigentlich, wer sie sind? Ich meine, ok, Miles ist der Sohn von Harris, aber was hat dieser Professor hier zu suchen?“

„Findet ihr es nicht auch seltsam, dass Harris seinen eigenen Sohn zum Aufpassen abbestellt hat? Miles ist doch höchstens 16 oder 17. Was ist, wenn sich wirklich ein paar Grabräuber hierher verirren? Welcher Vater tut so was?“, sagte Lea plötzlich. „Ich hab wirklich viel Gutes über den Prof. gehört, aber das finde ich ziemlich daneben, muss ich sagen.“

Die anderen blickten verblüfft zu ihr herüber.

„Stimmt“, sagte Thomas, „aber vielleicht gab es auf die Schnelle keine andere Lösung.“

Viola gähnte herzhaft, sie hatte keine Reserven mehr für derartige Mutmaßungen. In dem Moment betraten Miles und Drago die Baracke. Drago machte sich sofort an den Bärenfallen zu schaffen, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, während Miles auf sie zusteuerte.

„Also heute Nacht könnt ihr hier bleiben, aber unter einer Bedingung: Ihr verlasst auf keinen Fall das Camp. Morgen Früh bringt Drago euch zurück ins nächste Dorf. Von da aus fährt ein Bus nach Plovdiv.“

Sein Blick streifte ein paar selbstgezimmerten Regalen über der Truhe und die Paletten vor einem der vernagelten Fenster.

„Wir haben Wasser, Schnaps und die Konserven", er wies auf die meterhoch gestapelten Büchsen, „Bedient euch! Wenn ihr pinkeln müsst, nehmt die Eimer, die hier überall rumstehen, aber verlasst die Baracken nicht!“

„Bitte? Warum nicht?“ empörte sich Sebastian.

Auch die drei Frauen machten angewiderte Gesichter ob der Tatsache, dass sie ihre Geschäfte in einen Eimer machen sollten. Miles zögerte wieder eine Sekunde zu lange und auch dieses Mal war es Drago, der an seiner statt antwortete.

„Wildschweine. Nicht zu spaßen mit denen. Die töten dich, ohne zu fragen, ob du Akademiker bist, oder was.“

Er grinste nicht über seinen Witz.

„Aber das Wichtigste überhaupt ist, dass ihr euch, falls sich unsere Wetterstation irrt und der Regen in den nächsten Stunden doch aufhört, das hier in die Ohren stopft“, ergänzte Miles.

Die anderen sahen ihm verdutzt dabei zu, wie er Bienenwachs und eine Jumbo-Packung Watte auf den Tisch knallte. Dann schnappte er sich ein Knäuel Watte aus der Tüte, riss etwas von dem Wachs ab und formte dann aus beidem eine Art Pfropfen. Je länger er den Klumpen zwischen seinen Fingern rollte, umso braun-grauer wurde er. Jetzt erst fiel Viola auf, wie dreckig Miles' Hände waren. Auch seine Fingernägel schienen schon eine Weile keine Schere mehr gesehen zu haben. Sie waren lang und starrten vor Schmutz.

Als Sebastian wissen wollte, warum in Gottes Namen sie etwas derartiges tun sollten, richtete sich Drago, der sich gerade eine Bärenfalle nach der anderen auf die Schulter lud, verärgert auf.

„Entweder ihr macht, was Miles sagt, oder ihr müsst sofort wieder fahren.“

Miles warf ihm einen schnellen Blick zu und sah versöhnlich in die Runde.

„Tut es einfach! Betrachtet es als überlebenswichtige Maßnahme und fragt nicht weiter nach."

Viola griff nach Sebastians Arm und drückte ihn.

„Ich denke, das kriegen wir hin.“

Sie sah die anderen auffordernd an, die sich nacheinander dazu bereit erklärten, ihre Ohren zu versiegeln, falls der Regen nachlassen sollte - mal mehr mal weniger glaubwürdig. Nur Sebastian schwieg beharrlich, aber das entging Miles. Augenscheinlich hatten er und Drago es eilig.

Urod - Die Quelle

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