Читать книгу Tahani Kosmopolitani - Scarlett Müller - Страница 9
Tripoli
ОглавлениеTahani erwachte. Ihre Augen hielt sie aber noch geschlossen. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Tahanis Oberkörper war zur Seite gekippt. Ihr Kopf lehnte an der Schulter ihrer Mutter. Sie saß auf einer harten Pritsche und ihre Beine baumelten nach unten. Es ruckelte und schuckelte so sehr, dass ihr ganzer Körper hin und her gerüttelt wurde. Jetzt wusste Tahani, wo sie sich befand. Sie saß im Lastauto. Langsam kehrten die Erinnerungen an die vergangenen Stunden zu ihr zurück.
Als die Kinder von der Mutter geweckt worden waren, war es finstere Nacht gewesen. Sie hatten ihre Jacken anziehen sollen und jedes Kind musste seinen Rucksack schultern. Dann waren alle das Treppenhaus hinuntergestiegen und hatten den Hof durchquert.
Die Straße war nicht beleuchtet gewesen. Dicht an die Häuserwände gedrängt waren sie stadtauswärts gelaufen, einer hinter dem anderen. Niemand hatte ein Wort gesprochen. Tahani hatte ihren Atem gehört und gefühlt, wie ihr das Herz gegen die Brust gehämmert hat. Zum Glück waren sie ungesehen zum Laster gelangt. Als alle eingestiegen waren, ging die Fahrt sofort los.
Jetzt öffnete Tahani die Augen und sah in das Gesicht ihrer Mutter. Die Mutter lächelte ihr zu, streichelte Tahani und sprach:
„Du hast tief und lange geschlafen. Wir haben die Grenze bereits passiert und befinden uns im Libanon. Hier sind wir in Sicherheit. Bald werden wir die Hafenstadt Tripoli erreichen.“
Neben Tahani saß ihr Cousin Malik. Er stupste sie von der Seite an.
„Du wirst vielleicht staunen, Tahani, wenn wir am Meer stehen und die vielen Schiffe beobachten, die im Hafen hin und her fahren.“
Tahani war noch nie am Meer gewesen, Malik schon. Aber der war ja bereits fünfzehn.
„Wann fährt denn unser Schiff?“, fragte Tahani.
„Übermorgen“, antwortete die Mutter. „Wir werden am Stadtrand von Tripoli rasten und dort den morgigen Tag verbringen.“
Als sie ankamen, war es bereits dunkel. Der Vater hob Tahani vom Lastwagen und stellte sie auf den Boden. Tahani knickten die Beine kurz ein und ihr war etwas schwindelig. Den ganzen Tag hatte sie in diesem harten Pritschenwagen gesessen. Während der Fahrt waren ihr zuerst ein Bein, dann die Hand und später die Finger der anderen Hand eingeschlafen. Nun konnte sie sich endlich wieder bewegen und rannte bald mit den anderen Kindern um die Wette, währenddessen die Erwachsenen eine große Zeltplane aufspannten. Darunter wurden Isoliermatten und Schlafsäcke ausgebreitet.
Nachdem Tahani eine Weile umhergelaufen war, musste sie verschnaufen. Sie legte sich auf den Rücken und sah hinauf zum Sternenhimmel. Da kam Malik heran und stellte sich neben sie.
„Schau mal nach rechts“, sagte er. Tahani wendete den Kopf und erblickte ein weites Lichtermeer. „Das sind die Lichter von Tripoli“, erklärte Malik.
Wie auf eine Perlenschnur gefädelt zogen sich die Lichter in Schlangenlinien an der Küste entlang. Es sah wunderschön aus. In dieser Nacht lag Tahani noch lange wach, blickte auf die erleuchteten Landzungen und nahm jeden Laut wahr.
Die nächtliche Stille wurde von einem regelmäßigen fernen Rauschen durchbrochen. Das war die Meeresbrandung. Der Wind schob die Wellen vor sich her, bis sie sich vor der Küste aufbäumten, überschlugen, auf den Strand zurollten und sich wieder zurückzogen. Diese Geräuschkulisse wirkte auf Tahani äußerst beruhigend und irgendwann fielen ihr die Augen zu.
Am nächsten Morgen saßen alle in großer Runde auf ihren Matten und die Frauen verteilten Fladenbrot und Käse. Tahani bemerkte, dass ihr der Magen knurrte, und sie aß vorsichtshalber alles auf. Nach dem Frühstück machten sich Tahanis Vater, Onkel Mahmoud und Onkel Nihat auf den Weg nach Tripoli. Sie wollten den Hafen erkunden und in Erfahrung bringen, wo ihr Schiff ablegen würde. Die anderen sollten solange hier bleiben und sich erst am folgenden Tag zum Hafen begeben.
Tahani war enttäuscht. Sie wollte doch die großen Schiffe sehen und nun musste sie bis morgen hier warten. Die Großmutter sah, dass Tahani den Kopf hängenließ und setzte sich neben sie.
„Sei nicht ungeduldig“, sagte die Großmutter. „Großvater und ich möchten heute mit allen Enkelkindern ans Meer gehen und einen schönen Tag mit euch verbringen.“
Das war eine tolle Nachricht. Tahani sprang sofort auf und erzählte die Neuigkeit Samira und Gulalai. Als die beiden davon erfuhren, hüpften und sprangen sie vor Freude herum. Dann holte jede ihre Puppe, das einzige Spielzeug, das die beiden Mädchen aus Syrien mitgenommen hatten. Jetzt war Tahani ein wenig neidisch. Ohne ihre Puppe würde sie nicht richtig mitspielen können. Aber sie steckte ihre Flöte ein. „Wenn die Puppen tanzen wollen“, dachte Tahani, „werde ich ihnen eben ein Lied spielen.“
Eine halbe Stunde später war es endlich soweit. Die Großeltern begaben sich mit ihren sechs Enkeln auf den Weg zum Strand. Je näher sie herankamen, desto lauter wurde das Rauschen der Brandung. Plötzlich standen sie auf einer kleinen Anhöhe und vor ihnen lag das Meer. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Wasser. An einigen Stellen schimmerte es in Saphirblau, an anderen in Türkis. Tahani stockte für einen Augenblick der Atem, so beeindruckt war sie. Malik hatte schon seine Schuhe ausgezogen und die Hosen hochgekrempelt und war zum Wasser gerannt. Farid und Yasin stürzten ihm nach. Die Jungen lachten, johlten und spritzten sich gegenseitig nass. Nun hielt es auch Tahani nicht mehr am Fleck. Sie streifte Schuhe und Strümpfe ab und rannte los. Kurz vor dem Wasser stoppte sie und wartete, bis eine Welle ihre Füße umspülte. Das kitzelte ein wenig und Tahani hüpfte ein Stück zurück. Dann ging sie auf Zehenspitzen wieder nach vorn und zog die Knie beim Laufen ganz nach oben. Als Malik sie sah, musste er lachen und rief:
„Tahani, du siehst aus wie ein Storch!“ Da zeigte Tahani ihm eine lange Nase, musste jedoch selbst lachen. Der Großvater blies einen Wasserball auf und lud die Jungen zum Ballspielen ein.
Samira und Gulalai begannen, eine Sandburg zu bauen. Dort sollten die Puppen wohnen.
Tahani hatte keine Lust mitzuspielen. Sie interessierte sich mehr für die Möwen, die in Scharen umherflogen. Am schönsten fand Tahani die weißen Möwen. Sie hatten gelbe Beine und einen gelben Schnabel. Die Federn ihrer Flügel waren grau und hatten schwarze Spitzen. Sie schaukelten auf den Wellen oder stürzten sich kopfüber in die Fluten. Dabei stießen sie ziemlich laute Schreie aus. Tahani versuchte, die schrillen Töne der Vögel auf ihrer Flöte nachzuahmen, bis die Jungen riefen, sie solle endlich damit aufhören. Dieses Getröte sei nicht länger zu ertragen. Da lief Tahani zur Großmutter. Sie stand am Wasser und ließ ihren Blick weit in die Ferne schweifen. Tahani spähte nun ebenfalls zum Horizont. Die Linie, wo Himmel und Meer aufeinandertrafen, zeichnete sich scharf ab. Weit draußen fuhr ein Schiff. Es wirkte kleiner als eine Streichholzschachtel. Bald würde es nicht mehr zu sehen sein.
„Liegt dahinter Europa, freust du dich darauf?“, fragte Tahani. Die Großmutter nahm Tahani bei der Hand.
„Komm, wir gehen ein Stück spazieren.“
Obwohl die beiden schon einige Zeit gelaufen waren, hatte die Großmutter noch nicht auf Tahanis Frage geantwortet.
„Was ist los, Großmutter? Freust du dich auf Europa oder nicht?“, bohrte Tahani nach.
Nun hielt die Großmutter inne, setzte sich in den Sand, zog Tahani zu sich auf den Schoß und erzählte.
„Großvater und ich sind alt. Dinge, die euch Kindern und euren Eltern leichtfallen, sind für uns beschwerlich. Zum Beispiel können wir nicht über längere Zeit weite Strecken zurücklegen. Das halten unsere Knochen nicht mehr aus und der Atem wird uns knapp. Wenn ihr in der Türkei angekommen seid, habt ihr noch einen weiten Weg vor euch. Doch den schaffen Großvater und ich nicht mehr. Außerdem wollen wir in der Nähe von Syrien bleiben, unserer Heimat. Wenn der Krieg einmal zu Ende ist, möchten wir sobald wie möglich zurückkehren. Solange bleiben wir hier im Libanon.“
Tahani traten die Tränen in die Augen. Sie begann laut zu weinen, sodass ihr ganzer Oberkörper bebte. Die Großmutter hielt Tahani in den Armen und wiegte sie sanft. Tahani weinte und weinte, bis sie keine Träne mehr übrig hatte. Sie fühlte sich innen ganz hohl.
„Werden wir uns denn jemals wiedersehen?“, schluchzte Tahani. „Ich hoffe, dass es so sein wird“, antwortete die Großmutter. „Für Großvater und mich ist es das Wichtigste, unsere Kinder und Enkel in einem Land zu wissen, wo Frieden herrscht, wo sie arbeiten und zur Schule gehen können. Deshalb müsst ihr weiterziehen.“
Der Wind war stärker geworden, einige hohe Wellen rollten weit den Strand hinauf. Als das Wasser wieder abfloss, lag zu Füßen der Großmutter eine kleine Muschel. Ihre Form erinnerte Tahani an eine Eistüte mit Sahnehäubchen. Das gewundene Gehäuse war weiß und hatte braune Streifen. Seine Innenseite schimmerte rosa. Die Großmutter hob die Muschel auf und hielt sie Tahani ans Ohr. Tahani konnte es kaum glauben. Aus der Muschel drang ein feines Rauschen in ihr Ohr. War das Zauberei? Die Muschel kam aus dem Meer, aber hielt man sie sich ans Ohr, dann war das ganze Meer in der Muschel drin.
„Heb sie gut auf“, sagte die Großmutter. „Die Muschel wird dich an unseren gemeinsamen Tag am Strand erinnern. Sie soll dir Glück bringen und dich beschützen.“ Tahani steckte die Muschel in das Lederetui zu ihrer Muskatnuss. Nun erhob sich die Großmutter. „Lass uns wieder zurückgehen. Großvater und ich wollen diesen Nachmittag mit euch allen genießen.“
Als sie bei den anderen ankamen, saßen die Jungen beim Großvater. Tahani beobachtete, wie er mit der Großmutter einen kurzen Blick wechselte und beide einander zunickten. „Also wissen die Jungen jetzt auch Bescheid“, dachte Tahani.
Samira und Gulalai spielten mit ihren Puppen in der Sandburg. Die beiden Mädchen waren die jüngsten von allen. Sie gingen noch nicht einmal in die Schule. Wahrscheinlich würden sie erst morgen erfahren, dass die Großeltern nicht mitkamen. „Ist vielleicht besser so“, überlegte Tahani. „Samira und Gulalai können sich sowieso nicht vorstellen, wie weit entfernt wir in Zukunft von den Großeltern sein werden.“
Nun entknotete die Großmutter ein Leinentuch. Der köstliche Inhalt kam zum Vorschein, süße Leckereien, welche die Großmutter noch in Syrien gebacken hatte. Tahani rief die anderen herbei. Bald saßen alle um das Tuch versammelt und ließen sich die Leckerbissen schmecken. Inzwischen glühte die Sonne in dunklem Orange und färbte den Himmel rosa ein. Sie war schon zur Hälfte ins Meer eingetaucht, bald würde sie gänzlich versinken. Der Großvater stimmte „Janna“ an, ein Lied vom Paradies und über die Sehnsucht nach der Heimat. Tahani spielte es noch einmal auf ihrer Flöte. Dann packten sie alles zusammen und machten sich auf den Weg zu ihrer Lagerstätte.
Als sie dort eintrafen, war Tahanis Vater bereits aus Tripoli zurückgekehrt. Er kannte nun die genaue Anlegestelle der Fähre und würde die Familie morgen dorthin bringen. Dafür hatte er einen Kleintransporter gemietet. Onkel Mahmoud und Onkel Nihat waren am Kai geblieben. Sie verbrachten die Nacht am Anleger, weil sie sicher stellen wollten, dass die Familie auch wirklich an Bord gelangte.
Tahanis Vater erzählte, am Hafen würden hunderte Menschen versuchen, noch ein Ticket für die Fähre zu ergattern, obwohl diese schon seit Wochen ausgebucht sei. Da die Fähre nach Tasucu nur dreimal pro Woche verkehre, aber täglich mehr Menschen in Tripoli einträfen, herrsche auf dem Hafengelände das blanke Chaos. Tahani erfuhr, dass ihr Vater die Tickets für die Überfahrt bereits vor mehreren Wochen gebucht hatte.
So lange war es also schon beschlossene Sache gewesen, Syrien zu verlassen. Tahani war sich nicht sicher, ob sie ärgerlich oder froh darüber sein sollte, dass die Eltern ihr nichts davon erzählt hatten. Auch als Tahani längst in ihrem Schlafsack lag, grübelte sie noch über diese Angelegenheit nach.