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Kapitel 1 Tora

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Juni, 4918.

Sein Haar war chaotisch und stand aufrecht wie elektrisiert. Es hatte erste graue Strähnen.

„Herr Einstein, was sagen Sie zu der Veröffentlichung Ihres Kollegen Albrecht Hoffmann?“

„Was für ein Kollege von mir ist er denn?“

„Nun, er publiziert hin und wieder physikalische Theorien. Auf die neueste bezieht sich meine Frage.“

Einstein nickte kaum merklich. Dutzende Gesichter waren auf ihn gerichtet. „Und meine Antwort ist – Schuster, bleib bei deinen Leisten. Da er wohl auch fiktionale Geschichten verfasst, sollte er dabei bleiben. Wer auf diese Art und Weise Masse und Energie verwechselt wie er, hat in der Physik nichts zu suchen.“

„Verstehe.“ Der Reporter sah auf seinen Zettel. „Und was sagen Sie zu seiner These über die Unendlichkeit? Es ist der zweite Punkt der Veröffentlichung.“

„So weit habe ich seine Publikation nicht gelesen.“ Einsteins Augen musterten die neugierigen Gesichter. „Aber ich kann Ihnen verraten, was ich von der Unendlichkeit halte.“

„Bitte.“

Einstein schwieg einen Moment. „Wissen Sie, zwei Dinge sind unendlich. Das Universum und … die menschliche Dummheit. Ich gestehe aber, dass ich mir beim Universum noch nicht ganz sicher bin.“

Einige Reporter lachten.

Das holografische Video stoppte. Einstein und der Interviewer sahen sich stumm an.

Ich saß inmitten des Videos und hatte ein Grinsen auf den Lippen. Unsere Vorfahren hatten Humor besessen.

Melina kam zu mir. Sie umlief meinen Sessel und gab mir einen sanften Kuss. Meine Gefährtin setzte sich neben mich, steckte sich eine Wasserpfeife in den Mund und lächelte mich an. Gemeinsam pafften wir.

„Einstein?“

Ich nickte. „Einer der frühen Wissenschaftler.“ Eine weiße Nebelfontäne stieg aus meinem Mund nach oben.

„Es ist immer wieder erstaunlich, wie früh die Menschen so geniale Gedanken hatten.“ Sie strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Auch aus ihrem Mund stieg weißer Dampf.

Bei der Pfeifenbeigabe hatte ich mich für ein Holz aus dem Amazonasgebiet entschieden, dessen Geschmack ich im Mund hatte. Melina nahm ein Gewürz aus Afrika. Im Gegensatz zu unseren Vorfahren rauchten wir längst keinen Tabak mehr.

„Wenn wir schon so weit von der Heimat entfernt sind, sollten wir sie uns nicht zu selten ansehen.“ Sie sah mich an und hob die Augenbrauen. „Tora, zeig uns Naturaufnahmen der Erde.“

Ich war mir beinah sicher, dass wir längst alle Aufnahmen etliche Male gesehen hatten. Die Wahrscheinlichkeit war nicht gering, dass wir die Erde nie wieder sehen würden.

Redete man zur Zeit Einsteins noch von Lichtgeschwindigkeit, waren unsere Erbauer jener Raumschiffe, in denen wir durch das Universum flogen, längst so weit, dass wir Dimensionsantriebe verwendeten, die uns mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit antrieben.

Unser Ziel war die Tora’vosh-Galaxie, die elf Milliarden Lichtjahre von der Milchstraße entfernt lag. Kein Mensch wurde so alt, dass er eine solche Reise mit Lichtgeschwindigkeit schaffen würde. Meine Gefährtin und ich waren seit circa achtundfünfzig Jahren und neun Monaten unterwegs. Wir würden in etwa einer Woche unser Ziel erreichen.

Unsere Fracht bestand aus Hunderten Tiergattungen, die, ähnlich wie jene der Arche Noah in grauer Vorzeit, darauf warteten, eine neue Heimat zu finden. Doch unsere tierischen Begleiter würden erst aufgeweckt, wenn wir zweifelsfrei eine neue Heimat gefunden hatten. Dort sollten sie der erneuten Gefahr des Aussterbens nicht mehr ausgesetzt sein.

Melina und ich waren nicht die einzigen Forscher, die so tief im Universum unterwegs waren. Es waren Hunderte. Ein paar wenige hatten die gleiche Galaxie wie wir als Ziel, würden ein paar Wochen später eintreffen.

Doch uns ging es weniger darum, eine neue Heimat zu finden, denn unsere Reise hatte einen tragischen Hintergrund.

Nachdem die Menschheit im dritten Jahrtausend nach und nach in die Milchstraße vorgedrungen war und diese zum Teil besiedelt hatte, war irgendwann im vierten Jahrtausend etwas Unfassbares geschehen: Wir hatten den biologischen Willen zur Fortpflanzung verloren. Es gab keinen Sexualtrieb mehr. Meine Gefährtin und ich, die seit fast sechzig Jahren unterwegs waren, hatten noch nie Geschlechtsverkehr gehabt. Testosteron und Östrogene funktionierten nicht mehr. Und die Menschheit, die im dritten Jahrtausend mit gut einhundertzwanzig Milliarden Menschen ihren Höhepunkt erreicht hatte, begann zu schrumpfen.

Unsere Vorfahren waren alarmiert, aber etliche Versuche, den Prozess umzukehren, scheiterten. Die künstliche Befruchtung, die den verlorenen Sex ablöste, funktionierte nicht wie erwartet. Neun von zehn erzeugten neuen Menschen überlebten die ersten zehn Jahre nicht. Unsere Wissenschaftler waren verzweifelt. Sollten wir auf diese Weise aussterben?

Wir suchten daher im gesamten Universum nach einer Lösung. Unsere Raumschiffe maßen sechzehn Kilometer. Gemäß der Evolution hatten wir, zumindest für die Säugetiere, eine Paarkonstellation von zwei männlichen sowie fünf weiblichen Exemplaren, die uns begleiteten. Der Rest des Raumschiffes glich einer kleinen Stadt, nur für uns. Wir machten Sport, spielten Bewegungsspiele, die in den letzten Jahrhunderten entwickelt worden waren. Darunter war Galaktisches Tennis, eine Weiterentwicklung des normalen. Man spielte in einer Kugel von einhundert Metern Durchmesser. Der Ball war eine holografische Kugel, welcher mit hoher Geschwindigkeit hin und her geschleudert wurde. Er wurde so schnell, dass man damit theoretisch jemanden verletzten konnte. Daher verwendeten wir ihn ohne physischen Körper.

„Deine Zelldusche ist so weit, Melina.“ Tora, unsere positronische Intelligenz, riss mich mit ihrer Stimme aus meinen Gedanken.

Melina neben mir stöhnte auf.

Schmunzelnd sah ich zu ihr. „Du hast gestern schon verschoben.“

Sie nickte und streckte sich auf dem Sessel aus. „Ich weiß.“ Ihre Nieren und Leber würden eine Zellauffrischung erhalten. In wenigen Monaten waren die Milz und ein Teil des Darms an der Reihe.

„Du kannst dich ihr anschließen, Nathanael.“

Erstaunt sah ich nach oben, auch wenn Tora überall war. Ihr positronisches Netz durchzog nahezu jeden Teil des Schiffes. „Ach so?“

„Deine Lungen sind an der Reihe.“

Jetzt war ich es, der geräuschvoll die Luft ausstieß.

Melina grinste mich an und erhob sich. „Komm, Nale – gemeinsam.“

Ich verließ mit ihr unseren Videopark. Wir überlegten, ob wir die Gleiter nehmen sollten, entschieden uns aber zu laufen. Wir wollten unsere athletische Form behalten. Im Jogging-Modus rannten wir durch die Gänge, durchquerten unseren Garten, den Melina kurz nach dem Start angelegt hatte – mit Dutzenden Pflanzen und Blumen. Sie machte sich dabei sogar die Hände schmutzig, was eigentlich unnötig war, da wir Apparate hatten, die dies erledigten. Melina fühlte sich durch das Berühren der Erde unserer Heimat nah. Ich verstand sie sehr gut. Nicht nur, weil sie unsere Biologin war. Entomologie, Zoologie allgemein, Botanik und Anatomie des Menschen.

Dass sie mich Nale nannte, war eine Abwandlung meines eigentlichen Namens. Anfangs hatte sie mich nach Nathan Nael genannt, inzwischen verwendete sie eben diese Variante. Ich wiederum rief sie Lina.

Wir erreichten den medizinischen Bereich unseres Schiffs und legten uns auf die Liegen, über die die Zellduschen vorgenommen wurden. Für eine Stunde des Tages erneuerten sich unsere Zellen. Uninteressiert verfolgte ich die vier Lichtquellen, die auf meinen Körper einschwenkten und über einen weißen, einen roten, einen grünen und ein blauen Laser Energie auf mich schossen – in meine Lungen.

Wissenschaftler der Erde hatten vor Urzeiten herausgefunden, wie man verhindern konnte, dass Stamm- und Normalzellen einen nicht beabsichtigten Tod starben. Normale Zellen, die nach vierzig bis fünfzig Teilungen mit dem Stoffwechsel aufhörten, wurden durch damals neu eingeführte Zellduschen praktisch wieder auf eins heruntergesetzt. Das war nur ein Teil der Erneuerung.

Unsere Lebenserwartung war durch den Wissenszuwachs der letzten Jahrtausende in die Höhe geschossen. Aufgrund der langen Reise waren Melina und ich inzwischen zweiundneunzig beziehungsweise dreiundneunzig Jahre alt. Gemessen an den antiken Alterungsprozessen der Menschen waren wir Mitte dreißig. Viele Menschen waren anfangs neugierig gewesen, was man mit scheinbarer Langlebigkeit erreichte. Die Verrücktesten von uns hatten ein Alter von über fünfhundert Jahren geschafft. Der Rekord stand sogar bei sechshundertundzehn.

Durch den Zuwachs des Wissens über den menschlichen Körper im dritten Jahrtausend hatten die Wissenschaftler begonnen, die Junk-DNS, die jeder in sich trug, nutzbar zu machen. In einem ersten Versuch hatte man einem mit Malaria infizierten Menschen einen kleinen Teil seiner DNS umprogrammiert. Als Folge war Immunität gegenüber dem Virus entstanden. Die Industrie hatte Insiderberichten zufolge vor Wut geschäumt, weil sich nun das Gegenmittel immer schlechter verkaufte.

Der Erfolg der Umprogrammierung zog mit den Jahrzehnten weitere nach sich. Bei einem Krebspatienten wurde ebenfalls die Müll-DNA reprogrammiert. Der Patient wurde immun gegen das größte Übel der Menschheit. Und erneut ging mit den Jahren ein weiterer Industriezweig pleite. Krebsmedikamente wurden wertlos.

Die Folge war eine Bevölkerungsexplosion. Etliche Menschen wanderten auf den inzwischen terraformierten Mars aus. Erste Expeditionen verließen das Sonnensystem in Richtung Alpha Centauri und weiteren Sternen.

Und wir, Melina und ich, waren nun gut elf Milliarden Lichtjahre von unserer Heimat entfernt. Da wir Forscher waren, hatten wir uns dazu entschieden. Den Sexualtrieb mochten wir verloren haben, aber unsere Neugier nach dem noch Unbekannten war geblieben. Und unsere Hoffnung, irgendwo da draußen eine Form von Sexualheilung zu finden, an die wir noch nicht gedacht hatten.

Meine Gefährtin und ich arbeiteten zwar nicht in der direkten Wissenschaft – das taten Kollegen mit einer besonderen Auslastung ihres Gehirns von fünfundachtzig Prozent –, doch selbst wir Forscher nutzten circa sechzig bis fünfundsechzig Prozent unserer Gehirne. Der Rest unserer Mitmenschen, zu denen auch Künstler zählten, arbeiteten gut mit der Hälfte.

Meine Liege klappte nach oben, ich entstieg ihr. Auch Melina war fertig.

„Melina, Nathanael – es wird Zeit für das psychologische Programm.“

Erstaunt sah ich Melina an. „Kannst du das spezifizieren, Tora?“

„Ihr habt euch vor exakt acht Jahren das letzte Mal gestritten.“

Ich stöhnte auf.

Melina schüttelte den Kopf. „Tora, das war kein Streit.“

„Du kannst unmöglich wollen, dass wir wie unsere Vorfahren die Stimme erheben, uns anbrüllen oder gar handgreiflich werden.“

Videos erschienen um uns herum und zeigten historische Streitsituationen. In einem Fall kam ein Mann von der Arbeit nach Hause und regte sich auf, dass der Rasen vor dem Haus nicht gemäht war. Der Sohn, der offenbar dieser Arbeit zugeteilt war, sagte, er hätte keine Zeit gehabt.

„Bitte streitet euch!“

Ich seufzte. „Ich streite mich höchstens gleich mit dir, dass du so einen Unsinn von uns willst.“

„Das hätte keinen Sinn, da ich für Streit nicht programmiert bin.“

„Wir auch nicht, Tora. Nael und ich kennen uns solange, dass es keine Streitgründe mehr gibt. Mögliche Ursachen existieren nicht mehr.“

„Vor acht Jahren habt ihr euch gestritten.“ Tora zeigte uns eine Szene, an dem wir an unserer Unterwasserwelt gewesen waren. Ich hatte Lina damals lediglich gesagt, dass ich mir Fische im Bassin gut hätte vorstellen können. Sie lehnte ab, weil sie einen anderen Zweck für die Wasserwelt vorsah.

„Das … Das nennst du sich streiten?“ Lina stand der Mund offen.

„Tora, wenn Lina und ich Meinungsverschiedenheiten haben, hat das nichts mit einem Streit zu tun.“

„Das würde bedeuten, dass ihr euch noch nie gestritten habt.“

„Du hast es erfasst.“

„Ja, Tora, wir sind todlangweilig.“

Lina lachte und küsste mich auf die Wange.

„Tora – ich setze den Streitpunkt deines psychologischen Programms außer Kraft.“

„Dazu ist zusätzlich Melinas Einwilligung erforderlich.“

„Die erfolgt hiermit.“

Es war später Abend. Die künstliche Sonne, die wenige Kilometer über uns hing, und uns seit dem Start ein Gefühl von Tag und Nacht vermittelte, war erloschen.

Wir nahmen uns an der Hand und schlenderten in den Erholungstrakt, der unterschiedliche Vergnügungen zur Verfügung stellte. Eine davon war ein lebensechtes Holodeck, das Melina und mir in dieser Nacht den Strand von Miami Beach bot. Wir hatten die täuschend echte Illusion noch nicht betreten, als wir schon Strandmusik hörten. Wir betraten die ‚Arena‘ und gesellten uns zu tanzenden Menschen hinzu.

Melina schloss lächelnd ihre Arme um mich und unsere Schritte bewegten sich zur Musik. Meine Gefährtin, die auf dem Mars geboren war und mit ihren Eltern im Alter von acht Jahren auf die Erde übersiedelte, war in Florida aufgewachsen.

Geschätzt dreißig Menschen ‚begleiteten‘ uns durch die Nacht.

Erst gegen zwei Uhr morgens sanken wir ins Bett, um bereits gegen fünf Uhr den morgendlichen Badgang zu absolvieren. Dieser Zeitrahmen war normal für uns. Beim Duschgang unterschieden wir zwischen dem medizinischen und dem romantischen. Bei Letzterem verwendeten wir jene Art Dusche, die schon unsere Vorfahren genutzt hatten: Wasser kam aus einem Duschkopf. Bei der medizinischen Dusche stellten wir uns auf eine Plattform und wurden mit unterschiedlichen reinigenden Substanzen eingesprüht. Das war vor allem für Melina wichtig, die gern in der Erde buddelte.

Als ich in unseren Speisebereich kam, war das Frühstück bereits fertig. Melina prüfte die Brotmaschine, die uns warme, duftende Brötchen bescherte. Die Ressourcen dazu bauten wir an, auch wenn uns die Materiemaschinen, mit denen wir nahezu alles Mögliche herstellen konnten, eine Alternative boten. Aber Melina und ich bevorzugten das Natürliche. Einige Decks weiter hatten wir große Anbauflächen für Getreide, Gemüse, Obst und Salat. Allein Weizen und Roggen bauten wir auf jeweils zwei Hektar an. Gemüse auf weiteren drei. Im vierten Jahrtausend hatten unsere Wissenschaftler Verfahren entwickelt, mittels derer Getreidesorten in nur vier Wochen nach dem Säen ausgereift waren und über unsere Maschinen geerntet wurden. Nach einem Tag Pause wurden die Flächen remineralisiert. Anschließend wurde erneut ausgesät.

Mit handlichen Lasermessern schnitten wir die Brötchen auf und verspeisten sie mit Obstmarmelade, die wir aus unserem Anbau herstellten.

Nachdem wir uns gesättigt hatten, fuhren wir mit den Gleitern zu unserer Unterwasserwelt, die mit den meisten Platz einnahm. Wir zogen Anzüge an, die der Haut von Haien nachempfunden war. Unser ‚Schuhe‘ waren nachgebaute Fischflossen. Durch eine Errungenschaft aus dem Ende des vierten Jahrtausends waren wir Wasseratmer geworden. Durch eine weitere Manipulation der DNS konnten wir für mehrere Stunden unter Wasser leben und atmen.

Zusammen sprangen wir ins Wasser und tauchten einhundert Meter nach unten. Wasser rann in meine Lungen, nach Kontakt mit dem Wasser wandelten sich unsere Lungenbläschen in Kiemen um. Wir schwammen auch nicht in Süß-, sondern in Salzwasser. Für die Dauer des Tauchens waren unsere Geschmacksnerven auf einen Bruchteil reduziert. Auf unseren Augen lag eine deutlich wasserverträglichere Schicht während des Tauchens.

Ich folgte Melina, die zu unseren Korallenstöcken schwamm. Sie nahm einen Scanner und prüfte die Bodengegebenheiten. Fünfhundert Meter entfernt lag ein künstlicher Vulkan, der zwar nie ausbrach, aber die Korallen mit Nährstoffen versorgte. Melina prüfte dessen korrekte Arbeitsweise ebenfalls. Fische gab es in unserer Unterwasserwelt zu meinem Leidwesen keine. Nur eine Flora. Melinas Brust hob und senkte sich, während sie die Daten, die holografisch vor ihr erschienen, kontrollierte. Wir ließen uns von der künstlichen Strömung treiben und näherten uns weiteren Korallenbänken. Melina nickte mir zu. Ich zog gleichfalls einen Scanner und kontrollierte das Wasser auf Plankton und Algen, die unter anderem als Nährstoffe für die Korallentiere dienten. Jede einzelne der in Abständen von hundert Metern befindlichen Bänke suchten wir auf und untersuchten die Umweltbedingungen. Melina hatte diese Unterwasserwelt bereits in den ersten Monaten unserer Reise angelegt, um ihrer Biologieleidenschaft nachgehen zu können.

Nach fast zwei Stunden kehrten wir an die Oberfläche zurück. Unser Unterwasserspaziergang war für den Tag beendet. Für den restlichen Vormittag war Melina normalerweise damit beschäftigt, eine Insektenart zu studieren. Sie verwendete dazu ein Holodeck, das für diese Untersuchung meist einen ganzen Quadratkilometer abdeckte. Nicht selten begleitete ich sie. Manchmal erzählte sie mir von den Tieren und Pflanzen, die uns begegneten. Diese Ausflüge unternahmen wir weniger, damit Melina dazulernte, denn sie war vollausgebildet und hatte gewaltige Kenntnisse in ihrem Fach. Sie war Biologin mit Leidenschaft und in ihrer Freizeit besuchte sie oft die verschiedensten Orte und beobachtete Flora und Fauna. In unseren Datenbanken war die komplette Oberfläche der Erde abgespeichert. Manchmal, wenn die Wintermonate Einzug hielten, suchten wir Schneegebiete in ‚Alaska‘ auf und fuhren Ski.

Doch unser Hauptziel war und blieb Tora’vosh – elf Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt.

Wir zogen uns um. Melina musterte mich. „Weißt du, welcher Tag heute ist?“

Ich nickte. „Den Berechnungen zufolge erreichen wir heute einen Punkt einhundert- bis einhundertfünfzigtausend Lichtjahre von Tora’vosh entfernt. Tora – Entfernung zeigen.“

Eine Zahl wurde vor unseren Augen eingeblendet: einhunderteinundvierzigtausend Lichtjahre.

Melina lächelte. „Tora – verlangsamen auf halbe Lichtgeschwindigkeit.“

Normal erreichte uns, da wir mit einem Vielfachen dieser Geschwindigkeit flogen, kein Sternenlicht von außerhalb. Unsere Außenschirme wären daher komplett schwarz. Einmal pro Jahr gingen wir daher auf ‚Unterlicht‘ und holten uns den neuesten Schnappschuss des uns umgebenden Alls. Selbst wenn wir dabei unsere künstliche Flugdimension nicht verließen, diente dieser Schnappschuss uns als Außenschirm.

Ich verfolgte die Anzeige mit dem Bremsvorgang. Im Normalraum wären mehrere Dinge nicht möglich. Erstens – Übertreten der Lichtgeschwindigkeit auf normalem Wege. Zweitens ein Abbremsen in der Form, wie wir es gerade taten. Im Normalraum hätte die Tora bei unserer Geschwindigkeit eine so große hypothetische Energie, dass wir damit Beteigeuze um das Fünffache übertroffen hätten.

Wir hatten eine Reisegeschwindigkeit, die zwischen dem einhundertneunzig und zweihundert millionenfachen der Lichtgeschwindigkeit lag. Theoretisch konnten wir unendlich schnell fliegen, jedoch hatten Testflüge in die Andromedagalaxie Nebenwirkungen gezeigt. Unsere Testschiffe waren mit der fünfhundertmillionenfachen Geschwindigkeit geflogen. In unserer künstlichen Dimension kein Problem, jedoch zeigten Analysen, dass der Raum, der die künstliche Dimension berührte, Risse bekam. Ein normales Schiff, das einen Raum mit einem solchen Schaden passierte, wurde heftig durchgeschüttelt. Ob das normale Raum-Zeit-Gefüge beschädigt wurde, daran arbeiteten unsere Wissenschaftler zurzeit. Die Grenze, ab der diese Schäden entstanden, lag bei circa zweihundertfünfzig millionenfacher Geschwindigkeit.

Ein weiterer Punkt, den wir mit Erstaunen festgestellt hatten, war, wir überwanden die Gesetze der Raumzeit. Laut Albert Einstein krümmte ein Objekt mit hoher Geschwindigkeit im Raum auch das Zeitgefüge. Das Reisende alterte langsamer als ein Beobachter von außerhalb. Nicht so mit unseren Dimensionsreisen: Während unserer knapp neunundfünfzig Jahre, die wir unterwegs waren, hatte die Erde die gleiche Zeit durchlebt. Das gab uns die Hoffnung, irgendwann einmal noch unsere Familien wiedersehen zu können.

Es dauerte zwei Minuten, bis wir die Lichtmauer nach unten durchbrachen. Sofort sahen wir die Konsequenzen: Um die Tora herum flimmerte das Licht, dann hatten wir das All vor uns. Und auch – Tora’vosh. Auf unserem Schirm hatte sie bereits eine Größe von circa sechzig Quadratmetern.

Ergriffen sah ich unser Ziel. Der Anblick rührte mich zu Tränen. Melina umschloss meine Hand. Tora’vosh war eine gewöhnliche Spiralgalaxie, deren Farbenpracht mich überwältigte. Auch bei Melina flossen Tränen.

Selten hatte ich so viele kraftvolle Farben und Farbnuancen gesehen. Ich konnte mich kaum abwenden. Dann tat ich es aber doch, drehte mich und – staunte erneut. Abgesehen von unserer Zielgalaxie sah ich so viele Galaxien wie noch nie zuvor in meinem Leben! Mein Mund stand offen.

„Tora“, sagte Melina. „Gemessen am menschlichen Auge, wie viele Galaxien sehen wir?“

„Vierhundertzweiundsechzig.“

Ein Gedanke kam mir, bei dem ich lächeln musste. „Tora, wie viele Galaxien siehst du?“

„1.851.701.“

Melina stieß die Luft aus. Auch ich war von dieser gewaltigen Zahl überwältigt.

Melina sah mich an. „Lust auf einen Ausflug?“

Ich lächelte und nickte.

„Tora – Geschwindigkeit auf null, Dimensionstriebwerk auf Stand-by.“

„Wie du möchtest.“

Weltraumspaziergänge hatten wir vor unserem Start bereits gemacht. Im Orbit der Erde und auch über dem Mars. Tora brachte uns Anzüge, die wir überstreiften. Uns standen etliche Funktionen zur Verfügung, doch der Schutz vor dem tödlichen All war die wichtigste.

Mit unseren Gedanken steuerten wir die Anzüge, die in Atmosphären eines erdähnlichen Himmelskörpers flugfähig waren, außerhalb der Tora und liefen über das Chassis. Aufmerksam musterte ich die Oberfläche unseres riesigen Schiffes. Ich beugte mich zu ihr hinunter und fuhr mit der Hand darüber. Technisch bestand sie aus einer Legierung, die fünfhundert Millionen Mal härter war als Diamant, aber trotzdem bei Bedarf biegsam. Außerdem kam noch ein Schutzschirm dazu. Sollten wir jemals in eine kriegerische Auseinandersetzung geraten – wir waren mehr als vorbereitet. Und Tora wachte über uns in jedem kleinsten Bruchteil einer Sekunde.

Das Chassis machte einen guten Eindruck. Die Reise in der künstlichen Dimension war bisher ordentlich verlaufen.

Melina stand direkt neben mir. Ich erhob mich und ergriff ihre Hand. Sie erwiderte meinen Druck und sah mit mir gemeinsam hinauf. Ein Bild, das es sonst nirgends gab innerhalb einer Galaxie. Sobald wir Tora’vosh endgültig erreicht hatten, würden Milliarden Sterne diese Sicht überdecken.

„Das ist einer der Gründe, warum ich Forscher geworden bin.“ Meine Stimme klang ehrfürchtig, bewegt.

Melina nickte. „Ob wir von hier die Milchstraße sehen?“

Ich schüttelte den Kopf, da ich etwas mehr von Astronomie verstand als sie. „Kaum. Dafür sind wir zu weit entfernt. Ihre Helligkeit ist zwar überdurchschnittlich, aber vermutlich wird sie von anderen Galaxien überdeckt.“

Ich schaltete das positronische Interface vor meine Augen. „Tora – kannst du uns die wahrscheinliche Position der Milchstraße zeigen?“

Der Ausschnitt, den Tora uns zeigte, lag in einem Bereich, den ich als Richtung weniger erwartet hatte. Zuerst glich es einem Punkt, den ich etliche Male vergrößerte. Meine Vermutung schien richtig – das Licht vieler anderer Galaxien erschwerte eine Betrachtung, doch Tora tat uns den Gefallen und ließ unsere Positronik so lange rechnen, bis die Milchstraße in einer Größe von circa fünf Zentimetern vor uns lag. Doch …

„Nale, das sieht nicht wie die Milchstraße aus. Das, was wir sehen, ist völlig anders.“ Lina hatte das Gesicht ungläubig verzogen. „Bist du sicher, dass das die richtige ist?“

Ich nickte. „Du musst berücksichtigen, dass wir über elf Milliarden Lichtjahre überbrückt haben. Wir sehen daher unsere Galaxie im Alter von gerade einmal zwei Milliarden Jahren, als sie noch sehr jung war. Das Licht mit dem aktuellen Zustand wird erst in elf Milliarden Jahren hier eintreffen. Würden wir hinüberwinken und diese Aktion mit einem Lichtstrahl unterstützen, würde man dies auch erst in elf Milliarden Jahren in unserer Heimat sehen.“

Melina nickte. „Ja, jetzt ergibt das Sinn. Du hast recht.“

„In dem Zustand, in dem wir sie jetzt sehen, existiert noch nicht einmal unser Sonnensystem. Die Entstehung der Sonne würden wir hier erst in sieben Milliarden Jahren sehen.“

Sie lächelte. Ich spürte, sie war glücklich. Ich war es auch. Doch würden wir je zurückkehren? Diese Antwort stand in den Sternen. Ich lachte bei dem Sprichwort.

„Einen Moment.“ Ich aktivierte mein Arbeitsprotokoll. „Tora, wir führen einige Messungen durch.“

„Arbeit?“ Melinas Augen folgten neugierig.

Ich nickte. „Möglicherweise bekommen wir neue Daten und Hinweise auf die Form des Universums.“

Melina verschränkte ihre Arme. „Dass es keine Kugelform hat, wissen wir.“

Der Messungsprozess lief. Ich wartete gespannt auf die Ergebnisse der Hintergrundstrahlung. „Ja. Ebenso, dass es keinen Urknall gab, wie die Menschen der Spätantike lange Zeit dachten. Unsere Wissenschaftler vermuten eine geschlängelte Ovalform, die eine kreisähnliche Form annehmen könnte.“

„Und wie groß ist dann das Universum?“

Ich zeigte ihr ein Modell, das der Annahme unserer Wissenschaftler entsprach. Die Messungen liefen noch. „In der größten Entfernung vermuten wir über einhundertfünfzig Milliarden Lichtjahre. Wenn wir diese Linie hier als eine Art Radius nehmen, kommen wir auf zwanzig bis fünfundzwanzig Milliarden Lichtjahre. Wir wissen es nur nicht genau.“

„Dann sind unsere elf Milliarden Lichtjahre nicht so viel, wie ich dachte.“

Die Messungen gingen zu Ende. Tora visualisierte die Ergebnisse.

„Wir haben zum Teil normale Schwarzkörperstrahlung.“ Ich hob meinen Arm und ruderte damit umher. „In diesem Bereich und da drüben. Aber im Bereich jenseits von Tora’vosh ändert es sich. Unsere Vorfahren nannten es Gravitationsrotverschiebung. In dem Bereich ist sie am höchsten.“ Ich erklärte ihr die Zusammenhänge.

„Werden die Ergebnisse durch die Zeitdilatation nicht verfälscht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Dieser Punkt ist bereits herausgerechnet.“

Melina schwieg einen Moment. „Na gut. Und was sagt uns das?“

„Dass wir der Theorie des länglichen Universums näherkommen und die von mir genannte Größe wahrscheinlicher wird. Wir sind damit höchstwahrscheinlich nicht in der Nähe des Endes des Universums, sondern weiterhin nur mittendrin.“

„Komm.“ Melina zog an meiner Hand. „Ein kleiner Ausflug.“

Wir stießen uns ab und schwebten durch den toranahen Orbit. Zuerst ohne feste Richtung, dann drehten wir uns, flogen in Richtung Tora’vosh. Ich konnte mich erneut kaum sattsehen. Über einhunderttausend Lichtjahre waren wir noch entfernt. Würde man eine Klongalaxie entsprechend drehen und zu uns ausrichten, würden ihre äußersten Ausläufer uns gerade berühren. Ein Ausläufer, der allein ein paar Hunderttausend Sonnen trug.

Eine Stunde später kehrten wir ins Innere zurück, Tora reaktivierte den Dimensionsantrieb und wir nahmen an Fahrt auf.

Zeit für ein zweites Frühstück. Melina aktivierte die Brotmaschine, kurz darauf verspeisten wir weitere fünf Brötchen und aßen dazu Bananen. Jene kamen aus der Obstplantage.

Wir hatten fünf bis sechs Mahlzeiten am Tag. Da unsere Gehirne und unsere Körper deutlich leistungsstärker und damit energiehungriger waren, als es bei unseren Vorfahren der Fall gewesen war, war eine Energiemenge von bei mir siebenundvierzigtausend Kilojoule und bei Melina von einundvierzigtausend Kilojoule normal. Ich brachte achtundneunzig Kilogramm auf die Waage bei einer stattlichen Größe von einsdreiundneunzig.

Vor der ersten Pfeifenrunde vor Mittag spielten wir eine Partie fünfdimensionales holografisches Schach. Wir verwendeten dazu keine Steine mehr, sondern bewegten die holografischen Objekte mit unseren Gedanken.

Die Regeln, du zum antiken Schach zusätzlich dazukamen, waren kompliziert. Bei unseren Vorfahren war es noch üblich gewesen, dass manch ein Spieler minutenlang einen Zug überdachte, bis er ihn endlich ausführte. Das war graue Vorzeit. Bei unserer Art zu spielen, hatte der Teilnehmer gerade einmal eine halbe Sekunde Zeit zur Ausführung. Schien das für ein einziges Brett gerade noch machbar, kam nach einigen Zügen auf dem ersten Brett das zweite Brett dazu. Spielte man hier gut, durfte man geschlagene Steine bei einem unteren Brett wieder dazusetzen. Anschließend kam das dritte Brett, dann das vierte und zum Schluss das fünfte. Und – nach jedem Zug sank die Zeit, in der man reagieren musste um eine Millisekunde. Melina und ich erfreuten uns einmal die Woche an einer Partie, die gut und gern die eine oder andere Stunde dauerte, weil eben nicht nur Figuren geschlagen, sondern auch wieder hineingesetzt werden durften. Obwohl ich statistisch sechs von zehn Partien gewann, war Melina heute siegreich.

Bevor das Mittagsmahl anstand, ließ ich mich von einem Gleiter in das Innere von Tora bringen. Ihr Kern hatte inzwischen eine Größe von rund neunzig Metern – ich musste per Lift zu ihr hinuntergelangen. Tora bestand aus einer Mischung aus quantenmechanischen, positronischen Teilen und zellulärer, DNS-ähnlicher Faser.

Ich lächelte, wenn ich daran dachte, wie wenig Wissen unsere Vorfahren aus dem Zeitalter Einsteins über Quantenmechanik hatten beziehungsweise was man zu wissen geglaubt hatte. Vergleiche von Tora mit frühzeitlichen, antiken Computern schienen absurd. Damals hatten Computer noch mit der antiken Binärsprache gearbeitet. Tora arbeitete mit sogenannten Quapoll-Mustern, einer Mischung aus mehreren Technologieansätzen. Die Informationsverarbeitung erfolgte über eine Verbindung von quantenmechanischen Positronikelementen, die um ein Vielfaches kleiner waren als Atome. Hatten im Zeitalter Einsteins Computer noch die Größe von ganzen Gebäuden eingenommen, tauschten sich bei uns Neutronen und Positronen aus und reagierten miteinander. Quantenimpulse gingen von ihnen weiter über zelluläre Fasern, die ähnlich wie die DNS Informationen speicherten. Die Fasern hatten normalen Stoffwechsel und wuchsen weiter, die subatomaren Recheneinheiten breiteten sich analog dazu aus.

Die Informationsverarbeitung erreichte dadurch Geschwindigkeiten, die mit früheren Maßeinheiten nicht wahrnehmbar waren. Oder doch? Antike Computer hatten in Mega- oder Gigahertz gerechnet. Nun, bereits ein einzelner subatomarer Computer erreichte pro Impuls eine Verarbeitung von bis zu zwanzig Nano-Einheiten. Rechnete man dieses Ergebnis auf eine Sekunde hoch, hatte man bereits achthundert Millionen Mal mehr Informationen verarbeitet als ein antiker Computer. Ging man dieses Beispiel weiter und stellte antike Computer nebeneinander, gab es auf der gesamten Erde nicht genug Platz. Hätte Tora die Größe von fünf Kubikmetern, würde es nicht ausreichen, auf der gesamten Erde Computer neben- und übereinanderzustapeln bis zum Mond hinauf.

Die Speicherung von Informationen, die in der zellulären Faser erfolgte, hatte inzwischen ähnliche Sphären erreicht. Jede einzelne Nanosekunde unserer Reise konnten wir problemlos aufzeichnen und lagen bei der Gesamtkapazität noch nicht einmal bei einem Prozent.

Lächelnd schüttelte ich den Kopf und prüfte mehrere Daten, die ich von Tora erhielt. Sie hatte mehr als einmal darauf hingewiesen, dass Checks dieser Art unnötig waren, da sie einmal die Stunde erfolgten – von Tora selbst. Doch sie hatte inzwischen verstanden, dass es meine Neugier war, die mich sie einmal die Woche besuchen ließ. Ihre Ausbreitung, die völlig normal war und verlief, hatte inzwischen vierundzwanzig Kilometer erreicht. Von fünftausend theoretisch Möglichen. Quer durch das Schiff.

„Bist du zufrieden, Nathanael?“

„Es sieht alles gut aus, wie gehabt.“ Ich deaktivierte die positronische Anzeige, in der auch sämtliche der einhundertachtundzwanzig Fasern, mit denen Tora wuchs, zu beobachten waren. Der Lift brachte mich zurück.

Nach dem Mittag saßen Melina und ich in der Unterhaltungslounge und pafften Pfeife.

„Weißt du, was wir heute vor genau zehn Monaten getan haben?“ Ihre grünen Augen hatten mich fixiert, aber mein Gedächtnis war genauso gut wie das ihre.

„Natürlich. Wir hatten unseren letzten Kopulationsversuch.“

Kam wieder die Diskussion auf, dass man uns für die Reise mitgegeben hatte, wenigstens einmal im Jahr Fortpflanzung zu versuchen? Melina und ich hatten uns daran gehalten, auch wenn die Ergebnisse gleich null waren. Wenn kein Wunder geschah, würden wir nie Nachkommen haben.

Ich musste mir auch eingestehen, dass ich keinen Schimmer hatte, wie man mit Babys oder Kleinkindern umging. Doch dafür hatten wir unzählige Videos aus der Heimat mitgenommen. Auch für andere uns wenig bekannte Vorgänge halfen uns antike Filme weiter. So auch für das, was unsere Vorfahren als Sex bezeichnet hatten.

Melina erhob sich und reichte mir Hand. „Komm, Nale. Seien wir diszipliniert.“ Ich nickte, legte meine Pfeife aus der Hand und erhob mich mit ihrer Hand.

Disziplin. Um sexuelle Begattung zu versuchen. Unser Gemach war um die Ecke, sodass wir keine Gleiter brauchten, es zu erreichen. Es war genauso ein Holodeck, indem uns für die Stimulation viele Videos vorgeführt wurden.

Wir zogen uns aus. Ich hatte keine Zweifel, dass Melina eine überragend schöne Frau war, doch mein Körper und meine Hormone setzten keine Reize mehr um. Nackt standen wir voreinander, jedoch regte sich bei mir nichts. Sie schlang ihre Arme um mich und küsste mich zärtlich. Gern erwiderte ich. Ihr warmer Körper drückte sich an mich.

Nach einigen Minuten prüften wir meinen Penis und ihre Vulva. Mein Glied hing schlaff hinunter, ihre Scheide war durch die Wärme ein klein wenig geöffnet, doch im Gegensatz zu dem, was wir bei einigen Videos gesehen hatten, viel zu wenig.

Melina drehte sich herum, sodass sich ihr Rücken an meine Brust schmiegte. Sie aktivierte ein neues Video, in dem ein Pärchen beim intimen Verkehr zu sehen war. Laut den Aufzeichnungen war es eine antike Kunst namens Kamasutra, die Stellung nannte sich ‚Amazone‘. Alle paar Minuten änderte sich die Stellung. Ein wenig Sehnsucht erfasste mich, und, wie ich Melina kannte, auch sie. Ohne sexuelle Lust würde es uns niemals gelingen, geschlechtlichen Verkehr zu vollziehen. Mein Glied blieb schlaff und ihre Scheide nicht aufnahmebereit. Anderthalb Stunden versuchten wir, Reize aufzunehmen, vergebens. Wir kuschelten uns aneinander.

„Wir haben ein langes Leben“, flüsterte sie. „Vielleicht finden wir in Tora’vosh eine Lösung.“

Das war auch meine Hoffnung.

Wir mochten auch Wege der künstlichen Befruchtung gehen, doch wir hatten sie nahezu aufgegeben. Vier bis fünf Mal im Jahr spendeten wir Spermien und ein Ei in ein Befruchtungsaggregat, dessen erster Schritt es war, vorauszuberechnen, wie lange ein Nachkomme leben würde. Jedwede Berechnung hatte das Ergebnis, dass das Kind nach neun Jahren sterben würde.

Es glich einem Wunder, dass es Melina und mich gab, aber offenbar wurde die Unfruchtbarkeit von Generation zu Generation größer. Meine Hoden produzierten noch ein Mindestmaß an Spermien, doch es gab keinen Trieb, diese in einem Geschlechtsakt auszustoßen. Wir waren geschlechtlich unfruchtbar und degeneriert. Seit Generationen, die diesen Prozess beobachtet hatten, verfolgten wir, wie es dazu gekommen war. Sogar Tora versuchte uns seit unserem Reiseantritt zu helfen – vergeblich.

Ich spürte plötzlich, dass Toras Geschwindigkeit stark abnahm. Melina schien es auch zu registrieren. Wir erhoben uns.

„Melina, Nathanael“, vernahm ich Toras Stimme, „wir haben unser erstes Ziel erreicht.“

Noch war es dunkel, noch flogen wir mit Überlichtgeschwindigkeit. Gebannt warteten wir darauf, Tora’vosh endlich von innen zu sehen. Laut dem ersten Programm, das Tora abarbeitete, würden wir in einer vorläufigen Position von achthundert Lichtjahren relativ zum Rand halten.

Es blitzte und ein Sternenmeer ergoss sich über uns. Links von uns war es nur spärlich, rechts von uns war es so hell, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt hatten. Sterne, dicht aneinandergedrängt, deren ‚Lichter‘ uns zusammen erreichten.

Melina schrie auf und umarmte mich stürmisch. Ich wirbelte sie umher, so groß war die Freude, das Ziel nach Jahrzehnten erreicht zu haben. Zusammen vergossen wir Tränen. Da ich sie in den Armen hielt, spürte ich die Schluchzer, die ihren Körper durchschüttelten.

„Wir haben es geschafft! Wir haben es geschafft“, rief sie.

Wir hielten uns umarmt. Meine Gefühle waren ähnlich durcheinander wie die meiner Gefährtin. Glück, Erleichterung, Freude. So viele Emotionen hatte ich lange nicht mehr erlebt. Unser genetisches Problem trat vorerst in den Hintergrund, denn ich hatte die Hoffnung, dass uns irgendeine Entdeckung hier eine Lösung bieten würde.

„Nathanael“, sagte Tora, „ich habe mir erlaubt, dein Willkommensprogramm zu beginnen.“

„Sehr gut, Tora.“

Mein Programm ließ die fünfzig nahesten Sternensysteme in unsere Datenbank aufnehmen und sie kartografieren. Mit der Neugier der Forscher, die wir waren, verfolgten wir Toras Arbeit. Rote Riesen, weiße Zwerge, blaue Riesen, braune Zwerge, Quasare und Pulsare. Auf den ersten Blick schien alles vorhanden zu sein. Die Tora stand nicht direkt in einem Sternensystem, sondern zwischen mehreren. Auch wenn die mathematische Wahrscheinlichkeit für die Begegnung mit anderen Spezies definitiv vorhanden war, erwarteten wir nicht, allzu schnell auf Zivilisationen zu treffen.

Unser erstes Ziel war die Kartografierung von Tora’vosh. Unsere Kurzscanner hatten eine Reichweite von achthundert Lichtjahren, daher auch unsere erste Position hier. Unsere Langstreckenscanner, die mit Überlicht arbeiteten, würden nach und nach alle Sterne aufnehmen samt ihrer Himmelskörper.

Tora’vosh war in etwa gleichgroß zur Milchstraße, bei der wir uns inzwischen über die einhundertzweiundsechzig Milliarden Sterne bewusst waren. Hatte Tora’vosh mehr zu bieten? Mathematisch lag die Wahrscheinlichkeit für eine raumfahrende Zivilisation bei dreihundert zu eins. Spezies, die erst damit begannen, das All zu erobern, lagen bei fünftausend zu eins, intelligente Spezies zwölftausend zu eins und Leben generell einhundertfünfzigtausend zu eins.

Nach dieser Berechnung war Tora’vosh eindeutig lebendig.

Das Geheimnis von Toravosh

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