Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 661 - Sean Beaufort - Страница 6
1.
ОглавлениеPhilip Hasard Killigrew setzte das Spektiv ab. Die Abendsonne war von den dichten Wolken geschluckt worden, aber der Regen zog weiter in nördliche Richtung. Vor einigen Minuten hatte der Wind seine Richtung geändert, jetzt herrschte nahezu Windstille.
Ben Brighton warf einen langen, wütenden Blick auf die killenden Segel, dann schaute er über das ruhige Wasser rechts voraus und sagte: „Der Kerl hat noch mehr Glück, als ich befürchtet habe.“
„Nicht mehr lange, Ben.“ Hasard hob die Schultern. „Er weiß es und wird alles versuchen, um zu verschwinden.“
Die Arwenacks hatten, nachdem die „Ghost“ von Surat den Tapti-Fluß abwärts an ihnen vorbeigesegelt war, sofort die Verfolgung aufgenommen. Bisher war noch nicht ein einziger Schuß abgegeben worden. Die „Ghost“ nahm vor der Flußmündung mit günstigem Monsunwind Kurs nach Norden und schien einen kleinen Vorsprung herausgesegelt zu haben.
Die Wut an Bord der Schebecke war nicht geringer geworden; nach dem Erlebnis des Kerkers, nach der vorbereiteten öffentlichen Hinrichtung und dem Freikämpfen ihrer unersetzlichen Schebecke hatten sie nur wenig anderes im Sinn, als es diesem verdammten Ruthland zu zeigen, und zwar gründlich.
Hasard junior trat zu seinem Zwillingsbruder, der auf der Back stand, und sagte bekümmert: „Ich hoffe nur, daß unser kleiner Doglee keine Schwierigkeiten bei seinen Leuten kriegt.“
„Daran dachte ich auch“, sagte Philip. Der Junge hatte ihnen viel geholfen. Aber er war pfiffig genug, möglichen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, davon war Philip junior überzeugt. „Surat ist keine kleine Siedlung. Er wird sich in Sicherheit gebracht haben. Schade, ich hätte ihm vielleicht etwas Geld geben sollen.“
„Dann hätte er es leichter gehabt“, pflichtete ihm sein Zwillingsbruder halblaut bei. „Jetzt können wir nichts mehr ändern.“
Sie schauten sich an und nickten sich zu. Das Kapitel Surat war beendet. Der Versuch, dort als Abgesandte der Königin den Handel mit England einzuleiten oder vorzubereiten, war fehlgeschlagen. Der hinterlistige Kapitän der „Ghost“ hatte ihnen das eingebrockt.
„Nein“, stimmte Philip zu, „zu ändern ist nichts mehr.“
Zwischen den Wolken wurde die Abendsonne wieder sichtbar. Die Regenwand war nach Nordosten weitergezogen oder hatte sich aufgelöst. An Steuerbord nördlich der Tapti-Mündung. Geradeaus, an der Kimm, wechselten im Dunst unterschiedliche Uferlandschaften ab. Es schienen Inseln oder Landzungen zu sein. Jedenfalls war die „Ghost“ in diese Richtung verschwunden.
Jan Ranse rief vom Achterdeck: „Achtung! Es gibt wieder Wind!“
Er stand an der Pinne und ärgerte sich ebenso wie die anderen Arwenacks über die Flaute. Erfahrungsgemäß war sie beim Monsunwind nicht von langer Dauer. Trotzdem hatte sie bei der Verfolgung vorläufig den kürzeren gezogen.
„Wie schön“, sagte der Seewolf wütend. „Es geht weiter.“
Der feuchte und warme Wind blies meist gleichmäßig und kräftig. Aber hin und wieder, in Gewittern beispielsweise, wurde er von einer meist kurzen Flaute unterbrochen, drehte völlig unvermittelt oder entwickelte sich zu einem kurzen, heftigen Sturm. Die Sonne überschüttete das Meer, das Schiff und die Küste mit blutigrotem Licht.
Die Wellen kräuselten sich, einzelne Schaumkronen zeichneten sich im Südwesten ab. Die Rahruten knarrten und die Schebecke legte sich nach Steuerbord über, als sich die Dreieckssegel füllten. Leise zischte und gurgelte die Bugwelle, als sich Jan Ranse gegen die Pinne stemmte.
Der Erste sagte zu Hasard: „Wenn wir ihn heute noch stellen, dann wäre das ein Wunder.“
„Ich rechne nicht damit“, entgegnete Hasard. „Aber irgendwo dort im Norden holen wir ihn uns vor die Mündungen.“ Es klang wie ein Schwur, und das war es auch.
Die Schebecke nahm Fahrt auf und richtete ihren Bug nordwärts. Einige halblaute Kommandos für die Deckscrew, und kurze Zeit später segelte die Schebecke raumschots wieder ihrem unsichtbaren Gegner hinterher.
Hasard holte tief Luft und warf einen prüfenden Blick zu den Culverinen. Sie waren geladen, aber noch nicht ausgerannt.
„Und wenn es einen Monat lang dauert“, sagte er grimmig, „wir finden diesen feinen Mister Ruthland.“
Im letzten Licht des Tages war auch ohne Spektiv die Küste deutlich zu sehen. Die Wellen des Golfes von Cambay gingen höher, die weiße Brandung brach sich vor sandigen Stränden und zwischen den bizarren Hochwurzeln der Mangroven.
Der Seewolf wandte sich an Dan O’Flynn. „Was sagen unsere Karten über den Norden dieses herrlichen Golfes, gibt es wenigstens ein gutes Fahrwasser?“
„Weiter nördlich mündet ein Fluß. Auf der Karte steht, daß er Narmada genannt wird. Wahrscheinlich gibt es dort auch ein ähnliches Mündungsdelta wie beim Tapti. Die Eingeborenen konnten mir nicht viel erklären, das hängt auch mit den Sprachschwierigkeiten zusammen. Aber sie sagten, daß wir dort mit Sandbänken und Felsen rechnen müßten, mit Inseln und großen Unterschieden von Ebbe und Flut. Und mit Untiefen, wechselnden Strömungen und vielen anderen schönen Einzelheiten.“
Hasards eisblaue Augen richteten sich auf die Kimm, an der alle diese versprochenen Schönheiten warteten und sich vorläufig noch versteckten.
„Klingt vielversprechend“, sagte er sarkastisch.
„So schlimm wird es nicht werden“, meinte Dan O’Flynn und winkte ab. „Außerdem hat die ‚Ghost‘ mit genau den gleichen Tücken zu kämpfen.“
„Stimmt.“
Dan berichtete, daß eine weitere Bucht tief in das Land am nördlichsten Ende des Golfes führe. Dort münde ein anderer Fluß, der als „Mahi“ bezeichnet würde. Die Küsten entlang der zerklüfteten Flußmündungen, so hätten die Eingeborenen versichert, seien bewohnt. Es solle viele Fischer geben, aber größere Siedlungen kenne niemand, und auch die Karten zeigten keine weiteren Einzelheiten.
Aber nicht nur die „Ghost“ und die Schebecke, sondern jedes andere Schiff würde die gleichen Schwierigkeiten haben. Ben Brighton und Hasard hatten dem Bericht schweigend zugehört.
„Sind die entsprechenden Karten in deiner Kammer?“ fragte der Seewolf.
„Ja, natürlich. Wie gesagt: von den Eingeborenen war trotz Doglees Übersetzungen nicht viel mehr zu erfahren. Spätestens morgen oder übermorgen sehen wir selbst, wohin uns Ruthland gelockt hat.“
„Ich denke, er wird dort auch nicht froh werden“, meinte Ben Brighton.
„Und das Lachen wird ihm ganz vergehen“, Al Conroy streichelte liebevoll das Metall einer Culverine auf der Kuhl, „wenn ich ihm ein paar eiserne Grüße hinüberschicke.“
Hasard hatte den größten Teil der Crew unter Deck entlassen. Die Köche bereiteten das Essen zu, und die Deckswache hielt Ausschau nach Ruthlands verdammter „Ghost“. Eine Hetzjagd während der Monsunzeit und in diesen unbekannten Gewässern zählte nicht gerade zu den dringenden Wünschen der Arwenacks. Trotz allem, was sie zu erwarten hatten – nicht einer dachte daran, Ruthland und seine Crew entwischen zu lassen.
Vier Stunden später hatte der Wind sämtliche Wolken vom Himmel gefegt. Auf den weiten Wogen der Dünung lagen das Licht der Sterne und das silberfarbene Leuchten des Mondes. Im Nordosten wetterleuchtete es, und an Steuerbord waren inmitten der Mangrovenwälder und der Sandküste winzige Feuer zu erkennen, vier Stück insgesamt.
Die Schebecke segelte weitab der Küste, und jeder hoffte, daß das Fahrwasser von Untiefen frei war. Im letzten Licht war Dan in den tonnenförmigen Ausguck im Großmast aufgeentert und hatte die See voraus mit seinen scharfen Augen und dem Kieker abgesucht.
Er kehrte zurück und sagte zufrieden, daß sie bis zum ersten Tageslicht den Kurs halten könnten.
Trotzdem stand er auf der Back und versuchte, Hindernisse schon zu erkennen, bevor sie gefährlich wurden, bis ihn Don Juan ablöste.
Leise unterhielten sich die Mitglieder der Deckswache.
„Es ist doch besser“, sagte Batuti, „daß wir heute keine Lichter gesetzt haben.“
„Meinst du allen Ernstes“, fragte Dan, der bei ihnen saß und einen letzten Schluck trank, ehe er sich in seine Koje verholte, „daß dieser Bastard Ruthland nach uns Ausschau hält?“
„An seiner Stelle würde ich nichts anderes tun. Er kann sich vorstellen, wie der Seewolf zubeißt“, murmelte Blacky.
„Diese Feuer an Steuerbord“, fragte Batuti, „gehören die zu Fischerdörfern?“
Dan gähnte und erwiderte: „Fischerdörfer, Holzfäller, Leute, die in den Wäldern Tiere jagen und die Häute verkaufen, was weiß ich. Für uns sind sie nicht gefährlich. Vielleicht können wir von ihnen Proviant einhandeln, wenn die Köche Abwechslung brauchen.“ Er nickte den anderen zu. „Ich lege mich aufs Ohr.“ Dan stand auf und verzog sich unter Deck.
Mit dem vertrauten Knarren und Knarzen, mit dem Summen des Windes in der Takelage und dem ziehenden Gurgeln des Bugwassers segelte die Schebecke durch die klare Nacht, fast genau auf Nordkurs.
Die Ruhe würde spätestens in einigen Stunden vorbei sein. Entweder sichteten sie die „Ghost“, oder sie gerieten in gefährliche Fahrwasser. Wahrscheinlich trafen beide Ereignisse zusammen, wie sooft.
Schon in der kurzen Morgendämmerung konnten die Seewölfe erkennen, daß sich die Umgebung verändert hatte. An Steuerbord breitete sich hinter der Brandungslinie noch immer Wald aus, unterbrochen von kleinen Stränden und Mangrovendickichten.
„Ich kann kein Segel erkennen, keinen Mast, keinen Rumpf“, sagte Hasard und packte das Spektiv wie einen Knüppel. „Wahrscheinlich gibt es ein paar hundert Schlupfwinkel, in denen die ‚Ghost‘ stecken kann.“
„Genauso wird’s sein“, antwortete der Erste.
Steuerbord voraus erstreckte sich eine lange Sandbank, die in der Mitte bewachsen war. Ein Schwarm Vögel flog mit trägem Flügelschlag auf und umkreiste den langgestreckten Wall aus Schwemmgut und bleichem Treibholz, zwischen dem sich Büsche und niedrige Bäume erhoben. Die Schebecke fiel nach Backbord ab.
„Ebbe?“ erkundigte sich Ferris Tucker und schirmte seine Augen ab, als er nach Osten blickte. „Scheint so, Sir.“
„Nach Dans Berechnungen und dem, was wir sehen“, erwiderte der Seewolf etwas unwillig, „ist da eine Menge trocken gefallen.“
Er peilte zum Bug. Dort stand Hasard junior und beobachtete das Wasser vor dem Schiff. Es hatte seine Farbe geändert. Gestern hatte es tiefes Blau gezeigt, jetzt war es von dünnen gelben Schlieren durchzogen, als habe der Fluß, dessen Mündung nicht zu erkennen war, Staub oder Sand mit sich geschwemmt.
Auch Big Old Shane suchte die Kimm mit dem Kieker ab. Über dem Wasser lag ein fahler Dunst, der sich in der Kraft der Helligkeit der Sonne nur zögernd auflöste. Trotzdem waren voraus und an Steuerbord Buchten und die Mündungen kleiner Wasserläufe zu erkennen. Die Ufer waren dicht bewachsen, jetzt wirkte das Buschwerk und das Gestrüpp drohend und schwarz. Nur wenige dünne Rauchsäulen stießen durch den rötlichen Nebel. Feuchtigkeit schlug sich auf den Planken und den Segeln nieder.
„Von der ‚Ghost‘ ist nichts zu sehen“, sagte Big Old Shane und zauste seinen struppigen grauen Bart. „Die Masttopps müßten höher sein als die meisten Bäume.“
„Ich habe nicht erwartet“, erwiderte Hasard grimmig, „daß wir den Hundesohn schnell entdecken.“
Die Uferlandschaften glitten langsam vorbei.
Hin und wieder konnten die Seewölfe in eine Bucht sehen. Auf Pfählen standen kleine Hütten, von denen Leitern hinunterführten zu den schmalen Booten, die im Wasser schaukelten. Zwischen den Matten, aus denen die dünnen Wände bestanden, schwelten Feuer, deren Rauch durch die löchrigen Dächer abzog.
Schweigend und gegen die Sonne blinzelnd, starrten die Seewölfe hinüber. Aber es gab nicht das geringste Zeichen dafür, daß sich die Karavelle dort versteckte.
Hasard winkte zu Ben Brighton hinüber. „Nehmt die Fock weg. Wir sind zu schnell.“
„Aye, aye, Sir“, erwiderte der Erste.
Die Schebecke wich etwas nach Nordwesten vom bisherigen Kurs ab. Am Ende der langen Sandbank ragten einige abgestorbene Bäume aus dem trüben Wasser.
Jung Philip wandte sich an seinen Vater. „Soll ich in den Großmast?“
„Ja“, entgegnete der Seewolf zerstreut, ohne das Spektiv zu senken.
„Ein Strich nach Westen abfallen!“ rief Ben Brighton.
Entlang der Grenzen, die das Meer und das Wasser der Buchten bildeten, standen Fischer in den Booten und warfen Netze aus. Andere hielten lange Speere in den Händen und holten unterarmlange, zappelnde Fische aus dem Wasser. Ab und zu winkten sie zum Schiff hinüber und riefen unverständliche Worte.
„Ob sie uns was mitteilen wollen?“ rätselte Roger Brighton.
Hasard zuckte mit den Schultern. Er beobachtete die Fischer, aber sie kümmerten sich nur um ihre Boote und ihren Fang. Wenn einer von ihnen in eine bestimmte Richtung gezeigt hätte, würde er es bemerkt haben. Aber die Fischer schienen die „Ghost“ nicht gesehen zu haben.
„Glaube ich nicht“, murmelte der Seewolf, aber er ließ die wenigen Boote und braunhäutigen Männer nicht aus seinen Augen. „Warum sollten sie uns auch helfen?“
Es war für alle so gut wie unvorstellbar, daß Francis Ruthland die Sprache dieser Fischer beherrschte, ebensowenig wie die Seewölfe, von den wenigen Worten abgesehen, die Doglee den Zwillingen beigebracht hatte.
Wieder verschwand eine Ausbuchtung der Küste hinter dem Heck der Schebecke. Vor einem hügeligen Abschnitt an der Steuerbordküste erstreckte sich der trockengefallene Meeresboden, zwischen dessen Pfützen Krabben und Wasservögel zu sehen waren.
„Wir suchen weiter!“
Hasards Befehl war eigentlich überflüssig. Keiner der Arwenacks dachte an etwas anderes als daran, in den nächsten Stunden die „Ghost“ zu sichten und die Mündungen der Geschütze auf sie zu richten.
Immer wieder stoben Vogelschwärme aus den Baumkronen. Das gellende Geschrei der Tiere ließ die Seewölfe argwöhnisch zusammenzucken. Vielleicht lag hinter dem nächsten Vorsprung oder im folgenden Einschnitt der Mangroven der Verfolgte.
Aus der Tonne im Großmast rief Philip junior: „Anluven, Piet! Untiefe voraus!“
„Aye“, antwortete der Rudergänger und stemmte sich gegen die Pinne.
Die Segel killten, Tauwerk knarrte, Schritte polterten auf den Planken, als die Schoten dichter geholt wurden. Die Schebecke legte sich etwas über und richtete den Bug nach Nordwesten. Die Färbung des Wassers ändert sich wieder, als das Schiff eine Kabellänge zurückgelegt hatte.
Knapp eine halbe Seemeile weiter schrie Philip wieder auf die Kuhl hinunter: „In Ordnung! Freies Fahrwasser voraus!“
„Verstanden!“ brüllte Piet Straaten zurück.
Die Küstenlinie schien, abgesehen von den vielen Buchten und Vorsprüngen, einigermaßen geradlinig von Norden nach Süden zu verlaufen, wie es auch die Karten zeigten. Möglicherweise erreichte die Schebecke in den letzten Stunden des Tages das nördliche Ende dieses Ufers. Dort mündete von Osten der Fluß, und, wenn die Karten zuverlässig waren, erstreckte sich dort auch ein Mündungsdelta von beträchtlicher Größe.
Wahrscheinlich gab es mittendrin, ein paar hundert Verstecke für Ruthland.