Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 702 - Sean Beaufort - Страница 6

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Der neue Herrscher über die „Stern von Indien“, Drawida Shastri, hörte zufrieden das Klatschen der Peitschen auf den Rücken der Galeerensklaven und die ächzenden, stöhnenden Schreie der Angeketteten.

Der Mann, der den Takt schlug, fluchte laut, denn die langen Riemen wurden unregelmäßig bewegt, schlugen gegeneinander und tauchten nicht richtig ein. Die Galeere, deren beide Segel gesetzt waren, lag auf Südkurs.

Plötzlich killten die Segel. Laute Schreie hallten über das Deck. Bis die Segel wieder voll standen, dauerte es endlos lange.

Drawida Shastri saß auf dem prächtigen Sessel des Sultans, im Schatten des großen Baldachins, dessen Prunk langsam verging. Die leuchtenden Farben blichen aus, Salzwasserspritzer und Stockflecken wurden immer größer.

„Sie können nicht einmal segeln, diese Bastarde“, murmelte Shastri und fluchte.

Die prächtige Galeere hatte sich geleert. Die gefangenen Engländer, diese ungläubigen Fremden, die an allem Elend schuld waren, würden ihr Schicksal in der Schwefelmine beenden. Er, Drawida, hatte seine Rache voll ausgekostet. Er konnte sich darauf verlassen, daß keiner der Fremden, die ihn um einen unvorstellbar großen Schatz gebracht hatten, die Fronarbeit in der Mine überleben würde.

Noch immer hallte in seinen Ohren das berstende, krachende Geräusch nach, mit dem sich der metallbeschlagene Rammsporn der Galeere in das Ruder der Schebecke gebohrt und das Holz zerstört hatte.

„Und bald werde ich selbst ihnen zeigen, wie man richtig pullt, bei der Schwarzen Pockengöttin!“ stieß Shastri hervor.

Solange sie sich nicht an der östlichen Küste von Ceylon verstecken und von dort ihre Beutezüge ausführen konnten, blieb seine Unruhe, seine Furcht vor den bewaffneten Dhaus des Sultans von Golkonda. Vor kurzer Zeit hatten sie die Bucht bei Kavali verlassen und waren weit draußen auf dem Meer auf Südkurs gegangen.

Über eine mißliche Tatsache waren sich Shastri und seine wenigen wirklich treuen Vertrauten einig: Keiner der Männer, die jetzt die Galeere besetzt hielten und es sich in der prachtvollen Einrichtung gutgehen ließen, verstand allzuviel von der Seefahrt. Nur das Pullen war eine sichere Fortbewegungsart.

„Bei den acht kalten und heißen Höllen“, sagte der dürre Aschadhara, der mit zwei Pokalen Wein aus dem Niedergang herauftappte, „nicht mal unsere eigenen Männer können richtig pullen. Wir werden bis zum Versteck ein paar Jahre brauchen.“

„Wenn wir mit dieser Mannschaft überhaupt jemals hinkommen“, antwortete Shastri düster.

Der Schatz war verloren. Endgültig. Das Schiff, das die Portugiesen übernommen hatten, würde lange in der flachen Dschungelbucht liegen müssen, denn die Reparatur des Ruders war alles andere als einfach. Das wußte Shastri, und überdies hatte es der Capitán Luis de Xira gesagt.

Zwar stand der Wind günstig, aber die Galeere mußte die Gewässer vor Madras passieren. Und dort lauerten noch mehr Männer, die dem Sultan berichten und die „Stern von Indien“ jagen würden. Jedes einzelne kleine Fischerboot bedeutete eine Gefahr, denn Fischer hatten besonders wachsame Augen. Schon jetzt befand sich die „Stern“ weit von Land entfernt, auf einem Weg über die See, die Shastri und den wenigen Getreuen unbekannt war und gespenstisch erschien.

Shastri nahm einen langen Schluck vom kühlen, säuerlichen Wein und fragte: „Wie steht es? Hast du durchzählen lassen? Wie sieht es mit den Leckerbissen der Sultansküche aus?“

Aschadhara bewegte unruhig seine langen Finger um den edelsteinverzierten Stiel des Pokals und erwiderte zögernd: „Wir sind einundsechzig Männer. Fünfundzwanzig Sklaven sind an den Riemen. Sie waren angekettet, und wir haben sie nicht befreit. Also hast du noch fünfunddreißig Getreue, Drawida.“

„Und zehn Geschütze“, sagte Shastri. „Auf jeder Seite.“

Aschadhara lachte hoch und schrill: „Ich würde, o Herrscher der Galeere, nicht mit den Geschützen rechnen. Zwar gibt es Pulver und Kugeln, aber zuletzt haben die Fremden und die besten Soldaten des Mannes von Golkonda damit geschossen. Hier an Bord wirst du kaum einen Mann finden, mich eingeschlossen, der ein solches Rohr abfeuern kann.“

Er trank, ließ eine längere Pause eintreten und fügte dann wenig begeistert hinzu: „Na ja, abfeuern, das kann ich. Aber ob ich treffe oder das Rohr zerstöre, das weiß ich nicht.“

Sie blickten gleichzeitig nach Steuerbord, wo die fernen Ufer der Koromandelküste unerträglich langsam vorbeizogen.

„Und wie voll sind die Proviantlasten, Aschad?“ fragte Shastri.

„Wenn wir soviel Proviant und Frischwasser hätten wie Pulver und Kugeln, Drawida“, erwiderte der Dürre mit unheilverkündender Stimme, „dann würden wir bis ans Ende der Welt segeln können, wo immer das liegt.“

„Kommen wir mit den Vorräten an Madras vorbei, denn weiter südlich können wir an Land gehen?“ fragte der Mann mit den großen, brennenden Augen.

„Wenn wir es müssen“, entgegnete Aschadhara. „Ich habe schon Wein statt Wasser in unseren überaus herrlichen Pokalen, Herr.“

Shastri und Aschadhara blickten einander schweigend an und zuckten dann unbehaglich mit den Schultern.

„Zu allem Überfluß ändert sich auch das Wetter. Ich sehe Sturmwolken“, äußerte Drawida Shastri nach einer Weile des Schweigens.

„Sturm kann gut sein oder schlecht“, meinte Aschadhara. „Er füllt die Segel und treibt uns weit nach Süden. Oder die Sturmgötter, die im Monsun schwer zu beschwichtigen sind – wie jedermann weiß –, bringen Unheil über uns.“

„So ist es.“

Zwar waren sie alle schon häufig an Bord größerer oder kleinerer Schiffe gewesen, und kaum einer vertrug das Schaukeln und Stampfen nicht, aber von fünfunddreißig Männern waren bestenfalls ein halbes Dutzend wirkliche Seeleute. Wenn sie im weiten Bogen Hafen und Küste von Madras umfuhren, und das hatte Shastri vor, war jeder weitere Tag auf See ein Wagnis. Andererseits drohte ihnen der Tod, denn sie kannten die Wut des echten Sultans.

Was konnten sie tun, um den Zustand zu ändern? Was blieb ihnen übrig?

Shastri leerte den Pokal und schüttelte den Kopf. Sein schwarzes Haar flog herum. Er hielt sich links an der Armlehne fest und sagte: „Wir pullen und segeln heute, so gut es geht. Und die Nacht hindurch. Am nächsten Morgen suchen wir eine Quelle, einen Fluß oder ein Fischerdorf. Dann holen wir uns Wasser und Proviant.“

Drawida nickte dem Freund zu, stand auf stieg den Niedergang hinunter und fühlte, wie die Angst in ihm wieder hochkroch wie die Schlange aus dem dunklen Korb. Er ging zur Kombüse und ließ aus dem Weinfaß seinen Pokal vollaufen. Dann begab er sich in die Prunkkammer des Sultans.

Er wollte trinken und tief schlafen, sich in seinen Träumen verkriechen. Dann würde der Tagtraum vom Sultan und seinen Bewaffneten, die ständige Angst, sich ändern und einem anderen Traum weichen: einer Vorstellung in leuchtenden Farben, welches freie Leben sie an Ceylons Küste führen würden.

In seine umnebelten Träume hinein verfolgte ihn wie der Schlag eines rachsüchtigen Herzens der Takt, mit dem sich die langen Riemen bewegten und die Galeeren nach Süden schoben. Ohne daß er es merkte, wuchsen die Wellenkämme höher und höher. Weiße Dreiecke aus Schaum begannen sich abzuzeichnen.

Nahinda saß mit angespannten Muskeln neben Khande Rao und versuchte, nicht aus dem Takt zu geraten, ebenso wie sein Nebenmann. Sie befanden sich im untersten Ruderdeck. Zwischen den angeketteten Sklaven pullten Männer aus Shastris Begleitung.

Sie hatten eingesehen, daß es ohne diese schweißtreibende, auszehrende Arbeit nicht vorwärtsging.

Seit die Engländer von Bord waren, gehörte den Indern die Galeere. Aber ihnen gehörte jetzt auch die Arbeit – jede Arbeit. Nicht mal ein alter Mann erschien und verteilte muffigen Reisbrei und Wasser.

Nahinda fühlte, wie sein Magen knurrte.

„Ich weiß nicht, ob wir das Richtige tun“, sagte er nach einiger Zeit. Schweiß lief über sein Gesicht und über den Rücken.

„Wir rudern richtig“, antwortete Khande Rao halblaut. „Besser als die verlausten Sklaven.“

„Das meine ich nicht“, murmelte sein Nachbar nach einigen weiteren Riemenbewegungen. Jede Bewegung war höllisch anstrengend, und die nächste war noch schlimmer. Und so würde es weitergehen, bis sie endlich jemanden einfingen und an die Ducht schmiedeten.

„Was meinst du?“

Zwei Dutzend der besten und stolzesten Krieger um Shastri, die alle Abenteuer, Überfälle, Jagden und Schußwechsel überlebt hatten, saßen mehr oder weniger freiwillig auf den Ruderbänken und schufteten. Jeder sehnte ein rasches Ende dieser schweißtreibenden Arbeit herbei. Je früher, desto besser, gleichgültig unter welchen Umständen.

Es war eines freien Mannes unwürdig, zwischen namenlosen Sklaven zu hocken und an den schweren Riemen aus rissigem Holz zu zerren, und das auch noch nach einem Takt, dessen Schnelligkeit ihnen das Mark aus den Knochen sog.

„Ich meine, daß wir das Schiff an Land steuern und uns zu Fuß in alle Richtungen zerstreuen sollten“, sagte Rao keuchend. „Oder willst du bis zum Ende deines Lebens hier schuften?“

Nahinda lachte hustend. Im Inneren des Schiffes, ganz besonders im tiefergelegenen Ruderdeck, stank es wie über einem Abtritt.

„Nicht mal bis zum Ende des Tages, Rao“, erwiderte er schaudernd.

„Also.“ Sie bemühten sich wieder, den schweren Riemen im Takt zu bewegen. „Und das verlangt Shastri von uns, bis wir in Ceylon sind. Und warum?“

Seit die Galeere aus dem Schlick der seichten Bucht freigekommen war und sich wieder auf offener See befand, versuchten die Anhänger des falschen Sultans, sich über ihr weiteres Leben klarzuwerden. Nicht einer wollte an Land ein Feld bestellen, fischen oder einer schweißtreibenden Arbeit nachgehen.

Aber sie wollten sich nicht bis zum Ende der Tage im Schiff, innen oder an Deck, abquälen. Nur die Angst vor einem qualvollen Tod hielt sie an Shastris Seite. Die Rache des echten Sultans würde furchtbar sein. Erhielten sie einen schnellen Tod, dann würde das eine Gnade sein, ein leichter Schritt in das nächste Leben. Aber alles, was sie sich vorstellen konnten, war schlimm und aussichtslos. Also pullten sie hier im stinkenden Schiff weiter.

„Weil er genausoviel Furcht hat, geköpft zu werden“, entgegnete Nahinda. „So einfach ist diese Frage zu beantworten.“

„Und weil wir die gleiche Angst haben“, sagte Rao.

Sie schwiegen und pullten weiter. Durst und Hunger nahmen zu.

Einige Stunden später tauchte Aschadhara unten auf, hob die Arme und schrie: „Der Monsun ist stark genug! Hört auf! Bis zur Dunkelheit sind wir mit den beiden Segeln schnell genug. Und denkt nicht, daß wir viel zu essen haben. Kommt an Deck.“

Er hielt sich die Nase zu.

Khande Rao und Nahinda zogen ihren langen Riemen mit einiger Mühe ins Schiff und vertäuten ihn, so gut sie konnten. Dann beeilten sie sich, das stinkende Unterdeck zu verlassen und in den Bereich frischer Luft zu gelangen.

Mittag war längst vorbei. Im Ruderdeck verloren sie alle das Gefühl für die Zeit, für die Stunden, für Tag und Nacht. Sie erinnerten sich nicht mal deutlich, wann sie aus der Bucht aufgebrochen und wie lange sie schon auf See waren. Dem Hunger und Durst nach waren es einige Wochen, sagte sich Rao und blickte sorgenvoll nach Nordosten.

Dort türmten sich dunkle Wolken. Es roch beinahe nach Sturm. Die Wellen, in denen sich die „Stern von Indien“ hob und senkte und mit dem Bug und dem Rammsporn riesige Brecher nach den Seiten schleuderte, hatten inzwischen weiße Schaumkämme.

„Verdammte Koromandelküste“, sagte Khande Rao halblaut. „Ich kann nur hoffen, bei Shiva, daß wir bald an Land sind.“

Die Galeere stampfte durch das aufgewühlte Meer südwärts. Die Küste war an Steuerbord nur noch winzig klein zu sehen. Vor den niedrigen dunklen Wolken, die der Wind übereinandertürmte, rauschten Wellen heran und schlugen krachend gegen das Heck, hoben es in die Höhe und erschütterten das schlanke, lange Schiff.

Nahinda warf Rao einen langen, verzweifelten Blick zu.

„Ich war bei den Vorräten“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Es sieht sehr schlecht aus. Wir werden bald nichts mehr zu essen haben.“

„Zu lachen haben wir auch nichts.“

Rao lehnte gegen das Schanzkleid und sah den anderen Angehörigen von Shastris Kriegern zu, die mit den Schoten der Segel hantierten. Tatsächlich hatte die „Stern von Indien“ eine beachtliche Geschwindigkeit erreicht, auch ohne die Mithilfe der ausgemergelten und ausgehungerten Ruderer. Der Bug warf mächtige Gischtwolken nach den Seiten und zeigte mit dem großen Rammsporn in die Weite des Meeres.

Ajit Jagat nahm das Wurfnetz von der Schulter, legte es auf dem Unterarm zweimal zusammen und verstaute es zwischen den Duchten des langen, schmalen Fischerbootes.

Er hob den Kopf und sagte: „Wir sollten in den Fluß, Daya Ran. Das Meer ist gefährlich. Sturm.“

„Ich will überhaupt nicht fischen“, entgegnete der ältere Fischer und zerrte an seinem dünnen Bart. „Ich lege mich unter die Palmen und schlafe. Kein Fisch heute.“

„Das meinst du nicht wirklich, Daya“, sagte Ajit und lachte. „Wirklich? Schlafen.“

Auf dem sandigen Strand, an dem ihr Boot hoch und trocken lag, wirbelte der Wind die Sandkörner vom Meer her zwischen die Palmwurzeln. Die Brandung war ungewöhnlich hoch und donnerte laut. Wellen zischten über den Strand und lösten sich in Schaum auf, in dem winzige Krabben umherhuschten. Die nächste Welle brachte einen langen Wedel Tang ans Land und schleuderte ihn bis zum Heck des Bootes.

„Und da willst du Fische fangen? Haßt du dein Leben?“ fragte Avatara, der dritte Fischer, der im Heck saß und die Spitzen der Harpune mit dem Stein schärfte. „Ich bin auch für einen langen Schlaf. Vielleicht ist morgen der Sturm vorbei, wie?“

„Morgen noch nicht, und dann ist das Meer unruhig“, meinte Daya Ran. „Entweder tun wir heute und morgen nichts und übermorgen doppelt soviel. Dann müssen wir auch in der Nacht draußen sein.“

„Das ist die Lösung“, entgegnete Ajit Jagat. „Ich sage euch, das wird ein häßlicher Sturm. Er bringt uns um. Wir bleiben besser an Land. Oder wir segeln in die Flußmündung.“

Er zeigte nach links. Die Fischer aus dem kleinen Dorf nördlich von Nellore kannten das Wetter, den Monsun und das Meer. Sie brauchten nicht lange darüber zu reden, denn die Menge des Fanges hing von ihrem Gefühl für das Wetter ab. Auch morgen würden sie so viel damit zu tun haben, ihr Boot zu segeln oder zu pullen und nicht kentern zu lassen, daß aus dem Fang nichts Rechtes werden würde.

Also war es besser, gleich an Land zu bleiben oder sich zwischen den Schilfinseln im kleinen Fluß aufzuhalten. Doch wenn sie noch lange warteten, erreichten sie nicht mal die Mündung.

„Eigentlich kann ich auch bei dem Felsen, weiter flußauf, ein Schläfchen riskieren“, sagte Daya Ran und gähnte kräftig. „Da beißen auch die Fische.“

„Das wissen wir. Wasser gibt’s auch. Wollen wir dorthin?“ fragte Avatara. „Dann müssen wir uns aber eilen, bei Kali.“

„Öl und Lampen sind im Boot“, murmelte Ajit Jagat. „Wir halten es schon aus in der Nacht. Helft mir. In einer halben Stunde sind wir an Ort und Stelle.“

Die drei Fischer wußten, daß sie am übernächsten Tag weit mehr Wasser und Proviant mitnehmen mußten, wenn sie in der Nacht mit Lampenlicht fischten und erst spät am Tag zurücksegelten.

Hapury, diese Ansammlung von sieben Fischerhütten, lag einen Steinwurf von Nellore entfernt. In Nellore verkauften sie den Fisch, den sie nicht selbst brauchten oder nicht trockneten oder einsalzten.

Die Männer packten ihr Boot, schoben es in die Wellen, wateten einige Schritte in den aufgewühlten Sand hinein und schwangen sich an Bord. Als das Boot frei schwamm, packten sie die Riemen und pullten in südliche Richtung, in schrägem Winkel auf die Brandung zu. Noch vier Stunden bis Sonnenuntergang, und sie brauchten nicht länger als eine halbe Stunde.

Dann bog das Boot, dessen Segel sie nicht gesetzt hatten, um die nördliche Huk und glitt in das ruhige Brackwasser des Schlangenflusses. Die Mündung war nicht breiter als dreihundert Schritte, und die Fischer pullten wieder zurück in Richtung des Sonnenunterganges.

Im Bereich des Mündungsdreiecks waren die Ufer von breiten Schilfstreifen gesäumt. Wasservögel flogen auf, als sich das Boot seinen Kurs durch die schmaler werdenden Fahrrinnen suchte. Die Fischer pullten ohne Hast durch die schwache Gegenströmung, und nach weiteren fünfzig Riemenschlägen tauchte der Felsen zwischen den Büschen auf.

Hier sank der Grund ab, eine winzige Rinne führte Wasser, und in diesem Kessel, in dem die Strömung sich drehte, war die Ausbeute groß, wenn man mit Speer, Harpune oder Angel fischte. Daya Ran schob die Pinne nach Backbord, und das Boot glitt lautlos über das dunkle Wasser.

„Wir sind hier richtig, glaube mir“, sagte Avatara und zog die Riemen ein. Er schob sie unter die Duchten, stand auf, ging zum Bug und sprang an Land, als das Boot gegen den modernden Baumstamm stieß.

„Hier bleibt’s ruhig. Auch wenn der Sturm heftiger wird.“

„Soll er in der Nacht ruhig toben“, antwortete Daya Ran seinem Freund.

Zusammen zogen sie das Boot zwischen die weißen, rindenlosen Äste des Baumes, der halb im Wasser versunken war. Die vielen Vögel, die durch das Fischerboot aufgescheucht worden waren, beruhigten sich wieder, als die drei Männer durch das Ufergebüsch und auf der Rückseite des Felsens durch den Schatten großer Bäume hinaufkletterten.

„Wollt ihr etwa jetzt fischen?“ fragte Daya Ran, der sein Bündel auf dem Moos absetzte.

Bis zur Vorderkante des eckigen Felsens breitete sich eine lange Fläche aus weichen, blühenden Polstern aus. Schmetterlinge gaukelten unter den überhängenden Ästen.

„Du ganz sicher nicht, Daya“, sagte Jagat ohne Vorwurf. „Keine Sorge. Ich will nicht arbeiten.“

„Und du?“ fragte Daya Ran.

Ajit Jagat breitete seine Decke im Schatten aus. Die Sonne schwebte im Westen über dem nächsten Hang des Flusses hinter einer Reihe von Palmen mit breiten Wedeln. In den Büschen am Rand der Moosfläche summten die Fliegen.

„Ich werde am lautesten schnarchen“, versicherte Ajit grinsend.

Die drei Fischer, die zusammen das Boot gekauft hatten und sich die Annas und Rupien teilten, die sie verdienten, kannten sich seit drei Jahren. Solange fischten sie zusammen und hatten untereinander noch nie Ärger gehabt. Sie streckten sich unter den Ästen aus, und Ajit öffnete den Krug mit dem Reiswein.

„Wenn der Sturm nicht Regen mit sich bringt“, meinte Avatara nach dem ersten langen Schluck, „wird es in der Nacht hier, im Strudel, viele Fische geben. Große Fische.“

Alles, was sie vom starken Wind merkten, der draußen über dem endlosen Wasser wehte und zunahm, je tiefer die Sonne sank, war das Schütteln der Baumkronen und ein leises Fauchen und Wimmern, das durch die Stämme fuhr und das Wasser der Flußmündung in kleinen Wellen kräuselte.

„Wenn wir nicht schlafen, fischen wir“, antwortete Daya Ran und streckte den Arm nach dem Krug aus. „Abwarten. Und jetzt laßt mich in Ruhe.“

„Dann gib den Krug zurück. Oder ist er schon leer?“ fragte Ajit Jagat.

Der Alte gab ihm den halbvollen Krug und rollte sich auf dem weichen Moos zusammen. Es dauerte nicht lange, bis die Fischer schliefen und schnarchten. Sie kannten den Platz gut, nie tauchten hier Raubtiere auf.

Ob es Sturm gab in der Nacht, die in weniger als zwei Stunden anfing, rührte die drei Männer nicht. Hier waren sie sicher, ebenso wie ihr Boot. Wenn sich der Wind nicht gerade zum Wirbelsturm aufbaute, würden sie heute nacht im Strudel fischen und in der nächsten Nacht weit draußen auf dem Meer, vielleicht in der Umgebung der Schlickinsel mit ihren wandernden Untiefen.

Aber jetzt ruhten sie sich aus, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Khande Rao hob die Schultern. Er fühlte, daß seine Ratlosigkeit zunahm, je länger er zu den Leibwächtern Drawida Shastris gehörte.

Noch war er jung genug, um etwas anderes zu unternehmen. Der falsche Vetter des Sultans von Golkonda war ihm, Rao, ein ständiges Rätsel. Der Schatz war verloren, seinen Kumpan de Xira hatte er schnöde im Stich gelassen, und der Rückzug nach Ceylon glich nicht nur einer Flucht, sondern war tatsächlich der letzte Versuch, sich vor der Wut des Sultans zu retten.

Khande Rao dachte nach, und je mehr er nachdachte, desto wirrer wurden seine Gedanken und Empfindungen. Wenn er eine Möglichkeit gesehen hätte, wäre er geflohen. Aber von Bord der Galeere, die im beginnenden Sturm durch die gischtenden Wellen torkelte, konnte er nicht flüchten, ohne daß ihn die Haie zerrissen.

Er stand allein am Steuerbordschanzkleid, blickte zu den straff geblähten Dreieckssegeln und hoffte, daß die „Stern von Indien“ so schnell wie möglich ihr Ziel erreichte: das Uferversteck in Ceylon. Khande Rao war nicht der einzige an Bord, der schwere Bedenken hatte.

Die nächste Woge brach sich an der Bordwand und überschüttete den jungen Inder mit einem Regen salziger Tropfen.

Mit der abgeschirmten Hecklaterne tappte Khotan über die Planken. Immer wieder griff er nach einem Halt. Er stieg aufs Achterdeck und setzte umständlich langsam die Laterne in die Halterungen.

Im Westen schienen die Wolken wie an so vielen Abenden wieder zu brennen und zu flammen. Die Sonne sank binnen weniger Augenblicke hinter die Kimm. Heulend fuhr der Wind durch stehendes und laufendes Gut und zwang die „Stern“ weiter auf ihrem unsicheren Weg südwärts.

Drawida Shastri blieb im Prunkbett des Sultans liegen, obwohl sich das Heck der Galeere hob und senkte, schüttelte und wieder zurück in die Wellen gestaucht wurde. Das Dröhnen der Planken, wenn die See dagegen schlug, war hier nicht leiser als an jedem anderen Platz der „Stern“. Mittlerweile hatte Drawida dieses Schiff hassen gelernt.

Aber er brauchte die Galeere.

Er und seine treuen Kämpfer mußten, so schnell es ging, das Versteck an Ceylons Ostküste erreichen. Dort hatte er Freunde und Helfer, und wenn er etwas brauchte, erhielt er es dort. Während er an die nächsten Nächte und Tage dachte, zogen die Ereignisse der vergangenen Wochen an seinem inneren Auge vorbei.

Beispielloser Triumph war von tiefster Niedergeschlagenheit abgelöst worden. Auch von seinen Männern waren einige verwundet worden, andere hatte durch die Waffen der Fremden den Eingang in das nächste Leben gefunden.

„Aber diesen ungläubigen Bastarden habe ich es gezeigt. Jetzt verschmachten sie in der Mine des Todes“, murmelte Drawida Shastri. Er hörte selbst am Klang der Stimme, daß er unsicher war. Vor den Fremden brauchte er sich nicht zu fürchten. Aber er kannte sein Schicksal nicht und wußte nicht, ob der Sturm das Schiff kentern und zerschmettern oder einer von seinen Leuten beim Sonnenaufgang noch leben würde.

Er wußte nur: alle waren gegen ihn. Am meisten der Sultan von Golkonda und jeder seiner Männer. Davon gab es Tausende.

Shastri wußte, daß er sich bewegte wie ein Mann, der mit bloßen Füßen auf der Schneide eines Krummschwertes balancierte. Ließ er die Galeere an Land steuern, um Wasser und Proviant aufzunehmen, würde ein Teil seiner „Getreuen“ auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Aber die Wachen des Sultans patrouillierten in jedem Hafen und beobachteten jede Bucht, die groß genug war, daß die „Stern“ einlaufen konnte.

Wählte er den großen Umweg, der auch größere Sicherheit versprach, mußten er und seine Männern hungern. Ein, zwei Tage lang konnten sie es aushalten, denn die Vorräte waren reichhaltig. Aber mit Gewürzen, Badeölen und Salben, mit prachtvollen Pokalen und vergoldeten Schüsseln war niemand satt zu kriegen.

Shastri krampfte seine Finger in den weichen Stoff. Sein Körper wurde vom Bett in die Höhe geworfen. Die Galeere schien auseinanderbrechen zu wollen, aber die Fahrt durch die kochende See ging weiter, hörte nicht auf, und Shastris Angst wuchs.

Er schloß die Augen und fluchte leise.

Eine Stunde später, mitten im nächtlichen Sturm, stand sein Entschluß fest. Er würde weit östlich von Nellore und Madras, wenn der starke Wind anhielt, einige Tage lang nach Süden segeln. Erst südlich von Madras konnten er und seine Männer daran denken, an Land zu gehen und für Nahrung zu sorgen.

An Bord hatten sie genug Waffen, um jede Forderung durchzusetzen.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 702

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