Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 698 - Sean Beaufort - Страница 6
1.
ОглавлениеClint Wingfield, der Moses aus der Seewölfe-Crew, nickte zufrieden und grinste. Fürs erste war er voll mit sich zufrieden.
Er saß rittlings auf einem dicken Ast, lehnte mit den Schultern gegen den moosbewachsenen Baumstamm und schob die Äste und Blätter vor sich auseinander. Sein Blick wanderte zum Heck der Schebecke, und was er sah, freute ihn noch mehr.
Die Bucht, deren Ufer teilweise sandig und öde dalagen und etwa zur Hälfte von Wald, Buschwerk und Dschungel umgeben waren, schien leer zu sein. Von der „Stern von Indien“ gab es nicht mal mehr einen Abdruck im Schlick. Clint hatte die Inder und ihren Anführer, den falschen Sultan Drawida Shastri längst vergessen.
Aber Arwenack, der Schimpanse, hatte ihn, Clint, nicht vergessen.
Kaum hatte sich die Schebecke mit dem zertrümmerten Ruder, von den erschrockenen und fluchenden Portus gepullt, dem Ufer genähert, war Arwenack kreischend und schnatternd die Wanten abgeentert, hatte das Schanzkleid mit einem riesigen Satz übersprungen und war irgendwo an Land verschwunden.
Clint erinnerte sich genau an den harten, dröhnenden Schlag, der den gesamten Rumpf der Schebecke erschüttert hatte. In seinem Versteck hatte er gedacht, daß das Schiff in voller Fahrt auf einen Felsen aufgelaufen wäre.
Er hatte Plymmie nur mit Mühe beruhigen können.
In der Dunkelheit, als die Portugiesen das Schiff an den Strand gebracht hatten, war er mitsamt seinem Bündel, gefolgt von der Hündin, nahezu lautlos von Bord gegangen, und zwar über die Jakobsleiter.
In dem allgemeinen Durcheinander war das Geräusch, mit dem Plymmie nach einem weiten Satz ins flache Wasser gesprungen war, untergegangen. Sie waren beide blitzschnell im Wald verschwunden und hatten vom Versteck zwischen Büschen aus zugesehen, wie die Portus durcheinanderwimmelten und zur Galeere hinüberdrohten.
Als Clint deutlicher sehen konnte, wie groß der Schaden war, bereitete er sich in sicherer Entfernung ein gemütliches Nachtlager und sagte sich, daß es eine Weile dauern würde, bis die Portugiesen den Ruderschaden behoben hatten.
Er würde dafür sorgen, daß ihr Aufenthalt in der Bucht sehr lange dauern würde. Nach Möglichkeit ewig lange.
Schweigend sah er zu, wie die Portugiesen versuchten, das Ruder und einen Teil des Hecks – das weitaus weniger beschädigt war – zu reparieren. Das versuchten sie schon seit geraumer Zeit. Inzwischen hatten sie eingesehen, daß das Heck der Schebecke in die Höhe gestemmt werden mußte. Ein paar Baumstämme waren umgelegt und zu Rundhölzern gesägt worden.
Das zertrümmerte Ruder lag auf den Planken des Achterdecks, und ein Zimmermann der „Cabo Mondego“ versuchte, aus Holzresten und Reservebrettern ein neues Ruder zu sägen und zusammenzufügen. Mit Tauwerk und Blöcken war das Heck auf den Strand und in die Höhe gezerrt worden. Die Ruderbeschläge und Ruderösen der Achtersteven-Teile, waren stark beschädigt. Immer wieder dröhnten Hammerschläge auf.
„So schnell kommt ihr hier nicht weg“, murmelte Clint und sah zu, wie die Portugiesen arbeiteten.
Plymmie kauerte zwischen den Wurzeln des großen Baumes. Irgendwo im Geäst kletterte Arwenack herum und suchte Bananen oder andere eßbare Früchte. Wo sich Sir John, die Krachtaube, befand, wußte der Moses nicht.
„Dafür sorge ich auch in den nächsten Tagen. Oder besser: in den Nächten“, sagte er zu sich selbst und kletterte langsam von einem Ast zum anderen, auf der abgewandten Seite des Baumes, hinunter zum weichen Waldboden. Das Sägen, Hämmern und Fluchen wurde etwas leiser.
Clint hatte nicht viel zu tun. Er wartete, bis die Mannen von Kapitän de Xira wieder ein gutes Stück Arbeit hinter sich gebracht hatten. Dann würde er wieder zuschlagen.
Ein paarmal hatte das fabelhaft gewirkt – mit einem Unterschied: Zuerst hatten die abergläubischen portugiesischen Seeleute gedacht, daß ein Schiffsgeist oder die Seelen früherer Seefahrer im Rumpf der Schebecke hausten. Mittlerweile aber waren viele von ihnen sicher, daß der böse Geist an Land herrschte und nichts anderes zu tun hatte, als die armen, schwer schuftenden Portus zu plagen und ihnen Alpträume zu bescheren.
Er hob den Kopf und vergewisserte sich, daß er richtig rechnete. Die Sonne stand noch nicht im Mittag. Die Gegend rund um diese Bucht schien menschenleer zu sein, war aber keineswegs ausgestorben. Viele Tiere hatte er sehen können, weiter nördlich befand sich ein kleiner Teich, in den ein Rinnsal mündete. Dort war eine Wasserstelle, die auch er benutzte. Langsam erschöpften sich seine Vorräte. Und so verrückt oder mutig, die Portugiesen zu bestehlen war er nicht.
„Ich werde schon nicht verhungern“, murmelte er, tätschelte Plymmie und brauchte sich auch um die Hündin keine Sorgen zu bereiten. Sie fand genug zu fressen im menschenleeren Wald.
Langsam und im Zickzack, einem kaum sichtbaren Tierpfad folgend, ging er hinter der schnüffelnden Plymmie her auf ihr neues Versteck zu. Von jedem Beutezug zum Schiff brachte er etwas mit, das er brauchen konnte. Ein paar Rundhölzer, eine weitere Decke, die ein Portugiese übers Schanzkleid gehängt hatte, Enden und Leinen in jeder Länge und natürlich jedes Werkzeug, das er finden konnte. Je weniger Werkzeug die Portugiesen hatten, desto besser, denn dann dauerte die Reparatur noch länger.
Nur an die Vorräte traute er sich nicht heran. Das würde ihn in zusätzliche Gefahren bringen.
„Na, Plymmie, wieder eine Ratte gefunden?“ fragte er, nachdem die Hündin einen Riesensatz getan und zwischen den Farnen und Beerensträuchern unter den Bäumen verschwunden war.
Ihr Knurren und Hecheln wurden leiser, als sie ihre Jagd fortsetzte. Für sie war jede Handbreite des fremden Bodens offensichtlich ein neues Abenteuer. Clint wußte, daß sie auch ohne sein Geschrei zum Lager zurückfand, selbst in der tiefsten Nacht, denn sie hatte ihn bei seinen Überfällen begleitet.
Ihr schauerliches Heulen ließ die Portugiesen an ertrunkene Seeleute, arme Seelen und Geister des Dschungels denken, bescherte ihnen böse Träume, und wenn sie am Morgen entdeckten, was die nächtlichen Geister angerichtet hatten, dann ahnten sie, daß es nicht nur Alpträume gewesen waren. Wieder mußte der Moses grinsen, es lief genau so, wie er sich das ausgemalt hatte.
Er blieb am Rand des Lagerplatzes stehen. Vor einem schrägen Hang, unterhalb einer Barriere aus Gewächsen mit langen Ranken und unzähligen Dornen, wuchs ein niedriger Baum. Die untersten, dicht belaubten Äste spreizten sich weit und schirmten die weichen Moospolster ab.
Hier hatte Clint die Decken ausgebreitet und seine Schätze, für Ameisen und Mäuse unerreichbar, an den Zweigen festgebändselt. Aber bisher hatte er keine Gelegenheit gehabt, eine Funzel oder Feuerstein und Stahl zu stehlen, mit denen er für ein Feuer hätte sorgen können.
„Es geht auch ohne Feuer“, sagte er sich und kroch in den schwarzen Schatten unter den Blättern. Sie raschelten leise, während er darüber nachdachte, wie die nächsten Tage und Nächte ablaufen würden.
Vieles war völlig unsicher. Nur wenige feste Punkte gab es in seinen Gedanken: Er selbst würde immer wieder versuchen müssen, jede einzelne Reparatur so entscheidend zu stören, daß die Schebecke weiterhin bewegungslos in der ruhigen Bucht liegenblieb.
Vielleicht gelang es den Seewölfen, zurückzukehren. Sie wußten inzwischen, daß er verschwunden war, und vielleicht vermuteten sie, daß er sich in der Schebecke versteckt hatte.
Er konnte ihnen nur dadurch helfen, daß er seinen eigenen Krieg gegen Kapitän Luis de Xira weiterführte und verhinderte, daß die Portus die Bucht verließen und weitersegelten.
Er gähnte und streckte sich aus. Als er wieder aufwachte, war die Sonne drei Handbreiten weitergewandert und schien in sein Gesicht. Plymmie lag ausgestreckt quer über seinen Füßen und spitzte die Ohren, als er sich in die Höhe stemmte.
„Wir sehen nach, was unsere Freunde inzwischen geschafft haben, Plymmie“, sagte er und griff nach dem Wasserkrug.
Plymmie brauchte er nichts abzugeben. Sie soff irgendwo im Wald, am Wasserlauf oder an dem Tümpel.
Der Schinken, von dem er eine Scheibe heruntersäbelte, reichte auch nicht mehr lange. Clint zuckte mit den Schultern, er würde schon etwas Eßbares auftreiben. Ohne Eile kaute er auf dem salzigen Fleisch, trank Wasser und packte schließlich den schweren, scharfgeschliffenen Dechsel, der zur Ausrüstung von Ferris Tucker gehörte. Clint hatte das Werkzeug bei seinem letzten nächtlichen Überfall erbeutet und in Sicherheit gebracht.
Er stieß einen leisen Pfiff aus. Gehorsam folgte ihm die Hündin, sprang an seinen Knien hoch und lief vor ihm auf den Aussichtsbaum zu.
Das Fischerboot hatte die Brandung durchstoßen und segelte jetzt, gegen Mittag, quälend langsam nordwärts an der Küste entlang. Schweigend hockten die vier Insassen auf den Duchten. Die stumpfkegeligen, geflochtenen Hüte waren mittlerweile zwar weich geworden und verloren ihre Form, aber sie schützten noch immer vor den grellen Sonnenstrahlen und der Hitze.
Noch immer keine Spur von der Schebecke und der „Stern von Indien“!
Balshak der alte Fischer aus Madras, kannte inzwischen längst sämtliche Sorgen der beiden Engländer und viele ihrer Abenteuer, die sie wegen des Goldes von Ischwar Singh erlebt hatten.
Er legte Dan O’Flynn tröstend die Hand auf die Schulter und sagte in seiner unnachahmlichen Mischung aus Hindi, Portugiesisch, Madras-Dialekt und den wenigen Brocken, die er von Dan und Hasard junior aufgeschnappt hatte: „Hier, an dieser Küste, gibt es viele versteckte Buchten. Ich kenne dieses Land zwar nicht, aber ich habe, wie du weißt, mit vielen Fischern und den Steuerleuten von Händlerbooten gesprochen. Viele Buchten, viele Mündungen, viel Wald. Wir müssen die Augen offenhalten.“
Dan nickte. Schwitzend, müde und halb krank vor Unsicherheit und Enttäuschung, antwortete er: „Ich halte die Augen sehr weit offen, Balshak. Und viel zu lange.“
„Willst du nicht eine Stunde schlafen, Dan?“ fragte Jung Hasard ebenso schläfrig.
Sie hatten einen kleinen Teil des Ölvorrats dazu benutzt, ihre Arme und die Oberkörper einzureiben. Jetzt, gegen Mittag, schien der Wind völlig einzuschlafen. Nicht mal die Brandung war hoch genug, um das schlanke Boot zu gefährden. Trostlos leer zog das Ufer vorbei.
„Von mir aus. Kannst du deine Klüsen noch offenhalten?“ fragte Dan.
„Ich schon. Und mir hilft Nanak, nicht wahr?“ Hasard stand schweißüberströmt auf und hielt sich am Fall fest. „Es gibt nichts zu sehen. Nur Sand, Treibgut und immer wieder Steppe und bewaldete Hügel. Seit dem Morgengrauen haben wir nicht einen Menschen gesehen.“
„Achte auf Mastspitzen, Junge“, empfahl Dan und gähnte.
„Keine Sorge. Ich suche bestimmt nicht nach dem Kielschwein“, erwiderte der junge Seewolf.
Dan drehte sich halb herum, rutschte von der Ducht und streckte sich auf dem zusammengelegten Netz der Fischer aus, das über ihren Vorräten und Teilen der Ausrüstung ausgebreitet war.
Fast unvermittelt schlief er ein, während ein kraftloser Wind aus dem südlichen Sektor das schlaffe Segel wieder blähte. Nicht mal einen Hauch von Kühle brachte der feuchte Süd mit sich.
„Wo ist diese verdammte Galeere?“ fragte Jung Hasard wohl zum hundertsten Male.
In der Nacht waren beide Schiffe plötzlich verschwunden gewesen. Nebel und eine Reihe dunkler Wolken, aus denen warmer Regen herunterrauschte, waren zwischen den Verfolgern und den Verfolgten hindurchgezogen, und als die Nacht vorbei war, waren auch die Schiffe verschwunden – wie von den Wellen weggezaubert.
Entweder hatte sie der Kurs außer Sichtweite nach Osten geführt – das hielten auch die beiden Fischer aus Madras für ausgeschlossen –, oder die Schiffe hatten in eine Bucht verholt, waren hinter einer Huk verschwunden oder in einer Flußmündung gegen die Strömung gesegelt.
Aber – wo steckten sie wirklich?
An Backbord zischten und plätscherten, nicht weiter als drei Kabellängen entfernt, die Wellen an die sandige, verschlickte Küste. Ein paar Schritte oberhalb der niedrigen Schaumstreifen sahen die Insassen des Bootes, wie seit Tagen, die Haufen und die dicken, ineinander verfilzten Rollen des Treibgutes, das im Verlauf der Zeit viele Stürme und hohe Wellen angeschwemmt hatten.
An Steuerbord hob und senkte sich die Brandung über den Sandbänken und den Untiefen. Einzelne Wolken bildeten sich und lösten sich träge wieder auf. Nicht mal die Wedel der wenigen Palmen, die von den Wirbelstürmen stehengelassen worden waren, raschelten.
Die Kimm war leer. Nicht mehr als ein Dutzend schwer beladener, langsamer Boote hatten sie seit dem Morgengrauen getroffen. Drei davon hatten sie angerufen, aber niemand hatte die „Stern“ und das andere fremde Schiff gesehen.
„Wenn sie nicht gesunken sind“, sagte Nanak nach einer halben Stunde lastenden Schweigens, „finden wir sie, Hasard.“
Möwen, Fischadler, Geier und Schwärme kleiner Vögel, die aus dem trockenen Buschwerk hinter den Dünen aufflogen, waren die einzigen Begleiter des Bootes. Balshak hing dösend über dem Bambusgriff der Pinne. Die Gedanken der Männer bewegten sich ebenso träge wie die Dünung, die das Boot hob und senkte.
Das Boot richtete seinen Bug nach Nordosten. Das Ufer ragte in einem weiten Bogen, von vielen kleinen Einschnitten sägeblattartig gefurcht, in den Kurs des Bootes. Der ablandige Wind schob die Nußschale in die gewünschte Richtung, ohne daß das Segel neu getrimmt werden mußte.
Die Strömung war kaum zu spüren, aber sie zog und schleppte das Boot in gleichbleibendem Abstand vom Ufer weiter nordwärts und, einen Strich um den anderen, langsam nach Osten. Recht voraus schwang sich die meerabgewandte Seite einer Düne in die Höhe, von stacheligem, braunen Gestrüpp schütter bewachsen, und versperrte die Sicht auf das Gelände weiter landeinwärts.
Hasard drehte sich um und blickte in die Gesichter Nanaks und Balshaks. Die Bärte waren gewachsen und ungepflegt, die Wangen waren, wie bei ihm und Dan auch, voller Bartstoppeln.
Es wurde Zeit, sagte er sich, einen Abend in einem Badehaus zu verbringen, in einer Anlage wie in Madras, eine halbe Nacht vor ihrem überstürzten Aufbruch. Die Fischer hatten, ohne zu murren, ihr Versprechen gehalten, und es sah nicht so aus, als hätten sie Angst, bei gutem Wind einige Tagesreisen nördlich ihrer bekannten Fischgründe zu verbringen.
Verdammt gute Männer, sagte er sich und wußte sich einig mit Dan O’Flynn. Sie benahmen sich wie die Arwenacks. Sie hatten ihr Boot jederzeit perfekt in der Hand und schienen den Engländern zeigen zu wollen, was gute Seemannschaft auf einem seetüchtigen, schmalen Fischerboot mit zwei Paar Riemen und einem Segel bedeutete, das halb Lateinersegel, halb Dschunkensegel war, und auch nicht mehr lange durchhalten würde. Die Sonne schien bereits durch das mürbe Stoffgewebe.
Nanak und Balshak nickten ihm gleichzeitig zu und grinsten, dann zuckten sie mit den braunen Schultern.
„Und wenn du zehnmal die Pockengöttin anrufst oder die Schwarze, vielarmige Kali“, sagte Balshak schließlich, „es wird nichts helfen. Wir finden dein Schiff, wenn es hier an der Küste ankert, verlaß dich drauf.“
„Ich wünschte, ihr hättet recht“, erwiderte er und stieg wieder hinter den Mast zurück.
Dan schlief und schnarchte, als müsse er die Planken durchsägen. Hasard setzte sich und drehte den Kopf wieder zum Ufer.
Das Boot passierte jetzt die Stelle, an der die Düne am höchsten aufragte wie der stumpfe Bug eines riesigen Schiffes. Nach Norden hin fiel der sandige Hang ab und ging in eine Landschaft über, wie sie entlang dieser Küste tausendmal beobachtet werden konnte: angeschwemmter Sand und Schlick, darauf Buschwerk und, weiter landeinwärts, Hügel und Wälder, ab und zu die Vierecke oder Rechtecke von Feldern und Weiden, und weit dahinter, nur selten aus dem Dunst und der flirrenden Luft hervortretend, das unbekannte, namenlose Gebirge im tiefen Inneren des südlichen Teiles von Indien.
Hasard richtete seinen Blick auf das Land. Es war ziemlich flach, nur wenige Hügel, ein paar Dutzend Fuß hoch, überragten die Schwemmzone und waren vom gleichen Gestrüpp und Buschwerk bewachsen wie das Land. Weiter im Norden erkannte er den dunklen Saum eines tiefgrünen Streifens Dschungel. Keine Hütte, kein Boot am Strand, kein anderes Lebenszeichen.
„Reichlich einsame Gegend hier“, sagte er enttäuscht.
Seine Augen durchforschten das Bild, das sich nur langsam veränderte. Auf die Vögel achtete er schon nicht mehr. Sie waren ein mehr als alltäglicher Anblick. Bis zu dem Punkt, an dem sich Wasser und Land im Hitzedunst versteckten und ineinander zu fließen schienen, gab es in der Linie der Uferwellen und ihrer Gischt keine Unterbrechung. Also auch keinen Kanal, keine Bucht, keine Flußmündung.
Wieder mußte Hasard mit den Schultern zucken. Er sah alles Erdenkliche, nur keine Schebecke oder Mastspitzen.
„Das hat man uns erzählt, vor langer Zeit. Andere Fischer und Händler. Nichts los an der Küste“, sagte Nanak brummig. „Bald wird’s anders aussehen.“
„Hoffen wir’s, verdammt.“
Die Männer schwiegen und beobachteten weiter. Die offene See bis zur Kimm war so leer wie stets während der Stunden seit Sonnenaufgang. An Land gab es nicht mal in weiter Entfernung eine Rauchsäule, die darauf schließen lassen können, daß da ein Haus oder ein Dorf stand. Das Boot glitt weiter nach Nordosten, die Sonne wanderte unendlich langsam über den strahlend blauen Himmel im letzten Monat des Jahres 1599.
Eine Stunde später richtete sich Dan langsam auf, schob den verbeulten Hut in den Nacken und blinzelte.
„Trostlos“, murmelte er und zog sich in die Höhe.
Er stieg nach vorn und betrachtete lange und schweigend die Uferlandschaft. Über einem Gebiet, das er nicht einsehen konnte, kreisten Schwärme kleiner Vögel, über denen auffallend viele größere Tiere ihre lautlosen Spiralen zogen. Die Hitze ließ die Luft flimmern, und Dan kniff, während er sich konzentrierte, die Augen halb zu. Schließlich glaubte er vor dem Hintergrund eines dunklen Waldrandes etwas zu erkennen, das nicht dazugehörte.
„Hasard!“ sagte er halblaut. Seine Stimme wurde scharf, und er zeigte auf einen Punkt, zwei Strich Backbord voraus.
„Ja?“ Hasard junior schrak auf. Am Ausdruck von Dans Stimme hörte er, daß dieser glaubte, eins der verschwundenen Schiffe entdeckt zu haben. Auch er stand auf.
„Dort vorn, links vom dunklen Wandrand und teilweise davor. Ich bin fast sicher, daß ich die Masten der Schebecke sehe.“
Beide Fischer starrten zu der Stelle, zu der Dan O’Flynn deutete. Sie schwiegen, weil sie nicht recht glaubten, daß ihre lange Verfolgung tatsächlich von Erfolg erkrönt sei.
Während die beiden Seewölfe versuchten, den flüchtigen Eindruck festzuhalten und zu erkennen, ob sich an der bewußten Stelle überhaupt Wasser befand und sie nicht einem Trugbild ihrer überforderten Augen unterlagen, schob sich das Boot in quälender Langsamkeit entlang der Küste weiter. Der Schweiß lief in Strömen. Wieder killte das Segel und hing schwer durch.
„Ich glaube, du hast recht“, sagte Hasard schließlich. „Du hast doch die schärfsten Augen. Mit einem Kieker wären wir jetzt ganz sicher.“
Wenn sie recht hatten, dann gab es weiter als eine Seemeile voraus eine Bucht, die ziemlich tief ins Land reichte. Dahinter dehnten sich Wald und steppenartiges Gebiet aus.
Die Minuten verstrichen ebenso langweilig wie immer. Eine Bö sprang auf und füllte wieder das Segel. Das Boot nahm rasch Fahrt auf und steuerte nach Steuerbord hinüber, warf eine winzige Bugwelle auf, und hinter dem Heck fing das Kielwasser an zu gurgeln.
Der Windhauch trocknete den Schweiß. Die Männer holten tief Luft und wischten mit den feuchten Tüchern über ihre Gesichter und die Schultern. Auch der Süßwasservorrat nahm unverhältnismäßig schnell ab.
Ein Stück Uferwald schob sich zwischen das Ziel und das Boot. Als die Nußschale die Ansammlung von Palmen, Büschen und abgestorbenen Mangroven passiert hatte, war auch der Dunst gewichen, und die Luft flimmerte nicht mehr so stark. Das anvisierte Ziel war weiter nach Backbord querab ausgewandert.
Jetzt peilten alle vier Bootsinsassen hinüber und sahen überrascht, daß die Vogelschwärme noch immer, anscheinend aufgeregt, in der Nähe der Bäume und der Masten kreisten, von denen die Gaffelruten schräg, mit festgezurrter Leinwand, auf die Nachmittagssonne deuteten.
„Verdammt! Das sind sie“, sagte Dan fast mit sichtbarer Erschütterung. „Wir haben sie, Hasard.“
„Stimmt. Bei allen Göttern“, sagte Balshak. „Das ist euer Schiff.“
Sie starrten hinüber und schwiegen. Ganz langsam waren sie in der Lage, alle Einzelheiten, die sie sahen, zu einem sinnvollen Bild zu verbinden und dessen Bedeutung zu erkennen. Zuerst entdeckten sie, daß die „Stern von Indien“, die verfluchte Galeere, offenbar spurlos verschwunden war. In der Bucht lag sie nicht, und sie segelte weder südlich davon noch östlich oder, soweit man das feststellen konnte, im nördlichen Sektor.
Dan O’Flynn faßte die Gedanken und Befürchtungen zusammen und erklärten: „Die ‚Stern‘ ist weg. Einerseits beruhigt diese Tatsache. Andererseits wissen wir wie sooft gar nichts. Sind unsere Leute noch an den Riemen? Wo steckt dein Vater? Was ist mit diesem schuftigen falschen Sultan passiert? Wer befindet sich auf der Schebecke?“
Hasard junior ließ die drei Masten – mehr war wegen der Büsche noch nicht zu erkennen – nicht aus den Augen, als er erwiderte: „Also, wer sich auf der Schebecke befindet, das haben wir schnell herausgefunden.“ Er wandte sich an Nanak und Balshak. „Wahrscheinlich könnt ihr uns absetzen und heimsegeln, Freunde.“
„Ich meine“, entgegnete Balshak, „daß wir euch auch weiterhelfen können. Aber so ist es besser.“
„So scheint es“, entgegnete Hasard. „Trotzdem sollten wir uns dem Schiff mit aller Vorsicht nähern. Denk an die verdammten Portus, Dan.“
„Unter anderem denke ich auch an die Leute von der ‚Cabo‘, Söhnchen“, erwiderte Dan. „In zwei Stunden wissen wir alles. Oder jedenfalls ziemlich viel.“
„Und wir brauchen den Wind aus Norden“, sagte Nanak. „Den Nordostmonsun.“
Dan grinste breit. Seine Erleichterung war fast greifbar. „Und uns hat die Unterbrechung des Monsuns, samt Taifun und wechselnden Böen aus allen Richtungen, gut geholfen. Unser Pulver ist wieder trocken, aber ich bezweifle, daß wie ein längeres Feuergefecht bestehen können.“
„Vergiß die Taschenculverinen“, Hasard junior winkte ab. „Warten wir erst mal ab, was wir in der Bucht oder in der Flußmündung sehen.“
„Richtig.“
Das Ufer verlief etwa eine halbe Seemeile weit fast schnurgerade nach Norden. Weiter voraus bildete die Küste noch eine Barriere, auf der lückenhaft Wald und einzelne, halb abgestorbene Baumriesen zu sehen waren. Sie wies nach Osten. Die nächste Dünungswelle hob das Boot um einige Fuß, und die Männer hatten für einen Atemzug einen besseren Überblick.
Die Einfahrt der Bucht war nicht viel breiter als eine reichliche Kabellänge. Sie verlief ohne scharfe Trennung. Das niedrige Ufer wich zurück, und schon wenige Yards innerhalb der Bucht begannen Brackwasserpflanzen und schließlich Schilf zu wuchern.
Schließlich erreichte das Fischerboot das nördliche Ende der Bucht. Eine ruhige Wasserfläche erstreckte sich tief ins Landesinnere. Die Schebecke schien vor Anker zu liegen, ihr Heck ragte, halb verdeckt von Stämmen und Blattwerk, verdächtig nahe über das Ufer.
Dan und Hasard setzten sich wieder auf die Ducht, nickten Balshak zu, und Dan sagte halblaut: „Alles klar? Ruder Backbord. Vorsichtig nähergehen. Notfalls pullen wir.“
Er packte die Schot und stemmte seine Sohle gegen das Dollbord.
„Yessur“, erwiderte Balshak und grinste. Jedenfalls klang das Wort so ähnlich.
Das Segel killte geräuschvoll, als sich das Boot überlegte und dann dem Ruder gehorchte.