Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 615 - Sean Beaufort - Страница 6
1.
Оглавление„Es gibt nicht das geringste Zeichen, daß wir uns der Küste nähern. Ich meine irgendeine Küste. Land, Strand, Flußmündung oder meinetwegen Felsen oder Klippen. Nichts.“
Kapitän Philip Hasard Killigrews Stimme war rauh vor Ärger und Enttäuschung. Das Maß der vernichtenden Zwischenfälle war übervoll. Der Seewolf glaubte, daß es noch schlimmer werden würde. Die „Discoverer“ und die Karavelle ruhten zertrümmert und voller ertrunkener Opfer auf dem Grund des Atlantiks. Und auf den übriggebliebenen Galeonen herrschte nun endgültig die Vorhölle.
„Aber wir segeln in Küstennähe, Sir“, beharrte Dan O’Flynn. „Ich irre mich nicht, wenn ich einen Kurs zwei Dutzend Male berechne. Jeden Augenblick muß dort ein Teil der Küste auftauchen.“
„Hast du vielleicht einen einzigen Vogel gesehen?“ fragte Hasard, der seine Ratlosigkeit nicht verbarg.
„Ja. Aber leider nur nach dem Außersichtkommen Englands. Nicht in den letzten Stunden“, erwiderte Dan gallig.
Der kleine Verband, zusammengeschrumpft und auf gegenseitige Hilfe angewiesen, blieb nach den mörderischen Zwischenfällen, nach dem Sturm und dem vernichtenden Seegefecht dicht zusammen. Die beiden Galeonen segelten, zwei Kabellängen voneinander entfernt, in Kiellinie.
Die Schebecke blieb achterlich in Luv, und die Seewölfe beobachteten die „Pilgrim“ und die „Explorer“ fast unausgesetzt.
„Scherzbold“, brummelte der Seewolf.
Die Seeleute kannten viele unterschiedliche Zeichen, die auf die Nähe von Land hinwiesen. Fischende Vögel galten zu Recht als ein Hinweis, der in wenigen Tagen mit großer Sicherheit den Anblick einer Küste versprach. Aber unterschiedliche Wolkenformationen, Wetteränderungen, bestimmte Gerüche, die der Wind mit sich brachte und Strömungen, in denen Dinge trieben, die vom nahen Land stammten – nichts dergleichen hatten die Seewölfe entdecken können. Die ersehnte Küste Virginias war also noch weiter entfernt, als man sich vorstellte, als jedermann mit allen seinen Sinnen herbeibetete.
„Im Ernst“, sagte Dan und ließ das Spektiv voller Enttäuschung sinken. „Es ist seltsam.“
„Seltsam?“ fragte Hasard.
„Wir müßten längst Land voraus haben. Selbst wenn wir nicht geradewegs auf die zerklüftete Virginia-Küste stoßen, sollten wir weiter nördlich Land sichten. Denn zu weit südlich sind wir nicht abgetrieben. Jeder Kapitän kann das bestätigen. Der Sonnenstand und die Sterne – wir waren viel langsamer als geplant.“
„Das wird es wohl sein“, bestätigte Hasard.
Die Karten, über die Dan O’Flynn verfügte, waren vergleichsweise genau, aber wiederum nicht so gut, wie sie hätten sein müssen. Nach zahllosen Berechnungen, deren Ergebnisse auch mit Drinkwater und Toolan ausgetauscht und durchgesprochen worden waren, meinte jeder, daß binnen einer Woche die schauerliche Fahrt zu Ende sein würde – wenigstens in dem Sinn, daß die Schiffe ankern und die Besatzungen und Passagiere an Land gehen konnten.
„Also knüppeln wir so weiter wie bisher“, schlug Dan vor. Es sollte aufmunternd klingen, aber die Wirkung war gering.
Der Crew, deren Heimat die Schebecke war, ging es vergleichsweise hervorragend. Der Proviant hatte natürlich drastisch abgenommen, aber jeder wurde noch satt und hatte genug zu trinken. Dies galt ebenso für die drei kleinlaut gewordenen Gentlemen und die fünfköpfige Familie Fletcher, die nicht müde wurde, ihr Glück zu preisen.
„Was sonst?“ erwiderte Hasard. Auch er war mit den herrschenden Zuständen mehr als unzufrieden. Von Tag zu Tag starben mehr Menschen auf den Galeonen. Die Anzahl der Kranken wuchs.
Hasard zerkaute einen Fluch zwischen den Lippen und meinte schließlich, als wäre es ein ausreichender Trost: „Wenigstens haben wir heute gutes Wetter und Sonnenschein.“
„Ein Zeichen, daß wir uns dem Land nähern?“
„Kaum.“
Eine große, dunkelgelbe Sonne hing im Osten eine knappe Handbreite über der Kimm. Der letzte Nachtwind hatte den Himmel leergefegt. Er spannte sich in einem hellen, strahlenden Blau über dem dunklen Wasser und schien das Leid der vielen Menschen verspotten zu wollen. Dazu kamen die heiteren Schaumkämme auf den Wellen, die Ungefährlichkeit und fröhliche Seefahrt versinnbildlichten.
„Aber es erleichtert etwas das Leben, das gute Wetter“, versuchte Dan einen weiteren schwachen Trost auszusprechen.
„Besonders die Sterbenden freuen sich darüber.“
Hasard erlaubte sich keinen Scherz. Seine Bemerkung klang bitter. Der Umstand, daß auch auf der Schebecke die Vorräte mehr als knapp geworden waren, lag darin, daß der Kutscher und Mac Pellew einen Teil davon an die beiden Galeonen abgegeben hatten.
Dan und Hasard standen auf der Back der Schebecke, sogen die frische Luft tief in ihre Lungen und federten die weichen Bewegungen ab, mit denen das Schiff in die Wellen einsetzte. Ihre Gedanken kreisten unausgesetzt um dasselbe Thema, über das auch alle anderen Seewölfe ständig sprachen: Wie lange dauerte es noch, bis sich das Land hinter der Kimm heraufschob?
Für die Crews und die Auswanderer bedeutete diese Frage inzwischen den Unterschied zwischen Leben und Tod.
Weder Dan noch Hasard hielten viel davon, über die Vergangenheit zu sprechen. Die Zukunft war weitaus wichtiger, jede Stunde an diesem Tag konnte neue Aufgaben und Abenteuer bringen. Piet Straaten stand an der Pinne. Der Kurs lag klar an: So schnell wie möglich zur „Pilgrim“ und dort längsseits gehen. So war es mit Kapitän James Drinkwater abgesprochen.
„Was tun wir, wenn es noch länger dauert, Sir?“ fragte Dan bekümmert.
„Nichts anderes als das, was wir immer unternommen haben“, gab Hasard zur Antwort. „Wir sorgen für die anderen, ohne uns selbst zu gefährden.“
„Dieser Zeitpunkt ist nicht fern“, meinte Dan.
„Und deswegen ist mein Gesicht auch so sorgenvoll“, brummte der Seewolf und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. „Los. Gehen wir zu den anderen. Jeder von uns weiß, wo er Hand anlegen muß.“
Mac Pellew und der Kutscher hatten nach einigem Zögern begriffen, daß ihnen Susan Fletcher wirklich die Arbeit erleichterte. Selbst Mac mit seinem bekannten und gefürchteten mürrischen Gesichtsausdruck grinste mitunter anerkennend, wenn er über die Sauberkeit der Kochstelle und über den besseren Geschmack des einen oder anderen Gerichts sprach.
Aber auch die Mehlvorräte näherten sich bedenklich ihrem Ende. Der Geruch nach frisch gebackenem Brot wurde kräftiger, als sich die Männer der Kuhl näherten. Das Wasser lief ihnen im Mund zusammen. Aber sie hatten schon gegessen, das frische Brot war ein Teil des Essens, das sie an Bord der Galeonen bringen wollten.
David Fletcher arbeitete mit Bill und Blacky zusammen an den Planken des Beibootes. Sie besserten mit Schleifstein, Farbe und Quast die Planken über der Wasserlinie aus und arbeiteten ohne Eile, aber mit Nachdruck. Die langen Riemen, die als nächstes überholt werden sollten, waren neben dem Boot angebändselt.
„Alles nach deinem Geschmack, David?“ fragte Dan. Der Auswanderer, der seine Rettung und die seiner Familie als Wunder feierte, leistete an Bord mehr als nur „Hand für Koje“. Er arbeitete wie ein Besessener und suchte sich die Arbeit sogar noch.
„Es ist mir noch nie besser gegangen“, sagte David mit breitem Lachen.
„Übertreibt’s nicht“, riet ihm der Seewolf. „Die Planken werden sonst zu dünn.“
„Wann sind wir in Virginia, Kapitän?“ erkundigte sich der Auswanderer. Sie alle hatten nicht viel mehr als ihr nacktes Leben und ihre Kleidung retten können.
„Das fragen sich alle“, erwiderte Hasard, der es für sinnlos hielt, falsche Hoffnungen zu nähren. „Auch mit diesem Spektiv hier ist das Land nicht zu sehen.“
Er schob den Kieker in die Tasche seiner Jacke zurück und peilte heckwärts zum Grätingsdeck. Dort saßen zwischen Edwin Carberry und dem breitschultrigen Schiffszimmermann die drei Kinder der Familie. Sie hielten alles seit dem Schiffsuntergang für ein herrliches Abenteuer und hatten offensichtlich die Schrecken völlig vergessen.
„Wenigstens die Kleinen freuen sich über die christliche Seefahrt“, meinte der Seewolf. „Ein Trost für meine altersschwachen Augen.“
„Du hast recht, Sir“, stimmte ihm Dan halblaut bei. „Man fühlt sich direkt wie ein halbwegs heiliger Lebensretter. Und die Crew kümmert sich um ihre Schützlinge.“
„Hm“, brummte Hasard.
Von den noch so vielen guten Eindrücken und Ausblicken wurden die Plagen, die andere Menschen in Lebensgefahr brachten, nicht um einen Deut geringer. Eine kleine Gruppe der Seewölfe bereitete sich vor, an Bord der „Pilgrim“ zu entern und dort, wie der Kutscher es ausdrückte, „ihr segensreiches Wirken für das Wohl der Seefahrt“ fortzusetzen.
Abgekochtes Wasser, ein warmer, nahrhafter Brei für die Kranken, kräftige Suppe, Binden und saubere Tücher, die verschiedenen Arzneien des Kutschers, das abgekühlte Brot und was die Seewölfe sonst noch entbehren konnten – alles wurde in verschließbare Fässer und Leinwand gefüllt und eingeschlagen.
„Soll ich mit an Bord gehen und euch helfen?“ rief Susan Fletcher von der Kochstelle her.
„Muß nicht sein“, sagte Mac Pellew. „Oder doch? Vielleicht beruhigt es die Kranken.“
„Susan bleibt hier“, bestimmte Hasard. „Ihr wißt, welche Stimmung auf den Galeonen herrscht.“
„Nicht die beste“, ließ sich der Profos vernehmen und zog einen Belegnagel heraus, schob ihn in seinen Gürtel und kontrollierte seine Pistole.
Die Lage, in der sich zwei Drittel der Auswanderer und ein Teil der beiden Crews befanden, ließ die Kapitäne schlecht schlafen. Auch die Seewölfe litten darunter. Bei ihnen an Bord herrschten äußerste Disziplin und Ordnung. Im Gegensatz zu den Galeonen mußte niemand der Crew sagen, wie ein aufgeklartes Schiff auszusehen hatte.
Die Männer waren sauber und gepflegt. Sie hatten keine Not, stets gab es genügend zu trinken und zu essen. Auch sah niemand einen Kranken auf den Planken der Schebecke. Diese vielen einzelnen Beobachtungen riefen zuerst Erstaunen, dann Bewunderung, schließlich Mißgunst, Neid und Gedanken an Überfall hervor.
Da der Seewolf diese Expedition leitete und zu verantworten hatte, meinten nicht wenige, er wäre an allem schuld. Je mehr geflüstert und geredet wurde, desto bösere Gerüchte wucherten. Was sich daraus ergeben konnte, wußten die Seewolfe. Sie mußten sich dagegen schützen. Es hatte verteufelt viel mit Aufstand und Meuterei zu tun.
„Wer geht heute an Bord?“ fragte Old Donegal und verschloß den Brotsack mit einem Doppelknoten.
„Die Kräftigsten“, bestimmte Hasard. „Ich nicht. Sonst haben sie den bösen Seewolf zu dicht vor Augen.“
„Einverstanden.“
Edwin Carberry hatte seine Männer schon eingeteilt. Abgesehen vom Kutscher, der den Feldschern der Galeonen mit Tat und Arznei half, waren es die kräftigsten Männer an Bord. Je weiter sich die Schebecke der „Pilgrim“ näherte, desto mehr Ausrüstung stapelte sich an Deck. Einige Seeleute und etliche Gruppen von Auswanderern standen drüben am Schanzkleid und peilten zu ihnen.
Hasard versammelte seine Männer um sich.
„Ihr wart schon ein paarmal drüben“, eröffnete er warnend seine Anordnungen, „und ihr wißt, daß sie alle verzweifelt sind. Laßt euch nicht ablenken. Verteilt das Essen, sorgt für Ordnung und denkt dran, daß die armen Kerle fast am Ende sind. Sagt ihnen, daß wir bald Land sehen. Dann sind ihre schlimmen Tage zu Ende.“
Die Schebecke stampfte durch die aufzischenden Wellenkämme, richtete den Bugsteven zunächst auf das Heck der schwerfälligen Galeone, dann glitt sie näher heran und an Bockbord der „Pilgrim“ längsseits. Tauschlingen wirbelten durch die Luft, Tampen wurden belegt, und zwischen den Bordwänden rieben sich knirschend abgewetzte Segeltuchsäcke, die mit Lumpen und Tauabschnitten gefüllt waren. Eine Jakobsleiter rollte sich auf.
Graham Lilley, der Erste, und Kapitän Drinkwater beugten sich über das Schanzkleid der Kampanje, hoben grüßend die Arme, und Drinkwater rief mit lauter Stimme: „Willkommen an Bord!“
„Guten Morgen, James!“ rief Hasard zurück. „Die gesunden Männer sollen uns helfen. Wir haben noch die ‚Explorer‘ zu versorgen.“
„Sie stehen schon bereit.“
Mit langen Schritten eilte der Erste über Deck, um Edwin Carberry zu begrüßen, der über die Sprossen der Jakobsleiter an Deck der Galeone kletterte.
Die Seeleute warfen Leinen auf die Planken der Schebecke. Während Hasard junior dem Profos folgte, bändselten Paddy Rogers und Gary Andrews die Säcke und Fäßchen an. Nacheinander wurden die Nahrungsmittel an Bord der Galeone gehievt.
Ferris Tucker folgte, dann enterte der Kutscher auf, während seine Feldscherkiste voller unersetzbarer Medizin, Tränke und Ausrüstung behutsam aufgeholt wurde und über seinem Kopf an Deck schaukelte. Batuti und Roger Brighton übersprangen den Rand des Schanzkleides der Galeone. Die Auswanderer und die Seeleute sahen, daß sie, wie auch bei den vorhergehenden Besuchen, bewaffnet waren.
Stenmark und Big Old Shane waren die letzten Seewölfe, die das andere Schiff betraten. Mit Handschlag wurde jeder vom Ersten begrüßt. Auch der Kapitän erschien und sah erleichtert zu, wie die Männer mit ihrer Arbeit anfingen.
Sie teilten Tee aus, der inzwischen nur mehr lauwarm war. Die Brotscheiben wurden ihnen aus den Händen gerissen. Der Kutscher eilte unter Deck und kümmerte sich um die Kranken. Er mischte seine Tränke, gab sie ihnen löffelweise ein, ließ sich helfen und ordnete an, daß zwei alte Männer, die in der vergangenen Nacht unbeachtet gestorben waren, an Deck geschafft wurden.
„Weiter so. Ihr rettet Schiff und Mannschaft und Passagiere“, sagte James Drinkwater. „Wenn es die Seewölfe nicht gäbe …“
Hasard junior antwortete ruhig: „Mein Vater bittet Sie, mit allem Nachdruck darauf zu bestehen, daß nicht wir als die Schuldigen bezeichnet werden.“
„Siehst du den Bootsmann? Den Profos? Sie greifen ein, wenn es Ärger geben sollte“, sagte der Kapitän eindringlich. „Wir wissen, wer uns hilft!“
„Aber lange halten wir das auch nicht mehr durch“, schwächte Hasard ab.
Wasser, Tee und verdünnter Wein waren bald ausgeteilt. Die Vorräte der „Pilgrim“ hatten in erschreckendem Maß abgenommen. Der Vorteil, daß es auch kaum noch verdorbene Vorräte gab, hatte sich dadurch ins Gegenteil verkehrt.
Jeder an Bord der Galeone, ob er zu den Aussiedlern oder zur Crew gehörte, erhielt mindestens eine Muck voll. Die meisten Leute waren voller schweigender Dankbarkeit, aber die bitteren und vorwurfsvollen Blicke, die den Profos und seine kleine Mannschaft trafen, nahmen zu.
An Steuerbord wurden die Leichen der See übergeben.
„Tag für Tag das gleiche“, murmelte der Kutscher und sah bestätigt, was er schon seit Tagen wußte. Auch seine Arzneien und Wundertränklein gingen zur Neige. Die Feldscher an Bord der Schiffe hatten sich ohnehin bereits völlig verausgabt.
„Und wenig Besserung, mein Freund“, brummte der Medicus der „Pilgrim“. „Sie sind zu schwach, die Aussiedler.“
„Ein paar Tage werden sie alle überleben“, erklärte der Kutscher mit großer Sicherheit. „Hunger ist nicht so schlimm wie Durst. Und die Kranken erholen sich, einer nach dem anderen.“
Alles in allem hatte sich gegenüber der letzten Hilfsaktion nichts wirklich verändert. Einige Leute fühlten sich gesünder, andere waren schlimmer erkrankt, aber drückender Hunger plagte sie alle.
„Wir haben getan, was wir konnten“, sagte Hasard junior, der die leeren Säcke und Behälter wieder zur Schebecke abfierte. „Und der Wind ist gleichmäßig gut.“
„Jetzt hilft nur noch beten“, murmelte Lilley mit niedergedrückter Stimme.
Er sah gleichmütig zu, wie ein hübsches braunhaariges Mädchen auf ihn zuging, ein Stück Brot und eine Schale mit Seewölfe-Tee in den Händen. Obwohl ihr Gesicht sauber und frisch aussah, erkannte Hasard junior die Zeichen der Entbehrungen.
„Keiner stirbt an Hunger und Durst“, wiederholte Hasard. „Betet dafür, daß die Krankheiten besiegt werden.“
Er hob bedauernd die Schultern, lächelte die junge Frau aufmunternd an und schaute sich wachsam um, ehe er sich über das Schanzkleid schwang und abenterte.
Er hörte noch, wie der Erste Offizier zu der Frau sagte: „Die Fletchers haben’s gut. Sie sind auf der Schebecke. Dort brauchen sie nicht um einen Schluck Wein zu betteln.“
Daran ist etwas Wahres, sagte er sich. Aber schließlich hatte sich jeder einzelne Angehörige der Seewolf-Crew auf diese lange, beschwerliche Fahrt besonders gut vorbereitet.
Nach und nach kehrten die Männer an Bord zurück.
Die Fässer und Säcke wurden aufgeklart. Susan Fletcher teilte die Rationen für die „Explorer“ ebenso gerecht und genau ein, als wäre sie von Hasard selbst eingewiesen worden.
Mac Pellew brummte verdrießlich: „Wenn wir das noch zweimal riskieren, dann fängt für uns alle der richtige Hunger an, Susan.“
„Ich hab’s gesehen. Die Mehlkisten sind fast leer.“
„Nicht nur die Mehlkisten“, sagte er und hängte den leeren Kessel wieder über die kärgliche Glut. „Alles andere auch. Mit dem Wasser sieht’s noch am besten von allem aus.“
Natürlich waren an Bord der Schebecke die Rationen längst halbiert worden. Das ließ sich aushalten, denn die Crew war gut genährt. Von einem schaumtropfenden Bier konnten sie nur noch träumen. Whisky, Wein und Rum gab es noch etwas in den gluckernden Fäßchen. Die Versuche von Little John und den Zwillingen, ein paar große Fische zu fangen, waren nach dem schweren Sturm leider von keinem Erfolg gekrönt worden.
Als letzter sprang Carberry auf die Decksplanken und gab das Signal. Die Jakobsleiter wurde aufgeholt.
„Alle Mann an Bord zurück, Sir“, meldete er in forschem Ton, aber seine Miene drückte aus, daß er in den Decks der Galeone wieder einmal so viel gesehen hatte, daß es auf seine Stimmung schlug. „Wir haben unser Möglichstes getan.“
„Weiß ich, Ed“, erwiderte Hasard voller Ernst. „Das weiß jeder.“
Die schützenden Leinwandbündel wurden eingeholt, die Belegtaue losgeworfen. Mit einem letzten Winken legten die Seewölfe ab, die Segel wurden neu getrimmt, und der Rudergänger nahm Kurs auf die letzte Galeone.
Kurz nach der Stunde, in der die Sonne ihren höchsten Punkt am wolkenlosen Himmel erreichte, breitete sich wieder die gewohnte Ruhe an Bord der Schebecke aus.
Nicht nur die drei kleinlaut gewordenen Gentlemen befanden sich unter Deck. Auch die Männer der letzten Wache waren abgelöst worden. Susan Fletcher und Mac Pellew hatten wieder einmal gezeigt, daß sie auch aus schwindenden Vorräten ein Bordessen zaubern konnten.
Hasard saß wieder mit Dan O’Flynn vor den Karten, nachdem sie vom Kutscher sogar große Becher voller Kaffee empfangen und mit einem Schluck Whisky „gewürzt“ hatten. Sie wußten, daß sie mit noch so viel Rechnen und Vergleichen die Fahrzeit nicht verkürzen konnten.
Aber sie wollten unter allen Umständen die Zeitspanne zwischen dem sicheren Ankommen in Virginia und dem ersten Augenblick verkürzen, an dem man an einen Landfall denken konnte.
Die Karten zeigten, daß die Küste – voller Inseln, mit zerrissener Strandlinie, offenbar aus kleinen Fjorden und Flußmündungen bestehend – nördlich des ersehnten Zieles weit nach Osten und Nordosten vorsprang. Dan war sicher, daß der kleine Schiffsverband noch zu weit nördlich auf Westkurs lag.
„Glücklicherweise“, meinte er. „Je weiter nördlich wir segeln, desto eher sind die armen Kerle dort drüben wieder auf den Füßen.“
„Die meiste Arbeit dabei haben ohnehin wir“, bestätigte der Seewolf. „Abgesehen davon, daß wir unsere Vorräte auch ergänzen müssen.“
Dan lachte kurz und sarkastisch.
„Dort werden wir vergeblich nach Mühlen und Dorfmärkten suchen, Sir.“
„Richtig. Aber es gibt bestimmt Wälder, und wo Wälder sind, finden wir Wild, Beeren und Pilze. Und natürlich sauberes Frischwasser.“
„Hoffentlich stoßen wir nicht auf Klippen und nackte Felsen“, sagte Dan und breitete unsicher die Arme aus. „Auf den Karten kann ich jedenfalls keine Bemerkungen finden, die uns das Überleben garantieren helfen.“
„Nicht die gesamte Küste wird aus schroffem Fels bestehen. Du kannst mich jetzt entbehren?“
Dan nickte und antwortete: „Zumindest bis zur nächsten Wache, Sir.“
Hasard richtete sich auf und duckte sich unter den wuchtigen Decksbalken.
„Ich versuche ein paar Stunden zu schlafen. Veranstaltet nicht zuviel Krach.“
„Nein, Sir.“
Jeweils zwei oder drei Kabellängen voneinander entfernt, noch immer in Kiellinie, aber ohne den geisterhaften Verfolger, die Karavelle, schob sich der Verband aus drei Schiffen dem unsichtbaren Ziel entgegen.
An Bord aller Schiffe gab es nur einen Gedanken: Jede weitere Stunde brachte die Schebecke und die Galeonen näher an die Stunde der Rettung heran.