Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 597 - Sean Beaufort - Страница 7

1.

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Ben Brighton fluchte, nachdem er mit den neuen, glänzenden Langschäftern mitten in eine Dreckpfütze getreten war.

„Das soll die Hauptstadt unserer Insel sein? Mich bringt der Gestank fast um.“

Sein Bruder Roger führte eine umfassende Geste aus und murmelte: „Das einzige, das dieser Gegend noch helfen kann, ist ein solider Großbrand.“

„Da brauchst du nicht lange zu warten“, sagte Ben. „Immer wieder brennt es, und dann bauen sie’s genauso schäbig auf. Aber wir haben wirklich das am meisten heruntergekommene Viertel erwischt.“

„Will ich wohl meinen.“

Auch die Brightonbrüder benutzten den Aufenthalt, um sich London anzusehen und, zunächst, um sich selbst auszurüsten und mit allem einzudecken, was sie brauchten. Sie hatten genügend Geld umgewechselt, um neue, weiche Hemden bestellen und sich anmessen zu lassen. Die Schuhe und Stiefel, die abgetragen waren und entsprechend aussahen, hatten sie dem Schuhmacher überlassen. Jetzt trugen die meisten Seewölfe teure Langschäfter, die ebenso weich waren wie der Stoff der neuen Jacken.

„Warum hast du mich eigentlich hierhergeschleppt?“ wollte Roger wissen.

„Weil am Ende dieser Prachtstraße, auf dem Platz, ein Waffenhändler ist. Man sagt, einer der besten von London.“

„Das erklärt vieles.“

Dieses London! Es war eine wichtige Stadt, eine große Stadt. Selbst in der kurzen Zeit, seit sie themseauf gesegelt waren und angelegt hatten, jagte ein Zwischenfall den nächsten. Der vorläufige Höhepunkt der seltsamen Geschehnisse war zweifellos das Intrigenspiel des Grafen von Essex gewesen, und das Ende hatte den Arwenacks gezeigt, daß sie an Land genauso schlagkräftig waren wie auf See. Aber die riesige Stadt, die erstaunlicherweise nur eine einzige Brücke über die Themse hatte, war gleichermaßen abstoßend, faszinierend und verwirrend.

Ausgetretene Stufen führten zu schmalen Türen. Kleine Fenster starrten in die Gassen. Wie durch ein Wunder gab es an der Einmündung zu einem runden Platz einige Schritte, die über sauber verlegtes Steinpflaster führten.

Die beiden Männer schauten sich um. Der Platz, der von etwa fünfzehn Hausfronten gebildet wurde, zwischen denen einige Gassen, Treppen und eine baumbestandene, breitere Straße abzweigten, bot einen weitaus sauberen Eindruck als die elende Gasse, die sie hinter sich gelassen hatten. Drei Wirtshausschilder bewegten sich in einem schwachen Wind, der den brackigen Geruch vom Fluß heraufbrachte.

„Vor fünf Jahren wurde ein Neubauverbot eingeführt“, sagte Ben Brighton. „Ich hab’s mir erzählen lassen. Die Stadt erstickt an den Armen, die aus allen Teilen des Landes hier auftauchen, weil sie glauben, in London gäbe es viel Arbeit und noch mehr Lohn.“

„Das heißt, daß so gut wie keine neuen Häuser gebaut werden?“

„Das bedeutet, daß die Häuser immer mehr Zimmer erhalten. Wo es so eng ist, sammelt sich das Ungeziefer – auch das menschliche, wie mir die Stadtwache erzählte. Und das freut die Reichen nicht.“

„Sie müssen sich schließlich ebenfalls in diesem Irrgarten aus ein paar hundert streets und lanes und places zurechtfinden.“

„Alle jammern, daß sich die Bevölkerungsflut nicht aufhalten läßt“, meinte Ben. „Die Folge ist, daß zu viele Leute zu wenig Platz haben.“

In den Straßen bewegten sich hauptsächlich Diener, Mädchen und Frauen. Die Männer arbeiteten, die meisten von ihnen im Hafen und rund um den Hafen, dem pool, der von gewaltiger Wichtigkeit für die Stadt war.

„Das wird irgendwann noch schlimmer werden“, murmelte Roger.

Mühsam bahnten sie sich ihren Weg quer über den Platz. Zwei Reiter hatten es ebenso schwer. Da waren Karren voller Händlerwaren, bettelnde Kinder und Frauen jeden Alters, meist erbärmlich gekleidet. Diener und Dienerinnen kauften ein. Sie waren sehr teuer gekleidet und benahmen sich, als wären sie etwas Besseres.

Hunde kläfften und jaulten, Taubenschwärme kreisten über den Giebeln, der kleine Platz barst von Lärm, Staub, dem Rauch offener Feuer und vom Grölen der Betrunkenen.

Die auffallend großen Seewölfe, keineswegs prunkvoll, aber gut gekleidet und bewaffnet, wurden von niemandem belästigt. Sie stießen die Tür des Waffenhändlers auf. Die Türklingel bestand aus einem Stück bronzenem Kanonenrohr, ringförmig herausgesägt, an das ein Stößel schlug. Ein glockenähnlicher Ton erklang.

„Hier sind wir richtig“, sagte Ben beinahe ehrfürchtig und zog seine Pistole aus dem breiten Gürtel. Der Lauf klirrte gegen die große Schnalle mit den gerundeten Kanten und der schönen Metalltreibearbeit.

„Eine kleine Armee könnte man ausrüsten.“

An den Wänden, in Schränken aus poliertem Holz und kleinen Glasscheiben, unter der Abdeckung einer Theke und über einer Werkbank im Hintergrund des halbdunklen Raumes befanden sich Musketen, langläufige und kurzläufige Pistolen, ein seltsamer Drehling, zweiläufige Waffen und winzige Kanonen, die wie Spielzeug aussahen.

Eine Tür klapperte, dann trat der Waffenschmied in den Laden, ein großer, hagerer Mann mit scharfgekerbtem Gesicht, einem Schopf blonder Haare und hellen Augen.

Er nickte den Fremden zu und sagte in breitem Londoner Dialekt: „Die Gentlemen sind willkommen. Was kann ich für Sie tun?“

Auch Roger legte seine Pistole auf den Ladentisch und erwiderte: „Master Handicap, so steht es über dem Eingang. Man sagte uns, daß Sie einer der besten Waffenschmiede in der Stadt seien.“

„Das mag sein. Der schlechteste bin ich nicht“, sagte der Meister sachlich. „Probleme mit den Pistolen? Oder mit dem Treffen?“

„Nicht wirklich.“

Roger Brighton erklärte, daß diese beiden Waffen keineswegs schlecht, aber auch nicht sonderlich hervorragend seien. Der Hersteller war unbekannt, und nach langem Gebrauch hatten die Waffen in jedem Teil gelitten.

Der Waffenschmied prüfte sie sehr gründlich und sagte: „Keine gute englische oder französische Arbeit. Ihr habt recht, es ist fast alles in wenig gutem Zustand. Seid ihr verliebt in diese Schießprügel? Oder sucht ihr etwas wirklich Besseres?“

„Master Handicap will uns neue Waffen verkaufen und die alten hoch in Zahlung nehmen?“ fragte Roger und zuckte mit den Schultern. „Bisher haben wir immer das getroffen, auf das wir zielten.“

„Euer Vorteil“, meinte Handicap. „Wie oft haben Sie feuern müssen?“

„Es hielt sich in Grenzen“, sagte Ben Brighton und grinste breit. „Wie Sie sehen, überlebten wir.“

„Ich sehe.“

Hinter dem kleinen Verkaufsraum, in dem viele Reparaturen ausgeführt werden konnten, befanden sich weitere Räume, in denen offenbar die Gehilfen des Waffenherstellers arbeiteten. Gedämpfter Lärm von Feilen, Hämmern und Sägen drang heraus.

Handicap musterte die beiden hochaufgeschossenen, selbstbewußten Männer und nahm nach einigem Überlegen zwei langläufige Waffen von den Wandgestellen. Er brachte sie ins helle Licht und schwenkte sie hin und her.

„Wenn ich alles recht überlege“, sagte er mit der Sicherheit des Fachmannes, „dann gibt es wenig Auswahl. Ich empfehle Ihnen diese beiden Feuerröhrchen.“

Er reichte Ben und Roger je eine Pistole. Zwei fein gearbeitete, sparsam, aber elegant verzierte Läufe, verblüffend dünn, lagen nebeneinander, von einem Metallsteg getrennt. Die Griffe schmiegten sich gut in die Hände, die Hähne hatten genau die Größe, die ein sicheres Handhaben ermöglichte und sich nirgendwo festhaken würde. Je länger die Seewölfe die doppelläufigen Waffen in den Händen hielten, betrachteten, Zielübungen damit veranstalteten, desto genauer sahen sie, daß jede noch so winzige Einzelheit perfekt überlegt und gestaltet war.

„Nichts Überflüssiges.“ Handicap wies auf verschiedene Teile des Mechanismus. „Ich habe sie selbst eingeschossen. Man kann größere Ladungen verwenden. Das Geschoß wird sauber geführt, der Rückstoß ist vergleichsweise weich. Überaus preiswert, denke ich.“

„Wieviel?“ fragte Roger.

Master Handicap nannte einen Preis, der in der Tat dem Wert der Waffen entsprach.

„Für Pulver und Geschosse kann ich ebenso garantieren. Wenn wir handelseinig werden, repariere ich die alten Einläufer für denselben Preis. Wie wollt ihr es, Gentlemen?“

„Mit den ausgeleierten Dingen können die Zwillinge üben“, bestimmte Ben und nickte. „Ich bin einverstanden.“

Sie zahlten zur sichtlichen Verwunderung des Handwerkers mit Einhalbguineas und einigen silbernen Pennystücken.

Handicap war zufrieden und fragte plötzlich in fast fröhlicher Leutseligkeit: „Die Gentlemen sind womöglich von der Schebecke, die beim Tower vertaut hat?“

„So ist es“, brummte Roger. „Dorthin können Sie, wenn’s nicht mehr kostet, die alten Piratentöter schicken.“

Mit sicheren Handgriffen lud Handicap schnell die vier Läufe, ließ sich einige Säckchen voller Bleigeschosse bringen und führte mit Pulverhorn und frischen Steinen den beiden Seewölfen jeden einzelnen Griff vor. Dann übergab er ihnen, den Griff nach vorn, die Waffen.

„Treffen müßt ihr selbst, Gentlemen. Aber meine Pistolen sind so gut und schnell wie Ihre Manöver. Ich habe zugesehen, wie ihr es dem Essex gezeigt habt.“

Der Erste Offizier, der an dieser aufsehenerregenden Wettfahrt keinen geringen Anteil gehabt hatte, nickte grimmig.

„Essex hat die Niederlage nicht im mindesten sportlich genommen. Danach hat er unserem Kapitän ernsthafte Ungelegenheiten bereitet. Aber letzten Endes siegt immer der bessere Kämpfer.“

Sie lächelten einander höflich an, während die Brüder die Waffen in den Gürtel schoben und einige Handvoll Kugeln in den Taschen verstauten.

Roger fragte: „Welche Schenke ist zu empfehlen? Wir wollen gut und preiswert essen und den einen oder anderen Humpen Bier trinken?“

„Gehen Sie in Richtung der London Bridge. Rechts auf einem Platz befindet sich die Schenke ‚The Dragon‘. Sagt dem Wirt, Langdon heißt er, ich hätte Sie geschickt.“

Die Brüder verbeugten sich nur etwas weniger tief als der Meister der Feuerrohre und verließen den Laden. Ihre Laune hatte sich gebessert, und auf ihrem Weg zu dem bezeichneten Platz störten sie weder Lärm noch Gestank oder rempelnde Einwohner.

Den Seewölfen war London zwar einigermaßen gut bekannt, aber nach so langer Zeit schien sich die Stadt nicht nur in ihrer Vorstellung drastisch verändert zu haben.

Das Wahrzeichen der Stadt war, abgesehen von der Mauer, einigen höheren Gebäuden und den vielen Toren, zweifellos die London Bridge. Sie führte von der Stadt in den Vorort Southwark. Der Gezeitenstrom der Themse ließ sich bis zur Höhe dieser einzigen Brücke über den Fluß nutzen. Zahllose Kähne und Fähren fuhren ununterbrochen zwischen den Ufern hin und her und transportierten Menschen und Waren von Ufer zu Ufer.

Mittlerweile war, unweit des Pools, der Steel Yard oder Stahlhof – der Hanse geschlossen worden. Der Wein mußte jetzt also an anderer Stelle eingekauft werden. Im weiten Gebiet des Hafens allerdings herrschten Verhältnisse, die selbst die abgebrühten Seewölfe noch verblüfften: zahllose heruntergekommene und bettelnde Arbeiter, einige betrunken, Seeleute und Dirnen, Kapitäne und Händler bevölkerten das meist chaotische und überaus schmutzige Gebiet, das nach Teer, Holz und Fisch, fauligem Wasser und Brackwasser, nach fettem Rauch und jeder Art von Abfall roch.

Weitab vom Pool, mit direktem Blick auf die Brücke, war die Schebecke der Seewölfe in der Nähe des Towers vertäut. Am gegenüberliegenden Themseufer breitete sich ein kümmerlicher Vorort aus. Allein fünf berüchtigte Gefängnisse lagen an den Straßen von Southwark, dessen breiteste Straße nach Newington und weiter nach Osten führte.

Edwin Carberry und Ferris Tucker wußten inzwischen sehr genau, warum sie an Bord geblieben waren.

„Wenn ich nicht wüßte, daß die Kerle aus Not und Armut klauen wie die Raben, würde ich sie alle in den Fluß kippen“, brummte der Profos. „Aber arbeiten können sie, Respekt.“

„Wir müssen wirklich aufpassen, daß sie uns nicht ausplündern“, antwortete der Schiffszimmermann versöhnlich. „He, Francis!“ rief er und winkte dem Mann.

Francis war der Vormann einer kleinen Gruppe von Zimmerleuten, die Philipp Hasard Killigrew angeheuert und schon zur Hälfte bezahlt hatte. Sie arbeiteten seit zwei Tagen daran, die vielen kleinen Schäden im Holzwerk des Schiffes auszubessern, bis hinunter zur Wasserlinie und auch unter Deck.

Dort paßten eine Handvoll aus der Crew auf den gemeinsamen Besitz auf. Keiner langweilte sich dabei.

Francis, ein bulliger, weißhaariger Zimmermann aus Portsmouth, trat näher und blieb vor Tucker stehen.

„Mister Tucker?“ fragte er mit breitem Grinsen. „Was darf’s sein?“

„Du und deine Crew“, sagte Ferris und schlug ihm auf die Schulter, „ihr schuftet, als wäre morgen der Weltuntergang. Ruht euch aus, trinkt einen Becher, legt eine Pause ein – wir müssen nicht morgen fertig sein.“

„Hochherziges Angebot. Nehmen wir gern an“, erklärte Francis und winkte seinen Leuten. „Hierher! Der Meister gibt einen aus.“

Die Männer, die an den Decksplanken, an verschiedenen Stellen des ramponierten Schanzkleides und den Stufen der Niedergänge arbeiteten, ließen ihre Leimtöpfe, Pinsel und Hobel stehen und richteten sich ächzend auf.

Es waren, dachte der Kutscher, im Grunde bedauernswerte Kerle, die für einen Hungerlohn schufteten und sichtlich über die kleinste Vergünstigung höllisch froh waren.

Er hielt die Becher unter den Zapfhahn des Weinfasses und verteilte die Gefäße.

Etwas verlegen standen die Handwerker herum und betrachteten das Schiff und die Unordnung an Deck. Sie tranken so, wie sie arbeiteten – viel zu schnell.

Achtern arbeitete Will Thorne mit drei Londoner Segelmachern und kontrollierte jeden einzelnen Stich. Erst jetzt, in der Ruhe des kühlen Maitages, hatten die Seewölfe erkannt, wie viele kleine Ausbesserungsarbeiten notwendig geworden waren – fremde Küsten, verschiedene Häfen und eine Menge scharfer Gefechte hatten überall Spuren zurückgelassen.

„Leute“, sagte er, „setzt eure Stiche gründlich und solide. Es hat keine Eile.“

„Aber“, murmelte einer der Gehilfen, „wollt ihr nicht bald ablegen?“

„Es steht noch nicht fest, wohin und wann“, antwortete Will, der sich seine eigenen Gedanken darüber machte, wo wohl das nächste Ziel der Schebecke liegen mochte. Er tippte auf Falmouth.

Die Lateinersegel, in London kein alltäglicher Anblick, waren zum Teil von spanischen Drehbassen und Culverinen durchlöchert worden. Das Großsegel wurde an Deck ausgebreitet, verkleinert und entlang von Plankenkanten geradegeschnitten, bevor die Säume und die unterschiedlichen Tauwerkverbindungen, Augen und Bändsel eingenäht wurden. Eine mühsame Arbeit mit viel Garn, vielen Stichen und nur dann zu gebrauchen, wenn sie gewissenhaft ausgeführt wurde.

Die Leinwandreste schnitt Will Thorne selbst klein, verstaute sie oder warf die Reste auf den Haufen von Abfall, der schon auf den rissigen Planken des Steges lag.

Die Schebecke brauchte mindestens zwei komplette Sätze guter Segel und genügend Material, um bei Gelegenheit jede denkbare Reparatur der Segel durchführen zu können. Will Thorne setzte seinen Ehrgeiz daran, daß sich daran nichts änderte.

„Ihr braucht mit dem Garn nicht zu sparen, Oliver“, sagte er. „Wir haben genug eingekauft. Schließlich sind wir nicht die ärmliche Flotte der Königin.“

„Schon gut, Mister Thorne. Je besser wir nähen, desto länger brauchen wir“, erklärte der Segelmacher aus Chatwick. „Wenn’s dir recht ist …?“

„Es ist der Befehl unseres Kapitäns“, bestätigte Will Thorne. Immerhin hatten sie mit den bisher benutzten Segeln noch die Wettfahrt themseab und themseauf gewonnen – mit riesigem Vorsprung und zum maßlosen Ärger des Günstlings der Queen.

„Also denn“, brummte Oliver und stichelte weiter, schlang einen Knoten nach dem anderen und wartete darauf, daß die Sonne wieder zwischen den Regenwolken hervorkriechen würde.

Thorne lehnte sich zurück und griff nach dem Bierkrug. Die Segeltuchjacken, nicht alle immerhin, die er seinen Kameraden genäht hatte, waren in der Wäscherei. Zu seiner Freude sollten sie in einer Näherei auch ausgebessert und verschönert werden, mit neuen Knöpfen und festen Säumen.

Die Seewölfe würden staunen, wenn das Zeug zurückgebracht wurde und in den Kammern unter Deck hing. Die Jacken und Hemden hatten ebenso gelitten wie das Schiff und seine Segel.

„Das wird sich alles ändern“, brummelte Will und nahm einen tiefen Schluck. Auf englisches Bier hatte er sich gefreut seit … Er wußte es nicht mehr, so lange war das schon her. Besonders auf das bittere, dunkle, mit dem weißen Schaum. Das gab es sonst nirgendwo auf der Welt. Er starrte in den Krug, ob nicht etwa eine Kakerlake oder eine Schabe darin den Tod des Trunkenboldes gestorben war. Er sah nur den feinen Schaum.

Er lachte und rief zu Tucker hinüber: „In ein paar Tagen paßt die Crew nicht mehr zum Schiff. Von Stunde zu Stunde wird die Schebecke teurer und schöner.“

„Als erstes wirst du abmustern müssen“, erwiderte der Schiffszimmermann grinsend und tappte vorsichtig zwischen den Culverinen nach achtern.

In der Zwischenzeit waren die Geschütze längst an ihre alten Plätze zurückgebracht worden. Jetzt befanden sie sich mittschiffs in einer unregelmäßigen Reihe, weil auch die Stückpforten und das beschlagene Holzwerk drumherum ausgebessert wurden. Auch Teile einiger Lafetten brauchten eine energische Durchsicht.

Tucker winkte unauffällig. Will Thorne stand auf und ging mit ihm bis zum achterlichsten Punkt des Grätingsdecks.

„Du ziehst ein Gesicht, als sei dir die Suppe verhagelt“, sagte Will Thorne leise. „Was ist los?“

„Unsere Truhen“, flüsterte Ferris. „Den Arbeitern mißtraue ich nicht direkt, aber sie wissen, daß wir nicht arm sind.“

„Das stimmt. Es gilt praktisch für jeden, der an Bord war und sich etwas umsehen konnte.“

Die Schebecke war alles andere als ein Schatzschiff, vergleichbar der Galeone „Fidelidad“. Aber jeder einzelne Mann der Crew besaß aus der langen Zeit der Abenteuer erhebliche Mengen an Münzen und Wertgegenständen. Nachdem genügend Münzen in englische Währung umgetauscht worden waren, bewahrte jeder seine kostbaren Habseligkeiten in einer Seemannskiste auf, die natürlich unter Deck in den Kammern standen, mehr oder weniger gut versteckt. Es gehörte nur wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß davon das Diebsgesindel angelockt wurde.

Ein Arbeiter brauchte nur in einer Schenke ein falsches Wort zu verlieren, und das genügte, um ein paar Schnapphähne auf gefährliche Ideen zu bringen.

„Nicht nur unsere Kisten“, sagte Ferris Tucker. „Auch alles andere. Die venezianischen Gewürze ebenso wie die Waffen. Oder die Brandsätze. Oder Conroys feines Pulver. Die verwahrlosten Kerle ziehen uns auch die Nägel aus den Planken, wenn wir nicht aufpassen.“

Sir John, der Aracanga, klammerte sich an die leere Rahrute und schien trotz des kühlen Windes zu schlafen, denn er versteckte den Kopf unter dem linken Flügel und war seit Stunden völlig still.

„Wir lassen heute nacht eine bewaffnete Wache aufziehen und bringen genügend Lichter aus“, sagte Will Thorne. „Warten wir, bis unsere Landgänger wieder zurück sind.“

„Gönnen wir ihnen den Ausflug“, brummte Ferris und kratzte sich gewohnheitsmäßig im Genick. Er hatte den zweiten Landgang dazu benutzt, sein rotes Haar schneiden und sich, wie er versicherte, rasieren und den Kopf mit viel Seife waschen zu lassen. Es würde einige Zeit dauern, bis sein Schädel wieder den gewohnten Anblick bot.

„Sie bringen, vermutlich einige Neuigkeiten mit“, meinte der Segelmacher. „Und sie werden uns erzählen, wohin wir gehen müssen, wenn wir was erleben wollen.“

„Und wohin nicht“, sagte Ferris Tucker und kehrte zurück zum Bug, um die Arbeiten zu beaufsichtigen. Wenn er ungeduldig wurde, konnte er immer noch mit seinem eigenen Werkzeug eingreifen.

Aber die Kerle verstanden ihr Geschäft fast so gut wie er selbst.

Von der Galion bis zum Heck sägten, leimten, zapften und hämmerten die Arbeiter. Sägemehl und Späne flogen über Bord und trieben im schmutzigen Wasser abwärts. Zwei leere Boote hatten von der Backbordseite vertäut. Von ihnen aus würde morgen der Rumpf außen ausgebessert, stellenweise abgehobelt und neu gepönt werden. In ein paar Tagen würde die Schebecke so gut wie neu aussehen. Auch unter Deck gab es einiges aufzuklaren.

Eine halbe Stunde später kehrten die Zwillinge entlang des Ufers zurück, wichen einem dahinpreschenden Gespann aus und packten Plymmie am Halsband, als sie den schweißnassen Pferden hinterherspringen wollte.

„Habt ihr die Stadt verunsichert?“ rief Matt Davies zu ihnen hinunter. „Wo ist der Kapitän?“

„Bei einem Kaufmann. Er verhandelt, wie er es in Venedig versprochen hat.“ Jung Philip winkte und trat auf den Steg.

„Da wird er es nicht leicht haben“, meinte Matt. „Die ausländischen Kaufleute sind bekanntlich alle ausgewiesen worden.“

„Bekanntlich weiß Dad auch das“, erklärte Hasard und sah zu, wie die Bordhündin auf die Planken sprang und mißtrauisch die vielen Handwerker beäugte. „Das heißt aber nicht, daß jeder Handel verboten ist.“

„Verstehe. Wir werden sicher keine Handelsgüter nach Venedig schippern müssen“, meinte Matt halblaut. „Was gibt’s Neues in London?“

„Eine ganze Menge“, erwiderte Jung Hasard und kletterte an Bord. „Wir haben ausgezeichnet gegessen. Ich zeige euch, wo.“

Es war durchaus denkbar, daß Philip Hasard Killigrews Besuch bei einem Londoner Kaufherren wieder neue Gerüchte auslöste. Es gab schon genug Stoff für die ewigen Intrigen im Umkreis des Thrones. Möglicherweise versuchte wieder jemand, dem Seewolf einen Strick zu drehen.

Aber die Antwort, die Königin Elisabeth dem ehrgeizigen Essex gegeben hatte, konnte die Seewölfe-Crew beruhigen. Wenigstens für einige Tage. Solche unausgesprochenen Gedanken hatte jeder an Bord des Schiffes. Von einer Panik oder gar ernsthaften Furcht konnte indessen nicht die Rede sein.

„Wo wart ihr?“ fragte Matt.

„Dort drüben“, entgegnete Philip. „Direkt an der Brücke. Rechts und links von der Brücke gibt es Läden und Schenken. Man kann dort alles sehen und alles kaufen. Wir sind über die Brücke bis nach Southwark gegangen und wieder zurück.“

„Aha. Viel gesehen?“ fragte Will Thorne neugierig.

„Eine ganze Menge.“

Die alte Stadtmauer um London gab es nur noch zur nördlichen Landseite hin. Kais, Landebrücken und breite Steifen leeres und bebautes Land ersetzten den Wall, den die Londoner vor Urzeiten entlang der Themse gegen die Römer gebaut hatten. Sieben Tore, durch die Straßen in sieben verschiedene Vororte führten, unterbrachen den Mauerhalbkreis.

Im Grunde breitete sich entlang dieser Straßen der zweite Teil der Stadt aus. Oft säumten doppelte Häuserzeilen die schlammigen Wege und bildeten an irgendeiner Stelle einen neuen Stadtteil.

Eines Tages würde auch der Rest der Mauer fallen müssen. Die wichtigsten Straßen kreuzten sich am Westende der Lombardstreet. Dort stand die königliche Börse, ein wuchtiger, kennzeichnender Bau.

„Bleibt ihr jetzt auf dem Schiff?“ erkundigte sich der Profos durch den Lärm der Arbeiter. „Es wäre vielleicht besser so.“

„Wir bleiben hier und warten auf die anderen“, antwortete Jung Hasard.

„Ein paar, meine ich, werden wir heute nacht nicht an Bord sehen“, murmelte Ferris Tucker. „Sie haben Besseres vor.“

Auch die Zwillinge hatten sich nicht nur in der Stadt umgesehen, sondern auch vieles eingekauft, was sie tagsüber in den Auslagen der Geschäfte und im Ladeninneren entdeckt hatten.

Daß sie auch einem Haarschneidekünstler in die Hände gefallen waren und neues Schuhwerk gefunden hatten, sah man auf den ersten Blick. In London war es leicht, auszuwählen und zu kaufen, vorausgesetzt, man hatte genügend Münzen aus Bronze, Kupfer, Silber oder Gold in den Gürteltaschen.

„Ich hoffe nicht, daß sie sich in der Nacht zwischen den Häusern herumtreiben“, meinte der Profos. „Man kauft zwar breite Gürtel und schöne Gürtelschnallen am Tag, aber in der Nacht fühle ich mich am sichersten auf den Planken. Oder unter Deck.“

„Da gibt es auch noch einiges zu reparieren“, erklärte Jung Hasard. „Los, Plymmie. Her zu mir!“

Schweifwedelnd sprang die Bordhündin im Zickzack zwischen Werkzeug, Kanonen und Arbeitern bis zum Heck und verschwand über den Niedergang unter Deck.

Vor dem Steg luden die Knechte eines Fuhrmannes schwere Taubündel ab. Es waren dünnere und dickere Taue, sorgfältig in Schlingen gelegt und zusammengebändselt. Auch der Reepschläger hatte zuverlässig geliefert, ein Grund mehr, sich in London auszurüsten.

Der Fuhrmann rief zu den Arbeitern hinauf: „Das muß das Schiff von Kapitän Killigrew sein, nicht wahr?“

„So ist es, Mann. Die schnelle, namenlose Schebecke!“ brüllte Edwin Carberry zurück. „Ihr bringt das Tauwerk, wie?“

„Wollt ihr es an Bord?“

„Wo sonst? Dort, wo es gebraucht wird.“

Carberry und Tucker halfen mit, die Taubündel auf einem Teil des Decks zu stapeln, wo sie niemandem im Wege lagen. Will Thorne prüfte die Qualität. Sie war ausgezeichnet. Dort, wo anderes Tauwerk rauh und zerfasert in die Haut schnitt, glitten die Schläge selbst der dicken Tampen geschmeidig durch die Finger.

„Gut so. Der Seewolf hat mal wieder genau den Richtigen gefunden“, sagte der Segelmacher.

Mittlerweile war es spät am Nachmittag. Noch reichlich zwei Stunden gab es Tageshelle. Die Arbeiten an der Schebecke würden wohl noch etliche Tage dauern.

Der Fuhrmann wendete sein Gespann und prügelte auf die Klepper ein, während sich seine Knechte auf der löchrigen Ladefläche festklammerten. Einige Neugierige schauten herüber, aber dann lag der Platz unmittelbar vor der Schebecke wieder leer da. Ein erster dünner Regen traf die dunklen Mauern des Towers.

An Bord füllten die Zwillinge frisches Öl in die Lampen und verteilten sie über die gesamte Länge des Schiffes. Sie fragten sich zwar, warum ausgerechnet Carberry eine solche Lichtflut brauchte, aber das Öl war billig. Die letzten beiden Lampen bändselten sie in die Wanten, so daß ihre Helligkeit die Bordwand ausleuchten würde, die auf der Wasserseite lag.

Die Brightonbrüder kehrten von ihrem ausgedehnten Stadtspaziergang zurück und zeigten stolz ihre neuen Waffen herum.

„Und unsere bewährten Pistolen“, versprach der Erste Offizier den Zwillingen, „erhaltet ihr. Natürlich erst, wenn sie durchgesehen und repariert sind. Wenn ein Master Handicap sie bringt oder schickt, gebt ihm einen Farthing oder einen Halfpenny.“

„Geht klar, Sir.“

Die Zwillinge strahlten. Der Kutscher und Mac Pellew, deren Proviantliste lang war, legten frische Holzkohle auf die Glut und fingen an, für die Crew ein Abendessen zu bereiten.

Die Handwerker warfen immer wieder hungrige Blicke in die Richtung der Kombüse. Aber sie schufteten weiter. Will Thorne und seine Helfer beendeten ihre Arbeit, denn ein weiteres Segel war nach allen Regeln der Kunst fertiggenäht worden. Will Thorne war zufrieden, klatschte in die Hände und räumte sein Werkzeug weg.

„Das war’s, Freunde“, sagte er. „Laßt euch von Mac noch einen Becher Wein geben. Für heute machen wir Schluß. Morgen sehen wir uns wieder, klar?“

„Aye, Sir“, antwortete Oliver, der Vormann. „Gutes Arbeiten bei euch an Bord, wirklich.“

„Halten wir immer so“, sagte Will Thorne. „Hoffentlich regnet es nicht stärker.“

Sie rollten und falteten das neue und die alten Segel zusammen, und Will brachte die Leinwand an ihren Platz. Nachdem er tief in die Laderäume des Schiffes getaucht war, kehrte er kopfschüttelnd wieder zurück.

Er sah ein, daß auch die Bilge durchgesehen werden mußte. Ein Teil des Ballasts war naß. Hoffentlich gibt es kein Leck oder aufklaffende Planken wie bei der Galeone, dachte er. Ebensogut konnte es sich um Regenwasser oder die Reste übergekommenen Themsewassers handeln.

„Bald werden wir es wissen“, meinte er und lehnte sich gegen den Großmast.

Auch die Zimmerleute packten jetzt ihr Werkzeug zusammen, während ein kaum wahrnehmbarer Regen, mehr ein Nebel, der sich auflöste, über dem Fluß fiel.

Es roch durchdringend nach trocknendem Leim, nach frischer Farbe und frisch gehobeltem und mit Stein geglättetem Holz.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 597

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