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2 Rachel

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Jenseits der Ummauerung, entlang der alten Zitadelle, erhoben sich auf der anderen Seite der Straße kleine Backsteinhäuser. Es waren Absteigen und Glücksspielhallen mit Wänden aus Wellblech. Sie lehnten aneinandergereiht wie Perlen an einer Kette, trotzten stoisch der rauen Erde Ghanas. Eine nackte Sandpiste grub sich dazwischen bis zum Horizont, am Ende der Siedlung gesäumt von den Ausläufern des Dschungels. Über dem Pflanzendach hing allmorgendlicher Dunst.

Jerry Marrks, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht von der Unsterblichkeit gekostet hatte und auch nicht im geringsten ahnte, was die Zukunft für ihn bereithalten würde, stand innerhalb der Mauern der Zitadelle reglos unter einer gewaltigen Palme und besah sich das beeindruckende Schauspiel der aufsteigenden Nebel kurz bevor die Sonne aufging. Links von ihm tänzelte Michael Altfeld in einem weißen Smoking hin und her, als würde er eine unsichtbare Partnerin führen. In der einen Hand hielt ein halb gefülltes Cocktailglas, in der andern eine rote Rose, die er im Foyer des Hotels gestohlen hatte. Jerry ignorierte ihn, kämpfte stattdessen mit dem Zoom der Kamera.

Er wollte Rachel fotografieren, sie in all ihrer Schönheit auf den Speicher bannen; alles, was sie ausmachte, einfangen und für die Ewigkeit konservieren. Seine Finger huschten über die winzigen Taster für Vor und Zurück. Der kleine Motor surrte und das Objektiv fuhr hin und her. Rachel hatte das lange dunkle Haar zurückgeworfen und stand endlich still, bereit für die Aufnahme. Sie poste wie ein Model vor dem sich auflösenden Nebel, eine Hand lässig in die Hüfte gestemmt, die andere pathetisch auf die Brust gelegt, als müsste sie eine nicht sichtbare Blöße bedecken.

Glückspieler und Nachteulen, die in diesem Moment betrunken aus den nahegelegenen Backsteinhäusern taumelten, blieben stehen und musterten neugierig die junge Frau. Die Sonne schob sich im Osten wie ein blutgetränktes Auge aus dem weindunklen Meer, sandte ihre ersten wärmenden Strahlen über den auf britische Länge getrimmten Rasen und ließ die alte Zitadelle, das Hotel, in rötlichem Licht erglühen. Jerry senkte erneut den Blick und sah durch den Sucher.

„Wie viel Platz ist noch auf der Speicherkarte?“, rief er Altfeld zu. Er drückte mehrmals schnell hintereinander auf den Auslöser, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Fast unbegrenzt“, gab Michael schläfrig zurück. „Aber wenn du Abzüge haben willst, musst du die Boys im Foyer fragen, ob noch Papier im Fotodrucker ist.“ Altfeld kicherte leicht trunken. „Die nächste Lieferung kommt hier vermutlich erst in einem Jahr an.“

Jerry sah aus den Augenwinkeln, wie Altfeld sein Glas hob und an seinem Cocktail nippte, wobei er Rachel zuzwinkerte.

Rachel winkte zurück.

Marrks hatte inzwischen eine geeignete Zoomeinstellung gefunden und machte jetzt kurz hintereinander klick, klick, klick.

Rachel sah in seine Richtung, das Gesicht halb verdeckt vom frühmorgendlichen Schatten einer riesigen Palme. Ihre Augen waren groß und geheimnisvoll, der Mund leicht geöffnet – sinnlich, wie Jerry fand, aber irgendwie auch ein bisschen ernsthaft. Ein Hauch von unendlicher Erwartung und gleichzeitiger Melancholie.

Die Luft begann zu flimmern.

Jerry blinzelte.

Er konnte plötzlich den herben Duft von Elefantendung und Diesel riechen, aber auch das Salz des Atlantiks. Merkwürdige Turbulenzen in der Luft trübten seine Sicht. Die Welt um ihn herum verlor plötzlich einen Teil ihrer Farbe, wurde trüb. Irritiert blickte er auf. Ein Mann mit einer Kapuze erschien wie aus dem Nichts vor ihm. Seine Kleidung war khakifarben. Alles an ihm wirkte verwaschen, selbst sein Gesicht, so als besäße es keine festen Züge. Die Zeit selbst schien jetzt zu gefrieren. Der Mann sprach und seine Stimme klang wie eine eiernde Schallplatte, die ungleichmäßig mit dem Finger gedreht wurde.

„Mein Geist hat Zeit und Raum durchquert …“, sagte die Gestalt und entblößte klingenartige Zähne hinter bläulichen Lippen. „Die Túatha Dé Danann haben gerade all eure Seelen geraubt. Die Menschheit hat keine Zukunft mehr.“ Die Gestalt trat zu Rachel. „Ich habe deine Lebenszeit an den Trickser verkauft. All deine Pläne, all die Männer, die dich lieben, sie werden verblassen und nur mehr ein Schatten ihrer Selbst sein, wenn du von ihnen gehst. Aber mein Herr, der Abgründige Gott, wird dir am Tag deines Todes deine Seele zurückgeben und du wirst ewig leben, während die Welt um dich herum zugrunde geht.“

Der unheimliche Mann drehte sich herum, die Zeit fand erneut ihren Gang und setzte sich in Bewegung; die Farben kehrten zurück, und Jerry betätigte völlig unbewusst den Auslöser der Kamera. Dann wurde die Gestalt mit der Kapuze durchscheinend und verschwand.

Jerry Marrks blinzelte. Ein Schwindel hatte ihn erfasst. Er runzelte die Stirn.

War gerade etwas vorgefallen?

Er wusste es nicht.

Ein Bediensteter des Frühpersonals erschien in diesem Moment auf den marmornen Stufen des Hotels. Jerry winkte ihn herbei und orderte eine Flasche Sekt und Gläser für alle.

Es ist an der Zeit weiterzufeiern, dachte er und verspürte aber dabei eine leichte innere Unruhe. Er schüttelte den Kopf. Das Projekt finis terrae hatte die Geldgeber überzeugt und nichts und niemand, so schien es, konnte es jetzt mehr aufhalten. Von jetzt an, jeden Tag, bis zum Ende aller Zeiten.

An dem Tag, als Michael Altfeld, Duncan Dunvegan und Jerry Marrks Rachel zum letzten Mal sahen, nur wenige Jahre nach dem Fotoshooting in Ghana, erbebte die erste große Stadt im sidhe, Bella Constanzia, unter dem Ansturm vieler Neuankömmlinge. Die Überlebenden der zerstörten Erde waren immer noch traumatisiert und hatten sich in der neuen Welt noch nicht zurechtgefunden. Wer hierher kam, nach Bella Constanzia, suchte Nestwärme. Bella Constanzia war ein Bollwerk gegen das Grauen, das man in der Rückschau To mega Therion getauft hatte – das Große Tier.

Im Zentrum der neuen Hauptstadt thronte auf einem Hügel über dem Hafen ein gewaltiger Palast aus Gold und Marmor, Sinnbild einer neuen Zukunft. Der Palast der Älteren. Unzählige Luftschiffe dockten an der Oberseite der Zinnen und Türme an. Es herrschte reges Treiben.

Und hier standen sie zu dritt und warteten auf das Unvermeidliche.

„Ich werde euch jetzt verlassen“, sagte Rachel in diesem Moment. Sie wirkte äußerst entschlossen. Die sanften Locken waren ungewohnt streng nach hinten gekämmt und hochgesteckt. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und Stiefel. Ihre dunklen Augen wirkten dunkler als sonst. Ihr Gesicht war bleich. Die ungewöhnliche Anspannung war ihr anzusehen. Zu ihren Füßen standen zwei Koffer.

„Cú Chulainn ist unser Feind“, versuchte Duncan Dunvegan es ein letztes Mal. Sein grobes Gesicht wirkte gequält. „Du darfst nicht zu ihm gehen. Du würdest alles verraten, was wir aufgebaut haben. Außerdem hat Bernadette gemeinsam mit Juri die Insel versiegelt. Vergiss das nicht. Nur die beiden können die Barriere passieren.“

Rachel funkelte ihn an. „Es ist alles eine Lüge, Duncan! Juri und Bernadette wollen uns nur von der Wahrheit fernhalten – Cú Chulainn ist nicht das Böse. Er ist nicht unser Feind. Seht euch doch nur mal um. Seht doch, was hier geschieht! Wir haben diese neue Welt an uns gerissen, gewaltsam … und erneut breitet sich unsere Rasse wie ein wucherndes Geschwür aus. In Nordland sind die ersten Kriege ausgebrochen. Wacht endlich auf, das Böse sind wir.“

Jerry Marrks stemmte sich dagegen. „Rachel, wir werden eine Lösung finden. Ich bin mir sicher. Bitte, geh’ nicht fort.“

Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht wirkte entschlossen. „Es gibt keine Lösung, Jerry.“

Dann ging sie hinüber zu Michael Altfeld und reichte ihm die Hand. „Leb wohl, Michael.“

Sie warf Dunvegan einen verstohlenen Blick zu und Jerry bedachte sie mit einem flüchtigen Lächeln. Wenige Augenblicke später bestieg sie das Luftschiff, das bereits auf dem Hochdeck auf seinen einzigen Passagier wartete. Es würde sie nach Norden bringen. Nach Tír na nÓg.

Cú Chulainn …“, sagte Jerry Marrks leise zu sich selbst, nachdem sie fort war. Er machte ein ernstes Gesicht. „Verdammt!“

„Keine Sorge, Jerry. Sie wird zurückkehren. Ihre Angst ist größer als ihr Wille uns zu verlassen.“ Duncan Dunvegan starrte dem Luftschiff hinterher und blinzelte. „Cú Chulainn wird ihr kein Leben bieten können. Er ist nur ein finsteres Nachtgeschöpf. Nichts weiter.“

„Aber sie hat recht. Wir sind betrogen worden“, entgegnete Jerry. „Wir haben Juris Worten so leichtfertig vertraut. In Wirklichkeit war er nur von Selbstsucht beherrscht, von dem Wahn ein Gott zu sein.“

„Deine Worte werden uns Rachel nicht zurückbringen.“ Michael Altfeld musterte die beiden anderen Älteren mit einem finsteren Blick.

„Ach ja? Und was hast du vor, Michael? Was willst du tun?“

„Ich werde sie aufhalten.“

„Sie wird nicht auf dich hören.“ Jerry Marrks wollte Altfeld daran hindern zu gehen, aber Dunvegan hielt ihn davon zurück.

„Lass ihn, Jerry. Bei dem Versuch sie zu retten, wird er sie für immer verlieren.“

Er sollte recht behalten.

Rachels Luftschiff hatte nicht den Hauch einer Chance.

Es war bereits über der Insel Tír na nÓg explodiert, ehe Altfeld sie mit seinem goldenen Eindecker Katharsis einholen und zur Umkehr bewegen konnte.

Ihr Körper war verglüht wie eine goldene Sternschnuppe im wabernd blauen Licht des Ramnaroughschildes. Ihr Bewusstsein war eins geworden mit dem Feld.

Sie war tot. Und doch – Und doch lebte sie.

„Eine Seele – wirklich ungewöhnlich. Reinster Nektar“, erklärte Dunvegan. „Aber definitiv eine Seele. Damit ist sie nicht nur de facto unsterblich, was sie ja schon vorher gewesen war, sondern auch in Juri-Hiros Sinne vollkommen. Cú Chulainn hat ihr im Augenblick ihres Todes eine Seele gegeben. Könnt ihr euch das vorstellen?“

„Das kannst du nicht wissen, Duncan. Niemand kann das wissen.“

„Wer sonst soll es sonst gewesen sein?“

„Und dir ist es gelungen, diese Seele aus dem Ramnaroughschild zu extrahieren?“ Jerry Marrks blickte Dunvegan ungläubig an.

„Verschlossen und versiegelt … in diesem speziellen Behälter da. Ich habe ihn eigens dafür entwickelt und ihn Tabernakel getauft. Ein guter Name, findest du nicht? Ihre Seele ist da drin, Jerry. Kannst du dir das vorstellen? Und eines Tages werden wir einen Weg finden, sie in einen neuen Körper aus Fleisch und Blut zu überführen.“

Jerry verzog verächtlich das Gesicht. „Kein anderer Körper kann ihren bisherigen ersetzen, Duncan. Sie wäre ein anderer Mensch.“

„Blödsinn. Was redest du da?“

Marrks schüttelte den Kopf. „Geist und Körper gehören zusammen. Ich werde eine Kopie ihrer selbst schaffen, vollkommen identisch mit dem Original. Ein Körper, der ihrer würdig ist.“

Dunvegan wandte sich wütend ab. „Oh, nein. Du wirst ihre Seele nicht in einen verdammten Roboter einsperren, Jerry Marrks.“

Duncan Dunvegan und Michael Altfeld saßen zusammengekauert unter mehreren Lagen Fell und blickten hinaus auf das chaotische Schneetreiben von Kautoganka. Altfeld verharrte schweigend, während Dunvegan immer wieder von der Insel Tír na nÓg sprach. Das Knacken der Scheite im Außenkamin drang an seine Ohren und machte ihn schläfrig.

„Ich muss auf die Insel, Michael, egal um welchen Preis. Nur mit der Hilfe des Ramnaroughs aus dem Urdbrunnen ist ein Seelentransfer möglich. Nur dort existiert die Kraft der Schöpfung in ausreichender Menge.“

„Du kannst den Schild nicht überwinden, verdrängst du das, oder hast du es schon vergessen?“ Altfeld nahm einen tiefen Schluck aus seinem Feuerbierkrug. Er bemerkte das schleichende Verschwinden der Klarheit und umarmte die vertraute Unschärfe in seinem Kopf. „Bernadette hat die Barriere mit ihrem Fingerprint versiegelt. Das hast du selbst gesagt. Jeder Versuch hindurchzugelangen ist sinnlos.“

„Aber der genetische Fingerprint ist wiederholbar“, insistierte Dunvegan. Er schien verärgert. Oder trunken. Oder beides zugleich. „Es ist nur eine Frage von endlichen Kombinationen.“

Altfeld starrte nachdenklich ins Leere. Dachte Dunvegan dabei in Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten? Wie lange sollten sie denn noch auf Rachel warten? War es die Sache überhaupt wert? Es waren bereits Jahrzehnte vergangen und nichts war geschehen. Warum konnten sie sich nicht endlich mit ihrem Tod abfinden?

„Wir beide können Tír na nÓg erreichen“, sagte Dunvegan. „Hilf mir, und ich verspreche dir, dass wir Rachels Seele in einen geeigneten Körper überführen werden.“

Altfeld schob die wärmenden Felle zur Seite und stand schwankend auf. Er hatte zu viel getrunken. Stumm starrte er Duncan Dunvegan an, dann schüttelte er den Kopf.

„Wo willst du hin …?“, rief ihm Dunvegan hinterher. „Geh’ nicht weg, Michael. Ohne dich schaffe ich das nicht …“

Altfeld hielt kurz inne, wandte sich um und lächelte. „Tut mir leid. Ich werde mich jetzt ein bisschen ablenken.“

Krieg

unfassbarer Krieg.

Im 750. Jahr nach To mega Therion gab es kein Halten mehr: Ein Flüstern hier, ein Gerücht dort, und nur allzu bereit erklärten Katlan Dosh und West Quitzaurien den Küstenreichen des Nordlandes den Krieg. Die daran anschließenden Seeschlachten, die so furchtbar waren, dass selbst noch Jahrzehnte später davon gesprochen wurde, zerstörten nicht nur eine unermesslich große Anzahl von Kriegsschiffen, Ausrüstung und Waffen, sondern kosteten auch Zehntausenden von Soldaten und Zivilisten in den Städten entlang der Küste das Leben. Michael Altfeld war mit sich und der Rolle, die er in diesem furchtbaren Chaos spielte zufrieden. Die Hafenstädte Nordlands brannten, jene Südlands wurden dem Erdboden gleichgemacht, und er frohlockte in seinem Herzen. Flucht und Vertreibung beherrschten das Leben der Menschen. Angriffe und Konterangriffe erfolgten. Altfeld ging das Herz auf. Rachel war vergessen und er genoss jeden Augenblick auf den blutgetränkten Schlachtfeldern dieser Welt.

Es war an einem warmen Maitag im siebzehnten Jahr des Krieges zwischen Nord- und Südland, da legte die bis an die Zähne bewaffnete Kriegsflotte aus Porta Aqua mit fünfzehntausend Mann an Bord den größten Teil von Südstadt am Meer in Schutt und Asche und leitete damit die entscheidende Kriegsphase ein. Lange Abschnitte der Küste Nordlands waren nach Einsatz von Phosphor in dichten Rauch gehüllt und die Überlebenden schrien nach Vergeltung. Wenig später schlossen sich die Länder Nordlands zu einem einzigartigen Bündnis zusammen. Der Ältere, der sich ihnen als Kriegsberater angedient hatte, empfahl allen beteiligten Heerführern einen Tunnel durch das Südmeer zu graben, um einen strategischen Brückenkopf in Südland zu etablieren. Nach einer Weile der Beratungen stimmten ihm die Könige und Regenten des Nordens zu. Während der Tunnelbau in Angriff genommen wurde, überzeugte Michael die Bündnispartner ebenfalls davon, die Steuern in ihren Reichen zu erhöhen, um die Flottengröße der Seestreitmächte zu verdoppeln. Das Blut, das bald schon die Planken der Schiffe färben sollte, war längst schon die beherrschende Farbe von Michael Altfelds Träumen.

Er konnte sich nicht mehr an das genaue Jahr erinnern, aber er wusste, es war Sommer. Er lag blutend zwischen Brombeersträuchern, die ein besonderes schweres Aroma verströmten. Er lag da und lauschte. Lauschte ohne Furcht, die Augen fest geschlossen, dem Pochen seines schwindenden Pulses. Der nahende Moment des Todes versprach Erlösung, und er hieß ihn bereits willkommen wie einen lange verlorenen Bruder, da kehrten plötzlich die Geräusche der Welt zurück. Das schwere Gefecht, das zuvor auf dem weiten Feld getobt hatte, war bereits vorüber, Freund und Feind waren fort oder tot, und nur noch das Summen der Insekten erfüllte die warme Luft. Doch bevor ihn das Ende übermannte, hörte er das Dröhnen von Panzern. Am Himmel erklang das Surren einer Rotte Luftschiffe. Altfeld blinzelte und öffnete ein Auge. Eine aufrecht gehende, menschenähnliche Maschine aus Stahl und Dampf stand vor ihm und warf einen kurzen Schatten.

„Das ist Gunther …“, erklärte eine fröhliche Stimme.

Altfeld ächzte und wandte den Kopf.

Er blickte in das Gesicht von Jerry Marrks.

„Es ist meine neueste Kreation.“

Ach Scheiße, Jerry!“, krächzte Altfeld und schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. „Was machst du hier? Das ist ein Schlachtfeld. Du solltest nicht hier sein.“

Marrks nickte mitleidig und gab der Maschine ein Zeichen. „Gunther wird dich hier rausholen.“ Dann bückte sich Gunther, schob seine stählernen Arme unter den Körper des Älteren und hob ihn an. Der Schmerz ließ seine Sinne schwinden.

Das Nächste, an das er sich erinnern konnte, war die bräunliche Farbe der gestärkten Zeltwand und heiße, abgestandene Luft. Er lag in einem Lazarett. Von draußen waren laute Schreie zu hören. Soldaten kamen und gingen, riefen Befehle, schossen oder transportierten Nachschub; Verwundete wurden auf Bahren liegend in die Notversorgung überführt, Sirenen ertönten beinahe stündlich und kurz darauf erfolgte in der Regel das Dröhnen der einschlagenden Bomben rings um das Lager. Altfeld bekam von all dem nicht viel mit. Licht und Schatten vermischten sich zu fieberinduzierten Scherenschnitten und irgendwann versank er in einen unruhigen Schlaf.

Als er erwachte, herrschte beunruhigende Stille. Von den Kampfhandlungen und den Sterbenden war nichts mehr zu hören. Seine Augen wanderten suchend umher, doch niemand war in der Nähe, den er ansprechen konnte.

Er fieberte.

Die Naniten hatten die Betriebstemperatur in seinem Körper erhöht, verschlossen den blutigen Stumpf seines Armes und ließen neue Zellen am Wundende nachwachsen. Er glaubte Rachels Stimme zu hören, doch er war sich sicher, dass es Einbildung war. Wach- und Schlafphasen wechselten sich ereignislos ab. Tage vergingen fließend. Er stank. Und er wusste, es war der nahende Geruch des Todes.

„Wie geht es dir, mein Freund?“

Altfeld erwachte aus einem leichten Schlummer. Er versuchte sich aufzurichten, aber es gelang ihm nicht.

„Komme schon klar. Jerry … verpiss dich!“

Sein Gegenüber zuckte die Achseln. „Wie du möchtest. Übrigens, hast du einen Blick auf Gunther werfen können? Wie findest du ihn?“

Was soll das, Jerry?“, ächzte Altfeld und die Schmerzen übermannten ihn beinahe. „Willst du Rachels Seele in so einen Kübel verpflanzen? In einen laufenden Panzer?“

Marrks verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Du weißt, ich strebe nach Vollkommenheit. Aber in einer Welt, die sich aufgrund mangelnder Infrastruktur weitgehend auf dem technologischen Stand des 17. oder 18. Jahrhunderts befindet, ist es leider verdammt schwierig, solche Wünsche in die Realität umzusetzen.“ Jerry seufzte. „Ich habe mir den Turm im Einsamen See so eingerichtet, dass ich umgehend meine Forschungen dort aufnehmen kann. Ich bin sicher, wenn ich erst einmal damit begonnen habe, mich auf menschenähnliche Roboter zu konzentrieren, werde ich große Fortschritte erzielen.“ Er schenkte Altfeld ein zufriedenes Lächeln. „Und sollte es mir wider Erwarten nicht gelingen … nun, dann bleibt mir immer noch eine strategische Partnerschaft mit Harttland.“

„Scheiß’ auf Harttland und deine sinnlosen Erfindungen. Du vergisst den Ramnaroughschild um Tír na nÓg. Du kommst nicht an das notwendige Ramnarough!“

„Du täuscht dich.“ Jerry beugte sich vor. „Es gibt eine Alternative zum Urdbrunnen und dem darin enthaltenen Ramnarough.“

Altfeld blinzelte. Das schreckliche Fieber machte ihn ganz dumpf im Kopf. „Was … was meinst du?“

Jerry rezitierte: „Scutella lata et aliquantulum profunda …“

„Spar dir dein Latein …“

„Der Gral, Michael. Der Heilige Gral. Die Túatha Dé Danann verfügen über mächtige, magische Waffen. Wusstest du das? Eine davon ist der Kessel der Wiedergeburt. Der Kessel des Dagda. Der Heilige Gral. Damit werde ich Rachels Seele transferieren. Tír na nÓg, der Limbus, Axis Mundi – die ganze verdammte Insel hat keine Bedeutung mehr für mich.“

Sie eilten durch die belebten Straßen von Balgul. Harlekin und sein Meister. Maschinenvater, wie er ihn neuerdings nannte. Es war ein großartiger Tag, wie der Maschinenjunge fand, doch Jerry Marrks schien nicht in der rechten Stimmung zu sein, um ihn ebenfalls genießen zu können. Er hatte bislang kein einziges Wort mit seiner Schöpfung gesprochen.

„Meister …“, rief Harlekin, als er die Spannung nicht mehr aushielt. „Was bedrückt Euch, Meister?“

„Meine Planungen sind abgeschlossen“, gab Jerry Marrks zur Antwort. „Ich werde dich fortschicken müssen, Harlekin.“

„Was immer Ihr wünscht, Meister“, erwiderte der Maschinenjunge.

„Hör gut zu. Es ist ein heikler Auftrag. Du wirst etwas stehlen müssen.“

„Ich verstehe, Meister.“ Aber er verstand nicht.

„Es handelt sich um ein kleines, unscheinbares Gefäß … es ist unendlich kostbar. Es wird Tabernakel genannt.“ Jerry seufzte. „Besorge es mir.“ Und fügte rasch hinzu: „Ich kann nicht mehr warten.“

Besorgt blickte Harlekin seinen Meister an.

Maschinenvater starrte hinaus aufs Meer. Sein Verhalten wirkte seltsam. Er schien ungewöhnlich emotional aufgewühlt. „Ich weiß … Es ist ein riskanter Versuch … Ich werde die Seele, die im Inneren des Tabernakels gefangen ist, in Colombina einpflanzen. Ich habe nicht mehr die Geduld, einen neuen MD zu bauen. Die Zeit ist günstig. Auch ohne den Gral. Das Ramnarough im Stein Lia Fail muss für diese Operation ausreichen. Und ich weiß jetzt, wo sich der Stein befindet.“

„Von was und wem sprecht ihr, Meister? Um wessen Seele ringt ihr? Ich verstehe Eure Worte nicht.“

„Rachel. Ihr Name ist … Rachel.“

„Rachel? Wer ist das, Meister?“

Marrks seufzte. „Niemand, Harlekin. Niemand.“

Die großen Hallen von Kabelstadt waren festlich dekoriert, der von Ruß und Öl geschwärzte Einheitsbackstein mit kostbaren Tüchern und alten Wandteppichen verhüllt. Tausende weiße Kerzen verbreiteten ein warmes Licht in den Produktionsstätten. Blumengedecke brachten einen unbekannten Wohlgeruch in den Saal, in dem es normalerweise nach Maschinenöl und Metallspänen roch. Teller und Trinkgefäße aus Gold und Silber blitzten auf rosenblütendekorierten Tischen. Die Hofdamen waren herausgeputzt, ihre Wangen gerötet, und die Männer in ihren Festumhängen sprachen aufgrund des kostenlos ausgeschenkten Weins mehr als gewöhnlich. Die Arbeitsschichten waren für den Festtag abgesagt worden.

Ein Raunen ging durch die Menge. Die hölzernen Tore der großen Halle öffneten sich und ein Fremder betrat die königliche Fabrikanlage. Helle Fanfaren erschallten. Ein Blumenregen ergoss sich auf Kommando von der Decke. König Vorant ließ es sich nicht nehmen, abseits des Protokolls aufzuspringen und lauthals quer durch die Halle zu rufen: „Ich freue mich, Euch endlich in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Ihr habt viel für Harttland getan. Wir – Volk und Souverän – stehen tief in Eurer Schuld.“

„Was immer ich getan habe“, erwiderte Jerry Marrks mit einem Lächeln und seine Stimme schallte weithin durch den festlich geschmückten Saal, „… es dient dem Wohl unseres Bündnisses.“

„Ihr habt dem Norden, insbesondere Harttland, einen großen Dienst erwiesen. Durch Eure Schöpfungen aus Stahl, die Ihr Harttland an diesem Tag vermacht habt, so wage ich bereits jetzt zu sagen, wurde der Grundstein für einen nie gekannten Wohlstand in unserem Land gelegt. Ein Wohlstand, der uns befähigt, künstliches Leben genau in Eurem Sinne zu perfektionieren.“ Der König hob gönnerhaft seine Arme. „Gibt es etwas, das ihr begehrt? Was immer es ist, es soll das Eure sein …“

„Der Stein …“, sagte Jerry nach einer angemessenen Pause und zwinkerte dem König verschwörerisch zu.

Der Monarch schüttelte den Kopf, als hätte er nicht verstanden. Er beugte sich vor. „Verzeiht …“

„Der Stein …“, wiederholte Jerry Marrks. „… Lia Fail.“

Der König wurde bleich. Seine Lippen bebten. „Ihr wisst von dem Stein?“

Jerry nickte.

Es war still geworden im Saal. Alle blickten gebannt auf König Vorant, der ungläubig den Kopf schüttelte. „Er … er … ist Rolf Santan versprochen. Ich kann ihn unmöglich …“ Verwirrt setzte sich der Monarch auf seinen Thron und schien nachzudenken. Der stumme Druck seiner Untertanen war fast körperlich spürbar. Sie schienen die monetären Vorteile des Abkommens mit Jerry Marrks einer Lösung aller noch ungeklärten politischen Fragen mit den fernen Nordterritorien vorzuziehen.

Schließlich erhob sich der König und sagte mit brüchiger Stimme: „Der Stein, er soll der Eure sein …“

Jerry Marrks hatte Michael Altfeld nicht eingeladen. Selbstverständlich nicht. Er hätte es tun können, hätte es tun müssen, aber es war ein zunehmendes Gefühl von Eifersucht, ein quälender, furchtbarer Albdruck, der sich seit Wochen seiner bemächtigt hatte und der ihn von diesem Gedanken abgebracht hatte. Michael war ein potentieller Nebenbuhler. Es würde nicht gut gehen.

„Hast du das Tabernakel?“

Der Maschinenjunge nickte, eilte davon und kam mit einem organischen, eiförmigen Objekt in einem bläulich leuchtenden Ramnaroughschild zurück. Er hatte es gestohlen. Wie befohlen. Aus einem Gebäude, das die Basilika genannt wurde.

„Hier ist es, Meister.“

Jerry Marrks nahm es vorsichtig aus den Händen des Maschinenjungen entgegen. „Lass mich jetzt bitte allein, Harlekin. Betrete den Raum erst wieder, wenn ich dich rufe.“ Dann fügte er mit stockender Stimme hinzu: „Schicke bitte Colombina herein.“

Harlekin nickte und verschwand.

Der Ältere beobachtete das Ei in seinen Händen, hielt es hoch. Es war das tabernaculum. Ein dunkles, pockennarbiges Perimetrium, eine Gebärmutterkammer des Geistes, die in seinem Inneren Rachels Seele hielt.

Eine große Ruhe überkam ihn.

Welche Ausdehnung mag ihre Seele dort haben, dachte er, welche Grenzen mag sie spüren? Was empfindet sie? Leidet sie?

Der Stein Lia Fail war jetzt der Schlüssel zu einer möglichen Antwort. Und natürlich das Buch der Rätsel – die Anleitung für vieles, vielleicht sogar für alles. Jerry hielt das Buch gewöhnlich tief in den Eingeweiden des Goldenen Turms verborgen, doch nun lag es aufgeschlagen zu seiner Rechten. Der Sprechende Kopf auf Axis Mundi hatte es ihm vor langer Zeit gegeben, zu einer Zeit als Tír na nÓg noch frei zugänglich gewesen war. Es beinhaltete selbstverständlich unvorstellbares Wissen. Wissen, das nicht aus Menschenhand stammte und das, sollte es nach Jerry gehen, niemals in falsche Hände geraten sollte. Wenn es einen kosmischen Bauplan gäbe, etwas, dem alle Geheimnisse des Universums innewohnten, hatte Jerry eines Tages laut in Gegenwart des Sprechenden Kopfes spekuliert, ein Regelwerk also – wäre dieses Regelwerk, wie auch das es umgebende Universum, nicht unendlich?

Der Sprechende Kopf hatte es verneint. Aber auf was hatte sich das Nein des Kopfes bezogen?

Jerry hakte nach, stellte weitere Fragen.

Raum und Zeit, erklärte der Kopf schließlich, seien nicht so beschaffen, wie Menschen sie wahrnehmen.

Jerry beglückwünschte den Kopf zu dieser Aussage und bat ihn fortzufahren. Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges seien voneinander nicht zu trennen und Dinge, die den Menschen verborgen blieben oder als unlösbares Geheimnis erschienen, wären in Wirklichkeit leicht zu durchschauen, befände man sich im Besitz des Buchs der Rätsel.

„W-was ist das?“, hatte Jerry erstaunt gefragt.

Es handelte sich um das Buch der Wächter. Das Buch der Sprechenden Köpfe. Sein Inhalt war beim Aufschlagen niemals gleich, es schrieb sich quasi erst im Moment der Fragestellung. Eine Art Schrödingers Katzenkiste, hatte Jerry freudig ausgerufen, eine Katzenkiste, deren Wahrscheinlichkeiten sich erst beim Öffnen zu einem Ergebnis manifestierten.

Natürlich hatte er den Kopf um das Buch gebeten, es schließlich sogar erhalten und es an sich genommen.

Jerry seufzte. Er konnte den Wächtern nicht trauen. Die Köpfe aus dem Unaussprechlichen verfolgten ihre eigenen Ziele und ihre Worte blieben meist unverständlich. Und dennoch lag das Buch der Rätsel jetzt aufgeschlagen neben ihm. Jerry befolgte die darin enthaltenen Anweisungen. Er griff nach dem Stein. Dieser fühlte sich kalt an. Kalt und schwer.

Lia Fail.

Der Stein blieb stumm. Kein Schrei ertönte, als er ihn in seinen Händen hielt. Jerry Marrks schmunzelte. Es war nur eine alte Legende, wonach der Stein einen Schrei ausstieß, wenn ein rechtmäßiger König ihn berührte.

Dafür erwecke ich aber die Toten, dachte er. Und das hat vor mir in der Menschheitsgeschichte bestenfalls einer getan.

Jerry Marrks las weiter im Buch der Rätsel und hielt plötzlich in seinem Tun inne.

Etwas fehlte.

Er seufzte.

Der Kessel der Wiedergeburt.

Dagdas Kessel.

Der Heilige Gral.

Seine Finger spielten nervös mit dem Stein der Könige. Keine Zeit danach zu suchen, dachte er grimmig, als ihn Zweifel überkamen. Lia Fail stammte aus dem Besitz der Fomoraig. Ursprünglich war er aber von den Túatha Dé Danann erschaffen worden. Verhärtetes Ramnarough. Ein ganz und gar ungewöhnliches Objekt. Genau das, was er für sein Experiment brauchte. Jedoch würde seinen Berechnungen zufolge die Kraft des Steins kaum ausreichen …

Jerry schrak auf.

Es klopfte an der Tür.

Es war Colombina. Gedankenverloren winkte er sie herein und bat sie auf einer Liege Platz zu nehmen. Sie gehorchte und er hob den schwarzen Stein hoch. Seine Finger umschlossen die säulenartig gewundene, schwarze Kühle. Sein Blick glitt über die Zeilen des Buches der Rätsel.

Er konzentrierte sich auf den Stein, spürte seine Kraft. Das Ramnarough pulsierte durch Lia Fail und strömte hinaus durch Raum und Zeit, bildete ein Netz, ein metastabiles Gitter. Es verdichtete sich rings um ihn herum, doch Jerry wusste, es würde sich gegenüber großen Änderungen in der Raumzeit als instabil erweisen. Er musste vorsichtig sein.

Zu lange habe ich schon gewartet, dachte er.

Eine beinahe elektrische Spannung erfüllte den Raum. Obwohl nichts zu sehen war, glaubte Jerry fast körperlich zu spüren, wie alles um ihn herum an Bedeutung gewann, so, als hätte ein unsichtbarer Gott den Raum betreten.

Jerry sah argwöhnisch zu Colombina.

Ahnte sie etwas?

Sie blickte ausdruckslos zurück.

Nein. Sie begriff nichts. Sie war nur ein MD, eine Maschine.

Aber bald schon wirst du sehr viel mehr sein …

Gleißendes Licht erfüllte in diesem Moment den Raum, und es war, als würde eine neue Sonne am Firmament aufgehen. Der Stein. Jerry kniff die Augen zusammen. Das Ramnaroughfeld um das Tabernakel waberte und änderte seine Größe in schneller Folge. Dann verschwand es völlig, aufgesogen vom Licht des Königsteins. Das Leuchten hüllte jetzt das Ei ein. Und kurz darauf auch Colombina.

Und in genau diesem Moment bemerkte Jerry Marrks die Anwesenheit eines anderen Bewusstseins. Er konnte es tatsächlich spüren. Es war ein flüchtiger Hauch, als würde ein feiner unsichtbarer Stoff seinen Geist streifen. Er erschauderte.

Sie ist hier. Rachel ist hier. Sein Herz schlug rasend schnell.

Sie … sie lebt!

Schweiß trat auf seine Stirn. Würde seine mentale Kraft ausreichen, um den Vorgang zu steuern? Er bildete in seiner Vorstellung eine imaginäre Hand und griff nach dem metastabilen Gitter des Ramnaroughs. Er erinnerte sich an die Worte von Juri-Hiro. Erinnerte sich daran, dass der Goldene es einst als ein superluminares Fluidum bezeichnet hatte; ein Stoff, der als Abfallprodukt bei der Ausdehnung von kontrahierten Quantenwaben entstand.

Colombina begann sich unruhig auf der Liege zu bewegen. Es schien, als hätte ihr künstlicher Verstand begriffen, was gleich geschehen würde, und versuchte sich dagegen zu wehren, dass etwas von ihr Besitz ergriff.

Die Kraft des Königsteins hatte Rachel Browne-Carters Seele inzwischen aus dem Tabernakel befreit und nun glaubte Jerry zu spüren, wie ihr Bewusstsein sich mit den programmierten Algorithmen von Colombinas Verstand vereinigte. Er starrte in das Gesicht des Maschinenmädchens, suchte darin nach ersten Lebenszeichen von Rachel, doch es war vermutlich zu früh, denn da war nichts. Nur Colombina. Das glatte, ebenmäßig schöne Gesicht seiner Maschine. Nur das Gesicht eines Prototyps – nicht das von Rachel. Doch Jerry wollte auf keinen Fall länger warten. Er konnte – sollte das Experiment erfolgreich verlaufen – immer noch einen neuen MD schaffen, der der früheren Rachel bis aufs Haar glich.

Das unsichtbare, diffuse, nicht stoffliche Gebilde, das er zwar nicht sehen aber spüren konnte, begann plötzlich schwächer zu werden und zu zerfließen.

Etwas lief furchtbar schief.

Nein!“, schrie Jerry.

Die Tür wurde aufgerissen. Harlekin stand auf der Schwelle und sah alarmiert drein. „Meister?“

„Sie löst sich auf!“ Die Angst lähmte Jerry, doch es gelang ihm, dieses Gefühl zu unterdrücken. Er zog mehr Ramnarough aus dem Stein, viel mehr, als er kontrollieren konnte. Die Dimensionen des Raumes krümmten sich, die Welt um ihn herum wurde durchscheinend; wurde zu etwas Anderem, zu etwas, das das Auge nicht begreifen konnte. Raum und Zeit warfen Blasen, drängten auseinander.

Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte seine Seite.

Die Seele … wo war sie bloß?

Die Verbindung zu Rachel war unterbrochen. Das Ramnarough dehnte sich aus, durchdrang das gesamte Zimmer, wurde immer instabiler, zerfaserte und fiel schließlich auseinander, bildete unzählige in sich selbst krümmende Spiralen, die nach und nach ins Nichts verschwanden. Der Schmerz in seiner Seite raubte ihm jetzt fast die Sinne und seine Augen tränten so sehr, dass er nichts mehr sehen konnte.

Rachels Seele … wo war sie?

Rachel.

Dann senkte sich eine kurze Dunkelheit über ihn.

Das Nächste, was er hörte, war die Stimme Harlekins. „Es ist vollbracht, Meister.“

„Harlekin …“, stöhnte Jerry. Er richtete sich auf. „Was ist vollbracht?“ Er blinzelte. Wie viel Zeit war nur vergangen? Er sah hinüber zu Colombina. Das Maschinenmädchen starrte wortlos zurück. Ihre Augen waren ohne Ausdruck, nur große Murmeln.

„Sie ist hier, Meister“, sagte Harlekin leise. Jerry wandte sich um. Der Mechanische Diener deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Kopf. „Hier drinnen.“

„Ramnarough fließt aus der Wunde. Immerzu. Aber wenn ich die Kleidung entferne und hinsehe, ist nicht einmal ein Kratzer zu sehen. Aber ich versichere dir, es ist ein langsames Sterben. Meine ganze Kraft schwindet. Ha! Es klingt wie ein Witz. Der Unsterbliche ist dem Tode geweiht.“ Jerry Marrks lächelte säuerlich und Harlekin lächelte ebenso säuerlich zurück.

„Rachel sagt, das sei ihr alles scheißegal“, entgegnete der MD und seine Augen blitzten. Jerry konnte nicht sagen, ob aus Scham oder aus Schadenfreude. Beim Transfer von Rachels Seele in den Kopf von Colombina war es zwar wie beabsichtigt zur Verschmelzung zwischen menschlichem und künstlichem Bewusstsein gekommen, aber nicht so, wie Jerry es sich vorgestellt hatte. Ein kleiner Teil von Rachel hatte sich durchaus mit Colombina zu einer neuen Einheit verbunden, just in dem Augenblick, in dem der Maschinenjunge den Raum betreten hatte; der wesentlich größere Teil ihrer Seele allerdings war, ganz zum Entsetzen Jerrys, auf Harlekin übergegangen. Rachel befand sich nun sowohl in Colombinas als auch in Harlekins Kopf.

Das Maschinenmädchen hatte nach dem Zwischenfall so etwas wie menschliche Emotionen entwickelt und Jerry damit in tiefe Verzweiflung gestürzt, denn auf eine ungeheuerliche, unfassbare Weise lebte Colombina jetzt. Und was noch schlimmer war: sie liebte. Nicht ihn, den Mann, der Rachel begehrte, sondern Harlekin. Doch der Maschinenjunge ignorierte Colombinas Gefühle. Ihm fehlten schlicht und einfach die notwendigen Algorithmen für den Umgang mit einer dergestalt auftretenden Emotionalität.

Der wesentliche Teil von Rachels Persönlichkeitskern befand sich in Harlekins Kopf, allerdings ohne den Verstand des Maschinenjungen in irgendeiner Weise ersetzt oder beeinflusst zu haben. Sie konnte nicht einmal selbst kommunizieren, sondern nur durch den Maschinenjungen. Harlekin klagte seither darüber, dass die Stimme in seinem Kopf immerzu mit ihm schimpfe. Sie sei durch und durch von boshafter Natur, eine Furie, die nur schikaniere und beleidige.

Jerry Marrks fürchtete das Schlimmste.

„Die Delegation der Bruderschaft der Archivare …“, nahm er den Faden wieder auf und sah Harlekin fast flehentlich an. „Sie ist eingetroffen und bereitet mir Sorgen. Meister Yaacov, ihr Anführer, sprach gestern in meiner Gegenwart von der sich ausbreitenden Entropie, die anscheinend das ganze Land bedroht. Er bat mich um den Schlüssel für das Tor von Tír na nÓg, doch ich musste ihn leider enttäuschen.“ Jerry schüttelte den Kopf. „Yaacov blieb mir zudem jede Erklärung schuldig, wie er gedenke, die letzte Barriere um Axis Mundi zu passieren. Er sagte nur, es sei alles so furchtbar dringlich und die Bruderschaft wisse schon, was sie tue.“ Er blickte Harlekin besorgt an. „Was wollen diese Menschen nur von mir? Warum belästigen sie mich? Ich habe andere Probleme. Wir haben andere Probleme.“ Er zuckte die Achseln, als Harlekin nichts entgegnete.

„Ich gab Yaacov jedenfalls den Stein Lia Fail. Wir brauchen ihn nicht mehr … das Ramnarough in seinem Inneren reicht nicht einmal mehr aus, um das verunglückte Experiment zu wiederholen.“ Jerry blickte beschämt zu Boden. „Der Gral allein kann uns jetzt noch retten. Selbst das Buch der Rätsel gedenke ich den Archivaren zu überlassen, wenn sie aus Kautoganka zurückgekehrt sind und alles vorbei ist. Wenn du in Colombinas Körper verankert bist, können die das Buch haben. Was den Heiligen Gral betrifft … meine Informanten im Süden haben ein paar interessante Hinweise aufgeschnappt. So interessant, dass ich in zwei Tagen zum Südkontinent aufbrechen werde. Du musst allerdings noch hierbleiben. Besorgungen machen – Waffen, Geld, Dokumente. Alles, was wir so brauchen werden. Ich habe große Pläne, Rachel, aber sprich nicht mit Colombina darüber. Kein Wort. Sie ist unberechenbar.“ Er fuhr sich mit der Handfläche über das Gesicht, spürte Schweiß, vielleicht auch Tränen. Der Schmerz in seiner Seite, eine bleibende Folge des Unfalls, meldete sich ebenfalls und erinnerte ihn daran, dass seine Zeit möglicherweise bald schon auslief. „Sollte ich sterben, wird Altfeld sich deiner annehmen. Ich habe dem Begleiter Yaacovs, diesem Meister Aki, gesagt, er solle sich auf jeden Fall mit Michael in Verbindung setzen, sollte ich aus irgendeinem Grund im Sterben liegen oder verschollen sein. Ich habe ihm dein Foto gegeben. Das wird reichen, damit Michael den Archivaren Glauben schenkt. Sei unbesorgt. Er wird Mittel und Wege finden, um dich wieder ganz zu machen. Ich verspreche es dir.“ Er schwieg einen Moment, dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: „Ich will auf keinen Fall, dass du in Duncan Dunvegans Hände fällst.“

Harlekin verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Rachel sagt, das sei ihr alles scheißegal, Meister.“

Túatha Dé Danann. Nekropolis

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