Читать книгу Beim ersten Jucken - Sean Schnipowitz - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеGeburt und Haarinismus
I'm moving on
And you are yours and I'm mine I'll see you somewhere in my dreams I'm moving on So thanks for all the memories I'm moving on And you can call me Mr. Breeze I'm moving on Life is full of mysteries
BB KING, I’M MOVING ON
„Was willst Du denn hier, Jungspund? Mach dich ja vom Acker, das hier ist mein Terrain! Wird’s bald oder muss ich dir erst den Hintern versohlen?“ „…this contract placed between the United States of America and the Soviet Union to jointly shut down missiles of short and intermediate range…“ „Sag mal bist du taub oder brauchst du erst aufs Maul, bevor du dich bewegst?“ „…including the deconstruction of Pershing 2, MBGM-109, as well as…“ „Du glaubst, das ist eine leere Drohung? Du glaubst wirklich, dass ich nur bluffe? Ich werd dir was sagen, Bürschchen, ich bin hier aufgewachsen, musste tiefe Wurzeln treiben und hab dabei jede Menge Stress erlebt! Ich riskierte für dieses Loft mit Panoramablick mehrfach mein Leben, bin jahrelang erfolglos überschminkt worden, hab mich ständig mit Haaren rumgeprügelt und nun tauchst Du auf und setzt dich ins gemachte Nest? Pass auf, ich zähl jetzt bis drei und wenn Du dann nicht verdampft bist…“ „…certifying the right and duty of the contractual partners for reciprocal control ensured by…“ „EINS!“ Ich blickte panisch über die zerfurchte und schroff abfallende Ebene direkt vor mir und erspähte plötzlich ein fünfgliedriges Ungetüm, das weit unterhalb von meiner Position zielstrebig einen kleinen, schwarzen, spitz zulaufenden Zylinder griff. „ZWEI!“ Der unendliche Raum um mich herum war in gnadenlos grellweißes Licht getaucht und mir war, als hielte alles den Atem an. Ich hatte das Gefühl, dass mich dutzende, vielleicht hunderte fremder Lebewesen gleichzeitig beäugten und fühlte mich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Ein Räuspern in für mich nicht auszumachender Ferne füllte polternd das ansonsten vollkommen anmutende Schweigen. Springen wäre Selbstmord gewesen, ich hätte sonst wo landen können! In dem Moment, als das Gliedertier unter von mir begann, mit dem Zylinder auf einer weißen Oberfläche herum zu kratzen und dabei schwarze Linien zu hinterlassen, bemerkte ich, dass mir von hinten etwas entgegen züngelte, etwas Rotes, Schlangenartiges, und dass es soeben peitschenartig nach mir ausholte. „D-R-E-I!“ Im nächsten Moment grub sich die rote Viper so derbe in meine Flanke, dass es mich katapultartig aus meiner neuen Behausung hob. Während ich mit rasender Geschwindigkeit in die Tiefe schoss und mich dabei mehrfach überschlug, brandete im Saal tobender Lärm auf. Ich bemerkte noch, dass mein rotpulsierender Peiniger oben höhnisch zu lachen anfing, während der fünfarmige Krake, offenbar mit seinem Zylinderhandwerk zufrieden, mit höllischem Tempo auf mich zufuhr. Für nachkommende Generationen sei hier kurz vermerkt, dass es sich als braunes Neugeborenes im freien Fall nicht lohnt, die Ränder seines diskusförmigen Körpers zu schürzen, um damit der Schwerkraft die Stirn zu bieten. Absolut sinnlos! Ich begann lediglich wie verrückt zu trudeln und rechnete bereits mit dem Schlimmsten. In jenem wenig entspannten Moment wurde ich auch noch auf ein schlohweißes Haar aufmerksam, das harpunenartig in meiner Flanke steckte und welches sich von dem Tritt in den Hintern offenbar zur Co-Entwurzelung überreden hatte lassen. „KAMERAD, was soll das? Ich habe einen Auftrag höchster Priorität, sie können mich doch nicht ausgerechnet jetzt entfernen! Alle Haare sind GLEICHWERTIG!“ Doch wir steuerten im freien Fall bereits zielstrebig auf die fingerbewehrte Extremität zu, die uns sogleich erreicht haben würde. Mit einem für das menschliche Gehör scheinbar nicht wahrnehmbaren Platschlaut schlugen wir unbemerkt auf dem Unwesen auf und ich hatte gerade noch ausreichend Zeit, einen ersten Trieb im Boden zu verankern, als auch schon ein zweiter mächtiger Kraken die Sonne zu verdunkeln begann und uns stramm seine Fangarme entgegen trieb. Der Umstand, dass das in mir steckende Haar von einem dieser Fangarme sogleich kraftvoll eingeklemmt wurde, ist im Nachhinein als absoluter Glücksfall zu bezeichnen, denn das darauf folgende Schütteln hätte uns gewiss beiden den sicheren Tod beschert. Als unser neues Zuhause schließlich ein wenig zur Ruhe kam und für einen Augenblick im Halbdunkel erschlaffte, verließen mich schlagartig die Kräfte. Mit schwindender Geistesgegenwart grub ich noch ein paar weitere Triebe in den Untergrund und verlor daraufhin das Bewusstsein. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Ich hatte im Fall das Ende des kalten Kriegs sichergestellt!
***
Vollkommene Dunkelheit. Zunächst vernehme ich leises, dann zunehmend stärkeres Summen. Magisch angezogen treibe ich auf das Summen zu. Ich spüre, wie mich immer mehr ein Gefühl von Enge befällt. Plötzlich ein Rempeln von links. Weit vorne Licht, das einen in seiner Größe aus der Distanz kaum zu ermessenden Raum erhellt. Ein weiteres Rempeln, diesmal von rechts. „Was ist los, Kumpel, hast Du die Hosen voll?“ Albernes Kichern von mehreren Seiten, dem spürbar eine Dosis Nervosität beigemengt ist. Schließlich unaufhörliches Drängen und Stoßen von allen Seiten. Ich befinde mich plötzlich inmitten einer geschlossenen Masse runder Leiber, die rhythmisch dem Licht entgegen pulsiert. Und auf einmal tut sich der hell erleuchtete Raum direkt vor mir auf. Ich erblicke einen gigantischen gläsernen Kessel, eingelassen in den Boden einer Höhle und erleuchtet von einem Lichtkegel, der gleißend durch eine kreisrunde Öffnung am Höhlenzenit bricht. Im Kessel, dichtgedrängt, Myriaden von meinesgleichen in allen erdenklichen Größen und Erscheinungsformen, von magischer Hand haltlos getrieben und im Kreis rotierend. Gebannt von diesem Durcheinander stelle ich fest, dass ihre Drehung und das Summen dabei an Lautstärke zunehmen. Plötzlich erhebt sich Gesang aus der Masse:
Dott, oh Herr, wir preisen Dich,
im Anblick deines Angesichts,
sind wir überaus erpicht
zu schauen neues Lebenslicht!
Während das Lied von allen Seiten dröhnend wiederhallt, springen immer mehr Neuankömmlinge aus den zahllosen tunnelartigen Zugängen in den Kessel, wodurch ihre Konturen sofort nahtlos mit der braunen Masse verschmelzen. Ich stehe wie betäubt am Höhlenrand, während mich der steigende Pegel des Wirbels bereits fast erfasst hat. Plötzlich wieder dieses alberne Kichern hinter mir: „Komm schon, Kumpel so kurz vor Schluss wirst du doch nicht kneifen?“ Und mit einem kräftigen Schubs kippe ich vorne über direkt in die treibende Suppe, mit Haut und haarlos nach Halt ringend. Erfasst vom Strom der Artgenossen stoße ich unkontrolliert immer wieder heftig an Mittreibende, in deren Augen sich der Ausdruck schierer Faszination abzeichnet. „Gleich ist es soweit, mein Freund, du wirst schon sehen.“ Völlig perplex darüber, was dieser Ausruf aus der körperlosen Masse wohl zu bedeuten hätte, setzt abrupt die Bewegung im Kessel aus und ein heftiger Abpraller von der Kesselaußenwand schleudert mich durch einen Hagel von Muttermalen in Richtung Kesselmitte. Die Landung, sogleich unangenehm vom Gewicht dutzender anderer Male beschwert, treibt mir beinahe die Bräune aus dem Leib. Als ich mich in dem Chaos, das zu allen Seiten herrscht, ein wenig aufzurappeln versuche, zischt mir ein älterer, leicht faltiger Zeitgenosse mit starkem Haarbewuchs ein scharfes ’nicht bewegen‘ zu. Im Handumdrehen herrscht Totenstille. Doch da ist ein leises Hintergrundsurren, kaum wahrnehmbar, und doch nicht wegzuleugnen. Ich blicke noch sichtlich benommen zur Seite und bemerke, wie sich mit langsamer Drehung ein gläserner Tubus aus dem Boden schraubt und mich mit dem behaarten Kollegen und dutzenden Anderen in seinem Inneren einschließt. „Das ich das noch erleben darf!“ Einem Miteingeschlossenen kommen jäh die Tränen. Und in dem Moment, als ich ein ängstliches ‚was meinen sie damit‘ ausstoßen will, schließt sich in schwindelerregender Höhe über uns der Tubus mit einem inhalierenden Schmatzen. „Ich werde noch einmal auf Reisen gehen!“ Und zuletzt alle in ekstatischem Unisono:“Es geht los!“
<<FLUPP>>.
Kein Boden mehr.
Wir fallen.
Schwärze.
‚…Raissa, wo sind wir nur…? Wir brauchen Meinungsfreiheit, der Mensch ist es, der zählt. Und wir müssen den Schatten entfliehen, Raissa, den Schatten…‘ „Wachen sie auf, Kamerad!“ ,…und weg von den Gläsern, Raissa, meine Liebe, die Genossen vernichten das geistige Potenzial der Union…‘ „Meine Güte, wachen sie schon endlich auf!“ ‚Ach Fjodor, Dein Raskolnikow ging in die Irre!‘ Und endlich wieder Schwärze.
***
„Mein Güte, Kamerad, ich dachte schon ich hätte sie verloren. Aber sorgen sie sich nicht, ich werde mich um sie kümmern, sie werden schon sehen.“ Das Haar beugte sich fürsorglich über mich, richtete sich aber sogleich wieder auf und nahm stramme Haltung an. „Auch wenn ich nach wie vor fassungslos aufgrund der Handlung unseres Kameraden Michel bin, welch fatale Anbiederung gegenüber dem Kapitalismus, bar jeden Geschmacks, für wahr! Jedes Haar ist GLEICHWERTIG! Aber dazu später, wenn ich mich kurz vorstellen dürfte? Mein Name ist Napoleon, Haupthaar, Plattform eins, linke Flanke, es ist mir wahrlich eine Freude sie kennenzulernen!“ Ich war von dem eben Geträumten noch so benommen, dass ich nur langsam zu mir fand, was durch das uns umgebende Halbdunkel der Nacht noch verstärkt wurde. Der dadurch entstandene Augenblick der Stille gab Napoleon hinreichend Zeit, zu einem weiteren Schwall einleitender Worte auszuholen. „Ich korrigiere, ehemaliges Haupthaar! Sie werden nach diesem stressbehafteten Introitus wahrscheinlich dutzende Fragen haben, Kamerad und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um sie ins Bild zu setzen. Außerdem schläft Michel noch tief und fest, wir haben insofern etwas Zeit.“ Mein Mund wollte die Worte ‚wer bin ich‘ formen, er blieb aber stumm, was sogleich einen weiteren schwülstigen Monolog seitens Napoleons heraufbeschwor, während dessen er sich mehrfach bedeutungsvoll verneigte. „Sie, Kamerad, sind ein neugeborenes Muttermal. Bei Lichte besehen werden sie feststellen, dass sie vom Scheitel bis zur Sohle schwächlich braun gefärbt sind, was auf ihre bis dato noch recht kurze Lebenszeit hindeutet. Darüber hinaus sind auch ihre Ausmaße noch ein wenig übersichtlich, aber gut Ding will bekanntlich Weile haben. Entgegen der Meinung vieler Wirte sind sie keine Anhäufung nutzloser, verhaltensentgleister Zellen, die man am besten chirurgisch entfernen ließe, nein, ganz im Gegenteil! Sie sind ein selbstständig denkendes Wesen, jedoch in ihren Entscheidungen noch etwas unbedarft, meine Güte, ihre Aktion hat uns fundamental sabotiert, sie Teufelskerl! Aber das ist der Geist, denn wir hier brauchen, Entscheidungskraft, jawohl, Kamerad, Entscheidungskraft! Und der unstillbare Durst nach großen Tagen! Mit ihnen werden wir uns zurück an die Spitze kämpfen!“ Er setzte noch ein strammes ‚jedes Haar ist gleichwertig‘ hinterher. „Aber was mache ich hier?“ Diese Frage schien mir neben der Existenzfrage die allerdringlichste. „Nun, Kamerad, der Sinn meines Daseins, der mit dem ihren schicksalsschwer verwoben scheint, ist schnell und prägnant erläutert. Der explizite Befehl der Zentrale lautete, Plattform eins so lange wie möglich zu halten und unserem Wirt somit keinerlei Blöße vor unserem Kontrahenten zu geben, wenn sie verstehen. Die Order von oben verlangte weiters, die Unterschrift des Wirts um jeden Preis zu verhindern. Ich und meine Kameraden hatten unsere Stellung seit Jahren wacker gehalten und ich kann ihnen sagen, die russischen Winter hatten fortwährend bestialische Opfer unter meinesgleichen gefordert. Trockene Haut, Spliss, Talgdrüsentrauma, Keratinapokalypse! Aber wir hielten aus, das Ziel fest vor Augen.“ Er skandierte lauthals ein ‚Jedes Haar ist gleichwertig‘. „Und dann war es schließlich soweit! Der Kapitalist hatte unweit von uns Position bezogen und sein dauergewelltes Bataillon blickte uns säbelrasselnd entgegen, um alles in der Welt dazu entschlossen, diesen Vertrag zur Unterzeichnung zu bringen. Im Moment höchster Anspannung, kurz bevor wir unsere Feinde durch einen überraschenden Ausfall zur Aufgabe gezwungen hätten, sind jedoch plötzlich sie erschienen und haben mich zuerst etwas unglücklich im Boden verankert und danach in diese Tiefenlage zu Fall gebracht. Dadurch ist die Mission leider auf das unerfreulichste gescheitert und befänden wir uns nach wie vor auf Plattform eins, man hätte mich gewiss aller Kriegswürden enthoben und im Rang weit nach unten verbannt.“ Napoleon hielt kurz betroffen inne, was mir die Möglichkeit bot, die Frage nach dem Sinn meiner Existenz noch einmal explizit zu wiederholen. Er grübelte einen Moment und antwortete schließlich strahlend. „Sie sind unser Hoffnungsschimmer, Kamerad! Für den Moment scheinen wir geschlagen und der Feind ist ungewollt erstarkt, aber mit ihnen an der Spitze, ich sage ihnen! Wir werden dem Wirt Michel das Geflirrte mit der Marktwirtschaft ein für allemal austreiben. Wir werden ihm die Werte der Vergangenheit einimpfen und wer weiß, vielleicht werden in naher Zukunft wieder die strahlenden Ringe alkoholischer Intoxikation die Schäfte der Kameraden zieren. Denn jedes Haar ist schließlich GLEICHWERTIG‘!“ Ich konnte den Ausruf jetzt schon nicht mehr ertragen. Als Napoleon sich einigermaßen beruhigt hatte, fuhr er in seinen Erläuterungen fort. „Lassen sie mich noch eine Handvoll Dinge erwähnen, bevor wir mit der Planung unserer glorreichen Rückkehr beginnen. Sie müssen wissen, die seit Jahrtausenden erprobte Nachbarschaft aus Haut und Haar hat meine Schar einen beträchtlichen Wissensfundus über Muttermale anhäufen lassen, mittels dem ich ihrer Erinnerung, Kamerad, nun noch ein wenig auf die Sprünge helfen möchte. So dies nicht ausgerechnet ihre erste Runde ist, sollten sie innerhalb der nächsten Wochen eine Art, nun, wir nennen es Reinkarnationsgedächtnis wiedererlangen, das ihnen stückweise ihre vorangegangenen Erfahrungen vor Augen führen wird. Dies sollte wesentlich zur Klärung ihrer Daseinsfrage beitragen. Außerdem müssen sie noch zwei Dinge wissen: Je tiefer sie in den Wirt wurzeln, desto stärker werden sie sich ihm verbunden fühlen. Sie werden ihn nicht nur bei seinen Handlungen beobachten, sondern auch seine Gedanken hören können, eine Fähigkeit, die uns Haaren bislang leider versagt blieb. Dies ist zu Beginn sicher verwirrend, aber mit der Zeit sollten sie lernen, damit umzugehen. Der Volksmund berichtet darüber hinaus von Muttermalen, die es durch die Anlegung von Pfahlwurzeln anscheinend sogar dazu gebracht haben sollen, ihren Wirt gedanklich zu beeinflussen. Eine interessante Vorstellung, Kamerad, dazu jedoch später. Der letzte Punkt ist womöglich der wichtigste!“ Napoleon hielt wieder einen Augenblick inne und beugte sich schließlich tief zu mir herab. „Das Jucken, Kamerad!“ Diese eigenartige Wendung des Monologs machte mich kurzfristig noch stutziger. „Es setzt plötzlich ein, sie werden überrascht sein! Doch sie sollten wissen, wenn das Jucken beginnt, ist der Sprung nicht mehr weit!“ Die Aussicht auf einen erneuten Sprung erfüllte mich mit sichtlichem Unbehagen. „Keine Sorge, so schnell werden sie mich nicht los. Aber irgendwann wird sie auf diesem Wirt das Jucken ereilen und sie werden springen müssen. Seien sie dazu bereit! Und nun ruhen sie sich aus, uns erwartet morgen einiges an Arbeit! Außerdem sollten wir darüber hinaus erwägen, unsere strategisch ungünstige Position zu verändern; die degoutante Last des feindlichen Fingers hallt mir immer noch durchs Gebälk!“ Mit diesen Worten verstummte er, kräuselte sich und ließ seine Spitze schließlich ein Stück über meinem Kopf baumeln. Er benahm sich, als hätte er den Raum verlassen, so als wäre er außer Reichweite, während seine untere Hälfte weiterhin unverändert in mir steckte. Dieses absurde Finale einer Geburt war etwas zu viel für mich. Ich konnte einfach nicht fassen, was binnen weniger Augenblicke passiert war. War es denn meine erste Runde? Reinkarnationsgedächtnis? Plattform eins? Eins war sicher, ich konnte mich an nichts außer dem Traum mit dem Kessel erinnern. Das angenehme Summen der Trommel. Den Glaszylinder. Doch wer oder was war Raissa? Mit dutzenden Fragen im Kopf döste ich allmählich ein und schlief den ersten traumlosen Schlaf meines Lebens.
***
Als ich am nächsten Morgen erwachte, stand Napoleon bereits steif wie ein Fahnenmast und wippte voller Erwartung sanft von einer Seite zur anderen. „Guten Morgen, Kamerad, ich hoffe sie sind ausgeruht? Ich habe mir in der Zwischenzeit erlaubt, mittels der etwas kurzgeratenen Kameraden hier eine Depesche an die Zentrale zu versenden.“ Die kurzen, gekräuselten Haare, die rings um uns spärlich den Handrücken besiedelten, verbeugten sich untertänig. „Ich erwähnte, in der Begleitung jenes Muttermals zu sein, welches den gestrigen Ausfall verhindert hat, worauf mir sofort komplette Rehabilitation angeboten wurde. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ich sie der Zentrale vorstelle!“ Bei diesen Worten kräuselte sich Napoleon erwartungsvoll. „Wir sollten also keine Zeit verlieren, man erwartet uns ganz oben, Plattform eins, rechte Flanke hinten. Auf geht‘s!“ Mit diesen Worten zog er an seinem Schaft, kippte jedoch, nach wie vor fest in mir verankert, sogleich vornüber, wodurch er zwei der gekräuselten Kameraden derbe anrempelte. Die beiden beschwerten sich lauthals, der Respekt vor Napoleons Größe ließ sie jedoch schnell wieder verstummen. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, beugte er sich tief zu mir herab. „Gibt es hier ein Problem, Kamerad? Wir müssen los, denn Michel wird nicht mehr allzu lange ruhen. Sie wissen was das bedeutet, ein heilloses Bewegungschaos, in dem es uns schwerfallen wird, die Zentrale unbeschadet zu erreichen.“ Ich protestierte verhalten und äußerste meine Angst, von der Zentrale für mein plötzliches Auftauchen und Sabotieren der Mission Gewalt angetan zu bekommen. „Die Zentrale ihnen Gewalt antun? Machen sie sich nicht lächerlich, Kamerad, selbst die einfältigste Zelle auf diesem Wirt weiß, dass einem Muttermal Gewalt anzutun so ziemlich das Dümmste ist, was man anstellen kann! Keiner hier will ihre Bösartigkeit heraufbeschwören, das könnte fatal für uns alle enden. Es wäre also eine reine Geste der Freundschaft, Kamerad, ein Gefallen, den sie mir zur Rettung meiner Karriere täten. Sie können mir glauben, sie haben nichts zu befürchten.“ Schlagartig holte mich die Erinnerung an den roten Pulsar inmitten der Plattform wieder ein, doch Napoleon schien meine Gedanken zu lesen und nahm meinen nächsten Protest sogleich vorweg. „Und sorgen sie sich nicht um das unerfreuliche Riesenmal inmitten der Plattform. Wir haben eine Abmachung mit diesem üblen Subjekt, die es ihm zwar erlaubt, unbehelligt auf unserem Wirt zu verweilen. Jedoch ist es ihm verwehrt, sich in die äußeren Bereiche von Plattform eins zu verästeln. Wir haben lange mit ihm darum gerungen, wobei er anfangs die Überhand behielt und sich stark zu vergrößern drohte.“ Napoleons Stimme wurde für einen Augenblick leiser, schwoll jedoch gleich wieder zu ihrer ursprünglichen Lautstärke an. „Jedoch gaben wir so schnell nicht auf und verwandelten die Kopfhaut zu einem Ort des Grauens für ihn, indem wir uns alle absichtlich Entzündungen der Wurzel zuzogen. Das Jucken, das sich dadurch auf Plattform 1 ausbreitete, hätte ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben, bis er mit uns schließlich an den Verhandlungstisch getreten ist. Zu unserem Glück ist das Mal nicht mit einem Übermaß an Verstand gesegnet und wir konnten, abgesehen von den territorialen Zuweisungen, noch eine weitere Bedingung der Waffenruhe aushandeln“. Napoleon wippte triumphierend und rief stolz aus: „Er trägt seither Rot als die Farbe der Zentrale!“ Schließlich schrie er beinahe vor Glück. „Sie sollten sehen, wie er pulsiert, wenn er sich aufregt, ein herkulisches Farbenbanner unserer Gemeinschaft! Jedes Haar ist GLEICHWERTIG!“ Ich stöhnte leise in mich hinein. „Werden sie mich also begleiten, Kamerad?“ Was hätte ich sonst tun sollen? Ein neugeborenes Muttermal auf seiner allerersten Reise durch die bedrohliche Welt. Ein brauner Fleck inmitten einer fremden Landschaft, ohne sozialen Anschluss, eben noch von einem Feuermal in den Hintern getreten. Allein zu bleiben schien mir in dem Moment die dümmste aller Entscheidungen zu sein. Nachdem ich Napoleon zugestimmt hatte, zogen wir umgehend los. Was folgte, war ein beschwerlicher Aufstieg durch Landstriche üppigster Formen und Farben, gesäumt von Muttermalen und Haaren aller Statur, die den vorbeiziehenden Einmaster ungläubig anstarrten. Während ich angestrengt ein Füßchen nach dem anderen in den Boden vor mir grub, um Halt für das Nachziehen meines Körpers zu bekommen, genoss Napoleon den Aufstieg sichtlich, da er nicht viel mehr beitragen konnte, als geruhsam in mir zu stecken. Jedes Mal, wenn wir an größeren Mengen von Haaren vorbeikamen, rief er ihnen einstudierte Parolen zu und als wir schließlich eine Region passierten, die er als Michels Hals bezeichnete, konnte er nicht davon absehen, seinen geliebten Satz durch die unbewohnten Täler und Schluchten hallen zu lassen. Schließlich erreichten wir über die rechte Wange die Schläfe, von deren Ende ausgehend sich ein dichter Wald weißer Haare zu erstrecken begann. Napoleon bat mich, für einen Moment innezuhalten. „Kamerad, wir sind gleich da! Bevor wir uns jedoch ins Dickicht der Kameraden begeben, möchte ich sie noch um eine Sache bitten: Lassen sie mich mit der Zentrale verhandeln, ich werde ihnen alles erläutern. Und seien sie so freundlich und lassen sie sich auch nicht auf irgendein Gespräch mit einem anderen Haupthaar ein. Die Kameraden nützen jedes Wissen zu ihrem Vorteil und bringen einen in Verruf, wenn sie verstehen.“ Dabei hüstelte er kurz etwas angespannt, räusperte sich und beruhigte sich wieder. „Also dann, Kamerad, lassen sie uns weiterziehen, wir bringen uns im Nu wieder an die Spitze!“ Nun kam der schwierigste Teil unserer bisherigen Reise. Wir mussten uns mit aller Kraft durch die dicht gedrängten Haupthaare zwängen, wobei sich Napoleons Torso immer wieder ungeschickt um Artgenossen wickelte. Er entschuldigte sich jedes Mal ausschweifend für sein Missgeschick, was dazu führte, dass unsere Durchquerung des Haarfeldes eine gefühlte Ewigkeit dauerte. Die Haupthaare beäugten das Spektakel argwöhnisch und ich war überglücklich, als wir endlich eine kleine Lichtung erreichten. Inmitten der Lichtung standen drei borstige, graue Haareminenzen, die allesamt einen größeren Umfang als die ringsum stehenden Artgenossen aufwiesen und zudem hoch in den Himmel ragten. Das mittlere schien jedoch das Mächtigste zu sein und überragte die anderen beiden in jeglicher Dimension. Alle drei blickten streng zu uns herüber und als wir in Hörweite kamen, fing das Linke an lautsprecherartig zu tönen. „Nummer 278, sie sind zurück? Dass sie es überhaupt wagen, nach dieser Schmach noch einmal vor uns zu treten!“ Das rechte Haar übernahm ohne Unterbrechung: „Und sie haben auch noch den Verursacher dieser Misere mitgebracht! Haben sie denn jetzt auch noch den letzten Rest ihres ohnehin dürftigen Verstandes verloren?“ Napoleon wollte zu einer Antwort ausholen, wurde jedoch jäh vom linken Haar unterbrochen. „Zwei Jahre Vorbereitung binnen weniger Sekunden zunichte gemacht, man sollte sie einfach ausreißen und ihrem Schicksal überlassen.“ Das Rechte donnerte: „Besser noch, man sollte sie auf das Kinn strafversetzen, dort würden sie die tägliche Hölle der Klinge durchleben, Kameraden, was haltet ihr davon?“ Einzelne umstehende Haupthaare begannen ‚Tod am Kinn‘ zu skandieren. Das Linke schrie: „Oder wir stecken sie in das große Muttermal nebenan, würde ihnen das gefallen? Glauben sie mir, die Tortur der Genossen in den bekleideten Zonen ist der reinste Kindergeburtstag dagegen! Wer ist für Folter am Feuermal, Kameraden?“ Die Haupthaare tobten wie wild und schrien ‚Folter am Mal, Folter am Mal‘, während Napoleon immer unruhiger wurde. „R-U-H-E!“ Sekundenschnell verebbte jeglicher Lärm. Das mittlere Haar richtete sich zu seiner vollen, majestätischen Größe auf. „Nummer 278, sie erwähnten in ihrer Nachricht von heute Morgen, dass ihr Begleiter hier bereit wäre, sich für das Projekt ‚Verirrter Mann‘ freiwillig zu melden. Ist das korrekt?“ Napoleon bejahte eifrig, während ich noch nicht so recht begriff, was sich gerade abspielte. „Er ist also einverstanden, die Maximen der Haare anzunehmen und sich seiner Aufgabe mit aller Ergebenheit zu stellen?“ Napoleon bestätigte auch dies mit servilem Nicken, während es nun ich war, der immer weniger entspannt war. Das mittlere Haar schwieg nachdenklich und beugte sich zuerst nach links, dann nach rechts, um die Meinung der beiden anderen Weisen einzuholen. Schließlich wandte er sich in Richtung Publikum. „Kameraden! Nummer 278 hat uns bitter enttäuscht, das ist nicht zu leugnen. Aber mit dem Scheitern unserer Mission hat er uns gleichzeitig eine neue, mächtige Waffe gegen unsere kapitalistischen Widersacher beschafft. Bis dato war es uns unmöglich, ein Muttermal zu dem Projekt ‚Verirrter Mann‘ zu überreden, aber heute ist der historische Moment gekommen, Kameraden, an dem sich das Blatt zu unseren Gunsten wendet!“ Einige Haare raunten einander unverständliche Worte zu, während die Ansprache des mittleren Haars immer mehr an Lautstärke gewann. „Ab heute werden wir ein Exempel statuieren, Kameraden, ein Zeichen des Widerstands setzten, ein Zeichen, dass wir nicht einverstanden sind mit den jüngsten Entwicklungen!“ Die Zustimmung der Menge wurde hörbar. „Dieses Muttermal wird uns in eine Zukunft mit traditionelleren Werten führen, Kameraden, denn jedes Haar ist gleichwertig!“ Die Menge teilte die Meinung lauthals. Plötzlich erschütterte eine massive Druckwelle den Boden und ich klammerte mich gerade noch rechtzeitig fest, um zu verhindern, dass ich gegen den Haarwall hinter mir flog. Man konnte jedoch immer noch die Stimme des mittleren Haars vernehmen, die das Poltern der Welle übertönte: „Und diese Zukunft, Kameraden, diese Zukunft beginnt jetzt!“ Mit diesem Ausruf kam plötzlich leichter Wind auf, denn offenbar war Michel soeben aus seiner Nachtruhe erwacht und setzte sich in Bewegung. Alle Haare begannen, sanft und synchron in der Morgenbrise zu wiegen, was dem Ernst der Situation für einen Moment ein leicht komisches Element verlieh. Als die Druckwelle schließlich abgeklungen war, fuhr das mittlere Haupthaar mit gemäßigter Stimme in Napoleons Richtung fort. „Nummer 278, sie haben uns mit dieser Auslieferung gezeigt, dass sie ihren Fehltritt bereuen und bereit sind, dem Feind noch einmal ins Auge zu sehen. Sie werden hierzu eine allerletzte Chance erhalten.“ Er richtete seine Ansprache wieder an die versammelte Haarmenge. „Zuverlässige Quellen haben uns mitgeteilt, dass unser Wirt heute Morgen mit seiner Gattin das Frühstück zu sich nehmen wird.“ Er hielt kurz inne, um den folgenden Worten das nötige Gewicht zu verleihen. „Viel wichtiger jedoch ist, dass wir wissen, was Michel seiner Gattin während dieses Vorgangs erzählen wird!“ Die Menge lauschte gebannt. „Ein bedeutendes Magazin der feindlichen, dauergewellten Kapitalisten hat doch tatsächlich entschieden, unseren Wirt zum Mann des Jahres zu küren, man stelle sich vor, Kameraden! Diese erneute Anbiederung und Untergrabung unserer Prinzipien kann unmöglich gebilligt werden! Ganz im Gegenteil, wir werden dies zu verhindern wissen und dabei kommen sie ins Spiel!“ Das Haar beugte sich vorahnungsvoll zu mir herab. Schließlich lehnte es sich ganz nah an Napoleon und flüsterte ihm unhörbar etwas zu. „Also gut, es geht los, Kameraden, bereiten wir ihnen den Weg! Nummer 278, sie instruieren das Muttermal unterwegs, ich vertraue darauf, dass ihre Mission dieses Mal ein voller Erfolg sein wird!“ Mit diesen Worten teile sich der Haarwald zu unserer rechten und legte einen schmalen Pfad in Richtung Plattformmitte frei. Ich war von den strengen Blicken der Haare, die uns zu tausenden umringten, so eingeschüchtert, dass ich mich widerspruchslos auf den Weg machte. Napoleon, für den die vorangegangenen Schweigeminuten wahre Folter bedeutet haben mussten, begann nun emsig auf mich einzureden. „Kamerad, ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr ich ihnen zum Dank verpflichtet bin! Volle Rehabilitation und dann auch noch die beratende Funktion im Projekt ‚Verirrter Mann‘, ich bin sprachlos!“ Nichts hätte weniger zutreffen können. „Aber nun lassen sie mich ihnen von unserem Vorhaben erzählen. Ich hatte ihnen doch davon erzählt, dass Muttermale durch Anlegung von Pfahlwurzeln ihren Wirt kontrollieren können?“ Er grinste leicht dümmlich. „Nun, ich fürchte ich habe sie nicht belogen, Kamerad, sie besitzen diese Fähigkeit, so wie jeder ihrer Artgenossen sie auch besitzt. Es gibt allerdings nur eine Handvoll Präzedenzfälle erfolgter Anwendung, die allesamt entweder im Wahnsinn des Wirts oder, nun, mit Schlimmerem endeten. Es wird von Seiten der Muttermale also im Allgemeinen von diesem Prozedere abgesehen.“ Napoleon hüstelte verhalten, setzte aber sogleich fort. „Dabei ist allerdings zu bedenken, dass diese Versuche ohne genaue Instruktionen seitens der Haare erfolgten, wodurch man bei unserem Unterfangen von einer völlig anderen Situation sprechen muss!“ Ich hielt kurz inne und blickte entgeistert zu Napoleon empor. „Jawohl, Kamerad, wir werden in die Gedanken Michels eindringen, während er seiner Gattin von dem Angebot der Zeitschrift erzählt und ihm eben dieses madig machen. Was halten sie davon?“ Ich hatte endgültig genug von diesem ganzen Wahnsinn und wollte am Absatz kehrt machen. Zu meinem Missfallen musste ich jedoch feststellen, dass sich der Pfad hinter uns lückenlos geschlossen hatte und die Haare dermaßen dicht gedrängt standen, dass eine Umkehr völlig ausgeschlossen war. Einige der finsteren Zeitgenossen raunten mir ein ‚wir beobachten sie, Kamerad‘ und ‚auf Misserfolg steht die Höchststrafe‘ zu, während sie weiterhin sanft im Wind wogten, den Michel durch seine Bewegung hervorrief. Ich verfluchte Napoleon, dass er mich in diese Lage gebracht hatte, setzte mich jedoch schließlich wieder in Bewegung, da ich mich in der Haarschlucht alles andere als wohl fühlte. „Sie müssen meine Lage verstehen, Kamerad, ich flehe sie an, ich hatte doch keine Wahl. Wenn sie nicht kooperieren, wird uns die Zentrale im günstigsten Fall verbannen, ich befürchte jedoch, dass sie noch weit Schlimmeres mit uns vorhat.“ Mit dieser Drohung kamen wir in Sichtweite des Waldendes und wechselten solange kein Wort miteinander, bis wir schließlich die Weite der Plattform erreicht hatten, hinter der sich der für mich noch immer unbegreifliche, unendliche Raum erstreckte. Ich hielt inne und sah Napoleon mit festem Blick an. Er hielt meinem Blick tapfer stand, sich dem Ernst der Situation sichtlich bewusst. Ach, was soll ich lügen? Ich willigte murrend ein, jedoch nur unter der Bedingung, nach dem Projekt die Kommune als freies Muttermal verlassen zu dürfen. Napoleon musste seiner grenzenlosen Freude sogleich Platz machen, indem er ein ‚jedes Haar ist gleichwertig‘ über die talgige Einöde schmettere. „Ich versichere ihnen, Kamerad, ich werde sie nach diesem Abenteuer nicht mehr behelligen. Nun aber lassen sie mich noch eines erwähnen, bevor wir zur Tat schreiten und ich mahne zur Eile, den Michel setzt sich soeben zu Tisch.“ Mein Blick schweifte über die Plattform hinweg und ich erkannte in weiter Entfernung die geradlinigen und geschwungenen Formen verschiedenster Gegenstände, die den nicht enden wollenden Raum ausfüllten. „Es gibt für ein Muttermal, das Pfahlwurzeln schlägt, drei erreichbare Wahrnehmungsebenen, Kamerad. Soviel konnten wir zumindest aus den vorangegangenen Fällen in Erfahrung bringen, auch wenn die Aussagen der betroffenen Muttermale oftmals wirr waren und eingehender Analyse bedurften. Die erste Ebene ist bereits durch eine einigermaßen lose Verbindung mit dem Wirt zu erreichen. Dadurch sind sie mit allen physiologischen Vorgängen verbunden, die in ihm vorgehen. Sie werden Zellen sich bewegen, Haare wachsen, Blut rauschen und Eingeweide glucksen hören. Die zweite Ebene ist bereits ein wenig schwieriger zu knacken, denn sie müssen tiefer wurzeln, um sie zu erreichen. Sobald sie diese aber erreicht haben, werden sie in der Lage sein, die Gedanken des Wirts zu hören als wären es die ihren, zweifelsohne ein verstörender Moment, den die Berichte zahlloser Male einwandfrei belegen. Die gesamte Erfahrungssphäre des Wirts wird mit einem Mal auf sie einstürmen, was so manches Muttermal auf Tage paralysiert hat. Lassen sie sich von diesem Augenblick bitte trotz ihrer Unerfahrenheit nicht völlig überwältigen, ansonsten verpassen wir unser Zeitfenster! Sollte ich das Gefühl haben, dass mir ihre Aufmerksamkeit entgleist, werde ich mich mit einem Kratzen an ihrer Innenseine bemerkbar machen. Es ist also von höchster Wichtigkeit, dass sie die für uns relevanten Gedanken Michels zügig erfassen und dann zur letzten Ebene voranschreiten. Zur Ebene drei!“ Napoleon verstummte augenblicklich und sah mich so eindringlich an, dass mich dabei leicht fröstelte. „Und von da an beginnt das Niemandsland, Kamerad! Von da an sind sie auf sich allein gestellt und Herr unser aller Schicksals. Wie auch immer sie es anstellen werden, gebieten sie dem kapitalistischen Wahnsinn Einhalt, aber ich flehe sie an: Treiben sie es nicht zu weit! Wir vertrauen darauf, dass sie die Haare aus der Krise führen. Und nun genug der Worte, wir sollten keine weitere Zeit verstreichen lassen. Kamerad, ich wünsche ihnen Glück!“ Und in dem Moment stellte ich fest, dass uns Muttermale von all den Dingen, die man von uns zu wissen glaubt, in erster Linie eine Eigenheit auszeichnet. Jene Eigenheit, die uns zu jeder Zeit und an allen Orten auftauchen lässt: Die Eigenheit unserer unersättlichen Neugier. Ich holte mehrmals tief Luft und begann zu wurzeln.
***
Es begann also und das auch noch denkbar unspektakulär, denn ich konnte zuerst rein gar nichts hören. Was mir jedoch sofort auffiel war, dass von dem Moment an, als ich mein Sensorium auf Michel einzustellen versuchte, jegliche Geräuschwahrnehmung der Außenwelt verstummte. Es herrschte absolute Stille, kein sanftes Rauschen des Windes mehr, kein Murmeln der Haupthaare hinter mir und, zu meinem Entzücken, kein Laut von Napoleon. Ich konnte das Glück der Ruhe für den Moment kaum fassen. Aber da war doch etwas. Ein leises Pochen, das zwar immer wieder verstummte, jedoch auch beständig wiederkehrte. Ich fasste mir ein Herz und trieb eine meiner Wurzeln etwas tiefer. Das Pochen wurde lauter und vermischte sich zusehends mit anderen Geräuschen. Es rasselte, mahlte, blubberte, quiekte, hämmerte, rauschte, lispelte, grunzte, gurgelte, blökte, schmatzte und brabbelte. All das schwoll zu einer wahrlich einschüchternden Kakophonie an, bis ich endlich begriff, was sich hier abspielte. Die Geräusche mussten von all den kleinen Wesen stammen, die in sämtlichen Erscheinungsformen rund um mich emsig zugange waren. Sie zogen in Heerscharen vorüber, formten Gebilde, schossen durch Kanäle, rissen Gänge ein, türmten sich zu Zäpfchen auf und griffen mutwillig andere Bewohner an. Ich drang mit meiner Wahrnehmung immer tiefer in die Innenarchitektur vor, bestaunte organische Paläste, gigantische Tunnels und war von der Hektik des allgemeinen Treibens völlig fasziniert, als mich plötzlich innerlich die Stimme Napoleons ermahnte, nicht zu viel Zeit zu verschwenden und an das Zeitfenster zu denken. Ich begann, die eben gebohrte Wurzel ein wenig tiefer zu treiben. Die Geräuschkulisse nahm immer mehr ab, je tiefer ich kam. ‚Sie trägt wieder einmal das pastellblaue Kostüm, das ich ihr einst zu unserem Hochzeitstag geschenkt habe, Matrjoschka, mein Herz...‘. Was war DAS? Ich war von der Lautstärke und Klarheit, mit der dieser Satz gerade durch den Raum gehallt war, wie vom Donner gerührt. War dies etwa der Beginn von Ebene zwei? Einen Moment lang dachte in an Umkehr. Nach einem Augenblick des Zwiespalts wagte ich mich jedoch ein wenig weiter voran. ‚Du wirst stolz sein. Trotz all der Ablehnung und dem Wiederstand aus den eigenen Reihen haben wir das richtige für unser Land getan. Oh, was wirst du stolz sein, mein Herz!‘ Das mussten zweifelsfrei die Gedanken Michels sein, ich hatte also tatsächlich die nächste Ebene erreicht! Im nächsten Moment traf mich mit derber Wucht ein Sirren, das in seiner Lautstärke mit nichts vergleichbar war, was ich je zuvor vernommen hatte und mir war, als würde ich davon langsam in Stücke gerissen. Als ich das Gefühl beinahe nicht mehr ertragen konnte und meine Wurzel schon zurückziehen wollte, ließ das Sirren etwas nach und der Sturm setzte ein. Zuerst waren es einzelne Bilder, die durch das Sirren huschten, Fragmente aller Art, eine wirre Aneinanderreihung gespeicherter Erinnerungen, die mit einer höllischen Geschwindigkeit an mir vorüberrauschten. Dieser Orkan an Bildern wurde immer dichter, sodass ich kurzfristig befürchtete, komplett die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren und dem Spektakel wie gelähmt zusehen zu müssen. Am Höhepunkt des Bildersturms begannen diese auch noch, die in ihnen gespeicherten Emotionen abzustrahlen, wodurch ich wechselseitig lachte, schrie und lauthals aufheulte, ein Spektakel von dem ich nur hoffen konnte, dass Napoleon es über mir nicht mit anhören musste. Als ich kurz davor war, meinen Verstand an den Nagel zu hängen, wurde der Sturm allmählich ruhiger und entspannte sich schließlich zu einem Lüftchen, das die nunmehr perlschnurartig aufgereihten Erinnerungen sanft vor meinem geistigen Auge vorüberziehen ließ. Nachdem ich mich wieder ein wenig gefasst hatte, erblickte ich weit vorne die allerersten Erinnerungen Michels. Das Ertasten von Gegenständen, die Emotionen der Gesichter, die seine ersten Worte vernahmen und das erste Erkennen seines Spiegelbilds. Dahinter reihten sich Bilder seiner Kindheit, Freundschaften wurden geschlossen, zerbrachen oder hielten stand. Pulsierende Erinnerungen an die Jugend, den ersten Kuss und das kritisch beäugte Wachsen von Haaren an Stellen, wo es vorher keine gegeben hatte. Literatur. Studium. Die ersten Schritte auf der politischen Bühne. Schließlich das Entstehen von Rückzugsfeldern, die zuvor noch üppig von Haaren bestanden gewesen waren. Für einen Augenblick war ich mir sogar sicher, Napoleon auf Plattform eins erkannt zu haben. Zuletzt glaubte ich tatsächlich, den bitteren Geschmack von Vergänglichkeit wahrzunehmen, verbunden mit der elementaren Angst, einst der Bedeutungslosigkeit anheim zu fallen. Ich war im Begriff zu verstehen, was es mit dem menschlichen Wort Sterblichkeit auf sich hatte, was es bedeutet, Mensch zu sein. ‚Dieses Frühstück ist wirklich nicht übel, die Amerikaner wissen zu leben. Ob ich es ihr gleich erzählen soll, oder sie damit lieber nach dem Pressetermin überrasche?‘ Der Satz ließ mich aus meiner tiefen Kontemplation hochfahren und brachte mich zurück ins hier und jetzt. Doch ich war unentschlossen, ob ich den nächsten Schritt wirklich wagen sollte. Was, wenn alles schieflief und ich Michel in den Wahnsinn stürzen würde? Was hätte das für Auswirkungen auf mich? Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was die Kameraden auf Plattform eins mit mir anstellen würden, wenn ich in dem Punkt versagen würde! Und was hätte es für Auswirkungen für die Welt dort draußen? Ich wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass mein Wirt eine wichtige Rolle in ihr spielte, von der ich allerdings noch so gut wie nichts verstand. Und wie hätte ich wissen sollen, auf welche Weise ich Michel beeinflussen sollte? Napoleon hatte mir das Ziel der Zentrale zwar unmissverständlich eingebläut, doch wie ich dieses Ziel erreichen sollte, war mir völlig unklar und fühlte ich mich tatsächlich im Stande, Michel zu meiner Marionette zu machen? War das Vorhaben nicht eine Nummer zu groß für mich? Nein, ich musste zuerst mehr über ihn und die Umstände erfahren, bevor ich irgendwelche Aktionen in Angriff nahm, Zeitfenster hin oder her. Während ich so vor mich hin grübelte, glitt die Perlenschnur der Erinnerungen weiterhin sanft an mir vorüber und ich begann intuitiv nach Bildern zu suchen, die besonders stark emotional strahlten. Diese waren leicht zu erkennen, denn sie waren im Vergleich zu den übrigen in intensivere Farben als die anderen getaucht, die von den Rändern her in den Raum waberten und die Emotionen somit stimmungsecht untermalten. Plötzlich erkannte ich weit hinten ein Bild, welches dermaßen schwarz pulsierte, dass es die Bilder um sich herum beinahe verschluckte. Ich konzentrierte meine Gedanken darauf, wodurch sich die Kette mit einem mächtigen Ruck in Bewegung setzte und die Erinnerung direkt vor mir zu stehen kam. Vorsichtig näherte ich mich dem schwarzen Pulsieren. Als ich hineinblickte, starb in mir die letzte Hoffnung je die richtige Entscheidung für eine Beeinflussung treffen zu können. Ich starrte zuerst in haltloses Schwarz. Plötzlich wich die Dunkelheit ein wenig zur Seite und ich erkannte ausgemergelte menschliche Körper, elfenbeinblau, die, zu Pyramiden gefroren, stapelweise Eisenzäune säumten; ich sah, wie Heerscharen von Menschen, in grelles Licht getaucht, einfach zu Asche zerfielen; wie unstillbares Feuer vom Himmel regnete und dabei die Erdoberfläche einer Stadt in die der Sonne verwandelte. Ich sah in die Gesichter uniformierter Jungen, die soeben zum ersten Mal ein Leben genommen hatten und hilflos auf ihre Hände starrten und ich sah ihre Mütter, die wenig später gleichsam hilflos um sie weinten. In was ich sah, war das Gesicht des Krieges. ‚Meine Güte, dieses braune Zeug werde ich nie wieder von der Hose bekommen; dass ich aber auch immer so schlingen muss, ???????! Und das direkt vor dem Pressetermin! Sie hat recht, mein peinliches Verhalten zu kritisieren; und wie sie mich ansieht! Dieses stolze Lächeln, ach Matrjoschka, verzeih einem alten Narren‘. Ich rang schnappartig nach Luft. Völlig zu Recht hatte sich noch nie zuvor ein Muttermal zum Projekt ‚Verirrter Mann‘ überreden lassen, die Haare mussten völlig übergeschnappt sein! Auch wenn der momentane Krieg kalt war, wie Michel es bezeichnete, so musste er dennoch endgültig aufhören und Michel war wichtiger Teil davon, dies in die Wege zu leiten. Kurz bevor der Satz von eben durch den Raum gehallt war, hatte ich gespürt, wie er sich wenige Zentimeter unterhalb von mir wie aus dem Nichts gebildet hatte. Und wie er mit dutzenden anderer Gedanken scheinbar um die Reihenfolge seiner Freilassung gefochten hatte. Ich begann zu begreifen, wie minutiös und sensibel dieser Apparat, auf dem ich so unbedarft saß, gehandhabt werden musste, um den Wirt nicht zu einem brabbelnden Klumpen sinnlos angehäufter Materie zu machen. Keine fünfzig Pferde würden mich zum Eindringen in Ebene drei bewegen können und ich beschloss, mich stattdessen der Bestrafung der Zentrale zu stellen, komme was wolle! Plötzlich verspürte ich ein unangenehmes Kratzen an meiner Innenseite, ein Zeichen dafür, dass Napoleon offenbar in Aufregung geraten war. Mit einem letzten ängstlichen Blick auf die schwarze Erinnerung zog ich meine Wurzeln zurück und erreichte schließlich wieder Plattform eins, auf der Napoleon bereits sichtlich unruhig auf meine Rückkehr gewartet hatte. „Kamerad, das ging gerade noch einmal gut! Was sind sie nur für ein raffinierter Vertreter ihrer Art, es ist mir wahrlich eine Freude sie kennen zu dürfen!“ Er entnahm meinem etwas verwirrten Blick, dass ich das eben Passierte noch nicht im vollen Ausmaß realisiert hatte. „Haben sie denn nicht mitbekommen, dass Michel sich das Erdnussbutterbrot auf die Hose hat fallen lassen! Äußerst raffiniert, Kamerad, für wahr, äußerst raffiniert und darüber hinaus auch noch hinreichend subtil! Die Verwirrung, die dadurch entstanden ist, hat ausgereicht um die Ankündigung des Angebots zu verhindern! Das wird uns hinreichend Zeit verschaffen, denn die Zentrale wird denken, dass sie es waren, der dies vollbracht hat!“ Hatte ich Napoleon eben richtig verstanden? Wusste er etwa von meinem Kneifen? Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als er mir wieder einmal ins Wort fiel. „Sie brauchen nichts zu sagen, Kamerad! Sehen sie, ich habe mir erlaubt, zu Beginn ihres Abenteuers meine Haarwurzel zu erneuern und ausreichend Talg zu sammeln, um mich aus ihrer ungewollten Umklammerung zu lösen. Denn ich stehe zu meinem Wort, Kamerad! Dabei ist allerdings etwas Unvorhergesehenes passiert.“ Er hielt kurz inne und grübelte derart angestrengt, als müsste er die folgenden Worte erst erfinden. „Nun, meine Wurzeln haben sich in dem Moment mit den ihren auf eine mir unerklärbare Art und Weise verbunden und ich habe alles miterlebt. Restlos alles!“ Ich war sprachlos und er blickte mich düster an. „Ich hätte niemals geahnt, wie falsch wir all die Jahre lagen, Kamerad. Ein Segen, dass sie mehr Verstand besitzen als ich es tue und dass uns das Glück gerade hold war.“ Mit diesen Worten zog er heftig an seiner Wurzel, indem er seinen Körper zu einem Bogen spannte, seinen Kopf als Bodenverankerung benutzte und damit einen Hebel formte. Als er sich mit einem Schmatzen befreit hatte, setzte er seine Wurzel neben mir ab, vergrub sie eilig und richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. „Sie sind nun ein freies Mal, Kamerad, und wir sollten keine Zeit verschwenden, uns zu beratschlagen, denn die Beobachter haben der Zentrale sicher schon von unserem Teilerfolg berichtet. Sie werden sie feiern wollen und schließlich alles in ihrer Macht stehende tun, um sie zu einem weiteren Einsatz zu zwingen. Ich mahne zur Eile!“ Was folgte, war Napoleons detaillierter Plan für meine Flucht.
***
Er ließ zuerst über einen Flaumhaargesandten an die Zentrale melden, dass ich zu erschöpft für eine Rückreise sei und mich bis zum nächsten Morgen ausruhen müsse. Um keine Zweifel über unsere Loyalität aufkommen zu lassen, fügte er noch hinzu, dass ich dann zu weiteren Missionen imstande wäre, dass ich sogar äußerst dazu geneigt sei, den Haaren wieder zurück an die Spitze zu verhelfen. Wir schienen die Zentrale damit für die folgenden Stunden einwandfrei zu täuschen, denn sie war mit dem bisherigen Ergebnis, zu dem ich wenn überhaupt nur unbewusst beigetragen hatte, offenbar äußerst zufrieden. Und doch verbrachten wir einen Tag höchster Anspannung, felsenfest davon überzeugt, jeden Moment aufzufliegen. Jedoch nichts geschah. Schließlich wurde es Abend und Zeit, meine Flucht in die Tat umzusetzen. Napoleon wippte stumm hin und her und verabschiedete sich zuletzt mit trauriger Stimme. „Nun, Kamerad, dies ist also die Stunde.“ Er kräuselte sich ein wenig verlegen. „Ich wünschte ich könnte mit ihnen gehen, zu kurz war unsere Bekanntschaft, aber ich gehöre nun mal hier hin. Es ist ein Jammer, wir träumten all die Jahre vom Widerstand und lagen doch so falsch. Wir glaubten, jedes Haar müsse gleich sein, doch von heute an ist zumindest ein Haar anders.“ Ich konnte ihm ansehen, wie schmerzlich ihn die Bedeutungslosigkeit seiner alten Parole traf. „Ich werde ihr Andenken in Ehren halten, Kamerad!“ Seine Verlegenheit wurde noch offenkundiger. „Machen sie sich also keine Sorgen um mich, ich werde einfach behaupten, sie hätten mich überwältigt und hier liegen lassen. Gehaben sie sich wohl, mein Freund und meiden sie bei ihrer Flucht Stellen dichter Haarbesiedelung, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Und vergessen sie nicht, tauchen sie bei ihren Artgenossen unter, dann wird man sie niemals finden!“ Das waren die letzten Worte, die Napoleon an mich richtete und ich machte mich im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit eilig auf den Weg. Ich tappte stundenlang ängstlich durch die Finsternis, durchquerte Schluchten und vermied haarbesetzte Hügel so gut ich konnte, bis ich schließlich eine Stelle erreichte, in der es von Muttermalen geradezu wimmelte. Ich konnte ihre Nähe trotz der mich umgebenden Schwärze spüren, denn ich fühlte wie sich ihre Wurzeln im Schlaf immer wieder ausdehnten und kontrahierten. Sie mussten träumen! Auch wenn Napoleon ein unfassbarer Schwätzer war, vermisste ich seine Gegenwart bereits jetzt schon und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben einsam. Daher kroch ich mitten in eine Herde von Muttermalen hinein und vergrub meine Wurzeln neben einem größeren Mal, in dessen Nähe ich mich einigermaßen geborgen fühlte. Was würde mit Napoleon geschehen, wenn die Kameraden erst von meiner Abwesenheit erführen? Würden sie ihm seine Geschichte abnehmen? Für einen Moment fühlte ich mich elend, ihn im Stich gelassen zu haben, auch wenn er bis zum Schluss versucht hatte, mich für die wahnsinnigen Ziele der Haare zu benutzen. Dennoch war er so etwas wie mein erster Freund, auch wenn die Freundschaft nur kurz gewährt hatte. Mit diesen Sorgen schlief ich allmählich ein und träumte unruhig von den sonderbaren Wesenheiten in Michels Inneren.
***
Die Ereignisse der darauffolgenden Tage sind schneller erzählt, als man glauben möchte, denn sie waren in Ihrer Spannung relativ überschaubar. Als ich am nächsten Morgen erwachte, fand ich mich wie in der Nacht zuvor inmitten der Muttermalherde wieder. Ich rückte ein wenig von dem riesigen Kerl neben mir ab, der sich für meinen Geschmack etwas zu heftig im Schlaf bewegte und wurzelte an einer Stelle, an der ich niemandem zu nahe kommen würde. Tagsüber verhielt ich mich still und wartete voller Angst darauf, doch noch von einem versprengten Haartrupp entdeckt zu werden und meine Flucht scheitern zu sehen. Jedoch nichts dergleichen passierte. Auch in den darauf folgenden Tagen blieben die Haare aus und allmählich fühlte ich mich in meinem neuen Zuhause etwas sicherer. Als ich zuletzt vom Erfolg meiner Flucht überzeugt war, entschied ich, mich der neuen Gemeinde vorzustellen, doch die bittere Lektion, die ich dabei lernen musste war die, dass Muttermale offenbar nicht zu den redseligsten Geschöpfen zählen, die die Welt hervorbringt. Was soll ich sagen, ich wurde schlicht und ergreifend ignoriert! Niemand wollte sich mit mir unterhalten, wie ich es auch anstellte! Das tumbe Volk saß völlig mit sich selbst beschäftigt einfach nur um mich herum und schwieg mich an. Schlussendlich gab ich auf. Und da die Oberfläche ansonsten wenig Interessantes zu bieten hatte, entschied ich, wieder auf Ebene zwei zurückzukehren, um Michels Welt etwas besser verstehen zu lernen. Und ich kehrte lange nicht zurück. So vergingen viele Jahre der stillen Beobachtung, in denen ich der Menschheit in die Seele blickte, mir ihre Sprache aneignete und darüber hinaus dem Niedergang einer Ära beiwohnte. Mauern fielen und die Fremden liebten uns dafür, während im eigenen Land allmählich der letzte Rest Achtung schwand. Und ich erinnere mich noch genau an jenen düsteren Nachmittag, an dem Michel in ein Flugzeug stieg, um mit ausländischen Freunden einen Umschwung zu feiern, der in ihren Herzen für immer eingebrannt sein würde. In diesem Flugzeug fing es an. Und als Michel schließlich seine Füße auf ausländischen Boden setzte, wurde es immer unerträglicher! Das Jucken! Wenige Augenblicke später, als er nach der Begrüßung verschiedener Würdenträger durch die weitläufig abgesperrte Flughafenhalle schritt, war es schließlich soweit. Ich hielt es nicht mehr aus und ließ mit einem einzigen heftigen Ruck die Vielzahl meiner bis dahin vergrabenen Wurzeln zurückschnellen. Die dadurch entstehende Katapultwirkung war enorm! Ich flog geschossartig über die Köpfe von schaulustigen Passanten hinweg und landete auf dem denkbar letzten Ort, auf dem ich hätte landen wollen. Auf der Schnauze eines selbstmordgefährdeten Langhaarterriers der Marke Yorkshire.