Читать книгу Burn-In. Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel - Sebastian Knell - Страница 7

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II.

Als Julia und ich uns am Abend der Gartenkolonie näherten, hatte meine absonderliche Stimmung noch immer nicht nachgelassen. Den Weg, der in zwei ausladenden Serpentinen hinauf zur Tumringer Höhe führte, hatten wir zu Fuß zurückgelegt. Von unserem Haus aus brauchte man hierfür weniger als eine halbe Stunde, und Parkplätze schien es, soweit sich dies vom Tal aus erkennen ließ, in der Nähe der Schrebergärten ohnehin keine zu geben. Die Kolonie bestand aus zirka 50 Einzelgrundstücken. Sie fügten sich zu einem am Hang gelegenen, streng umzäunten Rechteck zusammen. Das Areal stach deutlich sichtbar aus der umliegenden Wald- und Wiesenlandschaft heraus, nicht unähnlich einem ehrfurchtsvoll ausgelagerten Dorffriedhof in mediterranen Gefilden.

Ich trug die Jutetasche mit den Grillhappen und dem Prosecco, während Julia im Gehen eine Zigarette rauchte. Wir folgten einem kurzen Schotterpfad, der von dem Serpentinenweg abzweigte und der, mitten durch eine Streuobstwiese hindurch, zu den Gärten führte. Das Gelände besaß eine schmiedeeiserne Eingangstür, die nur lose angelehnt war. Dahinter erstreckte sich ein sauberer Kiesweg, von dem aus rechter- und linkerhand Tore zu den Gartengrundstücken führten. Von allen Seiten her erschallte launiges Feierabendgeschwätz, duftete es nach Holzkohle und waberte Braten- und Wurstgeruch durch die Luft. Auch eine der unvermeidlichen Deutschlandflaggen stach hier hin und wieder ins Auge, schlaff an einem Mast jenseits der Metallzäune oder Ligusterhecken hängend. Da alle Sektionen der Anlage durchnummeriert waren, fiel es uns nicht schwer, Parzelle 19 auf Anhieb zu finden.

„Lässig, dass ihr gekommen seid!“, rief Aebi uns zu, als wir durch das Maschendrahtgatter traten. Aebi trug ein kaffeebraunes Polohemd, eine helle Leinenhose, die ein Stück nach oben gekrempelt war, und abgetretene Sandalen. Seit der ehemalige Chef einer Basler Coop-Filiale, der, um Lebenshaltungskosten zu sparen, einen Wohnsitz im deutschen Grenzgebiet vorzog, vor einigen Monaten in Pension gegangen war, hatte er sich die Haare länger wachsen lassen. Sie strebten katzengrau und leicht zerzaust von seinem Schädel fort. Die eine Hand in die Hüfte gestemmt, stand er mit durchgedrücktem Kreuz vor einem Grill, von dem dichter Dampf aufstieg. Mit Hilfe einer spindeldürren Zange justierte er darauf eine Batterie fettschillernder Würste.

„Nochmals danke für die Einladung“, sagte ich. Und da mir nichts Passenderes einfiel, fügte ich hinzu: „Besser hätte es ja wettermäßig kaum kommen können, um im Freien zu grillen.“ Als ob man die ganze stinkende Brutzelei ebenso gut in Aebis pompöses Wohnzimmer hätte verlegen können.

„Was ihr mitgebracht habt, könnt ihr in die Hütte zu den Salaten stellen“, sagte Aebi und wies mit dem Kopf in Richtung einer hellgelb lackierten Baracke, die einige Meter vom Eingangstor entfernt auf dem leicht abschüssigen Grundstück stand und ungefähr die Maße einer Gartensauna besaß. Mir war nicht ganz klar, ob unser Nachbar uns anlässlich der auf Fraß und Suff programmierten Zusammenkunft auf einmal duzte, oder ob er im Kreise seiner größtenteils von jenseits der Grenze stammenden Bekannten lediglich zu der in der Schweiz gebräuchlichen Anrede in der zweiten Person Plural übergegangen war.

Während Julia sich mit einem Lächeln absentierte, um unsere Mitbringsel in der Hütte zu deponieren, ließ ich den Blick über den Garten und die übrigen Anwesenden schweifen. Das Gelände war nur spärlich bepflanzt, hauptsächlich an den Rändern, wo Büsche mit türkisgrünem Blattwerk und niedrige Bäumchen wuchsen, die ich botanisch nicht näher zu klassifizieren vermochte. Der überwiegende Teil des etwa tennisplatzgroßen Grundstücks bestand aus einer einfachen, nicht sonderlich penibel gepflegten Rasenfläche. Über sie hinweg hatte man in der Tat einen großartigen Blick in die Umgebung. Er erstreckte sich weit über die dünn besiedelte Ebene unterhalb der Anhöhe, über die dunklen, aus der Ferne ledern anmutenden Ausläufer des Südschwarzwalds und über die Naturparkanlagen, die den begradigten Flusslauf der Wiese zum Rhein hin säumten. In Richtung Südwesten reichte er bis zu den Schornsteinen und Bürotürmen des Novartis-Quartiers und zu den Höhenzügen des Jura jenseits des Rheinknies. Einen besonders eindrücklichen Anblick boten jedoch sieben riesige, in leuchtendem Rot und Orange gefärbte Heißluftballons, die über dem Rheintal schwebten und deren spitz nach unten zulaufende Umrisse gestochen scharf im Abendlicht hervortraten. Sie hoben sich plastisch vom Blau des Himmels und den vereinzelten Kumuluswolken ab, so als handele es sich um nach oben fallende Bluts- und Siruptropfen in der surrealen Vision eines Magritte oder Dalí.

Von dem bemerkenswerten Schauspiel angetan waren offenbar auch mehrere andere Besucher der Gartenparty, die, den Rücken zu mir gewandt und Bierflaschen in den Händen haltend, Seite an Seite in hellgrau bespannten Liegestühlen ruhten, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Einzig ein Pärchen, das sich in der rechten unteren Ecke des Grundstücks aufhielt, war in ein Gespräch vertieft. Es handelte sich um ein Mädchen mit Kleopatra-Frisur und einen zigeunerhaft aussehenden Jüngling, der sich einer dunklen Lockenpracht erfreute. Den Wortfetzen nach zu urteilen, die ich aufschnappen konnte, unterhielten sie sich auf Italienisch. Womöglich stammten sie ja aus dem Tessin. Als ich mich näherte, schauten die beiden kurz zu mir herüber, wandten aber, bevor ich zu einer Geste des Grußes ansetzen konnte, ihre Blicke rasch wieder einander zu und setzten die intim wirkende Konversation fort.

Bei der Phalanx der Liegestühle angekommen, wurde ich von einem älteren Partygast mit weißem Kurzhaarschnitt und durchtrainiertem Körper angesprochen, der in dem ersten der fünf Stühle lag.

„Grüß Gott, der Herr!“

„Hallo!“, erwiderte ich und streckte dem Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift Piz Palü und ein Lederarmband trug, die Hand entgegen. „Reinhold Parzer. Meine Familie und ich sind Nachbarn von Herrn Aebi.“

„Ah, schau, der Schwabe von nebenan! Beat hat schon viel von Ihnen erzählt.“

„So?“, erwiderte ich leicht irritiert. „Na dann …“ Ich hielt kurz inne und blickte zurück in Richtung Grill. „Aber eigentlich“, sagte ich dann, „stammen weder meine Frau noch ich aus dem Schwäbischen. Wahrscheinlich hat Herr Aebi von jemand anderem gesprochen.“

„Schwaben heißen bei uns die Deutschen!“

„Ach so … klar. Das hatte ich vergessen.“ Ich übte mich in einer Miene des Wohlwollens, während die Abendsonne in meinem Nacken stichelte.

„Sie sind also der kommende Volksvertreter?“, fuhr mein Gegenüber fort, wobei er mich vom Scheitel bis zur Sohle musterte. „Der von den GRÜNEN?“

„Gemach, gemach!“, erwiderte ich. „Noch habe ich nur vor zu kandidieren. Die Wahl kommt erst im März. Dann wird man sehen.“

„Gemach, gemach. Na, so ist’s recht.“ Der Mann stieß ein leises Lachen aus, dessen Beweggrund sich mir nicht erschloss. Sein linkes Augenlid hing ein Stück zu tief und hatte einen leicht metallischen Glanz.

„In der Politik braucht man vor allem Geduld“, sagte ich. „Das ist das A und O.“

„Überall im Leben braucht es Geduld, oder?“, erwiderte der Schlohkopf, während er die Beine von sich streckte und sich mit gespreizten Händen über die Oberschenkel fuhr, so als wolle er das Blut in Richtung seiner Füße pressen. „Nur nicht die ganze Zeit krampfen! Das macht schlussendlich die Milch sauer und die Hühner nervös!“

„Und Sie“, erkundigte ich mich. „Woher kennen Sie Herrn Aebi?“

„Aus der St.-Johanns-Badi.“

„Die St.-Johanns-Badi … Moment …“ Ich überlegte kurz, bis es mir dämmerte. „Das ist eins der alten Stadtbäder im Rhein, nicht wahr?“

„Sicher.“

„Das mit dem riesigen Unterwasserkäfig, neben der Johanniterbrücke?“ Das Spalier der aus Holz gezimmerten Umkleidekabinen und die gewaltige Reuse, die die Badegäste vor den Tücken der Strömung schützte, standen mir vage vor Augen.

„Exactément. Nach der Arbeit ist er sommers immer wie der Teufel seine Bahnen geschwommen. Bis er seinen Herzkasper hatte.“

„Ach je. … Davon wusste ich nichts. Das tut mir leid.“

„Ist schon eine Weile her.“

„Ach so. … Na, zum Glück scheint er die Sache ja halbwegs gut überstanden zu haben. Er macht jedenfalls einen recht fitten Eindruck auf mich.“

„Oh ja. Er hat Riesenglück gehabt!“

Im Augenwinkel sah ich, wie Julia aus der Hütte trat. Vor der Tür hielt sie inne, um sich die nächste Lucky Strike anzuzünden. Kein sonderlich ermutigendes Signal. Ich wollte mich gerade abwenden, um ihr Gesellschaft zu leisten, als der Mann im Liegestuhl in energischem Ton weitersprach.

„Aber den Schrei werd ich meinen Lebtag nicht vergessen. Ganz schlimm! Als ob ihn ein Hai ins Bein gebissen hätte! Und danach erst. Das Geröchel, als er die ganze Brühe in der Lunge hatte.“

„Das klingt ja übel“, erwiderte ich, während ich den Blick erneut in Richtung Hütte wandte.

„Glauben Sie mir: So hört sich kein menschliches Wesen an!“

„Das tut mir wirklich leid.“

„Die ganze Sache stand Spitz auf Knopf. Damals hab ich ihn in letzter Sekunde aus dem Becken geholt. Ich war an dem Tag zuständig fürs Observieren der Wasserratten …“ Er unterbrach sich und führte, im Stile einer militärischen Geste, die Hand an seine Stirn. „Ich heiße übrigens Renato.“

„Na, zum Glück waren Sie damals zur Stelle“, sagte ich.

„Der arme Kerl! Er hatte ja erst kurz zuvor das Haus gekauft und den Garten hier gepachtet.“

„Hm.“

„Hätte er im Schwimmbad den Abgang gemacht, wäre das alles umsonst gewesen. Die ganzen schönen Pläne für die Katz!“

Ich wusste hierauf nichts zu erwidern und schaute auf das Gras zu meinen Füßen. Zwischen leuchtend gelben Löwenzahnblüten lag dort ein herrenloser Salzstreuer.

„Aber irgendwann“, fuhr mein Gegenüber fort, „krallt sich der Tod, der alte Dreckskerl, halt jeden von uns, oder?“

„Als Bademeister“, erwiderte ich, während ich meine Gattin beobachtete, die mit laschen Schritten durch den Garten streifte, „hat man mit sowas bestimmt öfters zu tun. Mit kritischen Notfällen, meine ich.“

„Die Zeit der Badeaufsicht ist für mich passé.“

„Aha.“

Renato musterte mich mit einem Blick, dem nicht zu entnehmen war, ob Sympathie in ihm lag oder Abneigung. Die Iris unter dem lädierten Lid schimmerte umbrafarben. Für einen kurzen und unheimlichen Moment mutete sie überhaupt nicht an wie ein Sehorgan. Eher wie etwas Undefinierbares aus der Speisekammer, das in Lake eingelegt und zum späteren Verzehr bestimmt war.

„Schaffen“, sagte er dann, „tue ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Bin zeitig in Rente gegangen.“ Er unterbrach sich und deutete ins Tal. „Ist das nicht ein unheimlich beruhigender Ausblick hier oben?“

„Sehr schön.“

„Warten Sie nur ab bis Anfang Juli. Wenn da vorn die Stockrosen blühen, wird der Garten erst so richtig lauschig. Wie ein Sommernachtstraum am helllichten Tag!“

Ich verzichtete darauf, den Ausspruch zu kommentieren und ließ es bei einem freundlichen Nicken des Kopfes bewenden. Ob diesem Typen wohl bewusst war, dass tief im Inneren der Pflanzenwelt der dunkle Schlund der Teilchenphysik gähnte? Und dass alles, aber auch alles getragen war vom riskanten Schacher der Symmetriebrüche und des kosmischen Fine-Tunings? Ich betrachtete die Grashalme zwischen meinen Schuhen. Ihre Fasern glänzten matt, in abgestuften Pastelltönen. Ein weiteres Mal an diesem Tag – und für die anderen unmerklich – traf mich der Dämonhauch des Glücks.

In diesem Moment trat Julia an meine Seite, und ich stellte Renato und sie einander vor. Aus den beiden benachbarten Liegestühlen erhoben sich daraufhin zwei weitere Gäste, ein Mann und eine auffallend magere Frau. Der Mann war ein untersetzter Typ um die 50, mit Stoppelfrisur und tätowierten Oberarmen. Bei der Frau handelte es sich um ein aschblondes Wesen mit Ponyschnitt, verwaschen-grünen Augen und melancholischen Gesichtszügen. Sie war offenbar die Begleiterin des Tattoo-Freaks.

„Das sind Siggi und Jolanta“, ließ Renato uns wissen.

„Renato und ich waren mal Berufskollegen“, sagte Siggi, während er zuerst Julia und anschließend mir die Hand reichte.

„Sie sind also auch aus Basel?“, erkundigte sich Julia, an deren Oberlippe kleine Schweißperlen standen und die erkennbar litt.

„Aber nein, ich bin von hier. A rechter Sauschwab! Hatte früher einen Job unten in Weil. Im Laguna-Badeland.“

Ihm entfuhr ein heftiger Hustenlaut, dem gleich darauf zwei weitere folgten. Ein elendes Rauchergebell, in dem die Tyrannis des Glimmstängels in ihrer ganzen Perfidie widerhallte. Nachdem die Attacke vorüber war, hielt er uns eine zur Hälfte gefüllte Packung Toffifee-Pralinen hin.

„Da! Nur zu! Nehmen Sie sich ein Leckerli.“

Julia und ich griffen uns je eine der karamellisierten Halbkugeln, die geschmacklich so ganz und gar nicht zu den Fleisch- und Wurstgerichten passen wollten, die unserer auf dem Grill harrten.

„Auf dem Bademeisterhochsitz ist der gute Siggi ein echtes Denkmal“, warf Renato ein. Der Angesprochene reagierte darauf mit einem halb scheuen, halb dankbaren Blick.

„Aber was seine Reputation angeht“, fuhr Renato grinsend fort, „die reicht noch um einiges weiter: Kaum war er in Weil fürs Beäugen der Chlorbrühe zuständig, hat er sich auch schon zum 1A-Schätzchen der Golden Girls vom Whirlpool gemausert. Speziell für die Kundschaft mit der Extraportion Hüftgold. Das ging ruckzuck, was Alter?“

„Idiot!“, erwiderte Siggi. „Das hättest du dir sparen können.“ Er machte eine Handbewegung, als setze er zu einer Backpfeife an.

„Ich hab damals“, wandte er sich dann an uns, „nebenher als Masseur im Spa-Bereich des Laguna-Centers gearbeitet. Hat mir keinen so üblen Zusatzlohn gebracht. … Und ich hatte immer gerne mit Menschen zu tun. Das müsst ihr mir glauben.“

„Keine Sorge, das glauben wir dir“, versicherte ihm Renato, dessen Tonfall dabei eine Wendung ins Zärtliche nahm.

„Böses Schätzchen“, sagte Jolanta und strich Siggi über die Wange. „Immer nur Frauen den Kopf verdrehen.“ Ihrem Akzent nach zu urteilen, stammte sie aus Osteuropa, vielleicht aus Polen oder der Ukraine. Siggi lächelte verlegen. Anschließend nahm er ihre Hand und die beiden begaben sich zurück zu ihren Plätzen in den Liegestühlen.

„Wir feiern heute Siggis ersten längeren Freigang“, sagte Aebi, der sich in der Zwischenzeit ebenfalls zu uns gesellt hatte. Sein Atem roch ein wenig nach Torf.

„Freigang?“, wiederholte ich fragend.

„Der arme Teufel sitzt schon eine halbe Ewigkeit im Knast“, erklärte Renato.

„Das ist ja bedauerlich“, stammelte ich und drehte mich ein wenig hilflos zu Julia um, die mit versteinerter Miene in Richtung Tal blickte.

„Ich hab Riesenmist gebaut! Vor vielen Jahren!“, rief Siggi aus seinem Stuhl zu uns herüber, während Jolanta erneut begann, seine Wange zu streicheln. „Hatte mich damals überhaupt nicht im Griff. … Aber ich hab ehrlich gebüßt dafür. Das könnt ihr mir glauben!“

„Das wissen wir, Siggi. Das wissen wir alle“, sagte Renato. „Du hast wirklich ehrlich gebüßt. Wir freuen uns alle riesig mit dir, dass du endlich Freigang hast.“

„Hatte mich wirklich kein bisschen im Griff damals!“

Daraufhin standen wir eine Weile schweigend herum, während Jolanta Siggi irgendwelche Dinge ins Ohr flüsterte. Die Sonne war bereits ein Stück tiefer gesackt, und unsere Schatten krochen langsam über den Rasen.

„Wollt Ihr nicht einen der Klöpfer probieren, die Renato mitgebracht hat?“, fragte Aebi schließlich.

„Gerne“, sagte ich, bemüht, mit der Hand ein Insekt zu verscheuchen, dessen Gebrumm meinem Ohr zusetzte.

„Dann holt euch grad zwei Pappteller aus der Hütte und kommt damit rüber zum Grill. Die erste Runde müsste allmählich soweit sein.“

Erleichtert darüber, dass Aebi uns von dem peinlichen Schweigen loseiste, gingen Julia und ich in Richtung Hütte. Neben dem Eingang standen ein Eimer, ein an die Wand gelehnter Skistock und ein hüfthohes Messgerät mit digitaler Anzeigetafel.

„Was hab ich dir gesagt?“, zischte Julia mir zu, als wir vor den Salaten, Fleischplatten und Soßentöpfen standen und uns von dem Beistelltischlein Pappteller und Plastikbesteck angelten. „Das sind die letzten Vollidioten hier! Ich schick jetzt gleich die SMS ab, jetzt sofort!“

„Welche SMS?“

„Die an Sabine.“

„Nicht doch, warte! … Halt wenigstens noch durch, bis wir ein paar Happen gegessen und mit Aebi angestoßen haben.“

„Dein Prosecco ist auch völlig fehl am Platz! Die haben hier nur Bierkästen rumstehen.“

„Bitte, Julia! Eine halbe Stunde noch.“

Als wir kurz darauf wieder an den Grill traten, reichte Aebi uns mit der Fleischzange je einen Klöpfer, eine dicke bräunliche Wurstspezialität aus Basel, die mit tiefen Querschlitzen versehen war. Anschließend drückte er jedem von uns eine Flasche Ueli-Bier in die Hand, und wir stießen auf unsere Nachbarschaft an.

„Die Geschichte mit Siggi ist furchtbar tragisch“, sagte er dann.

„Was hat er denn ausgefressen?“, fragte ich, während ich die Wurst, die sich wie ein kleines, schwitzendes Lebewesen anfühlte, zwischen die Finger nahm, um sie in Richtung Mund zu führen.

„Er hat damals seine Frau erwürgt. Aber es war ein Unfall.“

„Ach, du liebe Zeit!“, stieß Julia tonlos hervor.

„Sie hatten Streit, aber er wollte sie nicht töten. Das Ganze ist wirklich ungeheuer tragisch. Sie hatten ständig Streit damals. Da verging kein Tag ohne Gebrüll. Und ohne, dass in ihrer Wohnung irgendwas zu Bruch gegangen ist.“

„Und jetzt sitzt er wegen Mordes ein?“, erkundigte ich mich, während Julia, die sich an dem Bier verschluckt hatte, ein gepresstes Hustenstakkato vernehmen ließ.

„Sie haben ihm acht Jahre aufgebrummt wegen Totschlags. Aber jetzt, wo er die letzten drei Jahre abbüßt, bekommt er schon ab und zu Freigang.“

„Und diese Jolanta? Wer ist sie?“

„Jolanta ist ein Engel. Sie kommt aus Polen.“

„Etwas in die Richtung hätte ich auch getippt. Richtung Osteuropa, meine ich.“

„Die beiden haben sich durch eine Brieffreundschaft kennen gelernt.“

„So. … Hm.“

„Sie hat ihm wöchentlich geschrieben. Und das über viele Jahre. … Stellt euch das vor!“

„Sie meinen, während dieser Siggi im Gefängnis saß?“

„Ja. Das Ganze war ein Riesenglücksfall für ihn. Sie ist sehr fromm. Katholisch, wisst ihr. Sie war trotz allem bereit, sich mit ihm einzulassen.“

„Hat sie denn gar keine Angst vor ihm?“, warf Julia ein. „Immerhin hat er seine Frau ermordet.“

„Es war Totschlag.“

„Trotzdem“, sagte Julia und kämpfte erneut gegen ihren Husten an.

„Sie hat immer an seinen guten Kern geglaubt. Wisst ihr, was sie sagt? Sie sagt, sie kann an der Form seiner Ohrläppchen erkennen, dass er kein Mörder ist. Ist das nicht wunderbar? … Ohne sie würde der arme Siggi bestimmt nicht wieder auf die Beine kommen. Sogar ganz sicher nicht.“

„Na, hoffentlich täuscht sie sich nicht in ihm.“

„Sie werden heiraten, sobald er rauskommt.“

Wortlos standen Julia und ich im Anschluss an das Gespräch beisammen, während Aebi wieder zu seinen Kumpels in den Liegestühlen ging. Etwas später, als wir uns mit den abgenagten Stumpen der Klöpfer in den Händen wieder in der Nähe der anderen befanden, bimmelte, wie verabredet, Julias Smartphone, und ihre Kanzleikollegin Sabine rief an. Julia führte das Gerät zum Ohr und hörte eine Weile schweigend zu.

„Ist gut, ich komme sofort“, sagte sie dann und verstaute das Mobiltelefon in ihrer Handtasche.

„Tut mir schrecklich leid“, verkündete sie in die Runde. „Aber wir haben einen Engpass in der Kanzlei, und morgen Vormittag läuft eine sehr wichtige Gerichtsverhandlung. Eine komplizierte Geschichte um Versicherungsbetrug. Ich muss meiner Kollegin dringend nochmal bei der Aktendurchsicht helfen. Die steigt da leider alleine nicht durch.“

„Schade“, sagte Aebi. „Wir fangen ja gerade erst richtig an. … Aber gut, wenn‘s so pressiert.“

„Sorry. … Das Ganze ist mir wirklich sehr unangenehm. Ich wär gern noch geblieben.“

„Ist schon recht. Aber vielleicht ist ja eine spätere Rückkehr drin? Der Abend hier wird sicher noch lang.“

„Genau!“, assistierten Renato und Siggi im Chor. „Das geht bestimmt noch ordentlich lang heut! Der Abend ist noch jung!“ Daraufhin stießen sie mit ihren Bierflaschen an und ruckelten sich in ihren Pritschen zurecht.

Nachdem sich Julia mit gespielter Hast verabschiedet hatte, wanderte ich mit meinem Pappteller zurück in Richtung Grill, auf dem ein versprengtes Atoll kleinteiliger Schnitzel vor sich hin briet. Sie waren von einer mandelfarbenen Soße überzogen und mit Kräutern garniert. Ich verzehrte eines der Filetstücke und öffnete mir anschließend in der Hütte ein weiteres Bier. Neben deren Eingangstür stand jetzt das zigeunerhaft aussehende Pärchen. Es war weiterhin in ein Gespräch auf Italienisch vertieft und würdigte mich keines Blickes. Die beiden jungen Leute schienen vollkommen aufeinander fixiert zu sein und sich für die übrigen Gäste der Gartenparty keinen Deut zu interessieren.

Wenig später hatte die Sonne den Horizont erreicht, und das Tal lag fast komplett im Schatten. Über die Hänge ging eine kräftige Brise. Ich hatte in einem der beiden Liegestühle Platz genommen, die bisher noch frei geblieben waren. Neben mir fütterte Jolanta Siggi mit einer langen und dünnen, zwischen ihren Fingern hin und her schlackernden Wurst, die sie vor jedem Bissen in die bunte Palette von Soßentupfern tauchte, in die sie ihren Pappteller verwandelt hatte. Am anderen Ende der Liegestuhlreihe redete Aebi, der mit angezogenen Beinen im Gras saß, leise und in baseldeutschem Singsang auf Renato ein. In einiger Entfernung konnte ich erkennen, wie Julia den Serpentinenweg hinab in Richtung Tal schritt. Ihre gelbe Schirmmütze leuchtete auch ohne Sonneneinstrahlung markant über dem brünetten, zu einem Zopf geflochtenen Haar. Vielleicht war es wirklich besser, dass sie schon jetzt die Kurve kratzte. Sie konnte mit diesen Leuten hier beim besten Willen nichts anfangen. Doch auch mir selbst kam ihr Weggang nicht ganz ungelegen. Ich hatte das Bedürfnis, eine Weile mit mir und meinen Gedanken allein zu sein.

Das war wirklich ein verrückter Tag gewesen! Erst der zwanghafte Gedanke an die gestrige Fernsehsendung, den ich partout nicht loswurde. Und dann das Schauspiel all der hilf- und glücklosen Gestalten, die auf der hiesigen Grillfiesta versammelt waren. Das ersichtliche Unheil, das dem Menschen blühen konnte, es ließ mich dennoch seltsam unberührt. Es war ein Leichtes, so sagte ich mir, die Webfehler dieser Welt, in der es Herzinfarkte, grausige Unfälle und obendrein noch Mord und Totschlag gab, mit Gleichmut hinzunehmen, wenn man sich nur klar machte, dass die eigene Existenz vom kosmologischen Standpunkt aus betrachtet ein so irrwitzig glücklicher Zufall war. Im Grunde konnte mich nichts von all dem, was mir in diesem Spießergärtchen wie in einem Brennglas menschlicher Dramen begegnete, noch ernsthaft erschüttern! Letztlich war die Chance für die Realisierung all dieser Auswüchse intelligenten Lebens von vornherein ebenfalls lächerlich gering gewesen. So lächerlich gering, dass das ganze tragische Geschehen dazu tendierte, gar nicht in vollem Umfang der Wirklichkeit anzugehören! Dieser Gedanke ließ meine Gelassenheit ein neues Niveau erklimmen. Alles in mir ward heiter und leicht, und bald schon fühlte ich mich im Kern meiner Seele so ätherisch beschwingt wie nie zuvor, ja, so spielerisch leicht über allem schwebend wie einer jener bunten Heißluftballons, die zuvor am Himmel die Einbildungskraft des Betrachters geneckt hatten und die sich inzwischen nur noch, weit jenseits des Dreiländerecks, als eine Handvoll winziger Punkte über dem Horizont erahnen ließen.

Burn-In. Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel

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