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IV.

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Ingmar Ingmarsson war in die Stadt gekommen und ging langsam den Weg nach dem großen Amtsgefängnis hinauf, das stolz auf einem kleinen Hügel über den städtischen Anlagen aufragte. Er sah sich nicht um, sondern schleppte sich, die schweren Augenlider gesenkt, mühselig dahin, als sei er ein uralter Mann. Er hatte in Veranlassung des Tages die schöne Tracht seiner Gegend abgelegt und einen schwarzen Tuchanzug und ein Manschettenhemd angezogen, das er schon ganz zerknittert hatte. Ihm war sehr feierlich zumute, aber doch noch ängstlich und widerwillig.

Ingmar kam auf den kiesbestreuten Platz vor dem Gefängnis, da sah er einen Schutzmann, der die Wache hatte und fragte ihn, ob Brita Erikstochter heute entlassen werden sollte. – »Ja, ich glaube wohl, daß da heute eine freikommt,« sagte der Schutzmann. – »Es ist eine, die wegen Kindesmord gesessen hat,« klärte ihn Ingmar auf. – »Jawohl, ja, die kommt heute vormittag heraus.«

Ingmar ging nicht weiter, sondern stellte sich an einem Baum auf und schickte sich an zu warten. Auch nicht eine Minute wandte er den Blick von dem Eingang ab. »Durch dieses Tor sind wohl manche hineingegangen, die es nicht allzu gut gehabt haben,« dachte er. »Ich will keine großen Worte machen,« sagte er weiter, »aber vielleicht hat es mancher, der da hineingegangen ist, kaum so schwer gehabt wie ich, der ich hier draußen stehe.«

»Ja, ja, nun hat der große Ingmar mich doch hierher gebracht, um mir die Braut aus dem Gefängnis zu holen,« sagte er dann; »aber ich kann nicht sagen, daß der kleine Ingmar froh ist; ich hätte es gern gesehen, wenn sie durch eine Ehrenpforte geschritten käme, und wenn ihre Mutter an ihrer Seite gestanden und sie dem Bräutigam zugeführt hätte. Und dann hätte sie mit großem Gefolge zur Kirche fahren müssen. Und sie hätte neben ihm wie eine Braut geschmückt sitzen müssen und unter der Brautkrone lächeln sollen.«

Das Tor tat sich mehrmals auf; es kam ein Pfarrer, und es kamen die Frau und die Mägde des Gefängnisdirektors und gingen in die Stadt hinab. Endlich kam Brita. Als das Tor aufging, stand Ingmar das Herz still. »Jetzt kommt sie,« dachte er. Seine Augenlider fielen zu, er war wie gelähmt und rührte sich nicht. Als er Mut gefaßt hatte und aufsah, stand sie vor dem Tor auf der Treppe.

Er sah sie dort einen Augenblick stehen bleiben. Sie schob das Kopftuch zurück und sah mit klaren Augen auf die Landschaft hinaus. Das Gefängnis lag hoch, und über die Stadt und die großen Wälder hinweg konnte sie bis an die Berge ihrer Heimat sehen.

Nun sah Ingmar, wie sie gleichsam von einer unsichtbaren Macht geschüttelt und gebeugt wurde. Sie hielt die Hände vor das Gesicht und setzte sich auf die Steintreppe nieder. Er konnte sie bis zu der Stelle, wo er stand, schluchzen hören.

Da ging er über den Kiesplatz, stellte sich neben sie und wartete. Sie weinte so heftig, daß sie nichts hörte; er mußte lange dastehen. »Du mußt nicht so weinen, Brita,« sagte er schließlich. Sie sah auf. »Ach, Gott im Himmel, bist du hier?« sagte sie. Und im selben Augenblick stand alles das, was sie ihm angetan hatte, deutlich vor ihr, und auch das, was es ihn gekostet haben mußte, hierher zu kommen. Sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, warf sich ihm um den Hals und schluchzte von neuem.

»Ach, wie ich mich danach gesehnt habe, daß du hier sein solltest,« sagte sie. Ingmars Herz begann zu pochen, weil sie sich so zu ihm freute. »Was sagst du, Brita, hast du dich gesehnt?« sagte er und wurde gerührt. – »Ich mußte dich doch um Verzeihung bitten.«

Ingmar richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und wurde so kalt wie ein Steinbild. »Dazu ist immer noch Zeit,« sagte er, »ich meine, wir sollten nicht länger hier stehen bleiben.«

»Nein, das ist ja kein Ort zum Stehenbleiben,« sagte sie demütig. – »Ich bin bei Kaufmann Löfberg eingekehrt,« sagte Ingmar, wahrend sie den Weg entlang gingen. – »Ja, da habe ich auch meine Kiste stehen.« – »Ich habe sie da gesehen,« sagte Ingmar, »sie ist zu groß, um hinten auf der Karre zu stehen, wir müssen sie da lassen, bis wir sie abholen lassen können.« Brita blieb stehen und sah zu Ingmar auf. Es war das erstemal, daß er erwähnte, daß er sie mit nach Hause nehmen wollte. »Ich habe heute einen Brief von Vater bekommen; er sagte, du meintest auch, daß ich nach Amerika reisen sollte.« – »Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn du die Auswahl hättest. Es war ja nicht sicher, daß du mit mir nach Hause kommen wolltest.« – Sie beachtete wohl, daß er nicht sagte, daß er es wünsche, aber das konnte wohl auch daher kommen, daß er sich ihr nicht aufzwingen wollte. Sie wurde sehr unschlüssig. Es war ja nicht beneidenswert, eine wie sie nach dem Ingmarshofe heimzubringen. – »Sag' ihm, daß du nach Amerika reist, das ist das einzige, was du tun kannst,« sagte sie zu sich selbst. »Sag' ihm das, sag' ihm das,« spornte sie sich an. Während sie so dachte, hörte sie jemand sagen: »Ich fürchte, ich bin nicht stark genug, um nach Amerika zu reisen; sie sagen, man muß da drüben so hart arbeiten.« – »Es kam mir vor, als sei es jemand anderes, der antwortete und nicht sie selbst.« – »Ja, so sagt man,« sagte Ingmar leise. – Sie schämte sich über sich selbst, dachte daran, daß sie noch heute morgen zu dem Pfarrer gesagt hatte, sie ginge als ein neuer und besserer Mensch in die Welt hinaus. Sie war unzufrieden mit sich selbst, ging lange schweigend einher und dachte daran, wie sie es anstellen sollte, ihr Wort zurückzunehmen. Aber sobald sie etwas derartiges sagen wollte, hielt der Gedanke sie zurück, daß, falls er sie noch liebe, es schwarzer Undank sein würde, ihn von sich zu weisen. »Könnte ich nur seine Gedanken lesen,« dachte sie.

Da sah Ingmar, daß sie stehen blieb und sich gegen eine Mauer lehnte. »Ich werde ganz verwirrt von all dem Geräusch und den vielen Menschen.« Er reichte ihr eine Hand und sie nahm sie, und Hand in Hand gingen sie nun die Straße hinab. »Jetzt sehen wir aus wie ein Brautpaar,« dachte Ingmar. Aber während der ganzen Zeit grübelte er darüber nach, wie es gehen würde, wenn er nach Hause käme, wie er mit seiner Mutter und allen den anderen zurechtkommen sollte.

Als sie zu dem Kaufmann kamen, sagte Ingmar, sein Pferd sei ausgeruht, falls sie nichts dagegen habe, könnten sie die ersten Wegestrecken noch heute zurücklegen. Da dachte sie: »Jetzt ist der Augenblick gekommen, zu sagen, daß du nicht willst. Danke ihm jetzt und sage, daß du nicht willst.« Sie stand da und flehte zu Gott, daß sie sich doch klar darüber werden möge, ob er nur aus Barmherzigkeit gekommen sei. Währenddes zog Ingmar den Wagen aus dem Schuppen heraus. Er war frisch gestrichen, das Spritzleder glänzte, und die Sitze hatten einen neuen Bezug bekommen. Vorn am Wagenleder steckte ein kleiner, halbverwelkter Strauß aus Feldblumen. Als sie den sah, blieb sie stehen und besann sich, und währenddes ging Ingmar in den Stall, schirrte das Pferd an und zog es heraus. Da, als sie ein ebensolches kleines halbverwelktes Bukett an dem Zaumwerk sah, fing sie wieder an zu glauben, daß er sie wirklich lieb habe und dachte, es sei am besten zu schweigen. Sonst würde er vielleicht finden, daß sie undankbar sei und nicht verstünde, wie groß das Anerbieten war, das er ihr machte.

Sie fuhren des Weges dahin, und um das Schweigen zu unterbrechen, fing sie an, nach diesem und jenem daheim zu fragen. Bei jeder Frage erinnerte sie ihn an irgend einen, vor dessen Urteil er sich fürchtete. »Wie der und der sich wundern wird,« dachte er, »und wie der und der sich lustig über mich machen wird.« Seine Antworten waren einsilbig, und wieder und wieder meinte sie, sie müsse ihn bitten, umzukehren. Er will mich nicht haben, er hat mich nicht lieb, er tut es nur aus Barmherzigkeit.

Bald hörte sie auf zu fragen; in tiefem Schweigen fuhren sie Meile auf Meile. Aber als sie in ein Gehöft kamen, stand da Kaffee mit frischem Gebäck für sie bereit, und auf dem Kaffeetisch lagen gleichfalls Blumen. Sie begriff, daß er es bestellt haben müßte, als er am gestrigen Tage vorbeigefahren war. War auch das nichts weiter als Güte und Barmherzigkeit? War er gestern froh gewesen? War es ihm erst heute leid geworden, nachdem er sie aus dem Gefängnis hatte kommen sehen? Aber morgen, wenn sie es vergessen hatte, würde schon alles wieder gut werden.

Brita war weich geworden vor Reue und Demut. Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten. Vielleicht, daß er doch wirklich – –

Die Nacht über blieben sie in einem Gasthof, brachen aber frühzeitig auf und waren nun so weit gekommen, daß sie um zehn Uhr ihre eigene Kirche sehen konnten. Als sie vorüberfuhren, wimmelte es auf dem Kirchweg von Leuten, und die Glocken läuteten. »Lieber Gott, es ist Sonntag,« sagte Brita und faltete die Hände unwillkürlich. Sie vergaß alles andere über dem Gedanken, daß sie zur Kirche fahren und Gott danken wolle. Das neue Leben, das sie jetzt leben sollte, wollte sie mit einem Gottesdienst in der alten Kirche einweihen.

»Ich möchte gern in die Kirche,« sagte sie zu Ingmar. In diesem Augenblick dachte sie gar nicht daran, daß es schwer für ihn sein müsse, sich dort blicken zu lassen. Sie war voller Andacht und Dankbarkeit. Ingmar war kurz davor, geradeswegs nein zu sagen. Er meinte, er habe nicht den Mut, den scharfen Blicken und den geschwätzigen Zungen zu begegnen. »Aber einmal muß es ja doch sein,« dachte er und bog in den Kirchenweg ein. »Es wird gleich schlimm, wann es auch sein mag.«

Als sie den Kirchenhügel hinauffuhren, saßen auf der Steinmauer eine Menge Menschen und warteten darauf, daß der Gottesdienst beginnen sollte, und sie sahen alle die an, die kamen. Als sie Ingmar und Brita daherfahren sahen, fingen sie an zu flüstern und einer den anderen anzustoßen und auf sie zu zeigen. Ingmar sah Brita an; sie saß mit gefalteten Händen da und sah aus, als wisse sie nicht, wo sie war. Sie sah die Menschen nicht, aber Ingmar sah sie um so besser; einige kamen hinter dem Wagen dreingelaufen. Er wunderte sich nicht darüber, daß sie liefen und daß sie guckten. Sie wußten wohl nicht, ob sie recht gesehen hatten. Sie konnten sich natürlich nicht denken, daß er mit der, die ihr Kind erstickt hatte, zum Gotteshause gefahren käme. »Das ist zu viel,« dachte er, »ich halte es nicht aus.«

»Ich meine, es wird am besten sein, wenn du gleich in die Kirche hineingehst, Brita,« sagte er, als er ihr vom Wagen herabhalf. – »Ja,« sagte sie, sie wollte nur zur Kirche; sie war nicht gekommen, um Leute zu treffen. Ingmar ließ sich Zeit, das Pferd abzuschirren und zu füttern. Viele Blicke waren auf Ingmar gerichtet, aber niemand sprach mit ihm. Als er fertig war und in die Kirche ging, saßen die meisten schon an ihren Plätzen und der Gesang hatte bereits begonnen.

Während Ingmar den breiten Gang hinaufging, sah er nach der Frauenseite hinüber; alle Stühle waren besetzt, ausgenommen einer, und darauf saß nur eine einzige. Er sah sogleich, daß es Brita war und dachte, daß niemand neben ihr sitzen wollte. Ingmar tat noch einige Schritte, dann bog er nach der Frauenseite um und setzte sich neben Brita. Als er zu ihr in den Stuhl kam, sah Brita auf und machte große Augen. Sie hatte bisher auf nichts geachtet; jetzt begriff sie, daß die anderen nicht neben ihr sitzen wollten. Da schwand das tiefe, feierliche Gefühl, das sie eben noch erfüllt hatte und machte einer großen Betrübnis Platz. Was sollte hieraus werden, was sollte hieraus werden? Sie hätte ja niemals mit ihm zurückkehren sollen!

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und um nicht zu weinen, nahm sie ein altes Gesangbuch, das vor ihr auf dem Brett lag, und fing an, darin zu lesen. Sie durchblätterte die Evangelien und Episteln, ohne ein Wort zu sehen vor lauter Tränen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte. Da leuchtete plötzlich etwas Dunkelrotes vor ihren Augen auf, es war ein Lesezeichen mit einem roten Herzen, das zwischen den Blättern lag. Sie nahm es und schob es Ingmar hin.

Sie sah, daß er es in seiner großen Hand barg und es verstohlen betrachtete. Gleich darauf lag es an der Erde. »Was soll aus uns werden, was soll aus uns werden?« dachte Brita und weinte über dem Gesangbuch.

Sie gingen aus der Kirche hinaus, sobald der Pfarrer die Kanzel verlassen hatte. Ingmar spannte in aller Eile an und Brita half ihm. Als der Segen gesprochen und die Schlußverse gesungen waren und die Leute anfingen, aus der Kirche zu strömen, waren sie schon auf dem Heimweg. Beide hatten ungefähr denselben Gedanken: Wer ein solches Verbrechen begangen hat, kann nicht mehr mit anderen Menschen leben. Sie fühlten beide, daß sie in der Kirche auf der Armsünderbank gesessen hatten. »Das können wir beide nicht aushalten,« dachten sie.

Mitten in ihrem Kummer erblickte Brita den Ingmarshof und konnte ihn kaum wiedererkennen, so leuchtend rot, wie er dalag! Es fiel ihr ein, daß es immer geheißen hatte, der Hof solle rot angestrichen werden, wenn Ingmar sich verheiratete. Damals war die Hochzeit verschoben worden, weil er die Ausgabe für den Anstrich scheute. Sie begriff, daß er es alles so recht gut hatte machen wollen, daß es ihm aber dann zu schwer geworden war.

Als sie auf den Ingmarshof hinauffuhren, saßen die Leute am Mittagstisch. »Da kommt der Herr,« sagte einer von den Knechten und sah zum Fenster hinaus. Mutter Märta hob kaum die schläfrigen Augenlider, als sie aufstand. »Jetzt bleibt ihr alle hier drinnen,« sagte sie, »niemand braucht von Tisch aufzustehen.«

Die alte Frau ging schwerfällig durch die Stube. Den Leuten, die ihr nachsahen, fiel es auf, daß sie gleichsam, um noch würdiger auszusehen, ihren besten Staat angelegt hatte, mit einem seidenen Schal um die Schultern und einem seidenen Tuch auf dem Kopf. Sie stand schon an der Haustür, als der Wagen hielt. Ingmar sprang gleich ab, aber Brita blieb sitzen. Er ging nach der Seite hinüber, wo sie saß, und knöpfte das Spritzleder auf. »Willst du aussteigen?« – »Nein, ich will nicht.« Sie war in ein verzweifeltes Weinen ausgebrochen und hielt die Hände vor das Gesicht. »Ich hätte nie zurückkommen sollen,« sagte sie und schluchzte. »Ach, steig' doch jetzt aus,« sagte Ingmar. – »Laß mich in die Stadt zurückfahren, ich bin nicht gut genug für dich.« Ingmar dachte bei sich, daß sie darin recht habe; er sagte aber nichts, sondern stand da, die Hand auf dem Spritzleder und wartete. »Was sagt sie?« fragte Mutter Märta, die in der Tür stand. »Sie sagt, sie sei nicht gut genug für uns,« sagte Ingmar. Brita konnte sich vor lauter Weinen nicht verständlich machen. »Und warum weint sie?« fragte die Alte. – »Weil ich eine arme Sünderin bin,« sagte Brita und preßte die Hände aufs Herz; sie meinte, es müsse ihr vor Schmerz brechen. »Was sagt sie?« fragte die Alte wieder. – »Weil sie eine arme Sünderin sei,« wiederholte Ingmar.

Als Brita hörte, daß er ihre Worte mit kalter, gleichgültiger Stimme wiederholte, ging ihr die Wahrheit plötzlich auf. Nein, er konnte nicht dastehen und ihre Worte der Mutter wiederholen, wenn er sie lieb hatte, wenn er nur die geringste Liebe zu ihr empfand. Darüber war nicht länger nachzugrübeln; jetzt wußte sie, was sie zu wissen brauchte.

»Warum steigt sie nicht aus?« fragte die Alte. Brita bezwang ihr Weinen und antwortete selbst mit lauter Stimme: »Weil ich Ingmar nicht ins Unglück bringen will.« – »Ich finde, sie hat recht,« sagte die Mutter, »laß du sie gehen, kleiner Ingmar. Das will ich dir wenigstens sagen, daß ich sonst fortgehe; ich schlafe nicht eine einzige Nacht unter demselben Dach mit so einer.«

»Laß uns um Gotteswillen machen, daß wir hier fortkommen,« jammerte Brita. Ingmar fluchte, wandte den Wagen um und sprang hinauf. Er hatte das Ganze satt und wollte nicht länger dagegen ankämpfen.

Als sie wieder auf den Weg hinausgelangt waren, begegneten sie jeden Augenblick Leuten, die aus der Kirche kamen.

Das war Ingmar unangenehm, und er bog in einen kleinen Waldweg ein. Der war steinig und hügelig, aber mit einem Einspänner konnte man schon dort fahren.

Gerade, als er in den Weg einbog, rief ihn jemand an. Er sah sich um, es war der Briefträger, der ihm einen Brief übergab. Ingmar nahm ihn, steckte ihn in die Tasche und fuhr in den Wald hinein.

Sobald er so weit hineingekommen war, daß ihn von der Landstraße aus niemand sehen konnte, hielt er an und zog den Brief heraus. Im selben Augenblick legte Brita die Hand auf den Arm. »Lies ihn nicht,« sagte sie. – »Soll ich ihn nicht lesen? – »Nein, es ist nichts, das sich des Lesens verlohnt.« – »Wie kannst du das nur wissen?« – »Der Brief ist von mir.« –

»Dann kannst du mir ja selbst sagen, was darin steht.« – »Nein, das kann ich nicht.«

Er sah sie an, sie wurde dunkelrot und ihre Augen waren ganz verstört vor Angst. »Ich glaube, ich will den Brief nun doch lesen,« sagte Ingmar. Er wollte ihn öffnen, aber sie versuchte, ihn ihm wegzunehmen. Er widersetzte sich, und es gelang ihm, den Umschlag aufzureißen. »Ach, du lieber Gott,« jammerte sie. »Mir soll doch auch nichts erspart bleiben.«

»Ingmar,« flehte sie, »lies ihn in ein paar Tagen, wenn ich gereist bin.« Er hatte ihn schon geöffnet und fing an, ihn zu durchfliegen. »Höre einmal, Ingmar, der Gefängnispfarrer hat mich dazu gekriegt, den Brief zu schreiben, und er versprach mir, ihn aufzubewahren und ihn dir zu schicken, wenn ich glücklich an Bord des Dampfers wäre. Nun hat er ihn zu früh abgeschickt. Du darfst ihn noch nicht lesen. Laß mich nur erst fort sein, Ingmar, ehe du ihn liest.«

Ingmar warf ihr einen zornigen Blick zu, er sprang vom Wagen, um Ruhe zu haben und fing an, den Brief zu lesen. Sie war in heftiger Gemütserregung, ganz wie in alten Zeiten, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte. »Es ist nicht wahr, was da in dem Brief steht! Der Pfarrer hat mich überredet, es zu schreiben. Ich liebe dich nicht, Ingmar!« Er sah mit einem großen verwunderten Blick von dem Brief auf. Da schwieg sie, und die Demut, die sie im Gefängnis gelernt hatte, stieg wieder in ihr auf. Die zwang sie zur Ruhe: sie erlitt wohl nicht mehr Schande, als sie verdient hatte.

Ingmar stand da und quälte sich mit dem Brief ab. Plötzlich knitterte er ihn ungeduldig zusammen, und aus seiner Kehle drang ein röchelnder Laut. »Ich kann nicht klug daraus werden,« sagte er und stampfte auf den Boden. »Es dreht sich mir alles rundherum.« Er ging neben Brita her und packte sie hart beim Arm. Seine Stimme klang zornig und rauh, und er war schrecklich anzusehen. »Ist es wahr, was da in dem Brief steht, daß du mich lieb hast?« wiederholte er und sah erbittert aus. – »Ja,« sagte sie tonlos.

Er schüttelte sie beim Arm und schleuderte ihn von sich. »Wie du doch lügen kannst,« sagte er, »wie du doch lügen kannst.« Er lachte laut und roh und sein Gesicht war häßlich verzerrt. – »Gott weiß,« sagte sie feierlich, »daß ich jeden Tag gebetet habe, daß ich dich, ehe ich abreise, noch einmal sehen dürfte.« – »Wo reist du denn hin?« – »Ich soll ja nach Amerika.« – »Den Teufel auch sollst du!«

Ingmar war ganz von Sinn und Verstand; er schwankte einige Schritte in den Wald hinein, dort warf er sich auf den Boden nieder, und nun war die Reihe zu weinen an ihm. Brita ging hinter ihm drein und setzte sich neben ihn. Sie war so froh, sie konnte sich kaum bezwingen, nicht hell aufzulachen! »Ingmar, kleiner Ingmar,« sagte sie und nannte ihn bei seinem Kosenamen! »Du, die du mich so häßlich findest!« – »Ja, das tue ich auch.« Ingmar stieß ihre Hand zurück. – »Ich will dir jetzt alles erzählen.« – »Ja, tue du das!« – »Weißt du noch, was du vor drei Jahren vor dem Gericht gesagt hast?« – »Ja.« – »Daß, falls ich meinen Sinn ändern würde, du dich mit mir verheiraten wolltest?« – »Ja, das weiß ich noch.« – »Von der Zeit an begann ich, dich lieb zu gewinnen; ich hätte nie geglaubt, daß ein Mensch so etwas sagen könne. Es war übermenschlich, daß du das zu mir sagen konntest, Ingmar, nach alledem, was ich dir angetan hatte. Als ich dich damals ansah, fand ich, daß du der einzige warst, mit dem es möglich sei zu leben, und ich fand, daß du mir gehörst und ich dir. Und zu Anfang betrachtete ich es als eine ausgemachte Sache, daß du kommen würdest, um mich zu holen, aber später wagte ich nicht mehr, daran zu glauben.«

Ingmar erhob den Kopf. »Warum schriebst du nicht?« – »Ich schrieb ja.« – »Du batest mich um Verzeihung; das verlohnte sich doch gar nicht zu schreiben.« – »Was sollte ich denn sonst schreiben?« – »Das andere.« – »Wie konnte ich das nur wagen!« – »Nun wäre ich beinahe nicht gekommen.« – »Aber Ingmar, ich konnte dir doch keinen Antrag machen, nach alledem, was ich dir angetan hatte! Am letzten Tag im Gefängnis schrieb ich dir, weil der Pfarrer sagte, ich sollte es tun. Er nahm den Brief und versprach, daß du ihn nach meiner Abreise bekommen solltest. Und nun hat er ihn schon abgeschickt.«

»Ingmar nahm ihre Hand, legte sie auf den Boden und schlug darauf. »Ich hätte Lust, dich selbst zu schlagen,« sagte er. – »Du magst mit mir tun, was du willst, Ingmar.« –- »Ich war nahe daran, daß ich dich hätte reisen lassen.« – »Du hättest es doch nicht lassen können zu kommen.« – »Ich will dir nur sagen, daß ich dich gar nicht lieb habe.« – «Das kann ich sehr wohl verstehen.«

»Ich war so froh, als ich hörte, daß du nach Amerika solltest.« – »Ja, Vater schrieb, daß du dich sehr freutest.« – »Wenn ich Mutter ansah, fand ich, daß ich ihr nicht so eine wie du als Schwiegertochter bringen könne.« – »Nein, das kann auch nicht angehen, Ingmar.« – »Ich habe deinetwegen so viel leiden müssen; niemand wollte mich ansehen, weil ich so schlecht an dir gehandelt hatte.« – »Nun glaube ich, du tust, was du eben sagtest,« sagte Brita, »du schlägst mich.« – »Ja, kein Mensch kann sich denken, wie böse ich auf dich bin.«

Sie saß ganz still da. »Wenn ich bedenke, wie mir nun seit Tagen und Wochen zumute gewesen ist,« begann er von neuem. – »Aber Ingmar.« – »Ja, das ist nicht, daß ich böse bin, aber ich hätte dich ja reisen lassen können.« «– »Hattest du mich nicht lieb, Ingmar?« – Nein!« – »Auch auf der ganzen Reise nicht?« – »Nicht einen Augenblick. Du warst mir nur widerwärtig.« – »Wann kehrte es denn wieder?«– »Als ich den Brief bekam.« – »Ja, ich sah freilich, daß es bei dir vorbei war; darum meinte ich, es sei eine Schande für mich, daß du erfahren solltest, daß es bei mir begonnen hatte.«

Ingmar fing an, ganz leise vor sich hinzulachen. »Was hast du, Ingmar?« – »Ich denke daran, daß wir aus der Kirche geflohen sind und vom Ingmarshofe verjagt wurden.« – »Und darüber lachst du?« – »Sollte ich nicht darüber lachen? Wir müssen wohl auf der Landstraße wohnen wie andere Landstreicher. Das sollte Vater nur sehen.« – »Ja, heute lachst du, aber das geht nicht, und das ist meine Schuld.« – »Es wird schon gehen,« sagte er, »denn jetzt mache ich mir keinen Pfifferling mehr aus dir.«

Brita war dem Weinen nahe; aber er ließ sie nur einmal über das andere erzählen, wie sie an ihn gedacht und sich nach ihm gesehnt hatte. Allmählich wurde er still wie ein Kind, das einem Wiegengesang lauscht. Es war nur alles so ganz anders, als wie Brita es sich gedacht hatte. Sie hatte sich gedacht, daß, wenn er sie abhole, wenn sie aus dem Gefängnis kam, sie gleich von ihrer Schuld sprechen und ihm sagen würde, wie sehr es sie bedrücke und daß so viel Schlechtes in ihr sei. Sie wollte ihm oder der Mutter, oder wer sonst kam, sagen, sie wisse sehr wohl, wie tief sie unter ihnen allen stünde, sie sollten ja nicht glauben, daß sie sich als zu ihnen gehörig rechne. Aber sie kam gar nicht dazu, ihm von alledem irgend etwas zu sagen.

Er unterbrach sie und sagte ganz ruhig: »Du möchtest mir etwas sagen.« – »Ja, das möchte ich gern.«

– »Du denkst fortwährend daran.« – »Tag und Nacht.«

– »Sag' es jetzt, dann können wir es zu zweien tragen.« Er saß da und sah ihr in die Augen, die einen ängstlichen, verstörten Ausdruck hatten. Sie wurden ruhiger, während sie sprach. »Jetzt ist dir leichter zumute,« sagte er, als sie schwieg. – »Es ist, als sei es weg,« sagte sie. – »Das kommt, weil wir es jetzt zu zweien tragen. Jetzt willst du vielleicht nicht mehr reisen?« – »Ach, ich möchte ja gerne bleiben,« sagte sie und faltete die Hände.

»Dann fahren wir nach Hause,« sagte Ingmar und erhob sich. – »Nein, das wage ich nicht,« sagte Brita. – »Mutter ist nicht so schlimm,« sagte Ingmar, »wenn sie nur sieht, daß man weiß, was man selbst will.« – »Ja, aber ich will dich nie und nimmer vom Hof jagen. Ich sehe keinen anderen Ausweg, als daß ich nach Amerika reise.« – »Ich will dir etwas sagen,« sagte Ingmar und lächelte geheimnisvoll. »Du mußt dich nicht fürchten. Da ist einer, der uns hilft.« – »Wer ist das?« – »Das ist Vater. Er fügt es schon so, daß es geht.«

Da kam jemand den Waldweg gegangen. Es war Kajsa; aber sie erkannten sie kaum, denn sie trug nicht die Tracht mit den Körben. »Guten Tag, guten Tag,« sagte sie, und die Alte ging hin und drückte ihnen die Hand. »Ja, ihr sitzt hier, während alle Knechte auf dem Ingmarshofe auf der Suche nach euch sind.«

»Ihr hattet es so eilig, aus der Kirche zu kommen,« fuhr die Alte fort, »so daß ich euch gar nicht guten Tag sagen konnte; aber ich wollte Brita doch begrüßen, und so ging ich denn nach dem Ingmarshof. Zugleich mit mir kam der Propst, und er ging in die gute Stube, ehe ich noch guten Tag gesagt hatte. Er ruft Mutter Märta gleich zu, bevor er noch die Hand gereicht hat: »Ei, Mutter Märta, ei, Mutter Märta, jetzt sollt Ihr Freude an Ingmar erleben; da kann man doch sehen, daß er vom alten Stamm ist; nun müssen wir anfangen, ihn den großen Ingmar zu nennen.« Mutter Märta sagt ja nie viel; jetzt stand sie da und knüpfte ihr Kopftuch auf und zu. »Was sagte der Propst?« sagte sie endlich. »Er hat Brita heimgeholt,« sagte der Probst, »glaubt mir, Mutter Märta, dafür wird er geehrt werden, solange er lebt.« – »Ach nein, ach nein,« sagte die Alte. »Ich war nahe daran, aus dem Text zu geraten, als ich sie in der Kirche sitzen sah, das war eine bessere Predigt, als ich eine halten kann. Ingmar wird uns allen zum Beispiel werden, so wie sein Vater es war.« – »Das sind große Neuigkeiten, mit denen der Herr Propst kommt,« sagte Mutter Märta. – »Ist er noch nicht zu Hause?« – »Nein, er ist noch nicht gekommen. Aber sie sind vielleicht erst nach Bergskog gefahren.«

»Hat Mutter das gesagt?« rief Ingmar aus. – »Ja, das hat sie gesagt, und während wir auf euch warteten, schickte sie einen Boten nach dem anderen nach euch aus.«

Kajsa redete noch weiter, aber Ingmar hörte nichts mehr, was sie sagte, denn seine Gedanken waren weit weg – – –.

»Dann trete ich in die gute Stube,« dachte er, »wo Vater mit all den alten Ingmarssöhnen sitzt.« – »Guten Tag, großer Ingmar Ingmarsson,« sagt Vater und geht mir entgegen. – »Guten Tag, Vater, schönen Dank für die Hilfe.« – »Ja, nun machst du eine gute Heirat,« sagt Vater, »dann wird alles das andere schon von selbst kommen.« – »Ich wäre nie so weit gekommen, wenn Ihr mir nicht beigestanden hättet,« sage ich. – »Das war keine Kunstt,« sagt Vater. »Wir Ingmars brauchen nichts weiter als Gottes Wege zu gehen.«

Jerusalem

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