Читать книгу Die überraschend seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe - Sergej Gößner - Страница 5
ОглавлениеStadt. Vielleicht Großstadt. Alles grau. Es regnet. Ein junger Mann, obdachlos, verwahrlost, vielleicht verwirrt. Gestrandet und allein. Er baut gerade sein Nachtlager ab. Wir hören eine tiefe Erzählerstimme/Offvoice. Vielleicht die Stimme des jungen Mannes. Robinson kommentiert die Worte der Stimme, tuschelt zwischendurch vor sich hin, äfft sie leise nach. Das Folgende kann sich eventuell überschneiden, nebeneinander herlaufen und parallel stattfinden. Alle Regieanweisungen sind Regievorschläge. Selbstverständlich.
ERZÄHLER
Es war ein Tag wie jeder andere, dachte er. Die Sonne war gerade aufgegangen und brannte über die spiegelnden und türkisschimmernden Meereswogen hinweg. Und wie an jedem bisherigen Tag, den er auf dieser, seiner einsamen Insel verbracht hatte, begann auch der heutige mit einem schier unerträglichen Gefühl.
(Robinsons Magen knurrt.)
Das hatte er zuvor nicht gekannt. Dieses Gefühl. Nicht bevor er hier gelandet war.
ROBINSON
(korrigiert) Gestrandet.
ERZÄHLER
Zuvor, in seiner Heimat, hatte er Appetit oder Lust auf etwas. Vielleicht hatte er ab und an ein Hüngerchen.
ROBINSON
Ja, das kam vor.
ERZÄHLER
Aber Hunger, wirklicher Hunger war ihm, bevor er hier gelandet war, –
ROBINSON
Gestrandet.
ERZÄHLER
– nicht bekannt. – Ja, er musste bald etwas Essbares finden.
ROBINSON
Sehr bald.
ERZÄHLER
Es musste nicht einmal wirklich genießbar sein. Auf Genuss kam es schon lange nicht mehr an.
ROBINSON
Nahrhaft und sättigend. Das reicht.
ERZÄHLER
Wie jeden Morgen baute er gerade sein Nachtlager ab, um es dann, später am Tag, irgendwo anders wiederaufzubauen. Und noch ahnte er nichts von all dem was bald geschehen würde.
(Robinson schaut kurz irritiert auf.)
Er musste sich beeilen.
(Robinson macht weiter.)
Nicht mehr lange und die Sonne würde im Zenit stehen. Und je höher sie steigen würde, desto unerträglicher würde die Hitze werden. Hunger und Hitze, dachte Robinson jetzt, –
ROBINSON/ERZÄHLER
– Hunger und Hitze.
ERZÄHLER
– es gibt nichts Schlimmeres.
ROBINSON
Wenig Schlimmeres. – Kälte. Kälte ist auch schlimm.
ERZÄHLER
Na gut, dachte er jetzt. Hunger und Kälte sind vielleicht dann doch noch etwas schlimmer als Hunger und Hitze.
(Robinsons Magen knurrt erneut.)
Ja, er musste sich beeilen. Er musste etwas Essbares finden. Und weiterziehen. Es wäre zu gefährlich zu lange an einem Ort zu bleiben. Er würde nur unnötig Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
ROBINSON
(lässt etwas fallen, es scheppert laut) Krabbenkacke!
ERZÄHLER
Er musste vorsichtiger sein. Das wusste er.
ROBINSON
Ja, ja, weiß ich. (lässt erneut etwas fallen) Fischfäkalien!
ERZÄHLER
Blutrünstige Kannibalen könnten ihn sonst finden.
ROBINSON
(lässt schon wieder etwas fallen) Piratenpisse!
ERZÄHLER
Mit ihren giftigen Pfeilen –
ROBINSON
Angst hab ich vor denen keine.
ERZÄHLER
– und langen Speeren.
ROBINSON
Ja, na ja. Vielleicht ein klein wenig Angst. – Fressen wollen die mich eigentlich nicht mehr. (wird leiser) Die Kannibalen. Ich konnte ihnen klarmachen, dass ich ungenießbar bin. Unausstehlich und verdorben!
ERZÄHLER
Doch auch wenn sie ihn nicht mehr essen wollten, willkommen war er auf ihrer Insel noch lange nicht.
ROBINSON
„Auf ihrer Insel“. Denken das alles gehört ihnen allein. Lachhaft. – (wieder leiser) Lass mich von denen doch nicht einschüchtern. Oh nein! Ich ziehe einfach weiter, noch bevor sie mich verjagen und beschimpfen können. Ich mache mich unsichtbar! (lässt wieder etwas fallen) Korallenkot und Schildkrötensch –
ERZÄHLER
Abgesehen von den Kannibalen gab es auf der Insel noch andere Bedrohungen.
ROBINSON
Oh nein! Pscht. Nicht die. (hält sich die Ohren zu) Neineinein …
ERZÄHLER
100 Fuß hohe, furchterregende Rotäuger, beispielsweise.
ROBINSON
Schrecklich! So furchtbar schrecklich.
ERZÄHLER
Er selbst war ihnen bisher nie begegnet, –
ROBINSON
Ja, na ja, aber fast. Von weitem.
ERZÄHLER
– jedoch waren sie oft des nachts zu hören. Und ab und an konnte man weit in der Ferne, hoch über den dicht bewachsenen Inselbergen –
ROBINSON
Ihre Augen!
ERZÄHLER
– ihre Augen rot leuchten sehen.
ROBINSON
Ich muss los.
ERZÄHLER
Ja, er musste weiterziehen –
ROBINSON
Unentdeckt! Un –
ERZÄHLER
– unentdeckt, unsichtbar.
ROBINSON
Unsichtbar. Ja, das – genau. Wollt ich auch gerade –
ERZÄHLER
Und so fand er, auf der Suche nach dem nächsten geeigneten Nachtlager, immer wieder neue interessante und nützliche Dinge.
ROBINSON
Hier. Durchsichtige Weichglaskürbisse, beispielsweise. (zeigt viele, viele PET-Flaschen) Überall zu finden. Eine Plage! – wenn sie nicht so schrecklich nützlich wären. Oder, hier, ein Selbstlauscher. (holt einen Eimer hervor) Neulich erst entdeckt. Äußerst selten. Man steckt seinen Kopf hinein – (steckt seinen Kopf hinein, spricht sehr laut weiter) So! – Und dann erzählt man sich etwas. Oder man singt sich was vor. Wenn man das möchte. Oder wenn man es kann. Es lässt sich so natürlich erstaunlich schnell feststellen, ob man es kann. (singt) Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord … Man kann sich natürlich auch einfach – Moment – (öffnet seine Hose) einfach draufsetzen. Wenn Not am Mann ist. Und in aller Ruhe sein Geschäft – (Er möchte sich gerade die Unterhose runterziehen und sich auf den Eimer setzen.)
ERZÄHLER
Allerdings wurde sein Hab und Gut so von Tag zu Tag immer größer und schwerer.
ROBINSON
Alles sehr nützlich
ERZÄHLER
Ja, er war Sammler, –
ROBINSON
Sehr praktisch.
ERZÄHLER
– ganz bestimmt kein Jäger.
ROBINSON
Ich verweigere den Dienst an der Waffe!
ERZÄHLER
Er war Robinson.
ROBINSON
Und bin es noch.
ERZÄHLER
Robinson. So nannte er sich. In seinen Gedanken, oder wenn er Selbstgespräche führte.
ROBINSON
Das ist irrsinnig! Und das hatten wir auch schon. Leidiges Thema. Mit wem soll ich denn sonst sprechen. Ich führe Gespräche. Aber ich bin nun mal mein einziger Gesprächspartner. Ich spreche also nicht zwingend nur mit mir selbst, bin jedoch gezwungen es zu tun.
ERZÄHLER
–
ROBINSON
Da verschlägt‘s ihm glatt die Sprache. (baut sein Lager weiter ab)
ERZÄHLER
Robinson –
(Robinson erschrickt.)
– baute also gerade sein Lager ab, und wie immer, wenn er das tat, hörte er diese Stimme. Eine große, tiefe Erzählerstimme in seinem Kopf, die seine Geschichte erzählte. Die Geschichte des Robinson Crusoe. Des jungen Mannes, der die Welt bereisen, sie erkunden und große Abenteuer erleben wollte. Der jedoch letzten Endes verloren ging, strandete und einsam vor sich hinlebte. Er baute also gerade sein Lager ab, hörte wie immer diese Stimme in seinem Kopf und fragte sich: „Welchen Tag –
ROBINSON
(gleichzeitig) Welchen Tag – darf ich – kann ich mich das selber fragen?
ERZÄHLER
Er baute also gerade sein Lager ab, –
ROBINSON
Danke. (räuspert sich und bereitet sich auf seinen Text vor)
ERZÄHLER
– hörte wie immer diese Stimme in seinem Kopf und fragte sich:
ROBINSON
(theatralisch) Welchen Tag haben wir eigentlich –
ERZÄHLER
Schon lange hatte er das Gespür für den Unterschied zwischen Dinge nur denken und Dinge denken und sie aussprechen verloren.
Eine junge Frau betritt von Robinson unbemerkt die Bühne. Sie ist unterwegs. Sehr wahrscheinlich geschäftlich. Sie hat es eilig. Wirkt gestresst, orientierungslos. Schaut auf ihr Smartphone.
ERZÄHLER
Kurzum: Er wusste nicht mehr, wann er nur dachte –
ROBINSON
– und wann er seine Gedanken aussprach.
ROBINSON/ERZÄHLER
Welchen Tag haben wir eigentlich heute, werter Robinson?
ROBINSON
Fragte er sich also selbst oder die Stimme in seinem Kopf,
ERZÄHLER
– was wohlmöglich ein und dasselbe war, –
JUNGE FRAU
(mit Blick auf ihr Smartphone) Freitag.
ROBINSON
– als er plötzlich aus dem Nichts eine weitere Stimme vernahm.
JUNGE FRAU
(schaut noch immer auf ihr Smartphone) Heute ist Freitag.
ERZÄHLER
Robinson durchfuhr etwas, dass er schon lange nicht mehr gefühlt hatte, –
ROBINSON
– ihn aber verdächtig an Freude erinnerte. Oder Glück.
ERZÄHLER
Ein wahres Glücksgefühl vielleicht.
ROBINSON
Ein Mensch. Ein Mann!
Die junge Frau schaut auf, sucht den Mann.
ERZÄHLER
Bei ihm! Auf seiner Insel!
ROBINSON
Es musste sich um einen Eingeborenen handeln.
JUNGE FRAU
Also, wenn dann bin ich eine EingeborenE. (steckt ihr Smartphone ein)
ERZÄHLER
Seine Gedanken waren wohl noch immer zu hören.
ROBINSON
Oder konnte dieser EingeborenE etwa Gedankenlesen.
JUNGE FRAU
Nein. – Also, ja. Ich kann dich hören, –
ROBINSON
Ein Wunder!
JUNGE FRAU
– weil du sprichst.
ROBINSON
Ein Wunder! Dachte er. Ein Freund, ein Freund auf seiner Insel.
JUNGE FRAU
FreundIN. Wenn überhaupt.
ROBINSON
Und noch dazu kein Kannibale. Offensichtlich. Viel zu gute Sprachkenntnisse. Ein Wunder! – rief er immer wieder – Ein Wunder! Und gerade als er seinen neuen Freund im Übereifer der Freude umarmen wollte – (will die junge Frau umarmen, schafft es aber nicht ganz)