Читать книгу lauwarm - Sergej Gößner - Страница 5
ОглавлениеFurchtbar. Ja, na ja, nicht direkt furchtbar. Aber schon irgendwie schlimm. Oder unangenehm. Ich weiß auch nicht. Ich weiß nicht, wie man das am besten – Ja, unangenehm. Schon unangenehm. So würd ich das am ehesten – Und total toll auch und wunderschön, gleichzeitig. Irgendwas dazwischen ist das. Zwischen schlimm und geil. Ein Dilemma. Ein Dilemma ist das. Ich darf erzählen, von mir was erzählen, und deshalb steh ich hier, und ihr sitzt da, damit ich euch etwas erzählen kann, von mir. Und deshalb steh ich hier und schäme mich und finde es aber auch irgendwie ganz toll, dass ihr alle da seid, um euch etwas anzuhören, das ich euch erzähle. Aber es ist mir auch irgendwie wahnsinnig peinlich und unangenehm, und trotzdem finde ich es auch, währenddessen, richtig geil. Und, dass ich es richtig geil finde, find ich wiederum auch richtig peinlich. Richtig peinlich, dass ich mich hier so abfeiere. – Das passiert alles gleichzeitig, in mir drin, in meinem Kopf. Und dann erzähl ich ja noch was, parallel. Und am Ende macht ihr dann hoffentlich alle so Oh! und Ah! – Am besten schon dazwischen. Also, währenddessen, zwischen jetzt und später. Immer mal zwischendurch Oh! und Ah! Das wär – das wär schon schön. Ja, schwierig. Mir bleibt nur zu beschreiben. Mehr hab ich nicht, oder? Selbst wenn ich jetzt jeden von euch einzeln hier nach vorne bitte, und jeder soll erzählen, wie es ihm oder ihr hiermit geht, also mit dieser Situation hier geht, was eh schon mal an sich schwer genug ist, wird niemand diese Situation hier vorne wie ich empfinden. Alle werden anders fühlen. Manche Innenleben würden sich natürlich ähneln, aber am Ende bleibt uns nur, zuzuhören und zu versuchen, nachzuempfinden wie es, beispielsweise, dir hier vorne erging. Aber wir werden nie erfahren, wie genau es dir erging. Uns bleibt nur unsere Vorstellung, unser Nachempfinden der Beschreibung deiner Gefühle und Gedanken. Uns bleibt nur, dir zuzuhören und dir zu glauben.
Ja, schwierig.
Ein Dilemma ist das. Und ein Zauber. Irgendwas dazwischen. – Dazwischen kann so viel sein. Aber oft ist dazwischen nichts. Oder man tut so, als wäre es nichts. Als gäbe es beispielsweise nur schwarz und weiß. Dabei liegt gerade dazwischen, also zwischen schwarz und weiß, ewig viel Vergangenes, Bedrohliches und Schönes. Festgehalten, gebannt in unendlich vielen Graustufen. Auf alten Fotos. In Museen, an Mahntafeln, in Schubladen. Dazwischen kann so viel sein. Zwischen Venus und Mars passt unsere ganze Welt, plus Erdtrabant. Und wenn zwei sich streiten und ich dazwischenstehe, dann bin ich vielleicht einfach der Dritte und nicht nur dazwischen. Vielleicht ganz unvoreingenommen oder mit einer klaren, eigenen, einer dritten Position. Ich kann mich doch aus dem Dazwischensein befreien und zu etwas werden. Ich kann versuchen, dazwischen zu benennen. Irgendwann ist irgendwer hingegangen und hat gesagt: Das da. Hier, das, das da zwischen Grün und Blau, das nämlich, das ist Türkis. Und alle dann Oh! und Ah! und Ja? – Ja. – Aha, interessant. Und das? – Das? – Ja, das. – Das da? – Ja, das da. – Äh, das ist … ähm … Petrol. – Ach, und das dazwischen? – Hm? – Das dazwischen. – Wo zwischen? – Da-zwischen. Zwischen Türkis und Petrol. – Ach das. – Ja, das. – Ja, das ist … Baliblau. – Ah! Und dann wurde aus dazwischen Türkis und Petrol und Baliblau, Eisblau, Cyanblau und Aquamarin und immer so weiter. Alles war irgendwas dazwischen, bis es dann zu etwas wurde. Zu etwas Eigenem. Und dann war es in der Welt.
22 Uhr 21. Wolken, Regen. Donnern in der Ferne. Ein Sonntag im September. Ein Tag, wie es ihn sicher schon hunderttausendfach gab. Millionenfach seit es Tage gibt, seit diese Kugel unbeirrt ihre Runden um diese andere, leuchtende Kugel dreht. Doch dieser Tag, dieser Sonntag im September, ist ein besonderer, für mich, denn während es draußen langsam zu stürmen beginnt, während es regnet und immer dunkler wird, erblicke ich drinnen das Licht der Welt. An einem Sonntag im September um 22 Uhr 21. Ich bin also ein Sonntagskind. Ich bin 56 cm groß, ich bin 3800 g schwer, ich bin das bereits zweite Kind meiner erst 23 Jahre alten Mutter.
Ich bin eine Zangengeburt. Ich bin Blutgruppe A. Ich bin rotbläulich angelaufen, meine Augen zugeschwollen, mein Haar schwarz und nass. Das bin ich. Ich bin da, ich bin Mensch. Was man mir erst später schrittweise erklären, beibringen wird, Menschsein. Oder was man darunter versteht, in der Gegenwart. Also jetzt, momentan.
Ich wurde also geboren. An einem Sonntag im September und mit Hilfe einer Zange. Und war erst mal. Ich war da, auf der Welt. Was ich zuvor auch schon einige Zeit war, nur eben im Dunkeln. Dazwischen, irgendwo zwischen nichts und Existenz, umhüllt von meiner Mutter. Und weit weg, über mir, schlug dieser riesige Hohlmuskel, ihr Herz. Es hing über mir, war die Sonne meiner ersten Monate. Gab den Takt meines frühen Lebens vor. Es schlägt, es rauscht, pulsiert, um mich herum arbeiten ihre Organe, und es schlägt, rauscht, pulsiert, gluckert und zischt. Ein ausgeklügeltes und bewährtes System. Atmen, essen, verdauen, scheißen.
Und plötzlich bebt alles und bebt und bebt und drückt und pocht, und dann beruhigt es sich wieder und hört auf. Aber irgendetwas passiert. Irgendetwas hat sich verändert. Irgendetwas – Dann bebt es wieder und drückt und knirscht und tut weh und drückt noch mehr – meine Knochen – meine Knochen – alles drückt – ich werde erdrückt – mein Kopf, meine Schultern – ich werde erdrückt! – mein Brustkorb – ICH WERDE ERDRÜCKT! – Und dann hat alles ein Ende, und alles beginnt. Ich friere, zum ersten Mal. Es ist kalt – so kalt! – und es ist so hell. Ich bin geblendet. Etwa zehn Leuchtstoffröhren NARVA LT / 18 Watt. Das Licht der Welt. Zum ersten Mal schießt Luft in meine Lungenflügel – es sticht – fuck – und ich schreie. Weil ich‘s kann, und will. Weil ich nicht anders kann, und schon nicht mehr will. Während es draußen zu hageln beginnt, während ein einsamer Blitz sich seinen Weg über den mittlerweile fast schwarzen Abendhimmel bahnt, singt drinnen ein 56 cm großes und 3800 g schweres Sonntagskind, ein Mensch, sein erstes und nicht letztes Klagelied.
Ich kann mich an all das nicht erinnern. Natürlich nicht. Wer möchte sich daran schon erinnern? Könnte so gewesen sein. Wahrscheinlich war es so, oder so ähnlich. Sehr wahrscheinlich war es noch viel schlimmer. Stellt euch vor, man könnte sich daran erinnern. Stellt euch vor: Das Leben begänne mit einem Trauma. Aber so beginnt es mit der Verdrängung eines Traumas, was natürlich viel mehr Sinn ergibt. – Und ja, hier könnte ich wohl schon wieder aufhören. Weil ich ab dann ja da war. Und bin, was ich bin, und wäre alles andere kein Thema, müsste ich ab hier nicht mehr weitersprechen, es jetzt nicht weiter thematisieren, denn: Der Grund warum ich so anders bin, liegt von Natur aus in mir drin. Oder? Keine Ahnung.
Ich war also da. Und vor mir meine Eltern, und die hatten Sex. Und deren Eltern hatten Sex. Und deren Eltern hatten Sex, und deren Eltern hatten auch welchen, also Sex. Und immer so weiter. Jede Menge Menschen, die Sex hatten. Manche Eltern vielleicht nur einmal, miteinander, oder generell. Andere … öfter. Das ist eine Wahrheit, mit der man leben muss. Eltern hatten Sex. Meistens. Es gibt künstliche Befruchtung, Samenspende, aber die allermeisten Eltern hatten Sex. Also meistens zumindest einmal. Manche Eltern haben noch immer Sex, andere sind geschieden. Manche Eltern sind geschieden und haben trotzdem noch Sex, miteinander. Andere sind verheiratet und haben keinen Sex, miteinander. Manche Eltern waren nie verheiratet oder überhaupt nie ein Paar und hatten und haben Sex. Manche Eltern waren ein One-Night-Stand. Eltern – hatten – Sex! Das haben wir alle gemeinsam. Also abgesehen davon, dass wir alle geboren wurden und Menschen sind, hatten unsere Eltern Sex. Nicht miteinander, unsere Eltern – sehr wahrscheinlich nicht miteinander – unsere Eltern hatten getrennt Sex. Das haben wir doch schon mal alle gemeinsam. Gerade erst geboren und schon so viel gemeinsam! Meine Eltern waren immerhin jung, als sie welchen hatten. Als sie Sex hatten und mich gemacht haben. Was die Sache durchaus erträglicher macht. – Nee, eigentlich nicht. – Zwei junge Menschen haben ihr Erbgut zusammengeschmissen … und dann bin ich passiert, entstanden, und meine Brüder. Vier Söhne haben meine Eltern gezeugt. Das heißt: Mindestens viermal Sex, vier Söhne, vier zukünftige Männer. Apropos Männer:
Ringen, im englischen Wrestling, im französischen lutte und im koreanischen 씨름을하다 (gespr.: ssileum-eulhada) ist ein Kampf- und Kraftsport mit Ganzkörpereinsatz ohne weitere Hilfsmittel. Unter Anwendung von bestimmten Griffen und Schwüngen nach genau festgelegten Regeln ist es das Ziel, den Gegner mit beiden Schultern auf den Boden zu drücken oder ihn nach Punkten zu schlagen. Ringen gilt als die älteste Sportart der Welt. Malereien, welche ringende Männer darstellen, wurden in unzähligen Höhlen entdeckt – weltweit. In Libyen – 6000 v. Chr., in der Mongolei – 7000 v. Chr., in Frankreich – 13.500 v. Chr.
Mein Vater war Ringer. Olympiateilnehmer, Vizeweltmeister, mehrfacher deutscher Meister. Mein Großvater war Ringer, mein Onkel war Ringer, und meine Brüder haben gerungen. Ständig. Es ging um die Fernbedienung, die letzte Milchschnitte, um Aufmerksamkeit. Meistens aber ging es um nichts oder den Spaß, den man daran hat. Ich hatte keinen. Ich fand’s lästig, dass alle einen ständig rumwerfen, schultern oder hochheben wollten. Armzug, Kopf-Hüftschwung, Beinschraube. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, dass ich jemals Spaß beim Ringen mit meinen Brüdern hatte. Ich möchte nicht lügen, vielleicht hatte ich Spaß, irgendwann mal, aber ich kann mich wirklich nicht erinnern. Ich war gerne dabei. Als Kind war ich gerne dabei. In der Halle, bei einem Mannschaftskampf oder Turnier. So viele Menschen, die rumstehen und sich unterhalten. Massen von schrecklich lauten Riesen. Ständig werde ich übersehen, angerempelt und umgeschubst. Immerhin, ich darf mich frei bewegen, darf zwischen den Kämpfen mit den anderen Kindern auf der Ringermatte rumturnen. Und wenn ich Lust auf ein Schnitzelbrötchen oder eine Fanta hab, bestell ich mir das einfach im Vereinsheim und lass anschreiben. Das geht nur, weil ich einer der Söhne meines Vaters bin. Alle hier kennen meinen Vater. Klar, mir ist auch langweilig, zwischendurch, und eigentlich ist mir das alles zu viel. Auf der Matte rumtollen möchte ich gar nicht. Denn auch hier wollen alle ständig ringen. Armzug, Kopf-Hüftschwung, Beinschraube. Und alle Erwachsenen sehen mich nicht, rempeln mich an und schubsen mich um. Aber diese ganzen Strapazen lohnen sich für diesen einen Moment, ganz zu Beginn der Veranstaltung, wenn es dann endlich losgeht, alle fertig sind mit Smalltalk, Tratschen und diesem erwachsenen Zeug. Die letzten Zuschauer betreten die Halle und nehmen ihre Plätze ein, das Licht erlischt, alles wird noch ein allerletztes Mal still. Und dann: Musik! Unfassbar laut. Eye of the Tiger von Survivor. – Herzklopfen. Ganzkörpergänsehaut. Am Ende der Finsternis, weit hinten, am anderen Ende der Halle öffnet sich eine Tür – Licht! – Eye of the Tiger und buntes Licht! – die Ringer treten auf. Applaus, Jubel, komplette Extase. Ein Ringkämpfer nach dem anderen betritt die Halle und läuft an den Mattenrand, wo sie sich nach und nach nebeneinander aufstellen. Bei dem ein oder anderen wird das Publikum noch lauter, als es ohnehin schon ist. Man kann erhören welcher Kämpfer wie beliebt ist. Und dann betritt endlich mein Vater die Halle. Und bei ihm, bei meinem Papa – MEINEM PAPA – rasten alle erst so richtig aus und singen seinen Namen im Chor! Alle kennen seinen Namen! Und rufen ihn! Meinen Papa! Papa! Also seinen Vornamen. Der für mich wahnsinnig fremd klingt, aber ich weiß, dass mein Papa so heißt und alle natürlich genau ihn meinen! Ich sitze unten vor der Zuschauertribüne, nah an der Matte, wo immer alle Kinder auf dem Boden sitzen, und ich bin so – ich weiß nicht – stolz? Aufgeregt. In jedem Fall aufgeregt. Und ich spreche leise vor mich hin und feuere ihn an. „Papa, Papa, Papa.“ Am liebsten würde ich ihn rufen, wie die Anderen, und zu ihm rennen, mich von ihm auf seine Schultern setzen lassen und gemeinsam mit ihm bejubelt werden. Aber das kann ich nicht. Ich trau mich nicht. Für mich ist er eh toll, und das weiß er auch. Er sollte das wissen. Für einige hier ist er ein Idol, ein Star, ein Held! Für mich ist er mein Papa. Das ist so schon spektakulär genug. Ganz ohne Sporthalle, Schnitzelbrötchen, buntes Licht und Eye of the Tiger.