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1. Säkulare und nicht-säkulare Gesellschaften

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Abtreibung ist selbstverständlich kein Mord, jedenfalls nicht in den säkularen westlichen Industriestaaten. In diesen Ländern regeln Gesetze, was strafrechtlich relevant ist und geahndet werden muss. Mord als juristischer Begriff muss auch durch das Gesetz definiert werden. Im deutschen Strafrecht ist dabei insbesondere der »niedere Beweggrund«, also die Tötung eines Menschen aus egoistischen Motiven wie Habgier, Eifersucht oder Rache, maßgeblich. Dieses Motiv scheidet in der Regel bei Schwangeren, die ihr Kind nicht zur Welt bringen möchten, aus. Allerdings ist klar, dass in anderen Ländern nicht nur andere Sitten und Gebräuche, sondern auch andere Rechtsauffassungen herrschen als in einem westlichen Land wie Deutschland. Jeder, der sich mit dieser Fragestellung befasst, sollte sich daher in erster Linie von universellen Prinzipien und Überzeugungen leiten lassen. In einer säkularen, aufgeklärten Gesellschaft wie der deutschen spielen etwa religiös fundierte oder motivierte Grundsätze kaum noch eine Rolle. Einzig die katholische Kirche vertritt in Deutschland noch einen konservativen Standpunkt zum Thema Abtreibung, jedoch nicht unumschränkt. Viele Pfarrer und Bischöfe haben sich liberaleren Ansichten angenähert, da viele in der Zeit der marxistischen Studentenproteste in den sechziger und siebziger Jahren selbst Studenten waren und viele von dem damals um sich greifenden Geist des Umsturzes tradierter Werte und Normen wie Treue, Einehe, Familie, Privateigentum und religiöse Sinnstiftung ergriffen wurden. Karl Marx war zwar Jude, aber er glaubte nicht an den Gott der Thora. Für ihn war der Glaube an ein jenseitiges Leben, die Hoffnung auf Eingang des Menschen in das göttliche Paradies nach dem Tod, ein Grund, sich trösten zu lassen, wenn man ein Leben in Armut und Elend führen musste, und dieses Schicksal willig zu erdulden. Marx sagte sinngemäß: Wer daran glaubt, wird schläfrig, als hätte er Opium genommen, und kann nicht entschlossen genug für die Veränderung ungerechter gesell­schaftlicher Verhältnisse kämpfen. Er ist ein schlechter Revolutionär. Die marxistische Revolution brauchte Menschen, die alles allein in dieser Welt zu gewinnen hofften, weil es für ihre Anhänger keine andere Welt gab. Deshalb ist ein überzeugter Marxist, Kommunist oder Sozialist immer auch ein Atheist, ein Mensch, der an keinen Gott und kein Jenseits glaubt. Für Einwanderer aus Ländern, in denen der Islam Kultur und Denken bestimmt und für die deshalb das islamische Selbst­verständnis die Grundlage aller wichtigen Entscheidungen bildet, ist dieser säkulare Geist oft schwer nachvollziehbar, da sie mit einer festen religiösen Tradition und Identität aufgewachsen sind, die klare Regeln in vielen Fragen der Ethik und Moral vorgibt, Regeln, die wegen der Autorität der Lehre nicht in Frage gestellt werden können. Doch auch Christen, für die der Glaube an Gott so stark und bedeutend ist, dass er in die konkrete Lebens­gestaltung eingreift, können sich niemals nur von Meinungen leiten lassen, die rein irdischer Herkunft sind, also stets nur dem Diktat der reinen Vernunft, von der Immanuel Kant sprach, folgen. Für sie ist diese Vernunft die Gabe Gottes an den Menschen und daher nur so einzusetzen, dass die göttliche Autorität nicht in Frage gestellt wird. Sowohl Christen als auch Muslime kennen die Geschichte von Adam und Eva: Es ist die Geschichte der Emanzipation von Gott. Selbst Erkenntnis haben, unabhängig von Gott, das ist die Verheißung Satans, als er in Gestalt der Schlange im 1. Buch Mose (Musa), das auch Genesis heißt, den Genuss der verbotenen Frucht empfahl. Die biblische Geschichte, die älter ist als der Koran, hat auch in das heilige Buch der Muslime Eingang gefunden und wird an verschiedenen Stellen nacherzählt (vgl. Sure 7,19-20; 20,117-121). Als Geschäftsreisender hat der Prophet des Islam selbst­verständlich die im Orient vorherrschenden religiösen Lehren und Traditionen seiner Zeit kennen gelernt, nicht nur Geschäfte mit Juden und Christen gemacht, sondern auch Gespräche mit ihnen geführt. Zahlreich sind deshalb die Verweise auf »Tawrat«, die jüdische Thora (Torah), und »Injil«, das christliche Evangelium, im Koran. Doch sind das die Traditionen und Glaubenslehren, die heute für die westlichen Industrie­nationen maßgeblich sind? Viele Muslime betrachten diese Länder als dekadent und sittlich verfallen. Vor allem die zügellose Zur-Schau-Stellung erotischer Motive und die sexuelle Freizügigkeit verstören sie. Drogen- und Alkohol­missbrauch sind ein virulentes Problem. Was ist der Grund für diese Sittenlosigkeit? Ist es der christliche Glaube? Lehren Evangelium (Injil) und Thora (Tawrat) solches Verhalten? Danach wird man in der Bibel vergeblich suchen. Die Antwort liegt einmal mehr in den Verheerungen der marxistischen Revolution, die als Studenten­bewegung ab 1968 auch in den westlichen Gesellschaften breite Massen­wirkung entfaltete. Es ist diese Bewegung, die

 die so genannte »freie Liebe« ohne gesetzliche Bindung an einen Partner und den sexuellen Verkehr mit mehreren Partnern parallel und im selben Raum (in so genannten Kommunen, die den Kommunismus konstituieren) propagierte,

 die sogar Kinder frühzeitig mit Sexualität konfrontieren wollte (der Ursprung der vielen Kinder­schändungs-Skandale in den letzten Jahren, in deren Zuge auch die GRÜNEN-Politiker Volker Beck und Daniel Cohn-Bendit in Misskredit gerieten),

 abwegige Formen der Sexualität und andere als die zwischen einem Mann und einer Frau für zulässig erklärte,

 die Frauenrechte stärken wollte (Feminismus), was auch das Recht auf eine selbst bestimmte Sexualität und folglich auf legale, durch die Krankenkasse zu deckende Schwangerschafts­abbrüche einschloss,

 die Drogenkonsum befürwortete und den Rauschzustand als Erweiterung der Wahr­nehmung feierte,

 die Krieg als Mittel der Verteidigung der eigenen Kultur und Heimat ablehnte und somit in vielen orientalischen Ländern auch als weichlich und unmännlich wahrgenommen wird,

 den Glauben an einen Gott in der Tradition von Marx als überholt und als Einschränkung der individuellen Freiheit zurückwies.

Die eigene Kultur und Heimat war für diese Bewegung unwichtig, weil der Kommunismus sich als weltumspannende, supranationale Bewegung verstand. Marx sagte: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« und die von ihm herbeigesehnte kommunistische Endge­sellschaft sollte keine Nationen­grenzen mehr kennen, sondern eine Art irdisches Universal­paradies sein, ein Paradies ohne Gott, vom Menschen allein kraft seiner Vernunft geschaffen. Auch die Ablehnung so genannter bürgerlicher (»bourgeoiser«) Normen, Konventionen und Institutionen wie Ehe, Familie oder Kirche geht auf Marx zurück, dem nach dem Untergang der Bourgeoisie eine völlig neue Art von Zivilisation vorschwebte, ein klassenloses Utopia, das die Arbeiter­klasse als Endpunkt der Geschichte der Klassen­kämpfe herbeiführen sollte. Der an sein Endziel gebrachte Kommunismus war für ihn »das aufgelöste Rätsel der Geschichte«.

Natürlich sind in den westlichen Gesellschaften nicht alle Menschen überzeugte Marxisten. Die meisten marxistisch geführten Staaten sind gescheitert und ihre großen Führer Stalin, Mao Zedong, Pol Pot und Kim Il Sung sind als skrupellose Völker­mörder in die Geschichte eingegangen. Doch obwohl das Gesellschafts­system des Marxismus in den drei Jahrzehnten nach 1968 überall dort gescheitert ist, wo es einer Volks­gemeinschaft im Rahmen eines umfassenden soziologischen Experiments (in der Regel mit etlichen Todesopfern) staatlich verordnet wurde, haben sein geistiges Fundament, sein Atheismus und seine Vernunft­gläubigkeit, und deren sittliche Folgeerscheinungen überlebt. Wer daran glaubt, dass Gott den Menschen vor dem Hochmut warnen wollte, den es bedeuten könnte, allein im Vertrauen auf den menschlichen Verstand stets zu richtigen Entscheidungen zu gelangen, für den ist die Entwicklung der westlichen Länder nach 1968 eine Illustration der Geschichte aus der Genesis, in der die Schlange den Menschen verspricht: »Ihr werdet sein wie Gott und selbst erkennen können, was gut und was böse ist, was euch nützt und was euch schadet.« Die Schlange wird in der christlichen Exegese als Verkörperung Satans verstanden. Im Koran, wo die Geschichte in ihren wesentlichen Zügen ebenfalls vorkommt (Sure 2,35-36) und der Satan mit der Verheißung ewigen Lebens (Sure 7,20) lockt, ist das Ergebnis der teuflischen Verführungs­kunst dasselbe: Das Paradies hat der Mensch durch seinen Frevel, den Worten der Schlange Folge zu leisten und Gott nicht gehorsam zu sein, nicht gewonnen, sondern verloren. Da dort der »Baum des Lebens« (Genesis 3,22) bzw. der »Baum der Unsterblichkeit« (Sure 20,120) steht, ist sein Leben nun zerbrechlich und zerstörbar geworden und er dem Tode geweiht, abgeschnitten von jenem ewigen Lebensstrom, den es nur im Paradies geben kann.

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