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1 Der Mythos des Sozialen

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Vor beinahe schon fünfzehn Jahren beleuchtete Walter Wüllenweber in einem Aufsatz in der Berliner Zei­tung folgenden zunächst etwas befremdlich anmutenden Sachverhalt: Das Sozial-Logo biete die perfekte Tarnung für eine Hilfeindustrie, die den Hilfsbedürftigen nicht nur nichts nützt, sondern ihren Interessen eher schadet. Das gilt nicht nur für die karitative Tätigkeit von Mutter Teresa, von deren Einnahmen (100 Millionen jährlich) angeblich 90 % nach Rom überwie­sen wurden, sondern auch für die ertragsreichen Hilfeindustrien in Deutschland, die an der Beseitigung der eigentlichen Übel oder Mißstände in Wirklichkeit wenig Interesse ha­ben, weil sie damit ihre Existenzberechtigung in Frage stellen würden. Zwei Beispiele wurden ge­nannt: das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“ (AGAG) und die „Arbeitsbe­schaffungsmaßnahmen“ (ABM), insbesondere in Ostdeutschland. Es zeigte sich, daß diese „sozialen Aktionen“ kontraproduktive Auswirkungen für die zu erreichenden Ziele ver­zeichneten. [1]

Wie ist es aber möglich, daß humanitäre oder soziale Hilfeleistungen den Hilfsbedürftigen eher schaden als helfen? Handelt es sich um Mißbrauch oder um strukturell bedingte Systemfeh­ler, die dazu führen, daß immer mehr Armut entsteht, je mehr Armutsbekämpfung betrieben, daß trotz großer Bemühungen, Arbeitsplätze zu schaffen, die Arbeitslosigkeit wei­ter wächst, und daß bei stetig steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen Teile der Bevölke­rung schlechter versorgt sind? Viele Menschen spenden oder engagieren sich ehrenamtlich, für Entwicklungshilfe, für die Bekämpfung von Armut und Krankheiten und sonstige hu­manitäre Ziele (in der letzten Zeit insbesondere für Flüchtlinge) oder auch für diverse Natur- und Umweltschutzprojekte in der Annahme, ihre Hilfeleistun­gen seien sinnvoll. Auch die Bereitschaft, Wohlstand zu teilen, und der Stolz auf den Sozialstaat, der allen ein menschenwürdiges Leben und Teilhabe am gesellschaftlichen Fort­schritt ermöglichen sollte, blieben lange Zeit unangefochten. Was ist geschehen, daß das angeblich „Soziale“ asoziale Konsequenzen zeitigt, während Hilfeleistungen Mißstände nicht beseitigen, sondern nur die wachsende Hilfeindustrie fördern, die von den Mißständen lebt? War dem immer schon so oder entstanden diese Schieflagen erst durch gesellschaftliche Fehlent­wicklungen?

Das Konzept einer Ordnung, die später als die „soziale Marktwirtschaft“ bezeich­net wurde, wie es von den Vertretern des ursprünglichen deutschen Neoliberalismus, des sogenannten Ordo-Liberalismus, vor allem von Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, in der Nachkriegszeit formulierten wurde, ging von der Vorstellung der freien Marktwirtschaft, der Wettbewerbsordnung als der effizientesten und gerechtesten Wirtschaftsordnung aus, de­ren Schutz vor privatwirtschaftlicher Vermachtung dem Staat aufgetragen wurde. [2] Dieser An­satz sollte nicht mit dem heutigen konzeptlosen „Neoliberalismus“ verwechselt werden, der im Gegenteil die immer größere Machtkonzentration durch globale Weltwirtschaftskonzerne und die gängige Praxis des rücksichtslosen Aufkaufens anderer Unternehmen, einschließlich „feindlicher Übernahmen“, Monopolisierung, Kartellbildung und Beseitigung von Konkur­renz eher mit sozialdarwinistisch anmutenden Schlagworten über die Durchsetzung des Tüchtigeren als quasi Naturgesetz zu rechtfertigen sucht. Die „soziale Markwirtschaft“ sollte auch keinen „dritten Weg“ im Sinne eines Kompromisses zwischen der als ineffizient erkann­ten Planwirtschaft und dem „ungebändigten Kapitalismus“ [3] einschlagen, sondern eine Syn­these von echter Marktordnung und Wohlstand der ganzen Bevölkerung schaffen, deren be­nachteiligte Teile erst bei seiner Verteilung mitberücksichtigt werden sollten. Somit war die Auf­gabe des Staates zunächst die Sorge für Rahmenbedingungen der Marktordnung und Beach­tung von fairen Spielregeln, damit es auf dem Markt zu keiner „Vermachtung“ kommt, danach die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens und gleicher Chancen für alle.

Dieses Konzept wurde aber vorschnell als Festlegung von Zielen durch staatliche Eingriffe in das Spiel der Wirtschaft mißverstanden, infolge dessen in das Marktsystem immer mehr dirigisti­sche und marktfremde Bestandteile hineingetragen wurden, die dessen Funktionsfähig­keit beinträchtigen. Es beruhte auf einem Denkfehler: Der Zweck der Wirt­schaft, nämlich die an sich moralisch neutrale Gewinn- bzw. Nutzenmaximierung, die erst im Zusammenspiel des Marktes moralisch zu bewertende Ergebnisse (Arbeitsplätze, allgemeinen Wohlstand) als Nebenfolgen hervorbringt, wurde mit diesen Nebenfolgen selbst verwechselt. Man könnte diese Denkweise etwa durch die Vorstellung veranschaulichen, als würde man bei einem Fußballspiel nicht für das faire Spielen sorgen, sondern den Gewinner im voraus bestim­men und durch Eingriffe ins Spiel oder Modifizierung der Regeln das Ergebnis garantie­ren wollen. Diese Auffassung erinnert an archaische ökonomische Vorstellungen der Kirchenväter, die durch die Einführung von Moralgesetzen in die Rahmenbedingungen des Mark­tes, das Festlegen von gerechten Preisen oder Löhnen, die Marktwirtschaft ihrer Effi­zienz beraubten. Das Ergebnis dieses Moralismus ist keine moralische Wirtschaft, sondern eine Verschwendung von Mitteln und Chancen, die dadurch gerade den Ärmsten vorenthalten wer­den. [4]

Ludwig Erhard, dessen hauptsächliches Verdienst es war, die Marktwirtschaft in der Bundesre­publik auch gegen die anfängliche Skepsis der Alliierten durchgesetzt zu haben, hatte vor dieser Entwicklung gewarnt: „Die Marktwirtschaft und die menschliche Freiheit und Frei­zügigkeit müssen Schaden leiden und am Ende verlorenge­hen, wenn etwa um des Phan­toms des Wachstums willen die in­nere und äußere Stabilität unserer Wirtschaft nur noch durch immer weiter greifende Eingriffe des Staates in das wirt­schaftliche Gefüge rein äußer­lich in einem technologischen Sinn gewährleistet erscheinen, während der Wissende sehr wohl erkennt, daß diese notwendig immer weiter um sich greifende ‚Plan’-Wirtschaft mit dem Ge­danken einer freiheitlichen Le­bensordnung nicht mehr vereinbar ist.“ [5]

Das Problematische an dieser Entwicklung waren nicht die guten Absichten der sozialen Refor­mer, sondern die Art und Weise, wie man diese zu verwirklichen suchte, nämlich durch direkte Eingriffe in die wirtschaftlichen Abläufe, beispielsweise durch Festsetzung von Min­dest- oder Höchstpreisen, die zu Deformationen des jeweiligen Marktes führen, diverse Nebenfol­gen bewirken und der gewünschten Vorstellung eher zuwiderlaufen. So führte etwa die Festsetzung von Höchstpreisen [6] für Mieten in Altbauwohnungen keineswegs zur Siche­rung von preiswerten Wohnungen für „sozial Schwache“, d.h. Menschen mit niedrigem Einkom­men, sondern zu einem desintegrierten Wohnungsmarkt. Es kam zur überdimensiona­len Steigerung der Mieten in den Neubauwoh­nungen, von den Vermietern beabsichtigtem Ver­fall von alten Häusern, leerstehenden Wohnungen und dem dadurch geschaffenen Pro­blem der Hausbesetzer, verbunden mit unerwünschten gesellschaftlichen Nebenfolgen (wie ständi­gem Wohnungsmangel, Schaffung von anderen nichtwirt­schaftlichen Auslesekriterien sei­tens der Vermieter, Protek­tion, Beste­chungen, schwarzem Markt, hohen Abständen und Kau­tio­nen, stei­genden Zahlen von Obdachlosen trotz bereits ge­stiegener Mieten usw.). Langfri­stig ist auch die Nachfrage, wie vor langer Zeit von den Wirtschaftswissenschaftlern vorausge­sehen, und da­mit auch die Überschußnachfrage gestiegen. Hätte man von Anfang an keine Höchstpreise garantiert, wäre wahrscheinlich auch das Ange­bot langfristig elastischer, die Mieten viel­leicht insgesamt etwas höher, das Wohnungsangebot jedoch ausrei­chend. Die unzähligen Regelun­gen zugunsten einmal der Mieter (Kündigungsschutz auch bei Nichtzahlern), ein andermal der Vermieter (Eigenbedarf als Kündigungsvorwand) mit dem gesam­ten überwucherten Mietrecht, machten die Lage nicht besser.

Heute wird den Vermietern gestat­tet, die Miethöhe an den jeweiligen Mietspiegel des Bezirks anzupassen oder höhere Mie­ten durch durchgeführte „Modernisierungsmaßnahmen“ (insbesondere zur vermeintlichen Erhöhung der „Energieeffizienz“) [7] zu fordern, was oft zu ungerechtfertig­ten legalen Mieterhöhungen führt. Im Unterschied zu früher stellt nicht mehr Woh­nungsmangel (viele Wohnungen vor allem in den Plattenbaubezirken im Osten standen lange Zeit leer), sondern vor allem überhöhte Mieten, [8] die einen Großteil der fixen Lebenshaltungskosten ausma­chen, das Hauptproblem dar. Vielerorts kommt es zu sog. „Gentrifizierung“ (Luxusmodernisierungen und Verdrängung ursprünglicher Einwohner aufgrund überhöhter Mieten), die man in der letzten Zeit durch verschiedene Regelungen, wie z.B. die Mietpreisbremse [9] wieder einzudämmen versucht. [10] Die Regelungen sind umstritten und werden den erwünschten Effekt auch kaum haben, ebensowenig wie schon zuvor der Mietspiegel.

Ebenso erzielte der jahrzehntelang betriebene verschwenderische „soziale Wohnungsbau“ nur eine Reihe weiterer Deformationen auf dem Wohnungsmarkt. Die staatliche Nachfrage rich­tete sich nicht nach Marktkrite­rien, sondern man beauftragte bestimmte Baufirmen, die Gewinnbe­teiligung proportional zu den aufgewen­deten Ko­sten er­hielten. Durch diesen völlig unwirtschaftlichen Ansatz, an dem nur die beauftragten Firmen gut verdienten, verbunden mit un­sinnig eng festgesetz­ten Wohnkriterien und überflüssigen Standardvorschriften, fiel die Kosten­rechnung entspre­chend hoch aus, wodurch der Bau von sozialen Wohnungen sogar noch teurer als der frei finanzier­ten wurde. Mit dieser Praxis wurde also nicht Sparsamkeit und Wettbewerb, sondern Verschwendung und „Abzocke“ der Bauherren auf Kosten der Steuer­zahler belohnt. [11] Später wurden die ursprünglichen „Sozialbauwohnungen“ in vielen Städ­ten an private Investoren verkauft, was oft zu drastischen Mietsteigerungen führte. Das mißlun­gene Projekt war damit beendet. [12] Di­rekte Mietzuschüsse für Menschen mit geringem Einkom­men (das sog. Wohngeld) wären dage­gen billiger und ohne Nebenfolgen gewesen. [13]

Die Politik der Eingriffe in Wirtschaftsabläufe betrafen selbstverständlich nicht nur den Woh­nungsmarkt. Ansätze zu einer Wirtschaftslenkung in den siebziger Jahren waren bereits deut­lich zu erkennen, wurden jedoch auf­grund des linken Zeitgeistes nur von Wenigen als mögli­che Gefahren für die ganze Ordnung erkannt. So stellte Franz Böhm in einem polemi­schen Aufsatz von 1973 fest, daß wirtschaftliche Interventionen, welche die einzig wirksame Konkurrenz ausschalten, über ihre Ineffizienz hinaus auch sehr unerwünschte politische Ef­fekte besitzen. [14] „Kurz, der politische Effekt von Interventionen ist, daß auf die Wirtschaften­den ein starker Anreiz ausgeübt wird, sich zum Behuf der Erlangung oder Beibehaltung von Inter­ventionen politisch zu organisieren. Anstatt ihr partikulares Privatinteresse – wie es im Sinn der marktwirtschaftlicher Ordnung liegt – durch Marktreaktionen (Verbesserung der eige­nen Leistungskraft) wahrzunehmen, bedienen sich die Wirtschaftenden immer häufiger und nachhaltiger ihres Wahlrechts, der Presse, ihres Demonstrationsrechts, des Streiks.“ [15]

Das war bestimmt nicht dasjenige, was die deutschen Neoliberalen in der Nachkriegs­zeit unter dem Schutz der Wettbewerbsordnung gemeint haben. Schließlich sprach selbst der größte Protagonist der „sozialen Marktwirtschaft“ aus dem Kreis des eher liberal-konser­vativen Ordo-Liberalismus, Alfred Müller-Ar­mack, vom Abrücken in sozialistische und dirigistische Vorstellungen. [16] Seine Warnung vor dem, was er „Demokratisierung“ nannte, d.h. einer Verwandlung der „sozialen Marktwirtschaft“ in „puren Pragmatismus“ oder ei­ne „Politik des Stimmenfangs“, [17] wies auf Gefahren hin, die das rationalistisch-technokrati­sche Mißverständnis bereits von Anfang an in sich barg: „Diese stetig gegen den marktwirtschaftli­chen Prozeß ge­richteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen und zusätzlichen Be­lastungen der Wirtschaft haben als besonderes Charakteri­stikum die scheinbare Unmerklich­keit dieses Prozesses. (...) Jeder dieser einzelnen Schritte (...) mag ein Stück Vernünftig­keit enthalten, die Summe der kleinen Schritte bedeutet je­doch eine zunehmende Bela­stung der Wirtschaft, eine immer größere Verstrickung der Staatsfinanzen in ein Netz dirigi­sti­scher Politik, das am Ende praktisch auf einen Systemwech­sel hinausläuft, zumindest in eine Ordnungsform, die auch po­litisch nicht mehr regulierbar und steuerbar ist.“ [18]

Schärfster Kritik unterzog vor allem Friedrich August von Hayek den Sozialstaat und das mit seiner Entwicklung zusammenhängende Postulat „sozialer Gerechtigkeit“, dem die spon­tane Ordnung der freien Marktwirtschaft und Gesellschaft geopfert wird. „Vieles, was heutzu­tage im Namen der ‚sozialen Gerechtigkeit’ getan wird, ist deshalb nicht nur ungerecht, son­dern auch höchst unsozial im wahren Sinne des Wortes: es läuft schlicht auf den Schutz solide be­fe­stigter Interessen hinaus.“ [19] Mit dieser Feststellung, an der natürlich linke Programmatik Anstoß nahm, war Hayek und ähnlich gesinnte liberale Denker nicht allein. Der Wohlfahrts­staat mit seiner Leitvorstellung, der „sozialen Markt­wirtschaft“, einer ­wachsenden Büro­kratisie­rung und einem ständig dichteren Netzwerk interven­tionistischer Regeln hat sich, trotz sei­ner frei­heitlich-humanen Ideologie, zu einem vom Gesichtspunkt der Selbstregulierung ex­trem un­natürlichen System entwickelt, wie von vielen Kritikern seit Anfang der 80er Jahre im­mer wieder festgestellt wurde. [20] Seitdem war von einer „Krise des Sozialstaats“ die Rede.

Kurt Biedenkopf sprach 1985 im Zusammenhang mit seiner Kritik des Sozialstaats von ei­ner „Verstaatlichung der Verteilungs­konflikte“ [21] und verglich diesen allmählichen Prozeß mit dem Erscheinungsbild einer Krankheit: „Die Widersprüche, die daraus erwachsen, setzen sich durch das ganze System der mit­einander verbundenen (vernetzten) Teilbe­reiche fort und tre­ten – ähnlich wie es bei einer seelischen Krankheit der Fall sein kann – an Stel­len des Kör­pers der Ge­samtwirtschaft als Krankheitssymptome auf, an denen sie kei­ner erwartet hat.“ Die Sym­ptome führen nach Ansicht des CDU-Politikers nicht zu ei­nem Abbau des Wider­spruchs, sondern zu neuen Maßnahmen, die allein auf das Symptom zie­len. „Das Symptom wird als Ursa­che gesehen. Seine ‚Behandlung’ erzeugt neue Widersprüche – und so weiter.“ [22]

Einige Jahre später faßte Wernhard Möschel in einem Aufsatz alle Systemfehler des ausufern­den Sozialstaats zusammen: Das Wort „sozial“ werde inflationär gebraucht, die Sozialpoli­tik sei aus der ursprünglichen Hilfe für Bedürftige zum bewußt eingesetzten Lenkungs­mittel und der Sozialstaat zum „sozialen Obrigkeitsstaat“, ja einem „sozialen Überforde­rungsstaat“ geworden. Die praktizierte Sozialpolitik sei unmäßig und kontra­produktiv, und zwar in Bereichen wie dem Versicherungswesen, dem Agragsektor, dem so­zialen Wohnungsbau, aber auch im Gesundheitswesen, beim Ladenschlußgesetz wie bei der Vermögungsbildungsförderung. Sie berücksichtigt nach Möschels Ansicht keine ökonomi­sche Verhältnismäßigkeit und wälzt Nebenwirkungen und Kosten auf Dritte ab. Der Größenmaß­stab des Anteils sozialer Leistungen am Bruttosozialprodukt, der Belastung der Ein­kommen und der Kostenexplosion vor allem in der Rentenfinanzierung und im Gesundheitswe­sen schien ihm schon damals an seine Grenze gekommen zu sein. Überdies hielt er das soziale Anliegen auch vom moralischen Gesichtspunkt für zweifelhaft, da es mit dem Schutz bestimmter Gruppen (der Arbeitnehmer) zugleich die Chancen anderer (der Arbeitslo­sen) versperre. [23]

Um all diese verschwenderische und kontraproduktive Politik zu rechtfertigen, wurde die ge­samte hergebrachte sozialethische Terminologie auf den Kopf gestellt, Begriffe wie Frei­heit, Solidarität, Menschenwürde u.a. umgedeutet, der Sozialstaat zu einem fast religiösen Be­griff verklärt, stellte Gerd Habermann in einem Aufsatz von 1996 fest, in dem er für die Entmy­thologisierung des Sozialen sowie die Rückgabe sozialer Verantwortung an die Bürger plädierte. Der wohlfahrtsstaatliche Leviathan mit seinem Ideal des „Lebens aus einem Topf“, also einer großen Solidarhaftung aller für alle und ständiger Ausweitung sozialer Zwangsversiche­rung in allen Bereichen, mache seine Bürger nicht nur nicht freier, sondern lasse an dem gewaltigen, unübersichtlichen und intransparenten Umverteilungs- und Versiche­rungssystem ganz andere Gruppen als die tatsächlich Hilfsbedürftigen profitieren: vor allem Berufspolitiker, Interessengruppen und die öffentlichen Bediensteten, denen die Umver­teilung obliegt. „Das unübersichtlich und intranspa­rent gewordene staatliche Wohlfahrtssy­stem scheint besonders Berufspolitikern zu nützen, die über die Austeilung von ‚sozialen Geschenken’ ihre Wahlkämpfe führen. Mittels Ausver­kauf der Freiheit sichern sie sich ihre Macht.“ [24]

Dreißig Jahre nach dem beklagten Vordringen so­zialistischer und dirigistischer Vorstellun­gen sieht dieses System, das über den Kommunismus im Kalten Krieg gesiegt hatte, nicht als eine Synthese von echter Marktordnung und staatlicher Sozialpolitik aus, sondern als ein von einer politischen Oligarchie regierter unersättlicher Leviathan. Die mit vielen Einschränkun­gen, regulierenden und inter­venierenden Maßnahmen belastete Wirtschaft gilt ihm als Werk­zeug verschiedener Interessen und Mittel zur Finanzierung anderer, weder freiheitlicher noch sozialer Ansprüche. Die Umformung des Sozialen zum Macht- und Herrschaftsinstrument des Staates, das auf altbekannten Säulen, nämlich Angst, Intransparenz und Solidaritätsappellen be­ruht, verfehlt zunehmend sein proklamiertes Ziel, die „soziale Gerechtigkeit“, äußerte spä­ter Meinhard Miegel. Der Sozialstaat habe die Gesellschaft, von der er lebt, entsolidarisiert, entmündigt und damit entwürdigt, deformiert und völlig ausgelaugt, bis er jetzt an die Gren­zen deren Tragfähigkeit gelangt sei: Jahrzehntelang habe er keine Vorsorge getroffen, keine Zu­kunftsinvestitionen getätigt, sondern bloße Umverteilung betrieben. Mit Täuschung, Betrug und Illusionstheater, insbesondere durch die Illusion eines „Wohlstands auf Pump“, der nur durch stets zunehmende Schuldenberge finanziert wird, sucht er seine Herrschaft weiter aufrechtzu­erhalten. [25]

Der so gepriesene deutsche Sozialstaat erscheint angesichts all dieser Tatsachen in einem ganz anderen Licht, nämlich als ein verschwenderisches System, von dem vor allem große organi­sierte Interessen, Berufspolitiker, Staatsdiener und die angeschlossene Hilfeindustrie profitie­ren, der aber die Lebensgrundlagen der Gesellschaft auf Kosten der Zukunft verzehrt. Der parasitäre Charakter dieser nur vermeintlich „sozialen“ Hilfeleistungen ist bezeichnend für viele Bereiche der Gesellschaft. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß inzwischen fast alle grundlegenden gesellschaftlichen Sphären, der Arbeitsmarkt und alle sozialen Systeme (das Renten- und Gesundheitswesen), die Infrastruktur, die Umwelt und die Bildung bis zur Krimi­nalitäts- und Gewaltbekämpfung von dieser Entwicklungstendenz betroffen sind. Dieser Trend hat zur Folge, daß sich überall eine überdimensionierte „Hilfeindustrie“ etablierte, die ihre ursprünglich sinnvolle Funktion nach und nach durch eine selbstbezogene Scheinhilfe als Selbstzweck ersetzt. Die Struktur dieser Inanspruchnahme bestimmter gesellschaftlicher Funktio­nen ist mit der eines Tumors vergleichbar, der für sein eigenes Wachstum die Funk­tion gesunder Zellen und Organe so lange unterbindet, bis der ganze Organismus zugrunde geht. So wurde jedenfalls die Situation um die Jahrhundertwende seitens der Kritik gesehen und daraus auf eine gerundlegende Reformierung des ganzen Systems geschlossen. Die Frage ist allerdings, ob die seitdem vorgenommenen Reformen auch die richtigen Heilmittel waren, d.h. ob sie die diagnostizierte Krankheit tatsächlich behandelt oder eher verschlimmert haben.

1.1. Die Krise des Sozialstaats und der Tanz auf der „Titanic“

Die sich ständig verschlechternde Situation in mehreren sozialen Bereichen war also gut be­kannt, wurde jedoch verdrängt. Immer heftigere Kritik an sorgloser Politik kam seit den 80er Jahren vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern. So wies beispielsweise das Frankfur­ter Institut für wirtschaftspolitische Forschung seit 1983 in mehreren Publikationen auf die Gefah­ren des sehr verbreiteten kurzsichtigen, engstirnigen und punktuellen Denkens in der Poli­tik hin, das allmählich auch das einzelwirtschaftliche Denken und Handeln korrumpiert und fehlgeleitet habe: Nebenwirkungen und langfristige Folgen von politischen Entscheidun­gen wurden ausgeblendet oder verdrängt, überfällige Korrekturen hinausgezögert und Illusio­nen über die Tragfähigkeit staatlicher Finanzen geschürt. Durch Mängel im Bildungswesen und die Behinderung von Forschung und Entwicklung wurden ungünstige Bedingungen geschaf­fen, durch Preisinterventionen, ein unzweckmäßiges Steuersystem, desorganisierte Mietwohnungs­märkte, brüchige Renten-, Pflege- und Krankenversicherungssysteme und eine Flut von Gesetzen, Verordnungen, Reglementierungen, Wettbewerbsbeschränkungen, strukturkon­servierenden Subventionen u.ä. die Wirtschaft verwirrt und gelähmt, private Initia­tive fehlgelenkt. Die Folgen waren Vernachlässigung von Investitionen in die Infrastruktur zugun­sten von Konsumausgaben, vor allem Sozialleistungen und Subventionen, und deren Finan­zierung durch immer höhere Neuverschuldung, d.h. Verlagerung von Lasten auf kom­mende Generationen. [26] Kritisiert wurden also vor allem die kontraproduktive Förderungs- und Reglementierungspolitik, die Tendenz zur Bürokratisierung und Verrechtlichung der Wirt­schaft und des Arbeitsmarktes, die Kostenexpansion der Staatsausgaben und der sozialen Versicherungssysteme sowie auch die moralische Zweifelhaftigkeit von vermeintlich sozialen Ziel­setzungen in der Praxis. Die Empfehlungen des Instituts waren 1994, die Fehlentwicklung die­ses verkürzten Zeithorizonts und dessen Folgen allgemein bewußt zu machen, eine Übertra­gung von Entscheidungsfreiheiten auf private Unternehmen und Haushalte, die Einfüh­rung institutioneller Stabilisierungsfaktoren (wie es z.B. die Bundesbank vor der Einfüh­rung des Euro war) sowie die Überprüfung aller Gesetzesvorlagen im Hinblick auf ihre Ne­ben- und Fernwirkungen in der Zukunft. Sie wurden allerdings nie befolgt.

Die ersten beiden sozialdemokratischen Kanzler haben den Sozialstaat ausgebaut und unverant­wortlich expandieren lassen. [27] Auch während der 16-jährigen Kanzlerschaft von Hel­mut Kohl trat die lange angekündigte politische Wende im Sinne einer grundlegenden Re­form der sozialstaatlichen Strukturen nicht ein, im Gegenteil: Die kritische wirtschaftliche Situa­tion hat sich mit einer Steigerung der Staatsverschuldung um 240 % und der Arbeitslosig­keit um 60 % sowie einer steigenden Steuer- und Abgabenlast weiter verschlim­mert. Daher wundert es nicht, daß der spätere (verbale) Reformkonsens zugleich als Abschied vom „Sozialen“ gedeutet wurde. Ende der Siebziger war dieser zum Leitbegriff der Republik geworden, während Kohls Wiedervereinigung in dessen traditionell etatistischer Logik er­neut zum Projekt der Sozialpolitik gemacht und deren Kosten dem sozialen Sicherheitssystem auf­gebürdet wurden. [28] Statt einer Wende redete man am Ende der CDU-Regierung eher von ei­nem Reformstau.

Aber auch die an Gerhard Schröder geknüpften Reformhoffnungen haben sich nicht er­füllt. Es erschein zunächst nicht allzu realistisch, nachdem eine nur scheinbar konservative Regierung sechzehn Jahre lang dieselbe Verteilungs- und Beschwichtigungspolitik betrieben hatte, von ei­ner sozialdemokratischen eine wesentliche Änderung zu erwarten. Der schwache Kanzler war nicht einmal in der Lage, seine winzigen Spar­pläne durch Streichungen von bestimmten Steuervergünstigungen (Spendenabzugsfähig­keit, Eigenheimzulage usw.) im Hinblick auf die Spenderlobby und bevorstehende Landtagswah­len durchzuziehen. [29] Zum Teil standen Schröder die Widerstände in seiner eige­nen Partei im Wege, erstarrte Parteistrukturen, [30] gegen die er sich als Kanzler nicht durchzuset­zen vermochte, zum Teil gegenseitige Blockaden der Parteien. Dafür war das erbärmli­che Ergebnis des Vorweihnachtsspektakels 2003 im Vermittlungsausschuß ein gutes Beispiel. Selbst die von ihm eingeleitete und später gepriesene Reform-Agenda 2010, vor der man sich zunächst eine gewisse Steuerentlastung versprach, wurde von der Opposition gegen ihre eigenen Grund­sätze bekämpft und blockiert. [31] Und doch war es gerade dieses Programm, das der ebenso konzeptlosen britischen Politik Tony Blairs oder der Neuen Demokraten in Amerika ähnelte, mit dem eine Reihe von Scheinreformen eingeleitet wurde, die unter dem Vorwand von Modernisierung, Privatisierung und Deregulierung mehr Schaden an den bestehenden Strukturen eingerichtet hat als die spätere eher vorsichtigere Politik der „kleinen Schritte“ von Angela Merkel.

In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende schien es zumindest, als sei das Leitbild des Sozialstaats und das Glaubensbekenntnis zum Sozialen, verbunden mit vie­len Rücksichten auf Besitzstände und Wahlergebnisse, stärker gewesen als alle Hin­weise auf die Widersinnigkeit und wirtschaftliche Irrationalität der bestehenden Praxis, Progno­sen und Warnungen von Sachverständigen. Die katastrophale Finanzlage (das „schwar­ze Loch“ im Bundeshaushalt) war beispielsweise nach den Steuerschätzungen bereits vor den Wahlen 2002 gut bekannt, wurde aber im Wahlkampf möglichst verschwiegen oder ver­tuscht. [32] Die Bundesrepublik sei sehenden Auges in die Krise geschlittert, schrieb Dieter Schröder an die Adresse des „Wahlbetrugs“ von Gerhard Schröder: „Genau genommen dau­ert diese Krise schon über 30 Jahre. Sie ist eine schleichende Krankheit, deren Symptome nur vorübergehend immer wieder verdeckt worden sind, wenn der Ölpreis sank oder die Weltkon­junktur anzog und ein Wachstumsschub Geld in die stets überforderten Kassen des Staa­tes oder der Sozialversicherungen lenkte. Keine der beiden großen Volksparteien kann sich rühmen, dem Patienten Deutschland je eine Rosskur verordnet zu haben.“ [33]

Wie die Politik die Wirklichkeit einer sich verändernden Welt verdrängt und sich Wohlstandsil­lusionen über eine heile Welt hingibt, beschrieb 2002 Meinhard Miegel in seinem Buch Die deformierte Gesellschaft. Auch in der gleichnamigen Radiosendung wurde darüber berichtet, wie die heutigen Probleme (Überalterung, Arbeitslosigkeit, Verar­mung und Krise des Sozialstaats), die auf einen dramatischen Wandel sämtlicher Strukturen der Gesellschaft hinweisen, von den Deutschen, vor allem den Politikern nicht wahrgenom­men, und schon überhaupt nicht zu lösen versucht werden. [34] Die deutsche Politik sei durch Man­gel an Perspektiven, Versäumnisse und Fehlentscheidungen gekennzeichnet. Die politi­schen Diskussionen um Einwanderung, Arbeitslosigkeit usw. seien sämtlich vergangenheitsbezo­gen und wirklichkeitsfern: Unberücksichtigt bleiben die demografische Ent­wicklung, [35] vor allem die Alterung der Bevölkerung und die Zuwanderungsproblematik, die veränderten Bedingungen von Wirtschaft und Beschäftigung seit den siebziger Jahren, wo­nach keine hohen Wachstumsraten mehr zu erwarten sind, [36] sowie die Tatsache, daß selbst das schon lange ausbleibende Wachstum bei einer hohen Wissens- und Kapitalintensität keine zu­sätzlichen Arbeitsplätze mehr schaffen wird. Durch eine Förderung des Mittelmaßes, fal­sche Bildungspolitik, Vermeidung von Elitenbildung und Verschwendung oder Fehlleitung des Humankapitals durch ungenutztes Wissen von arbeitslosen Akademikern verkümmert der Wissensbestand der Gesellschaft; [37] durch verschwenderische unproduktive Ausgaben und veral­tete Gewerkschaftspolitik wird auch der Kapitalstock bzw. dessen Produktivität vermin­dert. [38] Aber gerade diese Quellen des Wohlstands (Wissen und Kapital) [39] werden in Deutsch­land zu wenig gefördert, ja allmählich zugeschüttet. Ideologische Hintergründe, falsche Vorstellun­gen und Machtinteressen verhindern es, sich auf die Veränderungen der Lebenswirklich­keit einzustellen und den allgemeinen Niedergang der deutschen Wohlstandsgesell­schaft abzuwenden.

Nach Gabriele Metzler bestand der Grund für die Effizienz- [40] und Legitimationskrise (staatli­cher Interventionismus auf Kosten der Freiheit) [41] des deutschen Sozialstaats seit den 70er Jahren im Zusammentreffen von verminderter staatlicher Handlungsfähigkeit (Reform­blockaden, „Unregierbarkeit“) und gestiegenen Erwartungen (Überforderung) infolge der Entwicklung in den 60er Jahren, in denen eine erweiterte Interpretation des Sozialstaats und eine gleichzeitige „Revolution der Erwartungen“ eingeleitet wurde. Metzlers Haupt­these lautet: Der Sozialstaat ist ein Projekt der „ersten Moderne“, der seine Grenzen erreicht hat. Diese sind wirtschaftlich durch die Unmöglichkeit seiner Finanzierbarkeit (Kostenexplo­sion) aufgrund der demographischen Entwicklung (Bevölkerungsrückgang, Alterung) und der Koppelung der Alterssicherung an Erwerbsarbeit (Arbeitslosigkeit) sowie soziokulturell (Entsolida­risierung und Individualisierung) gegeben. [42] Die Tatsache, daß zwar Neuerungen einge­führt, ein Sparkurs eingeleitet, aber keine echte Umkehr stattfand und grundsätzliche Lö­sungsvorschläge oder Strategieentwürfe immer nur Gegenstand akademischer Diskussionen geblie­ben sind, erklärt sie vor allem durch die große Resistenz und den Strukturkonservativis­mus der Institutionen, verbunden mit den Reformblockaden diverser Lobbys und der Kosten­frage. Damit wird die These von der „Pfadabhängigkeit der Entwicklungen“ und ihrer prakti­schen Unumkehrbarkeit gestützt. Der deutsche Sozialstaat war als ein Sozialversicherungs­staat konstruiert und ist es trotz aller Wandlungen und ideologischen Anstriche bis heute geblie­ben. [43]

Inwiefern die deutsche Sozialpolitik bis heute durch Kontinuität mit Bismarcks Sozial­staat oder auch von bestimmten neuen Trends geprägt ist, müßte einzeln untersucht werden. Die Denkweise, auf der das immer wieder festgestellte kurzsichtige politische Handeln be­ruht, gehört jedenfalls eher in die vormoderne Zeit und ähnelt der Art und Weise, wie sich bei­spielsweise der Feudalherr die benötigten Mittel von seinen Untertanen holte: durch eine Steuer- oder Abgabenerhöhung. Sie geht von der naiven Überlegung aus, daß mehr Steuer doch mehr Geld in die staatliche Kasse einbringt – eine „Milchmädchenrechnung“, die nicht auf­kommt. Elementare Kenntnisse wirt­schaftlicher Zusammenhänge ergeben auch ohne kompli­zierte Berechnungen von Wirtschaftsexperten, daß das Defizit am Ende der Periode höchst­wahrscheinlich eher größer wird. Dennoch ist es bis heute die häufigste Form, wie auf Geldmangel reagiert wird. Die Kreativität, mit der neue Steuern erfunden werden (einmal war so­gar die Rede davon, Bettler zu besteuern!), könnte nur noch mit der Kompliziertheit des gan­zen Besteuerungssystems verglichen werden, die es – im Widerspruch zu dem proklamier­ten Gerechtigkeitsbestreben – ganz anderen Gruppen als den Bedürftigen, oft großen Konzer­nen und Gutverdienenden, ermöglicht, von bestimmten Begünstigungen zu profitieren. [44] Ein Gut­achten prominenter Finanz- und Wirtschaftsinstitute empfahl der Bundesregierung 5 von 20 größten Steuervergünstigungen zu streichen; die Subventionen seien nicht gerechtfertigt und wirtschaftlich unsinnig. Verwirklicht wurde davon so gut wie nichts. Die unter Schröders Kanzlerschaft durchgeführte „Steuerreform“ hat sich als halbherzig, unwirksam und un­gerecht erwiesen. [45]

Daß eine konsequente Steuerreform in der Union ebensowenig durchsetzbar ist wie in der SPD, wurde deutlich, als man merkte, wie schnell Vorschläge wie das Steuerkonzept von Fried­rich Merz, mit dem man seine Steuererklärung „auf einem Bierdeckel“ berechnen könnte, oder auch die Reformvorstellungen von Paul Kirchhof, dem „Professor aus Heidel­berg“ aufgeweicht, „weichgespült“ und zu einem halbherzigen Kompromiß verwandelt wur­den. Dabei war Kirchhofs Argumentation nicht weltfremd, und auch nicht durch bloße Nützlichkeitserwägungen geprägt, sondern prinzipiell und (im Gegensatz zu den vielen Begründungen von Sonderrechten durch „soziale Gerechtigkeit“, „Gleichstellung“ usw.) gerade durch die Gerechtigkeitsvorstellung einer Rechtsordnung im Rechtsstaat (im Gegensatz zur Willkür) begründet: Diese beruht zugleich auf der Idee der Freiheit (der individuellen Selbstverantwortung, etwa für den eigenen wirtschaftlichen Erfolg) und der Gleichheit, d.h. der rechtlichen Gleichbehandlung aller als eines elementaren Teils der Gerechtigkeit. Dem deutschen Steuerrecht ist aber nach seiner Meinung der Gerechtigkeitsgedanke weitgehend abhanden gekommen: das Steuerrecht verfehlt die gleichheitsgebotene Unausweichlichkeit, weil es durch die diversen Steuervergünstigungen und –anreize das Wirtschaften auf Nebenwege verleitet, in dem es nicht die finanzielle Leistungsfähigkeit, sondern das steuertaktische Geschick begünstigt und zu unproduktiven Ausweichmanövern (Fehlleitung des Kapitals, Steuertricks) und Steuerhinterziehung einlädt. In dem von ihm vorgeschlagenen Modell sollte dagegen auf alle unnötigen Differenzierungen (etwa in bezug auf die Einkunftsart, Steuerklassen u.ä.) und Vergünstigungen (Ausnahmen, Lenkungs- und Privilegierungsbestände) verzichtet und die Einkommenssteuer vereinheitlicht werden. Das Steuerrecht soll für alle verständlich und als gerecht empfunden werden, die Steuererklärung so einfach sein, daß man darauf keine unnötige Zeit und Energie mehr verschwenden muß, und die Steuerlast wieder zu einer verläßlichen Planungsgrundlage werden. [46]

Der Wille zu einer Grundlagenreform des Sterrechts oder auch anderer Bestandteile der sozialstaatlichen Strukturen war aber auch bei den Christdemokraten nicht vorhanden. Ihre Politik besitzt ebenfalls keine tragbaren Konzepte. [47] An dieser Eigenbewe­gung in die Katastrophe konnte die Große Koalition und die Kanzlerschaft Angela Merkels, die weder ein sinnvolles Reformkonzept noch das Format einer Margret Thatcher besitzt, auch nicht viel ändern. Was seitdem an „Reformen“ angeboten wurde, brachte eher Spott oder Zorn der Öffentlichkeit als eine tragbare Lösung zutage. Dennoch werden diese „Mogelpakete“ als „notwendige tiefgreifende Reformen“ präsen­tiert, und zwar nicht nur von der politischen Prominenz selbst. Die an sich interessante Ausstel­lung über deutsche Sozialgeschichte In die Zukunft gedacht thematisierte zum Schluß auch die in den letzten Jahren vorgenommenen Änderungen in der Sozialpolitik: Gemäß Ger­hard Schröders „Agenda 2010“ sollen eingeführte Arbeitsmarktreformen (Hartz-Gesetze), Gesund­heits-, Pflege- und Rentenreform (z.B. Rente ab 67) sowie weitere sozialpolitische Maß­nahmen (Förderung von Menschen mit Behinderungen und Familiengeld) die Wirtschaft und die Eigenverantwortung stärken und zugleich die Finanzierbarkeit der sozialen Systeme für die Zukunft sichern. Bei genauer Betrachtung handelt es sich jedoch bei den genannten Bei­spielen um bloße Einsparungen, Kürzungen, formale Umstrukturierungen, oft sinnlose oder verkehrte Maßnahmen, die die Situation der Menschen verschlechtern, ihren Zweck aber nicht erfüllen. [48] Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild, in dem illusorische Ziele mit realen Fol­gen verwechselt werden. [49]

Das ist nicht nur in den häufigen einander widersprechenden Erfolgs- oder Katastrophenmeldungen in den Medien, sondern auch in den verschiedenen quasiwissenschaftlichen Studien der Fall, die stets so angefertigt werden, um ein bestimmtes erwartetes oder verordnetes Ergebnis zu bestätigen. So verfaßte beispielsweise Ludwig Siegele 2005 in The Economist ein Loblied auf Deutschlands Reformfähigkeit und Gutergehen, das der Kanzler Schröder als Beweis für den Erfolg seiner Reformpolitik vervielfältigen ließ. Nur einige Monate später beschrieb derselbe Autor die Situation aus einer anderen Perspektive – mit einem anderen Ergebnis: Deutschland besitze zu verkrustete Strukturen, wenig Arbeitsplätze und schlechte Integration von Ausländern, es sei nicht attraktiv für Investoren und Hochqualifizierte, sein Bildungssystem begünstige soziale Ausgrenzung, und die große Koalition vermag mit ihren kleinen Schritten keine großen Reformen hervorzubringen. [50]

Das war natürlich nur ein weiteres Beispiel der allgemein bekannten pauschal oberflächlichen Kritik. Dennoch war der vorsichtige Optimismus, den der Herausgeber des Jahrbuchs 2006 des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung über die Zukunftsfähigkeit Deutsch­lands Jürgen Kocka in seiner Einleitung zum Ausdruck brachte, [51] durch eine Politik der kleinen Schritte, die die Große Koalition vermeintlich vollzieht, seien langsame Veränderun­gen möglich, ebensowenig angebracht wie sonstige phrasenhafte Bewertungen. Die genannten Beispiele aus den Bereichen Hochschul-, Familien-, Gesundheits-, Einwanderungspolitik usw. werden hier einzeln im Rahmen ihrer thematischen Zusammenhänge behandelt, im Unterschied zu dem Autor jedoch nicht nur als langsam und unzureichend, sondern oft als falsch oder ver­kehrt angesehen. Vom Politologen Wolfgang Merkel wurde die Situation auch anders beur­teilt. Nach seiner Meinung könne bei der Großen Koalition weder von einem Pfadwechsel noch von konsequentem Handeln die Rede sein. „Durchwursteln“ statt Durchregieren kennzeich­net den bisherigen Regierungsstil, wodurch sich die Zukunftsfähigkeit Deutschlands wohl kaum sichern lasse. Seine Feststellung gilt sowohl der mißlungenen Gesundheitsreform als auch der halbherzigen Föderalismusreform sowie auch allen übrigen reformbedürftigen Berei­chen des Sozialstaates, wie Deregulierung des Arbeitsmarktes oder Schuldenabbau. [52]

Diese letzte Option kommt inzwischen überhaupt nicht mehr in Frage; umstritten bleibt nur noch die jeweilige Höhe der Neuverschuldung – ein weiterer Grund für die eingeschränkte Hand­lungsfähigkeit des Staates. Diese wurde schließlich nicht nur durch die Krise der Par­teien und deren Verflechtungen mit diversen Lobbys, sondern auch aufgrund wachsender Schul­den diagnostiziert. Daß die Staatsverschuldung irgendwann an ihre Grenzen gelangen muß, spätestens dann, wenn die Zinszahlung das gesamte Steuervolumen auffrißt, bleibt da­bei ebenso unberücksichtigt wie die negative Kopplung zwischen Steuererhöhung und Steuereinahmen. Die reale Bankrottsituation des Staates wird durch die Neuverschuldung nur hin­ausgezögert und durch das Dogma der fehlenden Insolvenzfähigkeit der öffentlichen Hand verdeckt. In den letzten Jahren sind zwar Ansichten aufgetreten, man sollte sich von diesem Dogma verabschieden, um die öffentlichen Systeme zu retten. Der Staatsforscher Gunnar Folke Schuppert schlug beispielsweise für die zahlungsunfähigen Bundesländer die Aufstel­lung eines Haushaltsnotlageregimes vor. [53] Die Empfehlungen von K.K. Konrad, man solle die Wettbewerbsfähigkeit des Bundes, der Ländern oder Kommunen steigern, indem sie di­verse Tricks der Unternehmen nachahmen, wirken allerdings ziemlich lächerlich. [54] Nicht nur das: Ihre Verwirklichung könnte sich als selbstzerstörerisch erweisen.

Zu unerfreulichen Ergebnissen kamen auch weitere Autoren des erwähnten Bandes. Dem­nach können die bestehenden, auf individuelle Statussicherung statt Lebenschancengleichheit oder Armutsbekämpfung abzielenden Strukturen des deutschen Sozialstaates dessen zentrale Aufgaben (nach den Prinzipien Sicherheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit) nicht mehr gewährlei­sten. Statt dessen empfahlen sie verstärkte Investitionen in Bildung und Weiterbil­dung, soziale Dienstleistungen statt monetärer Transferleistungen und stärkere Steuerfinanzie­rung der Sozialsysteme. Inwiefern solche Investitionen oder Leistungen sinnvoll sind, wurde innerhalb ihrer Darstellung allerdings nicht untersucht. Die Durchsetzbarkeit solcher Reformoptio­nen in Deutschland wurde überdies von den Autoren sehr bezweifelt. [55] Es liegt näm­lich in der Logik dieses „sozialpolitischen“ Denkens, daß das aus welchen Quellen auch im­mer eingenommene Geld nicht etwa gespart und sinnvoll investiert, sondern unproduktiv ausge­geben, verschenkt, ja verschwendet wird. Die Verschwendung ist sogar systembedingt, indem beispielsweise einzelne Behörden oder Institutionen gezwungen sind, das ihnen zuge­teilte Geld innerhalb eines Zeitraums auszugeben, da ihnen ansonsten für die nächste Periode ihr Budget gekürzt wird.

Der Bund der Steuerzahler informiert auf seiner Internetseite, wo sich auch ein Ticker befin­det, der die derzeitige Höhe der immer schneller ansteigenden Staatsverschuldung an­zeigt, [56] seit mehreren Jahren über staatliche Verschwen­dung in Höhe von ca. 30 Milliarden jährlich und gibt jedes Jahr das Schwarzbuch der öffentlichen Verschwendung heraus, in dem die vielen unsinnigen Ausgaben aufgeführt wer­den. Sein Vorsitzender Karl Heinz Däke forderte daher die Einführung des Strafbestandes Amtsuntreue und die Verankerung einer Schuldenbremse im Grundgesetz. [57] Listen über di­verse Verschwendung, beispielsweise bei ungenutzten Materialien bei der Bundeswehr, bei über­flüssigen Dienststellen oder unbegründeten Steuerprivilegien in Millionenhöhe enthalten auch die Berichte des Bundesrechnungshofs. Sinnlose Verschwendung für immer weitere Berater­verträge, Expertenkommissionen und sonstige Dienstleistungen, die von den Bundesministe­rien in Auftrag gegeben wurden, fandet statt, ohne daß sich durch die unzähli­gen Gutachten und Beratungen irgend etwas wesentliches an der bisherigen Politik geändert hätte, zumindest nicht zum Besseren. [58] Auch der beschlossene Nachtragshaushalt angesichts der Finanzkrise und der damit verbun­denen befürchteten verminderten Steuereinnahmen, nach dem die Nettokreditaufnahme um 10,7 Milliarden auf 47,6 Milliarden Euro und Deutschlands Gesamtschulden auf die damals noch beanstandeten zwei Billio­nen Euro steigen sollten, wurde von der FDP scharf kritisiert. Die Ursache für die Neuver­schuldung sei nicht allein die Krise, sondern ebenso maßlose Ausgabensteigerungen der vergangenen Jahre. Das Problem des Staates seien nicht die Steuereinnahmen, meinte in sei­ner Kritik Joachim Stoltenberg, sondern dessen Ausgabenlust. [59]

Die Schuldenlast von zwei Billionen Euro ist inzwischen längst überschritten worden, hingegen dem geringen Rückgang in der letzten Zeit keine große Bedeutung beizumessen ist. Angesichts der Bankrottsituation anderer Staaten (insbesondere der sich regelmäßig wiederholenden Griechenland-Pleite) wird kaum noch darauf geachtet. Deutschland scheint es im Vergleich zu anderen Ländern noch relativ gut zu gehen, Erfolgsmeldungen und Wachstumsprognosen aufgrund hoher Umsätze deutscher Konzerne täuschen vor, als wäre die Krise längst überwunden, ja dieser zweifelhafte Erfolg sogar den umstrittenen Reformen der Agenda 2010 zuzuschreiben. Nun ist wieder von einer neuer Agenda 2030 die Rede, wobei nichtsdestoweniger nicht etwa an echte Strukturreformen (diese hat man während der langen Kanzlerschaft von Angela Merkel nicht mehr gewagt), auch nicht an Schadensbegrenzung (Beseitigung der Schäden, die die Pseudoreformen gebracht haben) gedacht ist, sondern nur Losungen mit nichtssagendem oder zweifelhaftem Inhalt vorgeschlagen werden, wie Energieeffizienz, Innovation, Bildung (ggf. auch mehr Privatvorsorge oder Gründungsmut). [60] Daß sich hinter diesen Schlagworten, ebenso wie zuvor den vorgenommenen Pseudoreformen kein Konzept zur Rettung des Sozialstaats verbirgt, ja daß sie im Gegenteil dazu beitragen, den brüchigen Wohlstand allmählich aufzulösen, wird trotz aller Kritik an Einzelheiten nicht verstanden.

1.2. Alterung und Verarmung der Wohlstandsgesellschaft

Der deutsche Sozialstaat beruht seit seiner Begründung durch Bismarck auf einem System von Pflichtversicherungen, die man zwar kritisch betrachten kann, die aber in ihrer Zeit die schlimmsten Auswüchse zu begrenzen vermochten und seine Aufgaben erfüllten, sofern der Sinn von Versicherung, nämlich die Vorsorge für Alter und Lebensrisiken, d.h. für Arbeitslosig­keit, Invalidität durch Unfall, Krankheit oder plötzlichen Tod, gegeben war. Der Zweck einer Versicherung, welcher Art auch immer, ist die Vorsorge für die Zukunft. Diese wird aber durch die staatlichen Zwangsversicherungen nicht mehr gewährleistet: Sie machen statt Rücklagen Schulden, und die heutigen Ausgaben werden aus der Substanz oder zu Lasten der Zukunft beglichen. Bei genauer Betrachtung der Entwicklung des Sozialstaats so­wie der einzelnen sozialen Systeme hat man den Eindruck, daß es bei keinem von ihnen um den ursprünglichen Zweck geht, sondern nur noch um die Verwaltung und Organisation des Sy­stems, das sich allmählich zum Selbstzweck entwickelt hat.

Alle Kritiker des wuchernden Sozialstaats stimmten – im Unterschied zu den andauernden Be­teuerungen der Politiker – in der Nichtfinanzierbarkeit der heutigen Sozialsysteme überein, auf die die Politik nur mit aktivistischen Patentrezepten reagierte. Diese ist durch veränderte Bedin­gungen vorgegeben:

1. die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur (Geburtenrückgang und verlängerte Le­benserwartung);

2. die institutionell und strukturell bedingte Arbeitslosigkeit;

3. die Lähmung der Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit von Politik und Wirtschaft durch die selbstgeschaffenen Zwänge (die Verflechtungsfalle).

Diese Problematik ist inzwischen relativ gut bekannt. Über Wirtschaftskrise, Steuerdesa­ster und Staatsversagen berichtete in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende neben anderen auch der Spiegel unter dem Titel Die Stunde der Wahrheit im Land der Lügen. [61] Die desolate Situation Deutschlands und wie sie entstand war Thema des Buchs Ist Deutschland noch zu retten? von Hans-Werner Sinn [62]. Mit ähnli­chen Argumenten beschrieb schließlich auch Gabor Steingart Deutschlands Zustand als Ab­stieg eines Superstars. [63] Die Ursachen dieser deutschen Dauerkrise reichen demnach bis in die Nachkriegszeit zurück: Der Sozialstaat sei von Adenauer falsch konstruiert worden, vor allem in bezug auf die Rentenpolitik, d.h. die Koppelung der Renten auf die Arbeitseinkom­men (das Umlageverfahren), während das Risiko der Kindererziehung in diesem „Generationsver­trag“ nicht berücksichtigt wurde, da man einen Strukturwandel im Altersauf­bau der Bevölkerung nicht voraussah. Adenauer lehnte die Einbeziehung der Kindererzie­hung in dieses System mit der Begründung ab, Kinder habe man sowieso. Nach der Darstel­lung von Metzler stellte diese als „Generationsvertrag“ bezeichnete Rentenreform eine Richtungs­änderung trotz der weiterbestehenden Kontinuität mit dem bismarckschen Rentensy­stem dar. In anderen Zweigen der Sozialversicherungen dominierte die Kontinuität. [64]

Möglicherweise noch verhängnisvoller als die Umlagerente selbst, die man in der Nachkriegs­zeit als eine vorübergehende Lösung akzeptieren könnte, die jedoch mit dem steigen­den Einkommen allmählich zum Aufbau eines Kapitalstocks übergehen sollte, war die 1957 eingeführte bruttobezogene dynamische Rente, nach der die Rentner an der allgemeinen Einkommenssteigerung verhältnismäßig teilhaben sollten. [65] Das Leichtfertige an der Renten­finanzierung sowie an der Dynamisierung der Rente war wohl die Vorstellung, der wirt­schaftliche Aufschwung sei ein dauerhafter, als wäre die Möglichkeit leerer Kassen und des wirtschaftlichen Niedergangs nicht vorhanden. Die dritte Ursache für den sich anbahnenden Zu­sammenbruch des Rentensystems sind sodann zweckfremde Leistungen, die seit Jahrzehn­ten von den Rentenkassen betrieben werden. Die ständig wiederholte Behauptung der Politiker „Die Rente ist sicher“ verdeckte nicht nur die Tatsache, daß die Renten immer wie­der nach unten korrigiert wurden, so daß die tatsächliche Höhe der eigenen künftigen Rente von vielen Menschen überschätzt wurde, selbst wenn es den meisten heutigen Rentnern noch gut geht, sondern auch die Tatsache, daß der „Generationsvertrag“ zu den bestehenden Bedin­gungen nicht mehr bezahlbar ist: Die Rentenkasse wird mit immer höheren Anteilen durch Steuergelder bezuschußt, die Schwankungsreserve wurde dagegen abgebaut, um den Bei­tragssatz nicht erhöhen zu müssen, während die realen Renten sinken. [66] Die widersprüchlichen „Rentenreformen“ (neben der Einführung der „Riester-Rente“ als scheinbaren „zweiten Säule“ der Rentensicherung zunächst Verlängerung des Rentenalters auf 67 für bestimmte Jahrgänge, später wieder deren Verkürzung auf 63 Jahre nach 40 Jahre Arbeitsverhältnis, jetzt eine „flexible Rente“) zeugen nur von Ratlosigkeit der Politik in bezug auf dieses Problem.

Auf die Problematik der veralteten Finanzierungsstruktur der heutigen sozialen Systeme ging Kurt Biedenkopf in seinem Buch Die Ausbeutung der Enkel ein. Angesichts der dramatischen Veränderungen, die unsere heutige Situation kennzeichnen, vergrößert sich auch die Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben in der Finanzierungsgrundlage unserer Sozial­systeme. Biedenkopf wiederholte eigentlich die fast in jeder Kritik genannten Sachver­halte, vor allem die Diskrepanz:

1. zwischen abnehmender und alternder Bevölkerung in Europa, deren Lebensweise je­doch den Großteil der Weltressourcen für sich beansprucht, und der explodierenden Welt­bevölkerung,

2. zwischen den unrealistischen Vorstellungen vom Wirtschaftswachstum und den rea­len Wachstumsmöglichkeiten, und schließlich

3. zwischen dem explosiven technischen Fortschritt mit den entsprechenden Bildungsan­forderungen an die Ausbildung der Bevölkerung und ihrer tatsächlichen Quali­fikation, was einen unaufhaltsamen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit in der Gesell­schaft produziert. [67]

Dies alles hielt er für eine problematische Entwicklung und empfahl vor allem Investitio­nen in die Intelligenz, d.h. in Ausbildung, Bildung, Lehre und Forschung, die unsere Fähigkeit stei­gern soll, mit den angehenden Problemen fertig zu werden, sowie mehr eigenständiges Handeln. Das stellt insofern nichts Neues dar, als die Forderung nach Investition in Bildung und Eigenverantwortung immer wieder genannt wird. Wie schon viele vor ihm empfahl auch Miegel zur Beseitigung die­ser Mißverhältnisse mehr Eigenverantwortung der Bürger in vielen Bereichen, wie z.B. private Alters­vorsorge neben steuerfinanzierter Grundsicherung, eine grundlegende Reform des Gesund­heitswesens im Sinne von mehr Selbstverantwortung für eigene Gesundheit, eine Pflegever­sicherung auf Kapitalbasis, Begrenzung der Arbeitslosenversicherung usw. [68] Für Reinhard Sprenger, der zwar zu Recht die ständige staatliche Bevormundung beklagt und Deutschland als einen „Club der Opfer“ bezeichnet, stellt die „Selbstverantwortung“ (mit schwammigen neoliberalen Pauschalvorschlägen) fast das einzige allgemeine Allheilmittel dar. [69] Auch in den Empfehlungen des Frankfurter Instituts sowie des Wissenschaftszentrums kamen sol­che Vorschläge zum Ausdruck.

Offensichtlich glaubte man um die Jahrhundertwende, eine allgemeine Einschränkung (vor allem der Ansprüche und staatlicher Ausgaben) und Verschiebung der Verantwortung auf den Einzelnen seien das richtige Mittel gegen die Auswüchse des verschwenderischen und bevormundenden Sozialstaats. Arnulf Baring begnügt sich in seinem Buch von 1997, in dem er die Probleme Deutschlands dieser Zeit auflistet, [70] mit wenig aussagekräftigen Appellen an Eigenverantwortung und Umkehrbereitschaft. Der Historiker Ulrich Bernd ruft im selben Jahr ebenfalls zur Umkehr, aber nicht im Sinne von Liberalisierung und Individualisierung, sondern als einer „Wende zum Weniger“. Seiner Meinung nach waren die letzten 50 Jahre ein historischer Ausnahmezustand des allgemein wachsenden Wohlstands, der jetzt zu Ende ist. Es gilt nun die Erwartungen der Politik (etwa in bezug auf „soziale Gerechtigkeit“) und unzeitgemäße Ansprüche zurückzuschrauben. [71] Wie diese Wende konkret zu verwirklichen ist, bleibt nichtsdestoweniger unklar. Das Fragliche an dieser Programmatik, die oft mit Schlag­worten wie „Modernisierung“ und „Privatisierung“ (oder auch Flexibilität, Mobilität, Dynamik, Innovation und Deregulierung) einhergeht, ist überhaupt ihre zuweilen geringe Konkretheit und Abstrahierung von den bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die das an sich vernünftige Anliegen manchmal in sein Gegenteil verkeh­ren. So hat man schließlich im Namen der ungeklärten „Eigenverantwortung“ allmählich viele Sicherheiten und Rechtsansprüche des Sozialstaats beseitigt und in mehreren Bereichen (vor allem dem Arbeitsmarkt) teilweise amerikanische Verhältnisse [72] geschaffen, ohne jedoch die amerikanischen Möglichkeiten zu besitzen.

Überdies wurde in der Kritik die Rolle der demographischen Entwicklung als einer der grundlegen­den Aspekte des gesellschaftlichen Wandels und die „Alterung der Gesellschaft“ vermutlich überschätzt. Die Horrorszenarien (ausgestorbene Städte, leerstehende Wohnungen, leere Kinderkliniken und Schulen usw.) [73] mit begleitenden statistischen Schätzungen, wie viele Rentner zu welcher Zeit von einem ökonomisch Aktiven unterhalten werden müssen, wenn der Trend zur Kinderlosig­keit anhält, bieten ein überzogenes, auf dieses eine Aspekt reduziertes Zukunftsbild. Der Journalist Frank Schirrmacher schrieb 2004 ein populäres Buch über das Altwerden der Gesellschaft, in dem dieser Trend so aufgebauscht wird, als stehe uns ein „Krieg der Generationen“ bevor. [74] Der sozialdemokratische Kritiker des Neoliberalismus Albrecht Müller meinte dagegen, die negativen Darstellungen und bedrohlichen Szenarien, beispielsweise in bezug auf die „demographische Katastrophe“ seien nicht nur überzogen, sondern beruhen auf eiskalten Lügen und falschen Annahmen mit dem Zweck, die soziale Gerechtigkeit auszuhebeln. Der von der politischen Klasse als Rettung präsentierte Reformpaket enthalte in Wirklichkeit nur leere Versprechungen und werde katastrophale Folgen haben. [75] In seinem nächsten Buch Machtwahn (2006) behauptet er, daß die Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik – ein Netzwerk mittelmäßiger Eliten – mit ihren Reformen gewachsene Strukturen des Sozialstaats rücksichtslos zerstören, um eine Wirtschaft ohne Regeln durchzusetzen, und damit das Land zugrunde richten. In seinem weiteren Buch Meinungsmache (2009) beschreibt er schließlich, wie mittels systematisch inszenierter Kampagnen die öffentliche Meinung (hinter der sich oft mächtige Interessen verbergen) beeinflußt wird. [76] Trotz aller Vorurteile, die man bei vielen traditionellen Sozialisten findet, scheint die Kritik der auf neoliberalen Pauschalrezepten beruhenden Pseudoreformen durchaus berechtigt.

Jedenfalls ist der Trend zur Bevölkerungsabnahme in Wohlstandsländern in fortgeschrittenem Stadium ganz normal und nicht unbedingt bedrohlich. Ge­fährlich scheint vielmehr das Gegenteil davon – die Überbevölkerung, in deren Züge (zwecks Abbau des Überschusses) immer wieder Kriege und Bürgerkriege ausbrechen und Geno­zide geschehen, wie es zum Beispiel der Völkermordforscher Gunnar Heinsohn zu zei­gen versucht. Die Problematisierung des Bevölkerungsrückgangs geht von einer veralteten Vorstellung einer arbeitsintensi­ven Volkswirtschaft aus, in der die Alten aufgrund fehlender Kinder und Enkel nicht ernährt werden können. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt dabei weder die Tatsa­che, daß das Sozialprodukt und damit die Wohlfahrt der Gesellschaft mit einer kapitalintensi­ven Wirtschaftsform durch den Rationalisierungstrend immer weniger vom Faktor Arbeit abhän­gig ist, noch den Umstand, daß gegenwärtig nur mehr wenige hochspezialisierte Fach­kräfte eine Beschäftigung finden. Jede Produktionsinnovation steigert nicht nur die Produktivi­tät der Arbeit [77], sondern stellt Arbeitskräfte frei; eine Produktivitätssteigerung, wel­cher Form auch immer, produziert somit zwangsläufig immer wieder Massenarbeitslosigkeit, die nur sehr schwer und meistens erst durch andere gesellschaftliche Änderungen langfristig aufge­fangen werden kann. Das bedeutet bei gleichbleibenden gesellschaftlichen Bedingun­gen, daß diese angeblich „fehlenden Kinder“ keine künftigen Steuer- und Rentenzahler, son­dern ebenfalls zu finanzierenden Arbeitslosen bzw. Sozialhilfeempfänger darstellen.

Mit dieser Entwicklung hängt auch ein anderer bedenklicher gesellschaftlicher Wandel zusam­men, der in der liberalen Kritik jedoch kaum oder nach einem schiefen Erklärungsmuster thematisiert wird: die Entstehung neuer Armut [78] und eine wachsende Polarisierung zwischen Arm und Reich mit den damit verbundenen desintegrativen Tendenzen in der Gesellschaft, also das Ge­genteil zum Trend, den manche Soziologen in den 60er Jahren als Tendenz zur „nivellieren­den Mittelstandsgesellschaft“ zu beobachten meinten. [79] Die Studien zur sog. „Gruppen­bezogenen Menschenfeindlichkeit“ aus den Jahren 2002-2004 haben dagegen eine desin­tegrative Tendenz in der Gesellschaft festgestellt, die durch Polarisierung zwischen Arm und Reich, zunehmende Arbeitslosigkeit und die negative Wahrnehmung der eigenen Lage verur­sacht wird und mit der steigenden Neigung zur sozialaggressiven Haltungen wie Rassis­mus, Ausländerhaß, Antisemitismus usw. einhergeht. [80] Diese desintegrativen Tendenzen (politi­sche Kontrollverluste, ungerichtete gesellschaftliche Prozesse und Unbeeinflußbarkeit öko­nomischer Entwicklungen) und ihre negative Wahrnehmung (soziale Unsicherheit, Gefühl der Orientierungslosigkeit) bezeichnete Wilhelm Heitmeyer als „Verstörungen“, aus denen sich menschenfeindliche Verhaltensweisen, Druck auf Minderheiten und die Neigung, schwa­che Gruppen abzuwerten, als Normalität entwickeln. [81]

Es ist aber nicht nur die Verarmung und der daraus entstandene Bedrohungspotential. Über die allgemeine Verschlechterung des Umgangs der Menschen miteinander in der letzten Jahren – das sich ausbreitende asoziale Verhalten in allen Schichten – wurde inzwischen häufig berichtet. [82] Zum Teil ließe sich dieses Verhalten auf das propagierte Paradigma des fast sozialdarwinistisch geprägten „neuen Managements“ zurückführen mit dessen „Erfolgsdogma“ als einzigem Wert und den entsprechenden Schulungsmethoden in Selbstdarstellung und Durchsetzungsvermögen (z.B. Arroganztraining für Frauen). In der sozialwissenschaftlichen Forschung spricht man auch von „Paradigma der sozialen Exklusion“. Im Unterschied zur „Differenzierung“ der Gesellschaft in der Moderne handelt es sich um eine Art „Fragmentierung“, um Ab- und Ausgrenzung der Verlierer und gegenseitige Vergleichgültigung. Das Ergebnis ist die Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die dazugehö­ren, und diejenigen, die da sind, ohne dazuzugehören, das sog. „Prekariat“ – eine Katego­rie, die sich vom klassischen „Proletariat“ dadurch unterscheidet, daß die stets anwach­sende Zahl von Menschen in keinen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen (etwa in Mini­jobs, Praktika, Leiharbeit, befristeten, niedrig entlohnten Tätigkeiten oder staatlich geförder­ten Beschäftigungsprogrammen) in der postmodernen Gesellschaft die „Überflüssi­gen“ sind. [83] Das Phänomen Armut nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in den reichsten Ländern der Welt wie Deutschland, ist somit wieder zu einem Thema geworden, worüber öfters berichtet und über dessen Beseitigung kontrovers diskutiert wird. [84] Man spricht in diesem Fall auch von „relativer Armut“ im Unterschied zur „absoluten“, die es hierzulande nicht oder nur ausnahmsweise gibt, als handle es sich um etwas Selbstverständliches. Zwar soll in Deutschland – im Unterschied zu dem allgemeinen Trend in der ganzen Welt – die Kluft zwischen Arm und Reich seit 2005 nicht mehr gewachsen sein, sie sei aber auch nicht kleiner geworden; man mag die Situation Deutschlands in bezug auf wirtschaftlich-soziale Verhältnisse in den letzten zehn Jahren je nach Sichtweise als Stabilität, oder auch als Stillstand werten. [85] Die Schieflagen, vor denen in den Jahrzehnten zuvor so gewarnt wurde, sind inzwischen zur Normalität geworden.

Selbstverständlich und vielen einleuchtend scheinen auch die politischen Ablenkungsmanöver von eige­ner Unfähigkeit auf vermeintliche Katastrophen und Sündenböcke. So werden Schuldige für die Gebrechen der heutigen Gesellschaft, etwa die schlechte wirtschaftliche, finanzielle und soziale Lage, ganz anderswo wahrgenommen, als wohin der ur­sächliche Zusammenhang hinweist, zum Beispiel auf die aufgeblähte, teure und alles lähmende Bürokratie, staatliche Verschwendung, Größen­wahn, Inkompetenz und Korruption der Führungskräfte, Macht- und Karrieresucht der Politik, oder auch auf strukturelle Deformationen der Märkte, die Vetternwirtschaft, Lobbyismus und Machtmißbrauch begünstigen, Konkurrenz und echte Reformen dagegen verhindern. Statt des­sen wird die Schuld im Mißbrach von sozialen Leistungen, in Kapitalflucht und Steuerhinter­ziehung (sog. Wirtschaftskriminalität), oder bei den Ausländern, die den Deutschen angeblich die Arbeit wegneh­men, sowie in Bil­liglöhnen im Ausland und in der Globalisierung allgemein gesucht. Das ist zwar nicht ganz falsch, wie der strukturelle Wandel der Wirtschaft in den letzten Jahren deutlich machte. Die Ursachen von Ar­beitslosigkeit und Armut wurden allerdings zunächst von den Forschern ziemlich übereinstimmend nicht in der Globalisierung gefunden, d.h. der Konkurrenz von Billiglohnländern und der Verlage­rung der Produktion ins Ausland, [86] wie es vor allem Globalisierungsgegner und Wirtschaftsmoralisten darlegen, sondern in der wachsenden Produktivität durch technischen Fortschritt und der Unfähigkeit oder Unwilligkeit, auf die internationalen Herausforderungen richtig zu reagie­ren. [87] Mit anderen Worten: Die eigentliche Ursache der „neuen Armut“ sei demnach die Krise des Sozialstaates selbst, insbesondere die Konstruktionsmängel der sozialen Sicherungssysteme, [88] sowie die politi­schen Fehlorientierungen und Selbstblockaden.

Diese Erklärungen zu Beginn des Jahrtausends mögen zu einem Teil berechtigt sein: Es gibt tatsächlich einen anhaltenden Rationalisierungstrend durch technische Neuerungen, und es gibt ebenfalls politische Fehlentscheidungen und strukturelle Schwächen des Sozialstaates. Sie suggerieren dennoch ein verzerrtes Bild, in dem die Hauptschuld an der anhaltenden Arbeitslosigkeit verschwiegen oder verharmlost wird. Die im Laufe der Jahre vollzogene Deindustrialisierung Europas, von der Deutschland wohl etwas weniger betroffen ist als etwa Frankreich oder Großbritannien, ist kein Phänomen, das man mit Vorurteilen der Globalisierungsgegner einfach abtun und mit etwas radikaleren Reformen der sozialstaatlichen Strukturen beheben kann. Auch läßt sich der ganze Produktionsausfall der Industrie nicht durch die Verlagerung auf die wachsende Informationsbranche oder den Dienstleistungssektor ersetzen. Denn diese Wirtschaftszweige sind zwar nicht „unproduktiv“ im Sinne des in den ehemaligen kommunistischen Ländern üblichen gesamtwirtschaftlichen Bilanzrechnung; [89] sie stellen aber auch keinen vollwertigen Ersatz für den zweiten Sektor dar: erstens, weil dafür nur ein relativ kleiner Teil der in der Gesellschaft vorhandenen Arbeitskräfte gebraucht wird, zweitens, weil der dort erwirtschaftete Gewinn nur einem geringen Bevölkerungsanteil zugute kommt (Hauptursache für die wachsende Diskrepanz zwischen Reich und Arm), und schließlich auch deshalb, weil die Leistungen des dritten Sektors zu einem großen Anteil durch die Belastung des produktiven Wirtschaftsektors oder des Staates finanziert werden. Das funktioniert nur so lange, wie die wirtschaftliche Substanz der ganzen Gesellschaft noch stark genug ist, daß sie sich diese zusätzlichen Dienstleistungen auch leisten kann. Handelt es sich um steuerfinanzierten Staatskonsum bzw. eine vom Staat subventionierte Produktion (etwa die neugeschaffenen Arbeitskräfte, Ausgaben für Kultur, Sport oder überflüssige Bürokratie), die nur noch durch immer wachsende Staatsschulden bezahlt weden kann, enthält die ganze Wirtschaftsleistung dieses Sektors im wachsenden Maße einen parasitären Charakter: Man wirtschaftet somit auf Kosten anderer Wirtschaftssubjekte oder der Zukunft. Der gesellschaftliche Bedarf an solchen Leistungen ist ohnehin nur zum Teil berechtigt, zum Teil künstlich entstanden aufgrund von gesellschaftlichen Gebrechen oder überflüssigen Komplikationen und Schieflagen (etwa die der Drogentherapeuten, Arbeitslosenbetreuer, Steuer- oder Finanzberater), zum Teil völlig überflüssig, jedenfalls aber überdimensioniert. Das bedeutet im Klartext, daß eine Gesellschaft, die sich nicht mehr als eine Industriegesellschaft konstituieren will, einen Massenbedarf an Arbeitskräften, wie es am Höhepunkt ihres wirtschaftlichen Wachstums der Fall war, nicht mehr hat.

In dieser Situation führt eine gern als Lösung präsentierte „geburtenfreundliche“ Politik, die stärkere Förderung von Familien durch Kinderfreibeträge, Kinder- oder Erziehungsgeld (bzw. Elterngeld), bis hin zu der heute forcierten Politik der Schaffung von mehr Krippenplätzen, mit der man die erwünschte Geburtenzunahme erreichen möchte, nicht zu größeren künftigen Einnahmen des Staates und der Kassen, son­dern nur zu ihrer zusätzlichen Belastung. Nicht nur deshalb, weil die verschiedenen Maßnahmen (einerseits Kita-Ausbau, andererseits Betreuungsgeld für das Zuhausebleiben von Kleinkindern, [90] Ehegattensplitting auch für kinderlose, ja homosexuelle Paare, usw.) sehr teuer und in sich widersprüchlich sind. [91] Die Vorstellung selbst ist anachronistisch: Denn auch dann, wenn die ganzen Förderungen die Bevölkerungsabnahme und damit die Alterung der ganzen Gesellschaft tatsächlich bremsen oder aufhalten könnte, wäre dies keine Lösung der bestehenden Probleme, weil diese Sicht nur die Rentenproblematik, aber nicht den strukturellen Wandel der Gesellschaft (die Entindustrialisierung und die damit verursachte Arbeitslosigkeit) berücksichtigt. Die in den statistischen Prognosen aufgezeichne­ten Beschäftigten werden nämlich aus ihren Einkommen neben immer mehr Rentnern noch einige zusätzliche Arbeitslose unterhalten müssen, und zwar desto mehr, je mehr Menschen da sind. Die gleiche Problematik gilt übrigens auch für die in den letzten Jahren immer mehr geforderte Zuwanderung von Ausländern, von denen in Wirklichkeit nur ein ganz geringer Anteil als Arbeitskräfte tatsächlich gebraucht wird. Mehr „Menschenmaterial“ bedeutet nicht zwangsläu­fig Einkommenszuwachs, sondern in Zeiten wirtschaftlichen Wandels nur die Beschleu­nigung des Niedergangs. Das Problem besteht auch nicht darin, daß eine schrump­fende Bevölkerung ihre immer länger lebenden Senioren nicht mehr ernähren kann, sondern daß die Renten und alle übrigen sozialen Systeme (die Arbeitslosen- und Krankenversiche­rung) an das Arbeitseinkommen gekoppelt sind.

Die notwendige Reform der Sozialsysteme bestünde somit in der Entkoppelung der sozia­len Leistungen von der Arbeitswelt bzw. in der Ersetzung der bestehenden Sozialversicherun­gen durch steuerfinanzierte einkommensunabhängige Grundsicherung: Grundeinkommen (Bürger­geld), Grundrente und gesundheitliche Grundsicherung, die durch Erwerbsarbeit, die bereits bestehenden Ansprüche (z.B. gesetzliche Rente) sowie durch private Vorsorgesy­steme ergänzt werden könnten. Die Entwicklungstendenz der heutigen Gesellschaft läuft dar­auf gezwungenermaßen hinaus. Einen Versuch, den zusammenbrechenden Sozialstaat in die­sem Sinne zu reformieren, hat nichtsdestoweniger in Deutschland noch nie jemand gewagt. Statt dessen werden stets aus kurzsichtiger und punktueller Perspektive oder wohltaktischem Kal­kül Vorschläge hervorgebracht und nur aus isolierten Betrachtungen entstandene widersprüchli­che Maßnahmen ergriffen, deren unberücksichtigte Nebenwirkungen und Fol­gen sich im ganzen System ausbreiten und gegenseitig verstärken, worauf bereits vor drei­ßig Jahren Kurt Biedenkopf hingewiesen hat. Aus politischen Kompromissen und Rücksich­ten auf vielerlei Interessen werden schließlich unausgegorene „Mogelpackungen“ als Reformen präsentiert, die nicht auf Ursachen, sondern auf Symptome gesellschaftlicher Miß­stände zielen und zu deren Bekämpfung ganze Armeen von Hilfeleistenden angeheuert wer­den.

Am Ende des Wohlstands

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