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Lehmschauer
ОглавлениеSie kam an einem Morgen zu Frühlingsbeginn hier an. Die Bäume waren noch kahl. Bis auf die Trauerweiden. Das Wasser, das gemächlich unter dem Gitter der Rinnsteine plätscherte, erinnerte sie an japanische Gärten. Sie folgte der menschenleeren, schnurgeraden Straße, die dann nach links abbog und die vom Morgentau feuchten Getreidefelder in zwei Teile schnitt. Verschlafene Häuschen tauchten auf. In weiter Ferne sah sie das weiße Schild, auf dem der Name der Stadt stehen musste. Sie beschloss, bis dorthin zu gehen. Und so lief sie trotz der Müdigkeit noch lange weiter, obwohl das Laufen doch schwerfällt, ohne Beine, ohne Füße, ohne irgendetwas unterhalb der Brust.
Einige Stunden zuvor war sie erwacht. Die Dunkelheit war wie Staub in ihre Augen gedrungen. Im Liegen hatte sie die Arme nach oben gestreckt und war gegen eine Decke gestoßen. Sie hatte die Fingernägel hineingebohrt, und Erde war auf sie heruntergerieselt. Da hatte sie sich an eine Schaufel erinnert, an mehrere Schaufeln, an eine im Gras liegen gebliebene Taschenlampe, an die weiße Zunge ihres Lichtscheins, an das dumpfe, regelmäßige Geräusch der Lehmschauer auf ihrem Körper, ein Brennen in der Lunge, die sich verzweifelt weitete, um ein wenig Sauerstoff einzuatmen. Sie hatte aufstehen wollen, ihre Beine ausstrecken, den Lehmhaufen vor ihr mit den Zehen berühren. Aber das vor ihr war eine formlose, körperlose Nacht, eine leere, trockene, freie Nacht. Sie hatte die Hände über ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brust wandern lassen. Sie hatte ihren Bauch gesucht, aber sie hatte keinen mehr, auch keine Beine, kein Geschlecht mehr, unterhalb der Brust ein Haufen Asche, trocken, schwarz, der sich bald in alle Winde zerstreuen würde. In Panik hatte sie sich ruckartig aufgesetzt und war heftig gegen die Erddecke gestoßen.
Da hatte sie die Stöcke wieder vor sich gesehen, um deren Enden nach Kerosin, nach Feuer stinkende Lappen gewickelt waren, hatte ihre Hitze gespürt, den Atem der Flammen gehört. Sie hatten sie vergewaltigt, erwürgt, hatten ihren Körper angezündet, sie hatten sie von den Füßen bis zur Brust verbrannt, um die Frau in ihr auszulöschen, die gelebt und geliebt hatte. Sie hatten den Körper in ihrem Körper verbrannt und begraben, das winzige Leben, das im schwarzen Wasser ihres Bauchs schwebte.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie, gelähmt vor Angst, dagelegen hatte, sie wollte den Tag abwarten. Und um ans Ende der Nacht zu gelangen, musste sie das Grab hinter sich lassen. Sie hatte begonnen, die Decke aus Erde über ihrem Kopf abzutragen. Sie hatte beschlossen aufzustehen, zu gehen, die Straße zu überqueren und die Stadt zu erreichen.
Mitten in der Nacht schreckte Marie hoch. Sie hatte den Eindruck, dass jemand im Zimmer war, schwer atmend, in der Dunkelheit zusammengekauert. Sie hätte reflexhaft die Nachttischlampe anschalten sollen, aber sie rührte sich nicht, sie hatte Angst, aber eine furchtbare Traurigkeit half ihr über den Schrecken hinweg, sie stützte sich auf die Ellenbogen, wartete geduldig, als ob es so hatte kommen müssen, dass man sie besuchen kam, dass man die Erde und das Grab aufwühlt und aufsteht, geht, die Meere überquert, die Ozeane und Kontinente, und zu ihr kommt.
Marie flüsterte: »Verzeih mir! Ich sollte mich nicht vor dir fürchten, Mina! Ich bin froh, dass du da bist!«