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Der zweite Schritt

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Am nächsten Morgen in der Schule aber war sie doch begierig zu sehen, ob sie Nora und Lucia unter den anderen Kindern fand. Sie mussten ja in einer Klasse unter und in einer Klasse über ihr sein.

Und tatsächlich, als sie sich in der Pause bei den Kindern umschaute, die in der Klasse unter ihr waren, erkannte sie Nora, die ganz alleine vor sich hinstarrte, und an die Wand des Schulgebäudes gelehnt, nichts von ihrer Umwelt wahrzunehmen schien. Wohingegen Lucia, die sie dann auch sah, eine Menge anderer Kinder um sich versammelt hatte, und sich kichernd mit ihnen unterhielt.

Anna hielt sich bedeckt und beobachtete beide aus der Ferne. Und mit dem Ende der Pause, ging sie zum Klassenzimmer zurück. Auf dem Wege dorthin aber wurde sie von ihrer Lehrerin angesprochen, die das Bild des Baumes in der Hand hielt, das Anna ihr vor ein paar Tagen abgegeben hatte.

„Anna“, fragte die Lehrerin, und deutete auf die zarten grünen und rosa Wesen, die die Krone des Baumes umgaben und durchdrangen. „Sag mir einmal, weil ich das so interessant finde, was ist denn das, was du hier in der Krone des Baumes gemalt hast?“

„Das sind die Sylphen und Elfen, die dort leben“, antwortete Anna.

„Und da unten bei den Wurzeln?“ fragte die Lehrerin weiter, und deutete auf kleine, blaue Wichte, die sich dort bewegten.

„Das sind die Zwerge.“

„Siehst du die so?“

„Ja“, sagte Anna. „Mama hat sie auch so gesehen.“

„Und was machen die Zwerge da?“ fragte die Lehrerein weiter.

„Sie halten den Baum fest. Der würde doch sonst fortfliegen.“ Anna war erstaunt über die Fragen und wunderte sich, dass die Lehrerin diese Wesen nicht sah.

„Und in der Mitte, bei dem Stamm?“ fragte die Lehrerin und deutete auf den Bereich zwischen den Wurzeln und der Krone des Baumes, „gibt es da keine Wesen?“

„Nein“, sagte Anna, „da bin ich.“

Die Lehrerin schaute sie eine Weile verwundert an, und sagte dann: „Danke. Anna“, steckte das Bild wieder in die Mappe zu den anderen Bildern ihrer Schüler, und gab Anna den Weg frei. Für sie war Anna ein besonderes Kind.

Nur Frau Lotte und ihre Töchter erkannten das nicht. Und die waren ein paar Tage später tatsächlich auch schon wieder da, und zogen in das Haus von Anna und ihrem Vater ein.

Nora in das kleinere obere Zimmer und Lucia in das Größere. Und so schliefen dann alle oben, und nur Anna schlief unten, denn der Vater bezog nun mit Lore zusammen wiederum das eheliche Schlafzimmer im oberen Bereich des Hauses.

Aber für Anna begann nun eine schlimme Zeit, denn sie wurde ein Fremdling im eigenen Haus. Sie wurde, so hätte man sagen können, das Aschenputtel der Familie.

Zuerst waren sie ja nett zu ihr, denn sie fühlten sich noch nicht so richtig heimisch. Aber mit der Zeit, wurden sie das, was man sich in den Märchen unter der bösen Stiefmutter und den hässlichen Töchtern vorstellte.

Nora liebte es, alles in Frage zu stellen, was von Anna kam, und Lucia sah nur sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse. Sie waren stark in ihrem Ich und in dem, was sie für sich erreichen wollten, und Anna war schwach und fügsam.

Doch zum Glück war da noch der Garten, und dort fand sie täglich die Gelegenheit, ihre Mutter im Wandel der Natur zu begrüßen. Denn im Gang der Sonne durch den Tag hindurch, offenbarte sich ihr der Schlag des mütterlichen Herzens, und in ihrem Gebet, das sie dort regelmäßig sprach, fand sie die Kraft das Böse zu ertragen, das ihr nun tagtäglich mehr von den Hinzugezogenen kam.

„Du bist doof“, sagte da Nora eines Tages ganz offen zu ihr, als sie das Gebet ihrer Mutter bei Tisch sprechen wollte, und schaffte es tatsächlich auch, dass das Gebet nicht mehr gesprochen wurde. Auch schaffte sie es, dass Annas Lieblingsessen nicht mehr auf den Tisch kam, und dass sie etwas abseits von den anderen sitzen musste. So störte sie Anna, wo sie nur konnte, und benutzte sie als willige Magd für alle Tätigkeiten, die sie selbst nicht gerne ausführte; wie zum Beispiel Einkaufen, Holzholen, Geschirrspülen, Putzen usw.

Auch trachtete sie danach, alle Rhythmen, die an Annas Mutter erinnerten, zu zerstören. Es verschwanden also nicht nur das Gebet bei Tisch, sondern auch das Gebet zur Nacht, und das Vorlesen von Märchen. Und so geschah es mit vielen schönen und heiligen Dingen, die bei ihr und ihrem Vater üblich gewesen waren. Denn die Stiefmutter hörte auf sie und betörte den Vater so, dass dieser ihren Wünschen entsprach.

Lucia war anders als ihre Schwester Nora. Sie war auch böse und gemein gegenüber Anna, hüllte diese Boshaftigkeit aber in den Mantel der Liebe. Sie erzählte ihr von Gott und beteuerte, dass sie an ihn glaube, und dass Anna keinen Anteil an ihm habe, da sie nicht an ihn glaube. Dabei glaubte Lucia in Wahrheit nur an sich selbst und an einen ganz persönlichen Gott – der alles für sie tat. Sie vertraute auf seine Führung, und alles was sie haben wollte und sich nahm, war ihr von Gott zugesagt und geschenkt. Und Annas Hingabe und Liebe zur Natur empfand sie als ungläubig und überflüssig, weil die Natur doch nur dazu da sei den Menschen zu beschenken und von diesem nichts erwarte. Gott selbst würde sich um sie kümmern.

Also störte sie Anna in ihrer Naturbetrachtung wo immer sie konnte, und rief sie für irgendeine Arbeit ins Haus zurück, wenn diese einmal längere Zeit im Garten verweilte.

So wurde Annas Wesen von den Stiefschwestern entzaubert, gedemütigt und – bildlich gesprochen – in Alltagskleider und Holzschuhe gesteckt.

Einmal zum Beispiel sollte Anna in ihrer Klasse ein Referat halten über einen Ausflug, den die Klasse an die Nordsee gemacht hatte. Und die Stiefschwestern fanden in ihrem Zimmer ihre Aufzeichnungen.

Nora sagte: „Du kannst doch nicht sagen: «Der Wind verband sich meiner Seele und suchte sich in mir ein neues zu Hause». – Du hast doch gar keine Seele, und der Wind hat sein eigenes zu Hause – ha, ha. Oder hier: «Die Sonne war wie ein Tor, durch das man hindurch schauen konnte». – Sie besteht aus Wasserstoff und Helium, und wird dich und deine schönen Augen verbrennen, wenn du in sie hineinschaust. Merk dir das. Man wird dich auslachen – man sollte dich auslachen. Und hier: «Mein Herz atmete mit der Weite des Meeres und war wie ein Fisch im Spiel der Wellen». – Besser wäre es wohl, du würdest gar nicht mehr zur Schule gehen, sondern irgendeine Dienstmädchenarbeit bei den Matrosen annahmen, dumm wie du bist.“

Sie meinte es ernst und war ehrlich entsetzt. Denn sie wehrte sich gegen jede Art lebendiger Fantasie, und beschäftigte sich in den folgenden Jahren auch nur mit der reinen naturwissenschaftlichen Lehre. Eine Seele lehnte sie grundsätzlich ab. Und Annas Ansichten machte sie schlecht, wo immer sie konnte.

Lucia reagierte auch da anders. Sie sagte: „Du redest viel zu viel von dem, was du der Natur geben willst. Es genügt doch, wenn du sie als Gottes Werk schilderst, das er um uns herum aufgebaut hat, weil er uns liebt. Du bist hochmütig und stellst deine Seele über Gott, so als könne er noch etwas von dir lernen. Du solltest niederknien und ihm danken. Lerne das gefälligst. Und wenn du niedergekniet bist, kannst du mir auch gleich die Schuhe putzen.“

Auch sie meinte es ehrlich und ernst, und ging in den nächsten Jahren einen anderen Weg. Sie schloss sich einer Glaubensgemeinschaft an, betete viel und ließ ihren Unmut an Anna aus.

Anna litt und duldete. Sie war wie ein Nichts zwischen diesen extremen Welten, und verbrannte ihre eigenen Wünsche im Dienste der anderen. Dann schlief sie in deren Asche und betete, dass es eines Tages anders werden möge.

Auch die Stiefmutter meinte in ihr eine willige Magd gefunden zu haben. Sie musste, kaum hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht, in der Küche helfen, den anderen die Kleider bügeln, stopfen, den Boden wischen und den Garten pflegen. Und wenn der Vater nicht zu Hause war, so musste sie ganz alleine in der Küche essen.

Sie ergab sich aber in ihr Schicksal und sagte nur manchmal, wenn es gar zu schlimm wurde, und sie sich selbst wie dem Himmel entsunken sah, die letzten Verse des Tischgebetes leise vor sich hin: „Es hat auf unserem Tische, die Sterne neu gefunden.“ Das gab ihr Kraft und Ruhe – und die Sicherheit mit ihrer Mutter verbunden zu sein.

Und da sie trotz alledem immer wach und aufmerksam blieb, so lernte sie während dieser Zeit viel für ihr Leben. Vor allem über den Weg der anderen im Gegensatz zu dem ihren.

Wenn sie zum Beispiel das Zimmer Noras reinigte, so konnte sie an den vielen naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen, die sie dort fand, in eine Welt eintauchen, die ihr selbst in ihrem Herzen niemals erschienen wäre, und die ihr die Lehrer in der Schule so auch nie geschildert hatten. In diesen Schriften aber – in die sie hineinschauen konnte, weil sie offen auf dem Tisch lagen – sah sie in eine Welt hinein, die ihr nicht nur fremd, sondern auch unheimlich war.

Da waren zum Beispiel Aufzeichnungen über die Entstehung der Welt und des Menschen. In ihnen wurde von einem Urknall gesprochen und die Sonne wurde nur so gesehen, als sei sie ein Gasball, der zusammen mit der Erde und allen anderen Planeten, aus diesem Urknall entstanden war und bald auch wieder verlöschen würde. Da waren Schriften über die Entstehung des Lebens aus einem Urschlamm heraus, über den Kampf des Daseins, und über die Entwicklung der Tiere bis hinauf zum Menschen.

Und die Art, wie das dargestellt wurde, erschreckte sie, da sie an ihre Mutter und an deren Blick aus der Sonne dachte. Für sie waren die Weltenkörper belebt, hatten Seele und Geist und schauten auf sie herab. Und für sie war das Leben die Offenbarung eines Schöpfers, der die Welt aus sich herausgesetzt hatte und gestaltete. Niemals konnte sie sich vorstellen, dass das Leben – so mir nichts, dir nichts – aus einem Urschlamm heraus hätte entstehen können. Denn für sie stand die Idee der Schöpfung vor dem stofflichen Werden. Das heißt, dass sich für ihren Blick die Entstehung der Welt von oben nach unter gestaltete, und nicht von unten nach oben. Denn die Idee Gottes stand für sie an erster Stelle der Schöpfung – so wie der Uhrmacher am Beginn seiner Schöpfung steht.

Und in Lucias Zimmer fand sie Bilder und Gebete, die ihr sagten, dass Lucia die irdische Natur zwar liebte und verehrte, aber nur zu ihrem eigenen Heile. Sie sah sie als Schöpfung Gottes, der ihr damit ein Paradies auf Erden geschaffen hatte, und missachtete ihre eigene Aufgabe innerhalb derselben. Für sie war der Mensch ausersehen, Gottes Wille auf Erden zu tun und damit sein eigenes größtmögliches Heil zu fördern. Es waren schöne Worte, die betäuben konnten, aber sie rissen den Vorhang zur Wahrheit nicht auf. Sie sprachen ihr nicht von den wahren Geheimnissen der Natur und des Lebens. Und auch nicht von der Verantwortung des Menschen gegenüber einer zukünftigen Welt. Sie waren ihr zu ungewiss und zu weit weg vom wahren Sinn des Lebens und natürlich von dem Geist ihrer Mutter.

Für Anna gingen diese Aufzeichnungen und Schriften am wahren Sinn des Lebens vorbei, denn für sie waren Natur und Geist eine Einheit, und der Mensch ein Mitschöpfer am Werden der Welt. Und so waren ihr diese Aufzeichnungen fremd, und zeigten ihr doch, wie man aus verschiedenen Richtungen heraus, auf das Leben und den Menschen schauen konnte.

Sie aber sah, dass sich das eine – der Geist – im anderen – der Materie – nur offenbarte, und sie selbst als Mensch zwischen diesen Welten gestaltend stand. Und dort wollte sie sich finden und kennen lernen. Das war ihre Suche, ihr Kampf und ihr Welt. Und so wurde sie trotz des vielen Kummers und der vielen Arbeit im laufe der Jahre immer reicher und edler in ihrem Herzen und unter der Haushaltsschürze und der Arbeitskleidung auch immer schöner – was die Stieftöchter natürlich sahen und was sie nur noch mehr verunsicherte und erzürnte.

Und eines Tages sagte Lucia zu ihr: „Komm Anna, wir laden dich ein, mit uns einen Spaziergang zu machen.“

Aschenputtels Gebet

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