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Philosophie als Zivilisationspädagogik
ОглавлениеHerr Sloterdijk, Sie zählen zu den wenigen Philosophen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück?
Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube an den Erfolg oder seinen Anschein nur widerwillig oder, wenn Sie wollen, gar nicht. Die kulturelle Konstellation ist nicht mehr so, dass eine literarische oder eine philosophische Stimme, die unverkennbar hochkulturell gefärbt ist, in der heutigen Medien- und Kulturlandschaft wirklich erfolgreich sein kann. Im heutigen Milieu hat das Auseinanderdriften der populärkulturellen und hochkulturellen Felder ein solches Maß an Entfremdung zwischen den Bereichen hervorgerufen, dass es Grenzgänger kaum noch geben kann. Ja, dass überhaupt noch eine Art Verkehr stattfindet, ist schon das Erstaunliche, und das liefert wohl die Begründung für das, was Sie meinen Erfolg nennen. Aber sehen wir die Dinge aus der Nähe an: Wenn man von einem philosophischen Buch knapp 40 000 Exemplare verkauft, wie es zum Beispiel bei meinem vorletzten Buch Zorn und Zeit der Fall war, ist es zwar nach den Kriterien des Metiers ein ziemlich gutes Ergebnis. Aber in den Kategorien der Massenkultur gesprochen ist so eine Zahl nur die Umschreibung für Nicht-Inexistenz. Das ist der Punkt.
Mein Freund Boris Groys hat mir mal eine Geschichte von einem seiner russischen Bekannten erzählt, der nach einem ersten Besuch in New York entsetzt und begeistert zurückkam. Was er dort erlebt hatte war der Kulturschock, der einem Gebildeten alten Schlages in einer echten Marktgesellschaft bevorsteht. In Moskau, so der Russe, wäre ein Intellektueller, der es sich in einer Konversation hätte anmerken lassen, dass er zum Beispiel den Namen von Albert Camus noch nicht gehört habe, für immer blamiert gewesen. Ganz anders in New York – wenn dort jemand Camus nicht kennt, dann heißt es einfach: Camus hat es nicht geschafft.
Diese Geschichte macht klar, worum es heute geht. Aus unserer Sphäre kann es heute absolut niemand mehr schaffen. Zumindest nicht in dem Sinne, wie es vor 50 Jahren noch einige Autoren vorgemacht hatten. Damals allerdings war die Auskristallisierung der Massenkultur noch nicht so weit vorangeschritten. Figuren wie der eben genannte Camus, aber mehr noch Jean-Paul Sartre, waren richtige Global Players. Kurzum, ich zögere, meine gelegentlichen grenzgängerischen Evasionen auf die andere Seite mit Erfolgen zu verwechseln.
Was bedeutet Ihnen als Schriftsteller das Etikett Philosophie? Wofür steht der Begriff Philosophie eigentlich?
Philosophie ist von außen gesehen eine relativ klar definierte Angelegenheit.
Es ist einfach das, was Philosophen tun. Und Philosophen sind die Leute, die in den philosophischen Fakultäten situiert sind. Das ist die Minimaldefinition von Philosophie, die sich aus der pragmatischen Sicht ergibt. Sie ist begreiflicherweise völlig selbstbezüglich und tautologisch. Daneben gibt es gottlob noch immer den berühmten „Weltbegriff“ der Philosophie, hinter dem übrigens – und das hat Immanuel Kant nicht erwähnt – ein noch anspruchsvollerer Überbegriff steht, der ethische Begriff der Philosophie. Nach dem ist Philosophie als Lebensform zu verstehen, gleichsam als eine Ordensregel. Der Philosoph ist – etwa bei den Kynikern – derjenige, der seinen zweiten Mantel verkauft und beschließt, in Zukunft ohne Kopfstütze zu schlafen. Ein Philosoph ist aus antiker Sicht jemand, der sein Leben nach den Regeln des Kosmos einrichtet. Er ist ein Mönch der Vernunft, und seine Weisheit zeigt sich darin, dass er sich selbst als eine lokale Funktion des Universums versteht. Dies ist gewiss nicht mehr sehr aktuell, an die Stelle dieses integralen Konzepts philosophischen Lebens ist ein moderner Weltbegriff getreten, bei dem es um so etwas wie eine universale Beratungskompetenz geht. Daher genießt die neuere Philosophie ein Interventionsprivileg hinsichtlich aller existenziellen und politischen Fragen. Während ansonsten Dilettantismus in Fragen der Erkenntnis zu Recht verboten ist, wird er bei den Philosophen geradezu gefordert, nämlich als Bereitschaft, in alles hineinzureden – was eigentlich auch heißt: in alle Dinge etwas hineinzulesen. Philosophie ist so gesehen eine hybride Lesepraxis. Wenn man Klassiker liest und solche Lektüren kreuzt, bleibt man Klassizist: Hierbei ist das Lektüreverhalten auf das Wechselspiel zwischen Primär- und Sekundärliteratur begrenzt. Oder aber man wird Modernist und liest interdisziplinär, dabei entstehen Hybridlektüren und gewagtere Kreuzungen. Das ist so ungefähr die Definition meiner Arbeit.
Wie würden Sie Ihr Werk in der philosophischen Landschaft verorten und wie stehen Sie zur akademischen Philosophie?
Ich will mich fürs Erste nicht so sehr in einer Landschaft, sondern zuerst in einer Zeitlinie verorten; landschaftliche Bezüge kommen erst später dazu. Wenn ich die Frage beantworten soll, wo ich herkomme, dann würde ich zuerst auf den deutschen Spätidealismus hinweisen, auf diese ganze Geschichte, die Karl Löwith in seinem Klassiker Von Hegel zu Nietzsche erzählt hat. Das war meine erste Prägung, mein Familiensystem, ich habe diese ganze Literatur quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Das liegt zum Teil daran, dass an unserem Münchner Gymnasium ein Mathematiker unterrichtet hat, der zugleich Philosoph war und der mit uns Schülern in einer Arbeitsgruppe die Kritik der reinen Vernunft gelesen hat – damals war ich fünfzehn, sechzehn. Der stärkste äußere Impuls kam damals aber von der theologischen Seite her, von einem protestantischen Religionslehrer, der nicht über den lieben Jesus redete, sondern über Nietzsche, Kierkegaard und Jaspers. Die These, dass Gott tot sei, war ja im Verhältnis zu der, dass er lebe, wirklich viel interessanter, und ein Geistlicher, der etwas auf sich hielt, diskutierte mit den Jungen damals lieber über das Testament des toten Gottes als über das Alte und das Neue. Ohnehin gab es nach dem Krieg für positive Glaubensbekenntnisse wenig Anhaltspunkte.
Was die landschaftliche Zuordnung angeht, wäre bei mir der Zug nach Frankreich zu erwähnen. Wobei übrigens der eben erwähnte Löwith der einzige Vertreter der deutschen Philosophie war, der begriffen hatte, dass Paul Valéry ein Philosoph eigenen Rechts war. Bei ihm standen der Philosoph und der Schriftsteller in völliger Gleichberechtigung nebeneinander, der eine dementierte den anderen nicht. Diese Zweisprachigkeit aus Literatur und Philosophie war für mich von früh an eine Selbstverständlichkeit. Dennoch, seit ich publiziere, stehe ich ständig vor dieser für mich völlig sinnlosen Frage, wie ich mich gegenüber der akademischen Philosophie verhalte. Das scheint mir vor allem deswegen absurd, weil ja der Typus, dem ich mich zurechne, gerade in Deutschland sehr gut etabliert war. Wir hatten im 19. Jahrhundert Arthur Schopenhauer, wir hatten Friedrich Nietzsche und Karl Marx, und seit die Übersetzungen aus dem Dänischen vorlagen, auch Sören Kierkegaard. Das waren alles keine Professoren, sondern Autoren, die den Weltbegriff der Philosophie anreicherten. Wir haben dann im 20. Jahrhundert auf französischer Seite mit Valéry, Camus, Sartre, Foucault und so weiter eine Reihe von Philosophen erlebt, die allesamt zugleich eminente Schriftsteller gewesen sind. Das ist alles Autorenphilosophie, die dem Weltbegriff von Philosophie neue Aspekte hinzufügte. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Frage nach meinem Verhältnis zur akademischen Philosophie überhaupt nicht, weil die Frage ja voraussetzt, dass der literaturnahe Typus delegitimiert sei und wir das Monopol des Professoralen akzeptieren sollten. Wieso eigentlich?
Auf der anderen Seite würde ich auf meinem Feld nie eine reine Literatur verteidigen, die nicht über das Handwerkszeug des Fachs verfügt. Die Rezeptionsverweigerung, die in der deutschen akademischen Szene meiner Arbeit gegenüber hier und dort zu beobachten war, betrifft ja üblicherweise nicht das Handwerk, sondern den literarischen Mehrwert, der bei mir hinzukommt, und auf den sich einzulassen für den Homo academicus ein existenzielles Risiko beinhaltet. Ich selbst bin von guter Schulphilosophie begeistert, aber sie muss, denke ich, ihr Gegenlager in einer vitalen Zeitphilosophie haben, das heißt in einer Autorenphilosophie, die die intellektuelle Evolution mit vorantreibt. Ansonsten bereitet gerade der Akademismus den Untergang der Philosophie vor. Akademismus, das soll man nicht vergessen, kann eine Form von Dekadenz sein.
Sind Philosophen die Ärzte der Kultur, wie Nietzsche schreibt?
Das ist zu hoch gegriffen. Kulturen brauchen keine Ärzte, weil Kulturen als Ganzes nicht krank sein können, zumindest nicht im Sinn der Inneren Medizin. Aber sie weisen Haltungsfehler auf, die nach Korrektur verlangen. Die großen Orthopäden der jüngeren Philosophie – ich denke zum Beispiel an Husserl oder Heidegger oder Hermann Schmitz – arbeiten sich an den Fehlhaltungen der europäischen Rationalitätskultur ab. Und solch ein Fehlhaltungstheoretiker war in gewisser Weise auch Nietzsche, sofern er die durch das Christentum eingeführte moralische Verkrümmung des westlichen Menschen therapieren wollte.
Heidegger selbst wies im Übrigen alle Symptome einer typischen Philosophenkrankheit auf, nämlich zu glauben, die Bewegung des Weltgeistes vollziehe sich durch seine schreibende Hand beziehungsweise durch seinen akademischen Vortrag. Immerhin: Er war auch einer von denen, die vorgeführt haben, dass Philosophie, wenn sie bei der Sache ist, immer von einer anderen Kanzel als dem akademischen Lehrstuhl aus spricht.
Wie würden Sie das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft bestimmen?
Diese Frage führt uns auf ein weites Feld. Philosophie ist selbst keine Wissenschaft. Sie ist so etwas wie eine Moderatorin oder Partnerin der Wissenschaft, in historischer Sicht auch eine Matrix der Wissenschaften – doch nicht diese selbst. Sie ist, wenn Sie so wollen, sogar in ihrer wissenschaftstheoretischen Ausprägung, bestenfalls so etwas wie ein Wissenschaftsrat. Aber sie kann und soll keine Wissenschaft sein, weil sie eine ganz andere Funktion ausübt. Ich erinnere noch einmal an die Tradition der Philosophie als Modus vivendi, in der es immer einen klaren Primat der Lebensberatung gab. In der Antike wurde wissenschaftliche Betätigung immer nur so weit betrieben, wie sie nötig war, um die Therapie der Seele voranzubringen.
Bleibt da noch Raum für überzeitliche Wahrheiten?
Ja, selbstverständlich, wenn man Wahrheit als Eigenschaft von Sätzen versteht. Sätze sind überzeitlich wahr, weil und insofern es so etwas wie unverwüstliche Sätze gibt, die noch länger da sein werden, als Atommüll in Endlagern strahlen kann. Die wahren Sätze strahlen immer, die euklidischen Gesetze oder die Winkelsumme im Dreieck, die braucht man nicht in einem alten Salzbergwerk aufzubewahren, sie strahlen auf eine Weise, die mit unserem Dasein im alltäglichen Biotop bis zum Beweis des Gegenteils kompatibel zu sein scheint. Dasselbe gilt auch für historische Sätze. Nach allem, was wir wissen, wurde Cäsar an den Iden des März ermordet, und eine richtige Beschreibung dieses Vorgangs – egal wieviel daran von den Redakteuren stammt – bleibt für den Rest der Zeiten wahr. Es ist nicht so, dass wir eines Tages erklären müssten: Im Lichte neuerer Erkenntnisse oder durch eine Veränderung der Perspektive verändert sich das, was damals passiert ist, von Grund auf – und Caesar wurde an den Kalenden des Januar ermordet. Keine Sorge, die Interpretationen verändern sich, aber es gibt eine relativ entrückte Dimension. Ich bin, wie Sie sehen, kein Anhänger des radikalen Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, dass alles nur durch meine grammatischen Entscheidungen und unsere kollektiven Verabredungen konstruiert wird. Ich neige eher zu einer konventionell realistischen Ontologie. Andererseits meine ich, wir wissen vielleicht noch gar nicht, wie viele Ontologien es geben muss. Es könnte zehn verschiedene Ontologien für jeweils verschiedene Dimensionen geben – eine für Zahlen, eine für geometrische Figuren, eine für Sachverhalte, eine für einzelne Ereignisse, eine für Ereignisströme, eine für Maschinen, eine für Personen, eine für Kunstwerke, eine für Götter, eine für Tiere und so weiter.
Edmund Husserl war bestrebt, Philosophie als strenge Wissenschaft zu etablieren. War dies eine Fehlentwicklung in der Philosophiegeschichte?
Nein. Husserl schneidet aus dem Feld der Philosophie nur einen bestimmten Ausschnitt heraus. Dabei kommt es, zugleich mit einer Bereicherung an Präzision, zu einer fantastischen Verarmung des Gegenstandsbereichs der Philosophie. Es entsteht so etwas wie ein In-vitro-Denken, bei dem der Anspruch auf Verwissenschaftlichung gewiss ein Stück weit vorangetrieben werden konnte. Insofern war das kein Irrweg, aber diese Art des Philosophierens taugt nicht dazu, alle philosophischen Stile zu monopolisieren. Wir kommen von Husserl aus nur mit größter Mühe zu einer Sozialphilosophie, und die Welt der geschichtlichen Dinge hat Husserl, wie er selber einmal bemerkte, einfach vergessen.
In Ihren Werken spielt der Begriff der Gestalt eine große Rolle. Sie interessieren sich für Gestaltentwicklungen, Formen und Transformationen.
Das ist richtig. Ich hätte die Sphären nicht geschrieben, wenn ich geglaubt hätte, dass die Alternative, vor welche die traditionelle Philosophie uns hinsichtlich geistiger Objekte stellt, eine überzeugende wäre. Es gibt neben den Ideen, den Zahlen und den Begriffen eben noch etwas anderes – und das sind die Formen im Sinn von Gestalten. Der Formbegriff hat zwar in der Philosophie eine große Rolle gespielt, aber die Formen als solche kamen dennoch zumeist gar nicht vor. Man hat sich auf den Formbegriff berufen, um begriffliche Verallgemeinerungen zu propagieren. Die Form als Form hingegen hat die Philosophen kaum interessiert. Ich könnte Ihnen kaum einen Philosophen der Neuzeit nennen, der zu den platonischen Körpern (die „regulären“ Vielecke wie zum Beispiel Würfel, Tetraeder, Dodekaeder und so weiter) etwas Belangvolles zu sagen wusste. Außer Leibniz und ein paar Denkern, die an ihn angeknüpft haben, wie Dietrich Mahnke, war da praktisch niemand, der in den letzten 200 Jahren zu Kugeln etwas Sinnvolles beigesteuert hätte. Die Scholastik kennt die Lehre von der Zahl und die Lehre vom Begriff. Aber diese Alternative ist alles andere als vollständig. Dass sich zwischen der Zahl und dem Begriff der Zwischenbereich der Formen auftut, das ist die starke These, der ich nachgehe. Unter den Rezensenten meines Sphärenprojekts traten Leute auf, die dumm genug waren, das Wort Kugel nur eine Metapher zu nennen. Doch wenn ich den Ausdruck in den Sphären metaphorisch gebrauchte, dann habe ich das gekennzeichnet. Aber fürs Erste sind Kugeln keine Metaphern, sondern Formen.
Woher rührt diese Formvergessenheit in der Philosophie?
Die noch ärger ist als die berühmte Seinsvergessenheit – die übrigens von Heidegger stark überschätzt wurde. Ich meine, dieser Defekt hat mit dem Begriffsglauben der Philosophen zu tun, auch damit, dass die moderne Erkenntnistheorie fatale Konsequenzen nach sich gezogen hat, weil sie die synthetischen Urteile a priori in den Verstand gelegt hat; wohingegen Formen die Information enthalten, dass die Synthesis nicht erst im Verstand passiert. Das heißt, die wirkliche Form ist eine empfangene Form, die nicht von mir kommt. Ich denke zur Kugel ja nicht die Kugelgestalt im Verstand hinzu, sondern finde sie als eine formale Eigenschaft des Objekts vor. Das kann als nicht ideales oder als ideales Objekt auftreten, aber es hat in jedem Fall die gegebene Form, wenn es sie eben hat. Durch den Transzendentalismus haben wir den ganzen Bereich des Morphologischen, den Bereich der Formen und der Formentstehung, hinweg eskamotiert. Es gibt zwar immer wieder Versuche, die Form, die Gestalt auch vom Ding her zu denken, aber als bloßer Kantianer könnte ich dazu keine drei vernünftigen Sätze sagen. Genau dieses Problem greift die Sphärenthematik des zweiten Bands der Sphärentrilogie auf, in dem der Begriff der Kugel überwiegend nicht metaphorisch verwendet wird.
In diesem Zusammenhang fällt der Begriff der demokratischen Esoterik. Was hat es damit auf sich?
Der Begriff „demokratisch“ ist hier natürlich nicht politisch zu verstehen, sondern wissenschaftstheoretisch. Demokratisch ist eine Theorie dann, wenn sie so etwas wie Waffengleichheit der diskursiven Bedingungen unterstellt. Esoterik hingegen ist die Rede von Verborgenem, also von Dingen, die entweder kontraintuitiv sind oder schwierige Zugangsvoraussetzungen haben. Wenn man etwa eine genetische Theorie der Paarbeziehung entwickeln will, wie ich es in Sphären I versuche, kommt man an einen Punkt, wo es wirklich ein wenig abgründig wird. So etwa, wenn man sich fragt: Hat der Fötus eine Beziehung zu seinem mütterlichen Milieu? Vermutlich ja. Nur, wie sieht es dann mit dem kognitiven Zugang zu solchen verborgenen Verhältnissen aus? Hieran ist nichts öffentlich und evident. Ich kann mich ja nicht mit dem Kollegen Habermas am Eingang zum Mutterleib verabreden. Aus dieser Verlegenheit ergab sich die am stärksten literarisierte Stelle im ersten Band der Sphärentrilogie: das ominöse Mutterleibskapitel, in dem ich Sprachformen verwende, die ein radikal intuitives Verständnis evozieren. Da will ich etwas sagen, was man in der ersten Person sinnvollerweise nicht sagen kann, vielleicht auch gar nicht sagen soll, weil es ja eine unwahrscheinliche Indiskretion impliziert. Ich habe an der kritischen Stelle, wo es am indiskretesten wird, Fotografien von einer indischen Yoni-Höhle eingefügt, die eine große Vulva zeigen, und überlasse es dem Leser, sich Rituale vorzustellen, bei denen Initianten dort hindurch geschickt werden. In Fellinis Casanova-Film gibt es eine ebenso anzügliche Stelle, wo die Große Muna auftaucht, eine betretbare weibliche Öffnung, als Jahrmarktsattraktion. Mir ging es in Sphären I darum, solche Figuren für die philosophische Untersuchung zu erschließen.
Selbst wenn man, wie ich es tue, eine zweipolige Subjekttheorie vorschlägt, stellt sich die Frage, ab wann ein Subjekt für sich und seinen Anderen vorhanden ist. Für Fichte ist das Problem fürs Erste einfach zu lösen, weil bei ihm das Subjekt von dem Moment an da ist, wo es sich setzt. Darum sagt er ja sehr schön, Eltern sollten als den eigentlichen Geburtstag ihres Kindes den Tag feiern, an dem es zum ersten Mal „ich“ sagt – das ist das sprachliche Vorspiel zur Selbstsetzung. Kurzum, ich denke, der Ausdruck Esoterik wird hier nicht unzulässig verwendet. Mit der obskuren Mystik der Bahnhofsbuchhandlungen hat das alles nicht das Geringste zu tun.
In Ihrem Roman Der Zauberbaum wird einem angehenden Arzt geraten, sich mit der Gebärmutter als einem zu wenig erforschten Organ auseinanderzusetzen, und dann, 20 Jahre später, gibt es ein entsprechendes Kapitel in Ihrer Sphärentrilogie.
Das hat bisher, scheint mir, niemand außer Ihnen bemerkt. Jedenfalls ist der Zusammenhang gut gesehen: Da hat sich eine Motivwanderung vollzogen. Einen Zwischenschritt findet man vielleicht in einem entsprechenden Kapitel in der Kritik der zynischen Vernunft, wo vom Zynismus der Mediziner die Rede ist. Der alte Herr, der im Roman diese makabren Sachen sagt und der an das Glas klopft, in dem eine Gebärmutter in einer durchsichtigen Lösung schwebt – das ist so ein Zyniker alten Schlags. Im Übrigen versuche ich in der Kritik, den ärztlichen Zynismus als Inkognito eines Humanismus zu schildern. Tatsächlich wandern mehrere Motive dieser Art durch meine Bücher hindurch. Das ist wohl ein Reflex der Tatsache, dass ich zu dieser unglückseligen Generation gehöre, die nach 1968 an den neuen Menschen geglaubt hat, der mit tiefenpsychologischen Mitteln befreit werden sollte. So wie man heute, allerdings nur satirisch, behauptet: „In jedem Iraker steckt ein Amerikaner, der heraus will“, so haben wir damals, ganz ernsthaft, gesagt: „In jedem Bürger steckt ein Kind, das heraus will“. Das Kind als Garant eines Neuanfangs.
War das nicht eine romantische Vorstellung?
1968 war der letzte Seufzer der politischen Romantik. Ich bin damals durch den Schleudersitz der Zynismusanalyse aus diesem System ausgestiegen. Die nächsten Schritte waren meine Reise nach Indien und dann die Phänomenologie heideggerschen Stils.
Welche Bedeutung hatte Ihr Indienaufenthalt für Ihr Denken?
Sie müssen wissen, dass ich anfangs sehr stark von der Phänomenologie husserlschen Typs geprägt war, weil ich als Schüler von Bernhard Waldenfels in München in diese Denkschule initiiert wurde. Erst nach Indien habe ich angefangen, Heidegger zu lesen, weil ich damals nach einer europäischen Theorie suchte, die mir helfen sollte, die Erfahrung des östlichen Denkens zu integrieren. Nach meiner Rückkehr aus Indien habe ich verstanden, was Heideggers Intervention bedeutete – nicht weniger als den längst fälligen Versuch, sich aus dem 2500-jährigen Reich der europäischen Metaphysik herauszuwinden. Und da ich in Indien eine ganz andere Form von Denken kennengelernt hatte, hatte ich eine ungefähre Vorstellung, wie diese Herausdrehung geschehen könnte.
Heute fahren wir aber nicht mehr einseitig nach Indien, die Inder kommen jetzt auch als Agenten der Globalisierung zu uns. Das scheint die Rache des Orients zu sein, und es hat lange gedauert, bis ich verstand, dass sie eigentlich schon damals begonnen hatte. Wir Okzidentalen hatten unseren Orient als Kinderstube des Weltgeistes in Beschlag genommen und unsere eigenen Anfänge dorthin projiziert. Aber dass es eines Tages eine indische Replik geben musste, war uns nicht klar. Inder sind große Realisten. Wenn sie sich fragen: Was haben wir, was wir exportieren könnten? Dann lautet ihre Antwort ganz nüchtern: Wir haben kein Erdöl, wir haben keine Kohle, wir haben nichts, womit man dem Westen imponieren kann – außer mit Religion und Rechenkapazitäten. Probieren wir’s fürs Erste mit der Religion. Bhagwan Shree Rajneesh alias Osho war sicher der genialste Erfinder einer Exportreligion und zugleich ein großer Aufklärer in Religionsdingen. Alles, was er tat, lief auf die Maxime hinaus: Die effektvollste Form, den Fetisch Religion zu ruinieren, ist, selber eine zu gründen.
In Ihrem Buch Die Kritik der zynischen Vernunft kritisieren Sie das westliche Ich-Denken, das Jacques Lacan als „die Geisteskrankheit des Westens“ bezeichnete.
Ich bin nicht sicher, ob ich das heute noch in derselben Weise sagen würde. Ich höre in dieser Art von Ich-Kritik, die von Augustinus bis Lacan reicht, doch immer wieder nur das katholische Gemeckere gegen den sündhaften Stolz des Menschen heraus, und mir scheint das kein fruchtbarer Ansatz mehr zu sein. Es ist die gute alte Anti-Egoismus-Propaganda, die zu allen klerikokratischen Systemen (Priesterherrschaften) gehört. Klerikokratie beruht darauf, dass man die Menschen als Egoisten diagnostiziert und vorgibt, ihnen bei der Überwindung dieser tödlichen Krankheit zu helfen. Das Ego ist aber nicht die Krankheit des Westens, es ist die Krankheit von Menschen in klerikokratischen Systemen. Die Psychoanalyse französischen Typs war hoffentlich die vorerst aktuellste Zuspitzung dieser Tradition. Lacans Psychoanalyse verkörperte in gewisser Weise den Versuch, die Psychoanalyse von ihren jüdischen Tönungen abzulösen und sie in katholische Resonanzen zu übersetzen. Der gemeinsame Nenner hier wie dort ist der Patrozentrismus, eine inzwischen sozialgeschichtlich und psychohistorisch überholte Figur, die das Judentum, das katholische Christentum und die Wiener und Pariser Psychoanalyse gemeinsam hatten und die sie gemeinsam restaurieren möchten. Der junge Lacan stand bekanntlich der Action Française nahe, und der Mensch, dem er sich zeitlebens am nächsten fühlte, war sein Bruder, ein Trappistenmönch. Er kam aus einem rechtsradikalen Umfeld, in dem an einem Katholizismus ohne Gott, einem atheistisch-katholischen Law-and-Order-Syndrom gebastelt wurde: Gott ist tot, aber die Ordnungsstrukturen, die er geschaffen hat, die lassen wir uns nicht nehmen – aus ihnen wird eines Tages das vielzitierte Symbolische. Kurzum, der Hinweis auf das Ich als Krankheit des Westens führt uns nicht weiter. Man bleibt damit in dieser 2000-jährigen Klerikokratie gefangen, in der man den Menschen als Sünder oder Neurotiker a priori behandelt.
Wie steht es um das Verhältnis der Philosophie zum Zeitgeist? Geht es in der Philosophie nicht ganz im hegelschen Sinne darum, ihre eigene Zeit auf den Begriff zu bringen?
Ich würde jedenfalls nicht sagen, dass es eine immer gleichbleibende Aufgabe der Philosophie gibt, sie muss sich ihre Aufgaben in jeder Generation von neuem suchen. Was die Philosophie als Lebensform angeht, so betrifft sie seit jeher nur die Einzelnen und hat folglich keine andere Mission als die, die Individuen in ihr Optimum zu bringen. Nach der politischen Seite hin ist ihre beratende Funktion virulenter denn je. Was mir vorschwebt, ist ein Forum für Philosophie als zivilisatorisches Pädagogicum. Sie muss die Rolle einer Moderatorin im Übergang zur Weltkultur spielen lernen, ausgehend von der Einsicht, dass es keinen Zusammenstoß der Zivilisationen gibt, sondern den Zusammenstoß der lokalen Kulturen mit dem Zivilisationsprozess.
Welche Bedeutung hat das Scheitern für die Philosophie? Ist die Philosophie nur die Kunst des gekonnten Scheiterns?
So weit sollte man doch nicht gehen. Immerhin, es gab in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich eine philosophisch betreute Kunst des Scheiterns. Das hat damit zu tun, dass die Deutschen den Existenzialismus lange vor den Franzosen entwickelt hatten, während die Franzosen ihn erst unter der deutschen Okkupation kopierten. Die Unterschiede sind erheblich: Die Deutschen waren seit jeher Trotz-Existenzialisten mit anthropologischen Interessen, die Franzosen hingegen wurden Widerstands-Existenzialisten mit politischem Fokus. Die Franzosen haben von unserem Existenzialismus, nach welchem am Anfang die Behinderung war, nur das Moment des politischen Widerstands herausgefiltert, ohne zu merken, dass hinter dem Konzept „résistance“ das viel breiter angelegte heroische „Trotzdem“ stand. Darüber habe ich einen größeren Aufsatz geschrieben, dessen Thema mich mit sehr anregenden Umkehrungen gewohnter Fragestellungen vertraut gemacht hat. Ich habe einen seltsamen Autor aus den 20er, 30er Jahren ausgegraben, einen Nietzscheaner namens Hans Würtz, den Vordenker der deutschen staatlichen Krüppelpädagogik und Pionier einer neuen Disziplin, die man geradewegs die Krüppelanthropologie nannte. Bei ihm kann man sehen, was aus Nietzsches Denken wird, wenn man es in einem Behindertenheim zu Berlin jeden Tag auf die Probe stellt. Hier wurde erst klar, was das Theorem vom Leben als Wille bedeuten kann. In Deutschland gab es nach dem Ersten Weltkrieg 2,7 Millionen Kriegskrüppel, Einarmer, Einbeiner, Kopfverletzte, eine Enzyklopädie unvorstellbarer Dramen. Behinderung war damals das Epochenthema – und wenn Freud seinerzeit vom Menschen als Prothesengott sprach, griff er das Bonmot aus dem Zeitgeist auf. Auch Würtz hat damals Morgenluft gewittert und geglaubt, der Krüppel sei der neue Mensch, ja vom Krüppel her müsse man die ganze Menschheitsfrage neu denken. Er blätterte in den Archiven und fand heraus, dass alle interessanten Menschen aller Zeiten Krüppel waren: Cäsar, Paulus, Michelangelo, Ignatius von Loyola, Lord Byron, Nietzsche, das ganze Who is who der Weltkultur. Würtz wurde 1933 eliminiert, weil er in seinem Hauptwerk Zerbrecht die Ketten von 1932 die schlechte Idee gehabt hatte, Joseph Goebbels zweimal zu erwähnen – einmal in der Nationenliste und einmal in der Funktionen- oder Berufsspartenliste. Mit dieser Art von wissenschaftlicher Objektivität konnte Goebbels nicht viel anfangen. Mir fiel es bei der Lektüre dieses verschollenen Werks wie Schuppen von den Augen: Alle wesentlichen Autoren der philosophischen Anthropologie haben damals angefangen, den Behinderten als Paradigma des Menschen darzustellen, Louis Bolk, Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, selbst Sigmund Freud, wie gesehen. Und hat nicht auch die zeitgenössische Biologie diese Lesart bestätigt? Der Mensch ist von Natur aus eine Missgeburt, weil er eine chronische Frühgeburt darstellt. Nur Krüppel werden überleben.
Solche biologischen Fragen spielten auch in Ihrer sogenannten Elmauer Rede eine Rolle.
Darüber brauchen wir nicht lange reden. Mein 2009 erschienenes Buch trägt den Titel Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Darin werden die Fragen, die mich in der Menschenpark-Rede beschäftigt haben, auf indirekte Weise noch einmal aufgerollt. Diesmal aber gehe ich der Frage, wie der Mensch den Menschen erzeugt, viel radikaler auf den Grund. Die Antwort wird heißen: Er erzeugt sich im Wesentlichen durch Übungen, durch Askesen, durch Training und durch akrobatische Überspannungen. In diesem Buch wird nur sehr wenig von Gentechnik die Rede sein, umso mehr von Meditation, von religiös codierten Übungsexzessen, von Kapitalismus als Anthropotechnik und von der Disziplin großer Künstler.
Der Zeitgeist gibt den Philosophen im Augenblick sehr viele ermutigende Signale. In Frankreich gibt es in jeder Stadt philosophische Cafés. In Italien blühen in einer Reihe von Städten, in Udine, in Modena, in Neapel, in Rom und so weiter große Philosophiefestivals auf, manchmal mit Zehntausenden von Besuchern. Da kann man erleben, wie mehrere tausend Menschen auf einem Platz unter freiem Himmel sitzen und einem Vortragenden zuhören. Für jeden Philosophen ist das eine Erfahrung, die er machen sollte. Wenn man in einem kleinen Hörsaal voller Kollegen spricht, hat man das Recht, sie bis zum Umfallen zu langweilen. Aber vor zwei- oder dreitausend Menschen – da fragt man sich unwillkürlich: Ist meine Rede es wert, dass so viele Leute eine Stunde in der glühenden Sonne sitzen? Ganz offensichtlich wollen die Leute zurück zur Philosophie. Sie wollen etwas hören, was ihnen zu denken gibt. Die Akademiker ihrerseits müssten nur besser auf das hören, was ihnen von dieser Seite zugerufen wird. Damit fallen viele Scheinkonflikte an der Front zwischen Philosophie und Rhetorik beiseite, auch solche, die gelegentlich im Umfeld meiner Arbeit auftraten.