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II Meine Familie

Noch bevor der Lehrer Michael Dziobaka, mein Urgroßvater mütterlicherseits, im fernen Talken in Masuren die Augen für immer schloss, waren die meisten aus seiner großen Kinderschar nicht mehr in Heimat, sondern in alle Welt verstreut. So auch mein Großvater als fünftes Kind, er hatte eine Ausbildung als Huf- und Wagenschmied erfahren und die Meisterprüfung bestanden. Aber in Masuren gab es kaum Arbeit und so zog mein Großvater in das Ruhrgebiet. Dort gab es Arbeit und viele junge Leute aus Ostpreußen und Polen zog es nach Westen und wie sich herausstellte, nichtvergebens. Die deutsche Schwerindustrie konzentrierte sich da, wo die Kohle war, Krupp und Thyssen und andere wurden zu einem Inbegriff für den industriellen Aufbruch in Deutschland. Die fünf Milliarden Goldfranken an Kontributionszahlungen, die von Frankreich nach 1871 zu leisten waren, trugen ganz sicher dazu bei. Mein Großvater bekam Arbeit bei Krupp. Er wechselte dann zur Essener Berufsfeuerwehr, die ja damals noch mit Pferden ausgerüstet war und einen Huf- und Wagenschmiedemeister sicher gut gebrauchen konnte. Er übernahm nach kurzer Zeit dort die Schmiede, avancierte schnell und schließlich unterstanden ihm die Berufsfeuerwehren von Essen und Umgebung. Meine Großmutter hatte im Dessauer Hof in Insterburg bei Verwandten als Kaltmamsell gelernt und gearbeitet ging dann ebenfalls nach Essen, wo sie schließlich 1906 den Opa heiratete. Sie wurden

Mitglied in einer Wohnungsgenossenschaft, der Allbau. Das Haus meiner Großeltern in Essen-Huttrop, war praktisch mein Elternhaus, meine Großeltern mütterlicherseits waren meine eigentlichen Eltern, auch wenn wir nicht immer dort gewohnt haben. Ich erinnere mich noch gut an Omas Schwester, Tante Anna, sie war ein richtiges Original. Ich sehe sie noch auf dem Ledersofa sitzend, wie sie sich eine Pfeife ansteckte und dann im breitesten ostpreußischen Dialekt sagte: Na Jungchen, wie jeht et denn?

Ähnlich wie meinen Großeltern mütterlicherseits und etwa auch zur gleichen Zeit, erging es auch den Großeltern väterlicherseits. Sie lernten sich in Eisenach kennen und nachdem sie geheiratet hatten, zog das junge Paar 1907 von Eisenach in das Ruhrgebiet, um dort Arbeit zu finden. Der Großvater hatte Klempner gelernt und fand in Essen schnell Arbeit bei der Reichsbahn, wurde schließlich Lokführer. Auf dem Führerstand der Lok erlitt er auch im April 1945 den Tod im Feuerhagel der amerikanischen und britischen Jagdbomber, nachdem es ihm gelungen war, einen mit Flüchtlingen voll besetzten Zug aus dem Bahnhof zu fahren und vielen Menschen so das Leben zu retten. Die Stadt Essen hat ihn dafür geehrt, auf dem Heldenfriedhof beigesetzen lassen und betreut sein Grab. Erst ihre in Essen geborenen Kinder, nämlich meine Mutter und mein Vater, lernten sich kennen und so ist schließlich meine Familie entstanden.

Beide Familien haben ihre Bindungen zu ihren Verwandten in Ostpreußen und in Thüringen bzw. Coburg nie aufgegeben und sind im Urlaub bzw. in den Ferien zu ihren Angehörigen gefahren. Schließlich ist meine Großmutter mütterlicherseits während des Krieges wieder nach Ostpreußen gezogen, von wo sie dann allerdings 1945 flüchten musste. Darüber ist später noch zu berichten.

Als ich meiner Familie die ersten Entwurfsseiten meines Manuskriptes zu lesen gab, war die Meinung: Du schreibst einfach los und niemand weiß, wer Du bist. Mir kamen Zweifel, also versuchte ich zu schreiben, wer ich bin. Aber wer weiß schon, wer er ist? Sollte ich einfach nüchtern einen Lebenslauf schreiben oder doch etwas mehr? Schließlich habe ich mich entschlossen alles zu schreiben, was ich in den vielen Jahren erlebt habe. Der Leser wird mich so sicherlich am besten kennen lernen.

Beim Schreiben tat sich eine neue Schwierigkeit auf, die ich in meinem Innern bis heute nicht vollkommen gelöst habe. Kann ich den engeren Kreis meiner Familie ausklammern, sollte ich die unangenehmen Dinge weglassen, eine heile Familienwelt darstellen, die es so nie gegeben hatte? Soll ich gar eine geschönte und eine wahre Darstellung schreiben? Das

aber wollte ich nicht alleine entscheiden und habe folglich die wesentlichen Abschnitte mit meiner Schwester und meinem Bruder beraten. Sie waren beide der Auffassung, dass ich schreiben soll, wie es wirklich war, auch wenn manches doch schockierend und auch peinlich sein mag.

Meine Eltern

Meine Mutter war immer eine lebenslustige Frau, die stets bestrebt war, ihren Platz im Leben einzunehmen und auch zu behaupten. Diesen festen Willen hat sie auch unter den schwierigsten Bedingungen der Kriegs-und Nachkriegszeit nicht aufgegeben, manchmal schon irgendwie übertrieben, ja sogar ein bisschen fanatisch. 1911 in Essen geboren und als Beamtentöchterchen aufgewachsen, besuchte sie nach der üblichen Volksschule noch eine Töchterschule und erlernte den Beruf einer Stenotypistin. Sie konnte sehr gut Stenografie und Maschineschreiben, Nähen und Kochen.

Mein Vater, 1908 ebenfalls in Essen geboren, erlernte den Beruf eines Buchdruckers und arbeitete auch als Buchdrucker bei der heutigen WAZ in Essen. Während der Inflationszeit hat er dort Geld gedruckt und mehr Geld verdient, als sein Vater bei der Reichsbahn, was den Opa immer sehr geärgert haben soll. Mit 17 Jahren wurde meine Mutter schwanger, ich war unterwegs. Ihre Mutter, meine energische Großmutter nahm sofort mit den Eltern meines Vaters Verbindung auf, ein uneheliches Kind und das bei einer Achtzehnjährigen, wäre eine große Schande gewesen. So war schnell Einigung der Eltern auf beiden Seiten erzielt. Die damals für dieses Alter noch genehmigungspflichtige Hochzeit wurde erwirkt und am 28. Juni 1929, zum 18. Geburtstag meiner Mutter, wurde geheiratet. Im Dezember 1929 erblickte ich dann das Licht der Welt. Die Schande war abgewendet. Ich vermute, dass meine Eltern nicht groß gefragt wurden, sicher wäre die nun folgende Ehekatastrophe verhindert worden, hätten meine Eltern damals nicht heiraten müssen.

Mein Vater war bei den Wandervögeln organisiert, die sehr linksorientiert waren und so verlor mein Vater kurz nach der Hochzeit seine Arbeit, weil er als Wortführer agierte. Er fand auch keine neue Arbeit, denn in der Branche stand er auf einer illegalen schwarzen Liste. Das war kein guter Start für die junge Ehe meiner Eltern. Meine Mutter arbeitete als Stenotypistin bei einem Rechtsanwalt. 1932 wurde dann meine Schwester Waltraut geboren. Es begann in der Ehe zu kriseln, mein Vater trank ein oder auch mehrere Biere abends in der Kneipe gegenüber, wir wohnten damals in der Dammannstraße. In der Nähe unserer Wohnung, aber für uns Kinder viel zu weit, war ein großer Platz, auf dem öfters der Zirkus gastierte. Ohne zu fragen, machten sich Waltraut und ich auf den Weg, bis wir den Zirkus endlich fanden. Schließlich wurde es Abend, wir wurden schon überall gesucht, dann tauchten wir zu Hause auf. Wir verrieten aber nicht, wie weit wir uns von zu Hause entfernt hatten. Trotzdem gab es was hinten drauf. Am nächsten Tag noch einmal, als Waltraut und ich unseren Eltern auf einem Bild aus der Zeitung, mitten im Zirkusgetümmel, entgegen lachten.

Die Großeltern halfen immer aus, so gut sie konnten, aber die Arbeitslosigkeit, das Bier und die Freunde taten das ihre. Wir zogen um in die Witteringstraße. Meine Mutter musste auf das ungezwungene Leben verzichten, die Kinder forderten ihr Recht, es war auch für sie offensichtlich zu viel. Hinzu kam, dass die Kneipe gegenüber Stammlokal eines SA-Sturmes wurde und mein Vater auch von der Seite unter Druck stand. Er hatte schon einmal völlig betrunken, die Wohnungseinrichtung zertrümmert, die Großeltern sprangen ein, statteten die Wohnung neu aus.

Inzwischen, d.h. Ende 1932 hatte mein Vater wieder Arbeit. Er war dank seiner Kneipenfreunde im Stammlokal bei der SS angekommen und avancierte schnell. Der nächste schlimme Krach folgte, meine Mutter und wir Kinder zogen aus zu den Großeltern mütterlicherseits. Februar 1936 wurde mein Bruder Kurt geboren und ich kam Ostern in die Schule. Schließlich die große Versöhnung, Umzug nach Hagen in Westfalen, wo mein Vater die SD-Dienststelle der SS übernahm. Das ging nicht lange gut, meine Mutter wollte nach Essen zurück, ich wünschte es mir auch. Ich kannte niemanden in Hagen, In der Schule waren lauter fremde Mitschüler.

Dann das endgültige Ende. Wir, meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich zogen 1937 wieder zu den Großeltern nach Essen und die Ehe meiner Eltern wurde geschieden. Zu allem Unglück kam hinzu, dass ich noch einmal mit der ersten Klasse anfangen musste und so bin ich von da an immer in allen Klassen einer der ältesten gewesen, das hatte Vorteile, aber auch Nachteile, oft wurde ich zu Sonderaufgaben herangezogen, ich war eben einer der ältesten und auch einer der kräftigsten in der Klasse. Mein Vater machte nur einmal von seinem Recht Gebrauch, seine Kinder zu sehen. 1938 brachte meine Mutter meine Schwester und mich zu einer Gaststätte „Zur zornigen Ameise“ am Baldeneysee und holte uns dort nach 2 Stunden wieder ab. Das war meine letzte persönliche Begegnung mit meinen Vater, ich hatte später immer mal wieder brieflich Verbindung zu ihm, habe ihn aber nie wiedergesehen. Auch meine Großeltern väterlicherseits habe ich nach 1937 nicht mehr gesehen und es gab auch keine briefliche Verbindung. Nachdem Opa Schröder 1945 umgekommen war, lebte Oma Schröder später bei meinem Vater. Zumindest stand damals unter den Briefen meines Vaters, dass sie ebenfalls grüßen lässt.

Meine Mutter war inzwischen Sekretärin in einer großen Essener Anwaltskanzlei und war zuletzt dort die Bürovorsteherin. Das war wieder das Leben, dass sie sich immer gewünscht hatte, Begleitung des Chefs zu den Verhandlungen, Einladungen, Theater usw. Da die Oma sich um uns kümmerte, kam sie abends oft erst spät nach Hause. Oma und Opa haben das nicht gebilligt, dennoch, wir Kinder wurden von den Großeltern gut versorgt, es fehlte uns an nichts. Wenn also im Folgenden von Oma und Opa geschrieben wird, bezieht sich das immer auf meine Großeltern mütterlicherseits, sie waren unsere eigentlichen Eltern.

Schule hin, Schule her.

Ich besuchte, abgesehen von der kurzen Unterbrechung in Hagen, die Schwanenbuschschule in Essen-Huttrop bis 1941. Nachdem wir von Hagen wieder nach Essen zurückgekommen waren, habe ich von 1937 bis 1941 eine ungetrübte und glückliche Kindheit verbracht. An diese Zeit erinnere ich mich gerne und oft.

Wir hatten in der Siedlung einen großen parkähnlichen Spielplatz. Dort verbrachten wir Kinder viel Zeit. Ein paar hundert Meter weiter, am Rande der Siedlung war ein Bauernhof. Das war natürlich interessant und die hohe Mauer um ein verwildertes Brachland mit einem kleinen Bach hatte etwas Gruseliges. Wir konnten nur durch die Regenabflüsse unten in der Mauer hindurchschauen, um zu erkennen, was wohl hinter der Mauer wirklich war. Und es roch von dem Bächlein her nicht besonders gut, also nannten wir es Köttelbecke. Was für ein Wort! Ich habe es immer behalten und auch manchmal benutzt, aber niemand sonst kannte es. Am Ende der Mauer ging eine breite Straße hinauf zum Parkfriedhof und dem jüdischen Friedhof. Letzterer war zerstört und da durften wir auch nicht hin. Da gab es auch keine glitzernden Mosaiksteinchen, wie in der ausgebrannten Synagoge neben dem Humboldt-Gymnasium. Diese Steinchen waren ein begehrtes Sammelobjekt, jedoch das Abmachen von der Wand war mühselig.

In der Schule war ich nur ein mittelmäßiger Schüler, war nicht schlecht, habe mich mit meinen Leistungen aber auch nicht hervorgetan. Meine Streiche hatten auch kein hohes Niveau, jedenfalls bin ich nie ernsthaft bestraft worden. Bei manchem meiner Mitschüler war der Rohrstock natürlich an der Tagesordnung. In schauerlichen Filmen mit viel Blut sieht man manchmal, dass die Delinquenten ihr Grab selber ausschaufeln mussten, in der Schule war es zwar ohne Blut, aber doch ähnlich. Zerbrach ein Stock, musste der Geprügelte selber ins Geschäft neben der Schule gehen und einen neuen Stock kaufen, natürlich auf Kosten des Lehrers.

Übrigens hieß dieses Geschäft neben der Schule Heistermann, dort gab es Zigaretten, Zeitungen und Hefte und natürlich Rohrstöcke. Wenn wir in der Gruppe waren, musste der Mutigste von uns die drei Stufen zum Geschäft hochschleichen und die Tür aufstoßen und alle Jungens brüllten dann:“ Wie heißt der Mann, Heistermann heißt der Mann“. Dann aber schnell weg. Manchmal schickte meine Mutter mich oder meine Schwester in das Geschäft um Illustrierte zu holen. Als meine Schwester in der 1.Klasse war, buchstabierte sie die Überschrift der Berliner Illustrierten und behauptete von da an, dass die Zeitung Berliner Mustrierte heißt. Daran erinnern wir sie noch heute gerne.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkfriedhofes war eine große Kleingartenanlage. Dort hatte unser Nachbar, Opa Turow einen Garten, ich glaube fast nur für uns Kinder. Denn wenn er gegen Abend mit seinem Handwagen vom Garten kam, war immer für uns etwas darin. Fein säuberlich gewaschene Möhren oder Beeren und anderes Obst. Wenn wir ihn kommen sahen, liefen wir ihm entgegen und zogen den Handwagen den Beyweg hoch bis zu uns.

Hin und wieder gingen wir auch bis zur Felgendreher Brücke und warteten auf die Dampfloks. Sie hüllten uns in weißen Dampf ein und dann liefen wir schnell auf die andere Brückenseite, bis dort die Lok auftauchte und alles sich noch einmal wiederholte. In jeder Lok habe ich den Opa Schröder gesehen, aber zu Hause hat mir niemand geglaubt, alle haben nur gelächelt.

Zwischen unserer Feldhaushof-Siedlung und der Steeler Straße, wo Muttis Bruder Onkel Ernst und Tante Herta wohnten, war eine stillgelegte Ziegelei mit fantastischen Spielmöglichkeiten und einem kleinen See. Dort haben wir Seeschlachten geschlagen und getöpfert. Meine Erzeugnisse aus Lehm, Vasen und kleine Kästchen, reichlich verziert, brachen unterwegs schon auseinander oder Oma räumte sie auf. Schließlich wurde uns verboten, dort zu spielen, wohl weniger wegen der Gefahren, sondern wegen der schlammigen Schuhe und Sachen. Heute ist das Gebiet längst bebaut und der See und der Lehm sind verschwunden. Es war eine glückliche Zeit und sie ist mir auch noch sehr gewärtig, wohl weil ich sie später immer vermisst habe. Aber ich sage nicht: schade, dass sie vorbei ist, sondern schön, dass sie gewesen ist.

Wenn meine Geschwister und ich von früher erzählen, dann ist es ziemlich sicher, dass auch das Stichwort Tomatenmark fällt. Oma hatte immer die frisch geernteten Tomaten aus dem Garten zu Tomatenmark gekocht und dann in Flaschen abgefüllt. Zur Sicherheit wurde der Korken noch mit Siegellack gesichert. Als eines Tages die Küche frisch tapeziert worden war, das machte Opa und Onkel Ernst half mit, gab es ein gutes Essen. Oma schickte mich in den Keller, um eine Flasche Tomatenmark für die Suppe zu holen. Jedenfalls hat die Flasche vom Keller bis in die Küche nicht sonderlich stillgehalten oder ich habe gezappelt. Als dann Oma den Siegellack entfernen wollte, gab es einen lauten Knall und die Küche war erneut reif zur Renovierung. Also machten Opa und Onkel Ernst sich noch einmal an die Arbeit, um die Küche erneut zu tapezieren

Herbststimmung

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