Читать книгу Der achte Rodin - Siegmar Wyrwich - Страница 4
EIN SELTSAMES GESCHENK
ОглавлениеDer März war ungewöhnlich kühl und feucht. Paul Werner zog den Reißverschluss seiner Steppjacke ein Stück höher und bat die Gruppe, etwas näher heranzutreten. Hier an den Mauern des ehemaligen Pförtnerhäuschens stand man ein wenig windgeschützt. Er bedauerte, dass er ihnen kein besseres Wetter bieten konnte. Sie waren allesamt eigens aus Schweden angereist. Ein Dutzend Journalisten der unterschiedlichsten Zeitungen und Fernsehsender, die dieses berühmte Monument der Industriekultur einmal mit eigenen Augen sehen wollten. Seit das ehemalige Hüttenwerk 1996 erstmals als Kultur- und Freizeitpark präsentiert wurde, kamen Jahr für Jahr immer mehr Besucher von nah und fern.
Paul Werner war Gästeführer der ersten Stunde. Damals war es für ihn zunächst mehr oder weniger ein Spaß gewesen. Ein netter Nebenjob, mit dem er sich ein willkommenes Zubrot verdiente, das ihm half, während des Jurastudiums über die Runden zu kommen.
Doch irgendwann, fast unmerklich, war er mehr und mehr dieser Aufgabe verfallen. Er genoss es, wie die unterschiedlichsten Besucher aufmerksam an seinen Lippen hingen, wie sie staunten, wenn er die gigantischen Arbeitsprozesse der Vergangenheit mit eindrucksvollen Zahlen belegte und wie sie mit ihm schmunzelten, wenn er all die Fakten mit zahlreichen amüsanten Anekdoten anreicherte. Vor allem aber bewegte es ihn immer wieder, wie sie dann am Ende erfüllt und bereichert nach Hause gingen. So jedenfalls empfand er es. Es war ihm zur schicksalhaften Passion geworden, die Menschen für diese stählerne Kathedrale zu begeistern.
»Ich glaube, wir sind komplett.« Eine weibliche Stimme mit leichtem skandinavischen Akzent riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf und sah in die blauen Augen einer groß gewachsenen Frau. Sie war vielleicht um die Dreißig. Unter ihrer Kapuze schimmerten blonde, regennasse Strähnen. Sie schien die Wortführerin zu sein. Jede Gruppe hatte ihre Wortführer. Paul Werner hatte die Erfahrung gemacht, dass es selbst in zufällig zusammengewürfelten Besuchergruppen sehr schnell einen oder zwei Wortführer gab. Gerade bei größeren Gruppen war das oft ein Vorteil. Es förderte die Aufmerksamkeit.
Er nickte der Blonden bestätigend zu. »Fein!« sagte er. »Dann gehört der Herr dort hinten also nicht zu uns.«
Die gesamte Gruppe wandte sich nun um. Etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt stand ein älterer Herr im Regen und beobachtete sie. Er trug einen altmodischen olivgrünen Parka. Die Schweden schüttelten die Köpfe. Er gehörte nicht zu ihnen.
»Gut. Also dann wollen wir mal.« Paul Werner mischte sich unter die Gäste und führte sie am Gasometer vorbei Richtung Pumpenhalle.
»Dieser Gasometer ist nicht mehr mit Gas gefüllt, sondern mit Wasser. Er ist heute Europas größtes Indoor-Tauchzentrum. Auf seinem Grund befinden sich ein künstliches Riff, ein Schiffswrack, ein Flugzeugwrack und viele andere Dinge mehr, die Tauchern Spaß machen«, begann er seine Führung.
Unauffällig schaute er sich nach dem Mann im Parka um. Die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, war leer. Aber Paul spürte, dass sie weiterhin beobachtet wurden.
***
Die Hände des Künstlers glitten geschickt über die feuchte, geschmeidige Masse und gaben der Skulptur nach und nach ihre ästhetische Form. Es war mehr als nur Genugtuung, als Manni Baumann erkannte, dass sie genau so werden würde, wie er es sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte.
Er spürte, wie Freude und Begeisterung begannen, den Schwung seiner Hände zu leiten. Dieses Glücksgefühl übermannte ihn selbst nach all den Jahren seiner bildhauerischen Tätigkeit noch immer, und er konnte es mit niemandem teilen. Es war dem Schöpfer allein vergönnt. Er gab sich ihm ganz hin und holte furchtlos zu noch kühneren Formen aus. Erst als er nach der Spachtel greifen wollte, stellte er ein wenig erschrocken fest, dass seine Finger starr vor Kälte waren.
Ja, selber Schuld! Er hatte die verdammte Heizung noch nicht repariert. Sie war schon seit knapp einem Monat defekt. Aber wie das so ist: Wenn eine Reparatur ins Haus steht, dann bleibt es selten bei einem Schaden allein. Ausgerechnet in derselben Woche fing sein Sprinter an zu bocken. Und ohne Fahrzeug war er hier auf dem Land aufgeschmissen. Also musste erst einmal das Auto repariert werden. Beides zugleich hätte sein Budget überstiegen. Er war schließlich kein Krösus.
Plötzlich fiel ihm der Heizstrahler ein. Im letzten Herbst hatte er hier in seinem Skulpturengarten eine Gemeinschaftsausstellung organisiert. Sie war gut besucht gewesen und mit den anderen Künstlern und ein paar übrig gebliebenen Besuchern hatten sie noch bis lange nach Mitternacht im Freien gesessen. Als es frisch wurde, hatte irgendjemand einen Heizstrahler vorbeigebracht. Seitdem stand der draußen im Zelt.
Manni trat vor die Tür und genoss den Blick auf seinen »verwunschenen« Skulpturengarten. So nannten ihn manche Gäste. Eigentlich wäre jetzt die Zeit gewesen, sich um die Pflanzen zu kümmern, aber das Wetter war in diesem Jahr einfach noch zu schlecht. Die Kälte ließ den kommenden Frühling nicht einmal ahnen. Doch Manni liebte sein kleines Stück »Toscana« selbst bei miesestem Wetter. Er lebte hier auf dem Land und war trotzdem nur einen Katzensprung von der Stadt entfernt.
Hier prägten Äcker, Höfe und Ställe das Landschaftsbild, während drüben, am Horizont, aufgehalten nur durch den Rhein, die Industriekulisse aus hunderten von Schloten und gigantischen Stahl- und Betongebilden an die Ufer drängte.
***
»Das hält doch kein Mensch aus!«
»Wie, bitte?« Paul Werner verstand nicht.
»Na, das ist doch viel zu heiß«, bekräftigte die Blonde ihre Sorge.
»Ach so!« Nun fiel der Groschen.
Gerade eben hatte er davon erzählt, dass die Arbeiter hier in der Gießhalle früher, nur durch eine Lederschürze geschützt, den Abstich von zweitausend Grad heißem Roheisen durchführten.
»Allerdings«, bestätigte Paul, »Und nicht nur das. Die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeiter war lange Zeit kein Thema, das man sonderlich ernst genommen hätte. Erst seit Mitte der 1970er-Jahre gibt es in der Bundesrepublik ein Arbeitssicherheitsgesetz. Bis dahin war es dem Gutdünken der Stahlbarone überlassen, ob sie sich um das Wohlergehen ihrer Arbeiter kümmerten oder nicht.«
Doch auch danach war es mit dem Wohlergehen nicht weit her, dachte Paul grimmig, hielt sich aber mit weiteren Ausführungen dazu zurück. Er wollte die Stimmung nicht versauen.
Ende der 1970er bis Mitte der 1980er-Jahre waren in der Stadt zehntausende Stahl- und Hüttenarbeiter entlassen worden. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Massenhafte Langzeitarbeitslosigkeit und kaum mehr bezahlbare Sozialausgaben für die einst reiche Stadt waren die Folge gewesen.
Dabei hatten die Malocher dieser Hütte hier noch Glück im Unglück gehabt. Als der Laden 1985 quasi über Nacht geschlossen wurde, musste erst einmal keiner von ihnen stempeln gehen. Sie wurden entweder auf andere Werke verteilt oder gingen in den Vorruhestand. Es waren ohnehin nur noch dreihundert von ehemals dreieinhalbtausend übrig gewesen. Pauls Vater war damals einer von denen, die ins Ruhrorter Werk gewechselt hatten.
»Die Gießhalle war sozusagen der Krönungssaal der Hüttenarbeiter«, sagte Paul.
Die Besuchergruppe versuchte, sich ein Bild davon zu machen, wie es hier damals wohl ausgesehen haben mochte. Außer der Rinne im Boden, durch die seinerzeit das flüssige Eisen rann, erinnerten nicht mehr allzu viele Details an die alte Produktionsstätte. Stattdessen prägten endlose Stuhlreihen das Bild. Und eine riesige Leinwand.
»Heute ist es hier nicht mehr so gefährlich«, fuhr Paul fort. »Man bekommt allenfalls Blähungen durch übermäßigen Popcorn-Genuss. An vierzig Nächten im Sommer kommen hier allabendlich mehr als tausend Kinofans ins Open-Air-Kino. Falls es mal regnen sollte, schiebt sich dann ein transparentes Folienkissendach über die Besucher.«
Die schwedische Gruppe schaute auf. Aber Paul erkannte, dass es weniger die Dachkonstruktion war, die sie beeindruckte, als vielmehr die bedrohlich dunkle Wolkendecke, die neuerliche Niederschläge verhieß.
»Ich glaube, wir haben uns jetzt etwas Wärmendes verdient«, seufzte er und sprach damit allen aus dem Herzen.
***
Am Restaurant des Parks, dem ehemaligen Hauptschalthaus, wurde die Gruppe von einer Mitarbeiterin der Tourismus-Agentur, für die Paul arbeitete, in Empfang genommen.
Paul hätte sich nun verabschieden können, denn sein Job war hier erledigt, doch der Gedanke an einen heißen Kaffee, veranlasste ihn, noch ein wenig bei der Gruppe zu bleiben.
Der größte Tisch mit der schönsten Aussicht war für sie reserviert. Es war angenehm warm und die Heißgetränke taten ihr Übriges, sodass schnell eine lockere und gelöste Stimmung aufkam.
Die Blonde hatte, wohl nicht zufällig, einen Platz neben Paul gefunden. Sie bedankte sich höflich bei ihm für die interessante Führung. Für das Wetter könne er schließlich nichts. Sie kündigte an, im Sommer wiederzukommen. Mit einem Kamerateam. Und sie hoffe doch sehr, dann auch Paul hier anzutreffen.
Paul machte keinen Hehl daraus, dass er sich geschmeichelt fühlte und sie tauschten ihre Visitenkarten aus. Er wollte Elsa, so hieß die Blonde, gerade beim Enträtseln der Speisekarte behilflich sein, da zeigte sein Smartphone, begleitet von einem melodischen, aber viel zu lauten Signalton, eine neue Nachricht an.
Eigentlich hätte er die Störung ignorieren müssen, doch das groß aufleuchtende Profilbild gehörte unverkennbar zu Sabrina. Sie meldete sich nie ohne Grund per Messenger. Er schob das Foto mit dem Daumen beiseite und las: »Vergiss bitte die Muscheln nicht!« Ein Küsschen-Smiley beendete den Satz.
»Ihre Frau?« Elsa lächelte ihr blondestes Lächeln.
Paul wollte erst zu einer Erklärung ansetzen, entschied sich dann aber für ein kurzes »Ja.« Schließlich waren Sabrina und er ja so etwas wie ein Ehepaar. Auch ohne Trauschein. Und die Muscheln hätte er tatsächlich beinahe vergessen. Er hatte Jakobsmuscheln beim Fischhändler auf dem Markt bestellt. Für das Essen heute Abend. Der Markt würde gleich schließen und er musste sich beeilen.
»Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich muss aufbrechen. Es war sehr schön. Wir bleiben auf alle Fälle in Kontakt.«
Er war aufgestanden, hatte seine Steppjacke schon wieder übergestreift und klopfte eilig ein paar Mal auf den Tisch, um sich auch von den anderen Gruppenmitgliedern zu verabschieden.
In Elsas Lächeln mischte sich ein Fragezeichen. Nichtsdestotrotz winkte sie ihm höflich zum Abschied.
Paul fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Natürlich würden sie nicht in Kontakt bleiben, dachte er. Dabei fand er sie durchaus sympathisch. Aber man sagte das halt so. Was machte er sich eigentlich einen Kopf? Manchmal verfluchte er sich dafür, dass ihm Gleichgültigkeit so gar nicht in die Wiege gelegt worden war.
***
Als er aus dem Restaurant trat, wurde er bereits erwartet. Vor ihm stand der Mann im Parka. Sein Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor.
»Herr Werner. Kann ich Sie kurz sprechen?«
»Das ist gerade ganz, ganz schlecht. Was gibt es denn?«
Paul ließ sich auf seinem Weg zum Parkplatz nicht aufhalten. Der Mann im Parka folgte ihm.
»Mein Name ist Gerling. Ich habe früher hier auf der Hütte gearbeitet. Genau wie mein Vater. Und wie mein Opa.«
Paul nickte. So etwas hatte er sich schon gedacht.
»Ich habe zweimal an ihrer Führung teilgenommen und war jedes Mal begeistert«, ergänzte der Mann. »Ich habe auch ihr Buch gelesen.«
»Ach, Sie waren das!« witzelte Paul.
Sein Buch über die Entwicklung der Stadt zur Zeit August Thyssens, in das er vor zwei Jahren unglaublich viel Zeit und Arbeit investiert hatte, hatte sich zu seiner Enttäuschung als absoluter Ladenhüter erwiesen.
»Ich kenne niemanden, der auf diesem Gebiet auch nur annähernd so kompetent ist, wie Sie.« fuhr der Mann unbeirrt fort, »Vor allem aber keinen, der so wie Sie mit ganzem Herzen bei der Sache ist. Ich vertraue Ihnen voll und ganz.«
Paul wurde es langsam mulmig angesichts derartiger Lobhudelei. Worauf wollte der Mann hinaus? Zum Glück waren sie jetzt an seinem Auto angekommen und er musste das Gespräch wohl oder übel abkürzen.
»Vielen Dank«, sagte er. »Also, worum geht es?«
Der Mann zögerte einen Moment. Schließlich sah er Paul fest in die Augen.
»Ich möchte Ihnen ein Erbe vermachen.«
Paul starrte ihn entgeistert an. Dann stieg er in seinen Wagen und knallte die Tür ein wenig zu heftig zu. Nachdem er tief Luft geholt hatte, fuhr er das Seitenfenster hinunter.
»Brauchen Sie etwas vom Markt?«
Er machte eine einladende Geste in Richtung Beifahrersitz.
***
Der Heizstrahler verbreitete wohlige Wärme. Während die Skulptur, die er heute Morgen begonnen hatte, langsam trocknete, begann Manni Baumann, eine weitere Skulptur zu formen.
Er musste die Zeit nutzen. Schlechtwetterzeit war Arbeitszeit. Sobald es wärmer wurde, nahmen auch die Besuche zu. Nicht so sehr die der Kunstinteressierten. Sein Garten war zwar allgemein zugänglich, das öffentliche Interesse hielt sich jedoch in Grenzen. Vielmehr kamen dann regelmäßig und meist unangekündigt Freunde und Bekannte aus der Stadt und aus dem Umland.
Manni wollte es so. Er hatte ein offenes Haus und er liebte es, nette Leute um sich zu haben. Und seine Freunde liebten die inspirierende Mischung aus Kunst, Natur, Geselligkeit und Genuss, die Manni ihnen hier bot. Wer einmal seinen Garten besucht hatte, kam immer wieder.
Manni legte die Kelle beiseite, strich sich über die wirren grauen Haare und dachte nach. Warum konnte er das eigentlich nicht besser nutzen? Er hatte es mal mit Werbung versucht. Mit Flyern. Aber sein Name war zu unbekannt. Vielleicht musste man die Leute über einen Umweg hierhin bekommen. Er grinste. Umweg war nicht schlecht. Das war die Idee!
Eine Tour durch die niederrheinischen Skulpturengärten! Mit großem Finale in Manni Baumanns Skulpturengarten bei Bier, Wein und Tapas. Der Laden würde brummen!
Und er wusste auch schon, mit wem er die Tour organisieren würde. Heute Abend musste er den Plan unbedingt mit seinem Freund Paul Werner besprechen.
***
Das erste Essen in der neuen Wohnung sollte etwas ganz Besonderes werden. Sabrina hatte sich gut vorbereitet. Sie war eine sehr gute Köchin und eine vollendete Gastgeberin.
Als Vorspeise gab es gebratene Jakobsmuscheln an Bärlauchpesto und Lamm mit Minze als Hauptgang. Als Dessert beließ sie es bei einer bewährten Crème Brulee nach eigener Rezeptur.
Die Gäste waren hin und weg. Sie hatte ihre Anwaltskollegen und deren Ehefrauen eingeladen. Vor allem Ruprecht Berger äußerte sich derart enthusiastisch über Sabrinas Kochkünste, dass er sich manchen pikierten Seitenblick von seiner Frau Jana einhandelte.
Sabrina servierte die einzelnen Gänge mit diesem typischen entrückten Lächeln, das Paul Werner an ihre gemeinsame Studienzeit erinnerte. Es verriet ihm, dass es ihr ausgesprochen gut ging und das freute ihn sehr. Er kannte ihre Geheimnisse. Dieses Lächeln war eines ihrer Geheimnisse. Ein anderes war, dass sie weiß Gott nicht die galante und gut erzogene Dame war, die sie allerdings perfekt zu geben wusste.
In letzter Zeit hatte er sich ein wenig Sorgen um sie gemacht. Sie hatte sich neben ihrem arbeitsintensiven Beruf keinerlei Ruhephasen gegönnt und ihre gesamte freie Zeit in die Gestaltung der neuen Wohnung investiert. Diesmal sollte alles stylish bis ins Detail sein.
Paul fand zwar, dass es im Leben Wichtigeres gab, doch es war ihr ausdrücklicher Wunsch. Deshalb hatte er sie einfach machen lassen. Im Grunde war es durch und durch Sabrinas Wohnung. Nicht nur, weil sie die Eigentumswohnung bezahlt hatte, sondern auch, weil sie diesmal ausschließlich nach ihrem Geschmack eingerichtet war.
Paul fand das in Ordnung, denn schließlich hatte sie es ja ebenso jahrelang in seiner Studentenbude ausgehalten. Wenn es nach Paul gegangen wäre, hätten sie dort noch ein Weilchen bleiben können, aber Sabrina hatte es an der Zeit gefunden, komfortabler und repräsentativer zu wohnen.
Und sie hatte wohl recht, denn allein die Inszenierung dieses Essens heute Abend, wäre in der alten Wohnung kaum möglich gewesen.
Paul schenkte Ruprecht und Jana Berger von dem Wein nach. Winfried Goch blieb bei Wasser, da er heute Abend den Fahrdienst übernommen hatte. Seine Frau Gundula bevorzugte Sekt. Nachdem die Gäste zufriedengestellt waren, goss Paul auch Sabrina und sich selbst von dem Wein nach.
»Ruprecht hat es endlich geschafft, unseren Weinhändler von der Californischen Traube zu überzeugen«, sagte Jana Berger und schwenkte ihr Weinglas prüfend unter den geblähten Nasenflügeln hin und her.
»Das war weiß Gott nicht einfach«, grinste Ruprecht.
Paul ahnte, was jetzt kommen würde. Miami!
Und tatsächlich brauchte Ruprecht nur zwei Sätze, um auf sein Lieblingsthema überzuleiten. Ihr tolles Hotel in Miami, der unschlagbare Service der Amerikaner, von dem sich vor allem die Deutschen eine Scheibe abschneiden könnten, und der neidlose Umgang der Amis mit ihren Reichen und Superreichen, was das Leben so viel angenehmer mache.
Anfangs hatte sich Paul auf heftige Diskussionen eingelassen. Inzwischen nickte er nur noch stumm und hoffte, dass das Thema bald gewechselt würde. Heute kam ihm das Telefon zu Hilfe.
Das Festnetztelefon klingelte, und das konnte nur für Paul sein. Die Einzigen, die über Festnetz anriefen, waren entweder seine Mutter oder Manni.
Er erhob sich und ging zum Sideboard, auf dem das Telefon stand. Er musste sich tief ducken, um den Hörer abnehmen zu können, denn die große Palme, die Ruprecht und Jana zur Einweihung mitgebracht hatten, versperrte ihm den Weg. Außerdem hatte sich Sabrina für ein schickes Retro-Telefon mit Wählscheibe und stilechter Kabelanbindung entschieden, sodass er das Gerät nicht einfach mitnehmen konnte.
Wie erwartet meldete sich Manni am anderen Ende. Paul konnte ihn allerdings nur schlecht verstehen, da Ruprecht und Jana sich gerade gegenseitig in der Wiedergabe einer Anekdote aus Miami Beach übertrumpften. Er hielt sich das eine Ohr zu und bemühte sich, mit dem anderen zu erraten, was Manni ihm aufgeregt mitzuteilen versuchte.
»Eine Tour durch die Niederrheinischen Skulpturengärten? Super Idee!«
Paul wollte sich aufrichten. Als er jedoch bemerkte, dass dabei die Blätter der Palme zu knicken drohten, ergab er sich wieder in seine gebückte Haltung.
»Du, Manni, wo du gerade dran bist. Hättest du Samstag mal Zeit? Ich bräuchte mal deinen Sprinter-Service. Wir müssen da einen Dachboden leer räumen. Eine Nachlassgeschichte.«
Ruprechts und Janas Miami-Anekdote schien nicht schlecht gewesen zu sein, denn der gesamte Esstisch war in brüllendes Gelächter ausgebrochen.
Diesmal hatte Manni kein Wort verstanden. Paul wiederholte leicht genervt etwas lauter:
»Einen Dachboden leer räumen! Eine Nachlassgeschichte!«
Mit einem Mal war es absolut still in der Wohnung. Sabrina, Ruprecht, Jana, Winfried und Gundula schauten zu Paul herüber, der, fast schmerzhaft gekrümmt, den Telefonhörer am Ohr, zurückblickte und ein Lächeln versuchte.
»Erklär ich dir später. Ich melde mich.«
Er legte auf.
***
Es war eine hübsche Straße, in der Gerling wohnte. Und eine sehr ungewöhnliche zudem. Denn trotz der Nähe zur Innenstadt gab es hier kleine Einfamilienhäuser, wie man sie sonst eher in den ländlicheren Vororten vorfand.
Es war sicherlich keine Wohngegend für Besserverdiener, doch schienen die Häuschen allesamt im Besitz ihrer jeweiligen Bewohner zu sein. Darauf ließen die individuellen Türen, Briefkästen und Außenbeleuchtungen schließen. Ebenso die mit unterschiedlichen Klinkern oder Farben geschmückten Fassaden. Ein Eldorado für Baumarktbesitzer.
Alle Häuschen hatten adrette kleine Vorgärten. In dem vor Gerlings Haus stand eine mit Erde gefüllte Lore. Im Sommer diente sie wohl als origineller Blumenkübel, doch jetzt sah das vertrocknete Gestrüpp darin nur trostlos aus.
Zwei niedrige Stufen führten zur Haustür. Dort gab es nur eine einzige Schelle. Also wohnte Gerling hier allein. Obwohl es Mittag war, sahen sie durch die Türverglasung, wie im Flur das Licht anging, nachdem sie geklingelt hatten.
Gerling bat sie herein. Es roch ein wenig muffig.
»Meine Frau ist vor zehn Jahren gestorben«, sagte er tonlos, »seitdem habe ich hier nichts mehr verändert.«
Wohl wahr, dachte Paul, nachdem er sich unauffällig umgeschaut hatte.
Die Einrichtung war mindestens dreißig Jahre alt. Eher älter. Das, was man so als Gelsenkirchener Barock bezeichnete.
»Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten? Kaffee? Oder vielleicht ein Bier?«
Sie entschieden sich für Kaffee und nahmen in den schweren, durchgesessenen Ledersesseln Platz, die das Wohnzimmer dominierten, während Gerling in der Küche verschwand.
Paul sah sich um. Auf der Ablage des Wandschranks befanden sich jede Menge Medikamentenpackungen und Fläschchen, und den Wohnzimmertisch füllte ein enormes unvollendetes Puzzle aus. Es sollte wohl ein Alpenmotiv werden.
Ein großes Fenster und eine gläserne Tür gaben den Blick in den immer noch winterlich wirkenden Garten frei. Die blattlosen Zweige eines Baumes tanzten in den Windböen, als wollten sie die dunklen Wolken, die gefährlich dicht über sie hinwegzogen, mit Peitschenhieben vertreiben.
»Wird Zeit, dass endlich Frühling wird«, seufzte Manni.
»Oh ja«, pflichtete Paul ihm bei. Er war aufgestanden und ans Fenster getreten.
»Eigentlich ganz nett. Ich könnte mir vorstellen, dass man es hier im Sommer gut aushalten kann. Apropos Sommer: Die Tour durch die Skulpturengärten sollten wir testweise im Sommer starten. Ich mache in den nächsten Tagen mal eine Kalkulation.«
Schritte näherten sich.
»Zucker und Milch nehmen Sie sich bitte selbst.«
Gerling kam mit einem Tablett herein. Der Kaffeeduft verdrängte den Muff auf angenehme Weise.
»Nach dem Kaffee werde ich Ihnen meine Reliquien zeigen.«
Gerling zog bedeutungsvoll die Brauen hoch und ließ keinen Zweifel daran, dass ihnen schon bald ein besonderes Privileg zuteil werden würde.
Paul unterließ es, seine Wortwahl zu korrigieren. Denn es war gut möglich, dass die Exponate für Gerling tatsächlich so etwas wie Reliquien waren. Die Exponate seines ganz privaten Arbeitermuseums.
***
Der schwer beladene Sprinter grub tiefe Rinnen ins regengetränkte Kiesbett, als er in Mannis Hof einbog. Manni hatte während der ganzen Fahrt kein einziges Wort gesprochen. Paul wusste, das war kein gutes Zeichen, und so verharrte er stumm auf dem Beifahrersitz.
Natürlich hätte er sich Gerlings »Erbschaft« vorher erst einmal ansehen sollen. Nun war es zu spät.
Gerling hatte sie voller Stolz auf seinen Dachboden voller alter Werkzeuge, Gerätschaften und Kisten geführt. Sein Urgroßvater hatte die Sammlung einst begonnen und an die nächste Generation weitervererbt. Jeder hatte dann etwas dazu beigetragen.
Da Gerling aber kinderlos geblieben war, war die Existenz seines Archivs bedroht. Um so glücklicher war er, dass es bei Paul nun in gute Hände kam.
Mannis Gesichtsausdruck zeigte jedoch nach flüchtigen Blicken in die eine und andere Kiste immer deutlichere Anzeichen von Entsetzen. Arbeitsjacken und Kittel, alte Betriebs- und Gewerkschaftszeitungen, Dosen mit Sandseife und mit Schnupftabak.
Das Meiste gehörte wohl eher auf den Sperrmüll oder in die Altkleidersammlung. Bestenfalls auf den Flohmarkt.
Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, schnappte sich Manni wortlos eine große Kiste und schleppte sie in den Schuppen, den er dafür freigeräumt hatte. Paul griff sich die sperrige lange Stahlarbeiterstange, an deren Ende eine Schöpfkelle angebracht war, und folgte ihm.
»Lass uns das erstmal in Ruhe sichten«, gab sich Paul versöhnlich. »Den Sperrmüll kann ich dann immer noch anrufen. Das eine oder andere lässt sich sicherlich auch bei Ebay verscherbeln.«
Manni setzte die Kiste ab und wollte gerade einen bissigen Kommentar anbringen. Als er jedoch Pauls betrübten Gesichtsausdruck bemerkte, musste er laut auflachen.
Paul sah ihn irritiert an.
»So sehen also Erbschaften aus, die Leuten wie uns vermacht werden«, kicherte Manni, und beide entspannten sich.
Nachdem alles ausgeladen und im Schuppen verstaut war, machten sie ein Bier auf und stießen mit den Flaschen an: »Auf die Freundschaft und die Zukunft!«
Paul nahm einen großen Schluck und ließ sich ein wenig erschöpft auf einer Kiste nieder. Trotz des kühlen Wetters war er bei der Arbeit ins Schwitzen gekommen. Obwohl Manni weitaus älter als Paul war, schien es ihm nichts ausgemacht zu haben.
Er öffnete eine Kiste und holte ein dickes Buch heraus. Den Titel zierte die Zahl 1910 in großer, goldener Schrift. Er schlug es auf und wirkte ein wenig überrascht.
»Handschrift. Scheint ein Tagebuch zu sein.«
Er blätterte zurück zur ersten Seite. »Ja. Tagebuch der Hedwig Goldacker.«
»Zeig mal!«
Paul war plötzlich hellwach. Alte Tagebücher faszinierten ihn. Manni reichte ihm das Buch und holte ein Weiteres aus der Kiste, das jetzt mit 1912 betitelt war. Sie blätterten eine Weile jeder für sich. Dann meldete sich Paul lachend zu Wort.
»Das hier ist witzig: In der Schule sprachen heute alle über einen Herrn Amundsen. Er will als erster Mensch den Südpol betreten. Mir würde das nicht gefallen, den ganzen Tag diese arge Kälte. Aber er ist Norweger und wahrscheinlich macht es den Leuten aus dem hohen Norden nicht gar so viel aus.«
Manni begleitete Pauls Lachen mit seinem typischen Kicherton. Dann zitierte er aus seinem Buch. »Hier steht auch was über Thyssen:
Herr Thyssen ist seit einigen Tagen mit nichts mehr zufrieden. Niemand kann ihm etwas recht machen. Man hört kein Schwatzen und kein Lachen mehr, wie wir es sonst gewohnt sind. Alle gehen nur noch still ihren Pflichten nach. Vater meint, es liegt alles nur an dem achten Rodin. Seit der aufs Schloß kam, ist unser Herr noch verbitterter geworden, als er es ohnehin schon war.«
»Rodin? Der Bildhauer? Der, mit dem Denker?«
»Ja. Auguste Rodin.«
»Wow! Ich wusste gar nicht, dass August Thyssen Kunstsammler war.«
»War er auch nicht. Jedenfalls nicht so wirklich. Aber er hatte Auguste Rodin einmal kennengelernt, als er in Paris war. Bei der Weltausstellung. Seitdem war er ein großer Fan von ihm. Er hatte bei ihm mehrere Skulpturen in Auftrag gegeben. Ich habe die mal im Pariser Rodin Museum gesehen. Es war eine Sonderausstellung. Normalerweise sind die Thyssen-Rodins in Madrid ausgestellt. Im Thyssen-Bornemisza-Museum.«
»Von wann ist der Eintrag?«
»Von 1912.«
»Dann ist wohl Schloss Landsberg gemeint. An der Ruhr, bei Kettwig. August Thyssen hat dort seit 1904 gewohnt.«
Paul hob seine Bierflasche in die Höhe. »Und was sagt uns das?«
Manni hob auch seine Bierflasche in die Höhe: »Ein Schloss schützt nicht vor schlechter Laune.«
»Oder«, ergänzte Paul, »Geld macht nicht unbedingt glücklich!«
Sie stießen an: »Auf die Freundschaft und die Zukunft!«
***
Die schwere Tür des Amtsgerichts fiel mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Sabrina trat hinaus auf den Platz. Sofort schlug ihr eine ungewohnte Wärme entgegen und das grelle Sonnenlicht ließ sie für einen Moment innehalten.
Als ihre Augen sich an die unerwartete Helligkeit gewöhnt hatten, glaubte sie sich mit einem Mal in einem fernen Land. Noch vor ein paar Stunden hatte der Wind hier graue Gestalten durchs Schmuddelwetter getrieben. Doch nun herrschte eine beinahe mediterrane Frühlingsstimmung. Die weiße Fassade des Theaters mit ihren imposanten Säulen erstrahlte in gleißendem Licht, und auf den Bänken rund um die »schwebenden« Rasenflächen tummelten sich urplötzlich Menschen aller Altersklassen und Nationen.
Die meisten von ihnen sogen mit geschlossenen Augen die lang ersehnten Sonnenstrahlen auf. Andere hatten ihre Jacken und Pullover ausgezogen und benutzten sie als Decken, um es sich auf den Grünflächen bequem zu machen. Über allem lag eine friedliche, relaxte Atmosphäre.
Sabrina hatte ihren nächsten Gerichtstermin in zwei Stunden. Genug Zeit also, um noch einige Arbeiten an ihrem Schreibtisch in der Kanzlei zu erledigen, doch sie entschied sich dafür, lieber das schöne Wetter zu genießen.
Sie ließ sich von der Stimmung anstecken und bummelte gelassenen Schrittes an den Rasenflächen vorbei Richtung Königstraße, dem Shoppingboulevard der Stadt. Sie war kaum ein paar Meter gegangen, da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.
Sie sah sich um, und entdeckte Ruprecht auf einer der Rasenbänke. Er war leidlich bemüht, das Eis in seinem Waffelhörnchen mit heftigen Zungenschlägen daran zu hindern, auf sein Jacket zu tropfen. Als sie lächelnd auf ihn zuging, rückte er, um ihr Platz zu machen, ein wenig zur Seite, ohne die Bändigung seines dahinschmelzenden Speiseeises zu unterbrechen. Seine Sätze klangen deshalb etwas abgehackt.
»Sabrina, Darling, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu danken. Es war ein wunderschöner Abend bei dir. Und das Essen war einfach fantastisch.«
Die Proportion seines Eises war jetzt endlich so weit geschrumpft, dass es gefahrlos in der Waffel ruhte.
»Für uns war es auch sehr schön«, bedankte sich Sabrina, nachdem sie neben ihm Platz genommen hatte.
»Endlich Frühling!« sagte Ruprecht und schlürfte den Rest des Eises aus dem Hörnchen.
»Übrigens«, fuhr er dann in vertraulichem Ton fort. »Ich wollte an dem Abend nichts sagen, aber, ... du weißt ja, dass ich auch noch die gesetzlichen Betreuungen mache. Da fallen immer wieder mal Haushaltsauflösungen an. Und ich habe mir überlegt, wenn Paul Lust hat, kann ich die problemlos an ihn vergeben.«
Sabrina sah ihn fragend an.
»Na ja«, ergänzte Ruprecht, »es ist nicht viel. Aber es hätte eine gewisse Regelmäßigkeit.«
»Paul soll den Entrümpler machen?«
Sabrina sah ihn beinahe entsetzt an. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte.
»Das ist nichts Ehrenrühriges. Was wäre denn so schlimm daran?«
Sabrina starrte verwirrt auf den Boden. Was hatten ihre Kollegen eigentlich für ein Bild von Paul? Im Grunde war er doch auch ein Kollege. Ein Jurist. Hatten sie das vergessen? Er hatte sich mutig entschieden seine eigenen Wege zu gehen. Er ... Was hatte sie für ein Bild von Paul?
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein Tropfen Eis an Ruprechts Jackenzipfel herunter rann, eine milchige Spur hinterließ und schließlich auf dem Hosenbein landete. Das Speiseeis hatte gewonnen! Irgendwie freute es sie und sie musste schmunzeln.
Ruprecht stand auf.
»Na ja. Ich wollte es ja eigentlich gar nicht ansprechen. Denk mal drüber nach. Es ist nur gut gemeint. Bis später!«
»Bis später.«.
Sabrina hob den Kopf und schloss die Augen. Die Wärme der Sonnenstrahlen tat gut. Also, was hatte sie eigentlich für ein Bild von Paul? Sie füllte in Gedanken einen imaginären Notizzettel aus. Er war liebevoll und mutig. Er war charmant und klug. Ihm war eine große Karriere als Jurist vorausgesagt worden, und er hatte lächelnd darauf verzichtet und sich stattdessen für einen Beruf und ein Leben entschieden, das ihn zwar nicht wohlhabend, wohl aber glücklicher machte. Wer traute sich das schon? »Der Mensch ist in der Lage, zu entscheiden, etwas nicht zu tun. Das unterscheidet ihn vom Pawlowschen Hund«, pflegte er dann immer zu sagen, wenn er auf Unverständnis stieß.
Er war kritisch und verletzlich. Er war anders. Ihn interessierte nicht, was die Welt von ihm erwartete, sondern nur das, was er von sich selbst erwartete. Vielleicht war das der Knackpunkt. Vielleicht hatte sein Eigenleben eine ganz eigene Dynamik entwickelt? Vielleicht hatte er sich im Laufe der Zeit immer mehr von dem entfernt, was man gemeinhin als gesellschaftsfähig bezeichnete?
Sabrina stellte plötzlich erschrocken fest, dass sie dabei war, Ruprechts Sichtweise verstehen zu wollen. Das würde sie sich Paul gegenüber niemals verzeihen.
Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie schloss die Augen und hielt das Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen. Die Wärme tat noch etwa zehn Sekunden ihre wohlige Wirkung, doch dann schob sich eine Wolke vor die Sonne und schlagartig wurde es wieder kühl.
***
Nicht nur die Menschen, auch Flora und Fauna schienen aufzuatmen. Fast explosionsartig schossen die Knospen aus den Zweigen der Sträucher, und die Vögel wetteiferten um die schönsten Jubelgesänge. Wobei die Lautstärke ganz offensichtlich nicht proportional zu ihrer Körpergröße war. Groß und Klein gaben alles für die Frühlingssymphonie.
Manni hatte es sich auf der Terrasse bequem gemacht. Da die Sonne den Bildschirm seines Notebooks blendete, hatte er auch die Markise ein Stück heruntergekurbelt.
Auf dem Tisch standen eine Kanne mit Tee und ein Schälchen mit Studentenfutter. Außerdem hatte er sich einen Notizblock bereitgelegt. Denn Notizen machte er sich immer noch am liebsten handschriftlich auf Papier, statt im Computer.
Zum wiederholten Mal hatte er »August Thyssen Rodin« in die Suchmaschine eingegeben, und nun klickte er sich durch weitere Seiten der über sechzigtausend Suchergebnisse. Der Informationswert wurde allerdings immer dünner, wie er schon an den Zitatzeilen in der Suchmaschine erkannte.
Er wollte herausfinden, was es mit diesem achten Rodin auf sich hatte, von dem Hedwig Goldacker in ihrem Tagebuch gesprochen hatte. Im Madrider Thyssen-Museum waren sechs Skulpturen aus August Thyssens Nachlass verzeichnet. In manchen Texten war auch schon mal von sieben Objekten die Rede. Nirgendwo aber wurden acht Rodins dieser Sammlung erwähnt.
Manni versuchte, sich an die Skulpturen zu erinnern, die er in der Sonderausstellung im Pariser Rodin-Museum gesehen hatte. Es waren genau die, die er auch hier auf der Webseite des Thyssen-Bornemisza-Museums gefunden hatte. An weitere konnte er sich nicht erinnern.
Er hörte plötzlich, wie ein Auto in die Einfahrt seines Hofes fuhr und den Kies zum Knirschen brachte. Bald darauf tauchte Paul auf der Terrasse auf. Er hielt eine Mappe in der Hand.
»Ach, nee! Da denkt man, der große Meister tut alles für seinen Ruhm und eine erfolgreiche Skulpturengartenführung. Stattdessen sitzt er hier in der Sonne und faulenzt!«
»Krieg dich ein!« konterte Manni. »Was hast du Schönes mitgebracht?«
Paul nahm sich einen Rattanstuhl von dem Stapel an der Wand und setzte sich zu Manni an den Tisch. Er wollte gerade die Mappe öffnen, da fiel sein Blick auf den Bildschirm.
»Ah! Thyssen Rodin! Auf den Geschmack gekommen?«
»Ja. Kann man so sagen. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem achten Rodin.«
»Wieso? Was stimmt nicht?«
»Es gibt definitiv sechs Rodins in der Thyssen-Sammlung. Möglicherweise existiert irgendwo auch noch ein siebter. Aber einen achten scheint es niemals gegeben zu haben.«
»Na gut«, Paul zuckte die Achseln, »dann hat sich Tante Hedwig wohl verzählt.«
»Möglich. Nur irgendwie ist die ganze Geschichte seltsam.«
»Es sind Tagebucheinträge eines Schulmädchens. Ich würde das nicht allzu eng sehen.«
»Warum erzeugt eine Skulptur schlechte Laune? War sie fehlerhaft? Rodin hatte etliche Gehilfen, die für ihn den Marmor gekloppt haben. Vielleicht hatte einer Mist gebaut und Rodin hatte es übersehen? Darf eigentlich nicht passieren! Aber noch merkwürdiger ist die Sache mit dem Namen. Immer wenn in den Tagebüchern eine Rodin-Skulptur erwähnt wird, dann wird sie beim Namen genannt. Da waren dann die Besucher zum Beispiel begeistert von Christus und Magdalena, oder beim Spielen versteckte sich die kleine Hedwig hinter der Geburt der Venus. Nur die Achte hat anscheinend keinen Namen. Sie ist einfach nur die Achte. Und es gibt sie sowieso nicht.«
Paul ahnte, dass Manni dabei war, sich in der Sache zu verrennen, deshalb suchte er nach einer pragmatischen Lösung, um seine Grübelei zu beenden. »Wenn der alte Thyssen in diesem Zeitraum, 1912 war es glaube ich, eine Skulptur bestellt oder erhalten hat, dann muss das irgendwo verzeichnet sein. Schreib’ doch mal an das Thyssen Archiv. Vielleicht haben die entsprechende Korrespondenz oder Zahlungsbelege, was auch immer. Die haben mir damals bei den Recherchen für mein Buch sehr geholfen. Heißt heute ThyssenKrupp Konzernarchiv. Die sitzen hier in Duisburg.«
Manni nickte still, dann zog er Pauls Mappe zu sich und öffnete sie.