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Kapitel 1 China, Provinz Liaoning, Mittwoch, 15. September 2021
ОглавлениеEin Blick auf die Uhr, kurz vor Mitternacht.
Reflexartig schaut Shixin in den Rückspiegel, nichts Auffälliges auszumachen, stockfinstere Nacht.
Erleichtert schaltet sie den Scheibenwischer ihres metallic roten BYD Song auf die unterste Stufe.
Vergessen der vorangegangene heftige Regenschauer, der sich jetzt als sanfter Nieselregen auf die Landschaft legt.
Gelegentlich ein paar herannahende Scheinwerfer auf der nassen lichtreflektierenden Gegenfahrbahn, was sie jedes Mal kurzzeitig erblinden lässt.
Shixin fixiert das Navi, die Route stimmt, dann betrachtet sie sich kurz im Rückspiegel.
Mal schauen, wie Papa auf diese Maskerade reagieren wird, denkt sie, denn die wasserstoffblonde Langhaarperücke mit dem frechen Pony lässt sie exakt wie ihre Zwillingsschwester Yini ausschauen.
Gut drei Jahre sind ins Land gezogen, seitdem Shixin ihren Vater Sheng das letzte Mal gesehen hat. Da lebte und arbeitete er noch, genauso wie sie, in Peking.
Nur wenige Menschen kennen jetzt seinen Aufenthaltsort.
Laut Navi sollte sie jetzt links abbiegen, dann noch gut 8 Kilometer in Richtung Norden fahren.
Shixin betätigt den Blinker, verlässt die Hauptstraße, folgt gebannt der vorgegebenen Route.
"Bitte schalte die Scheinwerfer aus, bevor du in die nicht enden wollende Zubringerstraße zu meinem Haus einbiegst", hatte Shixins Vater ihr am Telefon mit auf den Weg gegeben und angefügt: "Sobald Morpheus bellt, weiß ich, dass du im Anmarsch bist. Schließlich brauchen die Leute im Dorf nicht unbedingt wissen, dass ich zu so später Stunde noch Gäste empfange."
Die Worte ihres Vaters noch in den Ohren, wird Shixin plötzlich von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden stark überladenen Lastkraftwagens in die Gegenwart zurück geholt.
"Hey, mach' verdammt noch mal dein Fernlicht aus", flucht sie, klappt kurzerhand die Sonnenblende runter.
Mit schnaubendem Getöse schiebt sich ein schrottreifer 14-Tonner träge über den nassen Asphalt, eine stinkende rußschwarze Dieselwolke hinter sich her ziehend.
Als sich die Wege der beiden Fahrzeuge kreuzen, kann sie für einen Augenblick den Chauffeur erkennen.
Mit einer lässigen Geste deutet der Trucker mit dem Daumen über seine Schulter. Dabei streifen Shixins Augen seinen Oberarm, der von einer nackten Meerjungfrau mit wallender Mähne und üppigen Brüsten verziert wird.
Unter dem Tattoomotiv kann sie das in Versalienbuchstaben geschriebene Wort FADO ausmachen.
"Was bedeutet Fado … das gleiche Wort stand doch auch schon auf dem Kühler geschrieben?", fragt sich Shixin, als plötzlich die ohrenbetäubende Fanfare einer mit Druckluft betriebenen Hupe ertönt, deren Tuten eher an das Nebelhorn eines Schiffes erinnert.
Unwillkürlich zuckt sie zusammen, blickt reflexartig in den Rückspiegel.
Dort erhascht sie das abrupte Aufflackern der Lkw-Bremslichter, die für einen Moment lang die verregnete Nacht in einem grellen roten Licht erstrahlen lassen.
Eine gespenstische Szenerie.
Gar nicht auszudenken, wenn man als Frau in dieser verlassenen Gegend eine Autopanne hat, überlegt sie und sieht sich mit der wasserstoffblonden Perücke, dem kurz geschnittenen Schottenrock und den schwarz lackierten Gothic-Springerstiefeln verzweifelt auf Hilfe wartend an der Straße neben dem BYD stehen.
"Gott bewahre!"
Shixin vermisst ihr Mobiltelefon, die Brücke zur Aussenwelt. Nur zu gerne würde sie jetzt mit ihrer Zwillingsschwester Yini telefonieren, doch mit der Ortung und Positionsbestimmung hätte die Polizei, oder wer sonst noch alles hinter ihr her sein könnte, leichtes Spiel.
"Bis die Sicherheitskräfte dein Huawei bei mir geortet haben, bist du schon über alle Berge", hatte Yini gesagt, den Kleiderschrank geöffnet, Shixin ein paar extravagante Designer-Klamotten gereicht, die wasserstoffblonde Perücke aus einer Hutschachtel hervorgezaubert und ihr die Schlüssel zu ihrem BYD Song in die Hand gedrückt.
"Du kannst den Wagen so lange haben, wie du willst, ich brauche ihn zurzeit nicht!"
"Danke, Yini, das ist lieb von dir! Sag' mal, sind die Haare echt?"
"Klar, was denkst du denn! Made in Japan. Komm', setz' sie mal auf."
Shixin stülpt sich das Ding über den Kopf, wirft einen Blick in den großen Wandspiegel, verzieht das Gesicht.
Eruptives Gelächter.
"Herrje, jetzt sehen wir wirklich wie eineiige Zwillinge aus", ruft Shixin, "unser Vater wird denken, dass du vor ihm stehst, wenn er mich so sieht!"
Flugs entledigt sie sich ihres Blazers, streift das Etuikleid ab und schlüpft entschlossen in das ungewohnte Manga-Outfit, dass auf Anhieb wie angegossen sitzt.
Erneut schallendes Gelächter.
"Wow! Du siehst wirklich super aus, Shixin!", kommentiert Yini die spontane Modenschau mit kehliger Stimme, ergreift geistesgegenwärtig ihr Mobiltelefon und hält den Moment rasch mit einigen Selfies fest. "Papa wird sich riesig über deinen Besuch freuen, aber noch mehr wird ihm gefallen, wenn er zu hören bekommt, dass endlich eine seiner Töchter schwanger ist."
Schlagartig verändert sich die Atmosphäre im Raum.
Während Yini sich quietschfidel durch die erstellten Fotos scrollt, gefriert Shixins ausgelassenes Lachen zu einer starren blutleeren Maske.
Mit leblosem Blick widmet sie sich dem Schnüren der Springerstiefel.
Plötzlich hält sie inne, blickt zu Yini auf, streicht sich eine Strähne ihrer neuen Haarpracht aus den Augen und fragt mit ernster Stimme: "Chattet ihr immer noch so oft?"
"Was ist daran so schlimm?", gibt Yini zickig zurück.
Tatsächlich ist sie ein wenig eingeschnappt, doch nur kurz.
Immer seltener kommen Shixin jetzt andere Fahrzeuge entgegen. Dafür ist der Nieselregen stärker geworden, taucht die Landschaft in einen grauen, undurchsichtigen Schleier. Zum Glück verrät das GPS den Weg.
Der Magen knurrt, ein letzter Schluck Wasser aus der PET-Flasche, ein flüchtiger Blick auf die Uhr.
Gut fünf Stunden ist sie jetzt ohne Pause unterwegs.
"Lange kann es nicht mehr gehen", ruft Shixin sich gähnend zu, hofft, dass ihr Vater sie mit einer heißen Nudelsuppe empfängt.
Ihr ist schon ganz schlecht vor Hunger.
Kein Wunder, schließlich muss ihr Körper seit zwei Monaten für zwei Lebewesen Energie zur Verfügung stellen.
Mit Adleraugen erkundet sie die Umgebung, will ja nicht die Abfahrt verpassen, drückt ihren steifen Rücken in den Sitz und ist plötzlich hellwach.
Polizei!
Die ihr Scheinwerferlicht reflektierende Warnweste des Verkehrspolizisten ist nicht zu übersehen.
Mit erhobener Kelle blockiert der Beamte die Fahrbahn, fordert mit winkenden Bewegungen dazu auf, rechts ranzufahren.
Shixins Gedanken rasen, ihr Puls schnellt in die Höhe.
"Eine Verkehrskontrolle um diese Zeit?"
Kalkweiß im Gesicht verringert sie das Tempo, schaltet umständlich zwei Gänge runter, Schritttempo.
Im Nu beginnt die Vorstellung von ihr Besitz zu ergreifen, dass ihre Kollegen im virologischen Forschungsinstitut ihren Datenklau bemerkt haben und die Fahndung nach ihr bereits auf Hochtouren läuft.
Adrenalin flutet ihren Körper.
Einige Meter vor dem Polizeiauto, das sich hinter einem Stoß aufgetürmter Baumstämme versteckt hat, kommt der BYD zum Stehen.
Shixin bekommt feuchte Hände, ihr Atem wird flacher, ein mulmiges Gefühl stellt sich ein.
Mit Hilfe einer Taschenlampe wirft der Ordnungshüter einen unfreundlichen Blick durchs heruntergelassene Fenster ins Wageninnere, erklärt in einem forschen Ton: "Verkehrskontrolle! Händigen Sie mir bitte ihren Führerschein und die Kfz-Zulassungsbescheinigung aus."
Äußerlich versucht Shixin ruhig zu bleiben, doch innerlich zerreißt es sie schier vor Anspannung.
War es wirklich eine gute Idee, mit Yini die Identitäten zu tauschen?, geht es ihr durch den Kopf, während der Uniformierte mit strenger Miene seine Taschenlampe abwechselnd über das Foto im Ausweis und Shixins Gesicht huschen lässt.
"Yini Zhāng?"
"Ja!", antwortet Shixin mit bebender Stimme.
"Bitte schalten Sie den Motor ab und warten Sie im Wagen, solange wir unsere Arbeit machen."
Eingehüllt in einen Regenponcho inspiziert der Polizeibeamte gewissenhaft den BYD, um anschließend mit den Dokumenten zu seinem Kollegen zu stolzieren, der im Streifenwagen hinter dem Bordcomputer auf ihn wartet.
Hin- und hergerissen zwischen ihrer Angst, aufzufliegen und der Hoffnung, dass es sich ja vielleicht doch nur um eine routinemäßige Verkehrskontrolle handelt, öffnet Shixin mit fahrigen Bewegungen den Reißverschluss des Seitenfächleins der auf dem Beifahrersitz liegenden Laptop-Tasche.
Schnell noch ein Kontrollblick durch die verregnete Windschutzscheibe in Richtung Polizeifahrzeug, dann verschwindet der USB-Stick auch schon unter dem Fahrersitz.
Die ganze Situation bringt sie zunehmend um den Verstand.
"Also nichts mit heißer Suppe. Hochverrat, wird das Urteil lauten!", raunt sie vor sich hin.
Ihr Herz schlägt bis zu den Ohren. Augenblicklich bahnt sich ein weiterer Adrenalinstoß seinen Weg durch ihre verspannten Glieder. Die Vorstellung, dass ihr Kind ohne leibliche Mutter aufwachsen wird, ist unerträglich.
Aus purer Verzweiflung faltet Shixin ihre Hände, schließt die Augen und schickt ein Stoßgebet gen Himmel.
Plötzlich dringt das Geräusch stampfender Schritte an ihre Ohren. Als sie ihre Augen öffnet, blickt sie geradewegs in das von Regentropfen gesprenkelte Gesicht des Verkehrspolizisten.
"Ihr linkes Abblendlicht ist defekt, Frau Zhāng! Suchen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit so schnell wie möglich eine Werkstatt auf."
Erleichtert braust sie davon, kann es gar nicht richtig fassen, dass ihre eigennützige Fürbitte geholfen hat.
Während Shixin mit Freudentränen in den Augen über die Landstrasse brettert, kommt ihr der Lkw-Chauffeur mit dem Tattoo wieder in den Sinn.
Sie schämt sich, denn so wie es ausschaut, hat der Fahrer sie nicht wegen eines schnellen 300 Yuan-Ficks in der engen Schlafkabine seines Lasters angehupt, sondern wegen dem kaputten Scheinwerfer und der am Strassenrand lauernden Verkehrskontrolle.
"Scheiß Vorurteile! Nicht gerade eine vorbildliche wissenschaftliche Haltung, Frau Doktor Zhāng!", mahnt Shixin selbstkritisch via Rückspiegel an und streckt sich die Zunge entgegen.
Endlich taucht am Straßenrand das lang erwartete Hinweisschild auf.
Schlechte Wegstrecke! Benutzung auf eigene Gefahr! Der Besitzer.
"Das muss es sein!", ruft Shixin, stoppt auf Höhe der vom Wetter arg mitgenommen einsam schräg in der Landschaft stehenden Holztafel, schaltet die Scheinwerfer aus und biegt ab.
Holprig geht's weiter.
Im Schneckentempo folgt sie dem aufgeweichten Sandweg, der partout nicht enden will. Immer wenn sie denkt, es geschafft zu haben, kommt wieder eine neue Kurve.
"Vater hatte recht, die Zubringerstrasse zieht sich …!", flüstert sie ungeduldig. Wenigstens hat endlich der Regen aufgehört.
Währenddem Shixins Vater Sheng zeitgleich in der Küche den vorbereiteten Suppeneintopf abschmeckt, liegt Morpheus entspannt auf dem Wohnzimmerteppich neben dem brennenden Kamin.
Mit dem ausgezeichneten Instinkt eines Siberian Huskies spürt er, dass sich jemand dem Haus nähert.
Unruhig wedelt er mit dem Schwanz, spitzt seine Ohren, rennt zur Haustüre und beginnt laut zu bellen.
"Braver Morpheus … wer kommt denn da, hey? Wer ist das … ist das Shixin? Komm, wir gehen sie begrüßen!"
Um die Lenden eine Küchenschürze gebunden, die als Hingucker den Physiker Albert Einstein mit herausgestreckter Zunge zeigt, tritt Sheng vor die Verandatür, als aus dem Dunkel der Nacht auch schon ein metallic roter BYD Song mit ausgeschalteten Scheinwerfern auftaucht.
Shixin betätigt kurz die Lichthupe, lässt das Seitenfenster herunter, winkt den beiden Wartenden überschwänglich zu.
Entgegen ihrer Befürchtung, der Wachhund ihres Vaters würde bellend sein Revier gegen den fremden Eindringling verteidigen, wedelt er brav mit dem Schwanz.
Neugierig seinen Kopf ins Wageninnere steckend, kann Morpheus es gar nicht erwarten, von der unbekannten Person gebührend empfangen zu werden.
Dagegen spricht der Blick ihres Vaters wie vermutet Bände. Verwundert verdreht er die Augen.
"Heiliger Bimbam, Shixin, du bist ja gar nicht wiederzuerkennen! Wie siehst du denn aus?"
"Die Aufmachung war Yinis Idee. Du kennst sie ja, Papa, nicht umsonst hat sie eine Modeboutique".
Sogleich streift Shixin sich die Perücke vom Kopf, fährt sich ein paar Mal mit den Händen durch ihren kurz gehaltenen Pagenschnitt.
"Willkommen in meinem Refugium, meine liebe Tochter! Komm', steig' aus … lass' dich umarmen!"
Mit steifen Gliedern kraxelt Shixin aus dem Wagen, umarmt ihren Vater und ist für einen Augenblick noch mal sein kleines Mädchen.
Die Suppe hat gut getan, alte Geschichten schnell aufgewärmt, auch was ihre Zwillingsschwester Yini aktuell so treibt und wie es ihrer Mutter Nana geht.
Doch den wahren Grund ihres Besuchs hatte Shixin bewusst ausgespart.
Selbst als Tochter fällt man nicht mit der Tür ins Haus seines Vaters. Vor allem, wenn man sich über drei Jahre nicht gesehen hat. Da hilft es auch wenig, auf die vergangene gemeinsame gute Zeit zurückzugreifen.
Verhaltene Herzlichkeit - ein unumgängliches nützliches Kommunikationshilfsmittel.
Während Sheng sich dem Kaminfeuer widmet, lässt Shixin Morpheus ein paar Streicheleinheiten zukommen.
Stumm schwenkt sie andächtig ihr Weinglas, einen fruchtig-weichen Bordeaux, den ihr Vater zur Feier des Tages aus dem Weinkeller geholt hat.
Papa ist kein bisschen älter geworden … er schaut gut aus, sinniert Shixin, lässt ihren Blick entspannt durchs Wohnzimmer schweifen.
Schlussendlich bleibt sie bei dem monströsen Spiegelteleskop hängen, das neben dem prall mit Büchern gefüllten Wandschrank auf einem Stativ ruht.
Alles sehen ist eine Frage der Perspektive, hatte Papa immer betont und sich gegen die Simplifizierung des Denkens durch die Werkzeuge der Politik in Form von Propaganda, partieller Meinungsbildung und vorsätzlicher Unterlassung gewehrt, erinnert sich Shixin, und kann es immer noch nicht richtig fassen, dass sie nun an dem gleichen Punkt angelangt ist, wie ihr Vater vor über drei Jahren.
"Was du da sieht, Shixin, ist mein neues Hobby, ein Omegon N", ruft Sheng seiner Tochter, mit dem Feuerhaken in der Hand, über die Schulter zu. "Die Astrofotografie hat es mir seit einiger Zeit angetan, wobei ich mit dem Teleskop nicht nur in entfernte Galaxien schaue. Ab und zu beobachte ich damit auch die attraktive Nachbarstochter beim Wäscheaufhängen."
Shixin lächelt, schüttelt den Kopf, denkt, Humor hat er, das muss man Papa lassen und sagt: "Du bist und bleibst ein hoffnungsloser Fall, jedenfalls was das Thema Frauen angeht."
"Die Trennung von deiner Mutter war damals unausweichlich!", kontert Sheng. "Außerdem ist die Nachbarstochter volljährig und erinnert mich jedesmal daran, dass der Fortpflanzungstrieb eines Mannes nie erlischt. Gegen die immensen Triebkräfte der Natur kann sich selbst ein in die Jahre gekommener Wissenschaftler nicht zur Wehr setzen, Frau Doktor Zhāng."
"In dem Fall bist du ein Spanner, Papa!"
Sheng übergeht den lieb gemeinten Spott seiner Tochter, stochert stattdessen nachdenklich mit dem Anflug eines Lächelns in der Glut herum.
"Sie ist die Tochter des Bürgermeisters. Der hat am Dorfrand ein Häuschen stehen. Vor gut zwei Wochen haben sie dort auf seinem Dach den ersten 5G-Mast installiert. Von deinem Zimmer aus kann man die High-Tech-Antenne prima mit dem Teleskop erkennen."
Erstaunt blickt Shixin zu ihrem Vater hinüber, steht auf und schlurft zum Teleskop.
"Der Gemüsebauer, bei dem ich einmal die Woche meine Zutaten einkaufe, meint, dass noch weitere Installationen folgen werden", fährt Sheng fort und legt einen Scheit Holz nach. "Natürlich ist das immer noch kein Vergleich zu dem, was bereits in den Ballungsgebieten steht. Nichtsdestotrotz breitet sich das 5G-Netz flächendeckend nach und nach jetzt auch hier in der Provinz aus."
Mit einer nachdenklichen Miene blickt Sheng eine Weile lang ins Feuer.
Dann begibt er sich zu seiner Tochter, die gerade versucht, einen Blick durch das Teleskop zu werfen.
"Es verfügt über eine 300-fache Vergrößerung", preist Sheng seine teure Errungenschaft an. "Sobald wir besseres Wetter haben, kannst du dir ja mal den Mann auf dem Mond von Nahem anschauen."
"Sehr gerne, Papa!", entgegnet Shixin beschwingt. "Aber sag', was machst du sonst noch so den lieben langen Tag hier im … Exil, außer der Tochter des Bürgermeisters auf den Hintern zu schauen?"
Sheng lächelt, fährt sich mit der Hand einmal durch sein dicht gewachsenes Haar. "So, wie ich dich kenne, möchtest du von mir eine authentische Rückmeldung auf deine Frage haben, oder?"
"Selbstverständlich, Papa, schließlich sind wir beide Wissenschaftler und somit der Wahrheit verpflichtet."
"Das stimmt, Shixin, da hast du vollkommen recht. Wahrheit ist die Voraussetzung für jede Forschung. Alle, die diesem Axiom nicht folgen, sind populistische Materialisten. Doch Wahrheit hin oder her, wie du weißt, ticken die Uhren hier draußen etwas anders. Ich bin müde, lass uns jetzt schlafen gehen, es ist schon spät. Morgen ist auch noch ein Tag."