Читать книгу Bambi: Eine Lebensgeschichte aus dem Walde - Siegmund Salzmann - Страница 8

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Als er eines Abends mit seiner Mutter wieder hinaus auf die Wiese trat, glaubte er, daß er nun alles kenne, was es da zu sehen und zu hören gab. Allein, es zeigte sich, daß er im Leben doch nicht so gut Bescheid wußte, wie er gemeint hatte.

Zunächst war es ja wie beim erstenmal. Bambi durfte mit der Mutter Fangen spielen. Er fuhr im Kreise umher und der weite Baum, der hohe Himmel, die freie Luft erfüllten ihn wieder mit einem Rausch, daß er ganz rasend wurde. Nach einer Weile merkte er, daß die Mutter stillstand. Er hielt mitten in einem Bogen inne, so plötzlich, daß seine vier Beine weit auseinander grätschten. Um sich einen anständigeren Halt zu geben, tat er einen hohen Luftsprung und nun stand er richtig. Die Mutter drüben schien mit jemandem zu sprechen, aber es ließ sich im hohen Grase nicht ausnehmen, wer das sei. Neugierig trollte Bambi näher. Da bewegten sich im Gewirr der Halme dicht vor der Mutter zwei lange Ohren. Graubraun waren sie und mit schwarzen Streifen hübsch gezeichnet. Bambi stutzte, aber die Mutter sagte: „Komm nur her, das ist unser Freund Hase ... komm nur ruhig her und laß dich anschauen.“

Bambi ging sogleich ganz heran. Da saß nun der Hase und war sehr honett anzuschauen. Seine langen Löffelohren stiegen mächtig hoch empor und fielen dann wieder ganz schlapp herunter, wie von einer plötzlichen Schwäche angewandelt. Bambi wurde ein bißchen bedenklich, als er den Schnauzbart erblickte, der dem Hasen so stramm und gerade nach allen Seiten den Mund umstarrte. Aber er bemerkte, daß der Hase ein sehr sanftes Gesicht hatte, überaus gutmütige Züge, und daß er aus seinen großen, runden Augen bescheidene Blicke auf die Welt richtete. Er sah wirklich aus wie ein Freund, der Hase. Bambis flüchtige Bedenken verschwanden sofort. Merkwürdigerweise verlor sich sogar der Respekt, den er anfänglich empfunden hatte, alsbald vollständig.

„Guten Abend, junger Herr“, grüßte der Hase mit ausgesuchter Höflichkeit.

Bambi nickte nur „guten Abend“. Er wußte nicht warum, aber er nickte nur. Sehr freundlich, sehr artig, doch ein wenig herablassend. Er konnte nicht anders. Vielleicht war es ihm angeboren.

„Was für ein hübscher junger Prinz“, sagte der Hase zur Mutter. Er betrachtete Bambi aufmerksam, stellte dabei bald das eine Löffelohr hoch, bald das andere, bald wieder alle beide und manchmal ließ er sie schnell und schlapp herunterfallen, was aber Bambi nicht gefiel. Diese Gebärde schien zu sagen: es lohnt nicht.

Indessen fuhr der Hase fort, Bambi mit großen, runden Augen sanft zu betrachten. Seine Nase und sein Mund mit dem prächtigen Schnauzbart bewegten sich dabei unaufhörlich, wie jemand mit Nase und Lippen zuckt, der gegen das Niesen kämpfen will. Bambi mußte lachen.

Sogleich lachte auch der Hase bereitwillig, nur seine Augen wurden nachdenklicher. „Ich beglückwünsche Sie“, sagte er zur Mutter, „aufrichtig beglückwünsche ich Sie zu diesem Sohn. Ja, ja, ja ... das wird einmal ein prächtiger Prinz ... ja, ja, ja, so was sieht man gleich.“

Er richtete sich in die Höhe und saß nun in den Hinterbeinen aufrecht da, worüber Bambi maßlos erstaunte. Nachdem er mit steilen Ohren und großartig bewegter Nase überall umhergespäht hatte, saß er wieder manierlich auf allen Vieren. „Ja, nun empfehle ich mich den verehrten Herrschaften“, sagte er, „ich habe noch allerlei zu tun, heute abend ... untertänig empfehle ich mich.“ Er machte kehrt und hoppelte davon, mit angedrückten Ohren, die ihm bis zur Schulter reichten.

„Guten Abend“, rief ihm Bambi nach.

Die Mutter lächelte: „Der gute Hase ... so schlicht und so bescheiden. Er hat es auch nicht leicht auf der Welt.“ Es war Sympathie in ihren Worten.

Bambi spazierte ein wenig umher und überließ seine Mutter ihrer Mahlzeit. Er hoffte seinen Bekannten vom erstenmal wieder zu begegnen und war auch gerne bereit, neue Bekanntschaften zu machen. Denn ohne daß es ihm recht deutlich wurde, was ihm eigentlich fehle, war doch beständig ein Erwarten in ihm. Plötzlich hörte er von ferne ein feines Rauschen auf der Wiese, spürte ein leises rasches Klopfen, das den Boden berührte. Er sah auf. Dort drüben, am anderen Saume des Waldes huschte etwas durchs Gras. Ein Wesen ... nein ... zwei! Bambi warf einen schnellen Blick zu seiner Mutter, doch die kümmerte sich um nichts, sondern hatte den Kopf tief im Grase stecken. Dort drüben jedoch ging’s in jagenden Kreisen rundum, genau so, wie er selbst vorhin im Kreise umhergetobt hatte. Bambi war so verblüfft, daß er einen Satz nach rückwärts machte, als wolle er entfliehen. Davon wurde seine Mutter aufmerksam und hob das Haupt.

„Was ist dir denn?“ rief sie.

Aber Bambi war sprachlos, er fand keine Worte und stammelte nur: „Dort ... dort ...“

Die Mutter schaute hinüber. „Ach so“, sagte sie, „das ist meine Base, und, richtig, auch sie hat jetzt ein Kindchen ... nein, sie hat zwei.“ Die Mutter hatte voll Heiterkeit gesprochen, nun wurde sie ernst: „Nein ... daß Ena zwei Kinder hat ... wirklich zwei ...“

Bambi stand und gaffte. Dort drüben sah er jetzt eine Gestalt, die genau seiner Mutter glich. Er hatte sie früher gar nicht bemerkt. Er sah, wie es dort drüben weiter in Doppelkreisen durchs Gras dahinfuhr, aber nur die roten Rücken waren sichtbar, dünne rote Streifen.

„Komm“, sagte die Mutter, „wir wollen hingehen, da ist einmal Gesellschaft für dich.“

Bambi wollte laufen, weil aber die Mutter ganz langsam ging und bei jedem Schritt nach allen Seiten umherspähte, hielt auch er sich zurück. Doch er war in der heftigsten Aufregung und sehr ungeduldig.

Die Mutter redete weiter. „Ich habe mir schon gedacht, daß wir Ena doch einmal treffen müssen. Wo steckt sie nur? habe ich mir gedacht. Und ich wußte doch, daß auch sie ein Kind hat. Nun, das war leicht zu erraten. Aber, daß es zwei Kinder sind ...“

Sie waren längst bemerkt worden und die anderen kamen ihnen entgegen. Bambi mußte die Tante begrüßen, aber er hatte nur Augen für ihre Kinder.

Die Tante war sehr freundlich. „Ja“, sprach sie zu ihm. „Das ist nun Gobo und das ist Faline. Ihr könnt immer miteinander spielen.“

Die Kinder standen steif und still und starrten sich an. Gobo eng bei Faline, Bambi ihnen gegenüber. Keines rührte sich. Sie standen und gafften.

„Laß nur“, sagte die Mutter, „sie werden sich schon befreunden.“

„Was für ein hübsches Kind“, erwiderte Tante Ena, „wahrhaftig, ganz besonders hübsch. So kräftig und so gut in der Haltung ...“

„Nun, es geht“, meinte die Mutter bescheiden. „Man muß zufrieden sein. Aber daß du zwei Kinder hast, Ena ...“

„Ja, das ist mal so, mal so“, erklärte Ena. „Du weißt ja, meine Liebe, ich habe schon öfters Kinder gehabt ...“

Die Mutter sagte: „Bambi ist mein erstes ...“

„Siehst du“, tröstete Ena, „vielleicht kommt es nächstens auch bei dir einmal anders ...“

Die Kinder standen noch immer und betrachteten einander. Keines sagte ein Wort. Plötzlich machte Faline einen Sprung und fegte davon. Die Sache war ihr zu langweilig geworden.

Augenblicklich stürzte sich Bambi hinter ihr her. Gobo folgte sogleich. Sie flogen in halben Kreisen, sie machten blitzschnell kehrt, purzelten übereinander, jagten kreuz und quer. Es ging prächtig. Als sie dann unvermittelt und ein wenig atemlos stehen blieben, waren sie schon ganz vertraut miteinander. Sie begannen zu schwatzen.

Bambi erzählte, daß er mit dem guten Heupferdchen und mit dem Weißling gesprochen habe.

„Hast du auch mit dem Goldkäfer geredet?“ fragte Faline.

Nein, mit dem Goldkäfer hatte Bambi nicht gesprochen. Er kannte ihn gar nicht, wußte nicht, wer das sei.

„Ich rede oft mit ihm“, erklärte Faline ein wenig patzig.

„Mich hat der Häher geschimpft“, sagte Bambi.

„Wirklich?“ staunte Gobo. „Ist der Häher so zu dir gewesen?“ Gobo war sehr leicht verwundert und er war außerordentlich bescheiden.

„Nun“, bemerkte er, „mich hat der Igel in die Nase gestochen.“ Aber er erwähnte das gleichsam nur nebenbei.

„Wer ist der Igel?“ erkundigte sich Bambi glücklich. Es schien ihm wunderbar, so dazustehen, Freunde zu haben und so viele spannende Dinge zu hören.

„Der Igel ist ein fürchterliches Geschöpf“, rief Faline. „Voll großer Stacheln am ganzen Körper ... und sehr böse!“

„Nein, glaubst du, daß er böse ist?“ fragte Gobo. „Er tut doch niemandem etwas zuleide.“

„So?“ erwiderte Faline schnell, „hat er dich vielleicht nicht gestochen?“

„Ach, das war nur, weil ich mit ihm reden wollte“, wendete Gobo ein, „und nur ein kleines bißchen. Es hat nicht sehr weh getan.“

Bambi wandte sich an Gobo: „Warum wollte er denn nicht, daß du mit ihm redest?“

„Er will mit niemandem reden“, mengte sich Faline ein. „Sowie man nur in seine Nähe kommt, rollt er sich zusammen und da hast du von allen Seiten nur seine Stacheln. Unsere Mutter sagt, er ist so einer, der mit der Welt nichts zu tun haben will.“

Gobo meinte: „Vielleicht fürchtet er sich nur.“

Aber Faline verstand das besser: „Die Mutter sagt, mit so jemandem soll man sich gar nicht einlassen.“

Bambi begann auf einmal leise zu Gobo: „Weißt du, was das ist ... die Gefahr?“

Jetzt wurden auch die beiden anderen ernst und alle drei steckten die Köpfe zusammen.

Gobo dachte nach. Er gab sich aufrichtig Mühe, es zu wissen, denn er sah wohl, wie neugierig Bambi auf die Antwort wartete. „Die Gefahr ...“ flüsterte er, „die Gefahr ... das ist etwas sehr Schlimmes ...“

„Ja“, drängte Bambi erregt, „etwas sehr Schlimmes ... aber was?“

Sie bebten alle drei vor Grauen.

Plötzlich rief Faline laut und fröhlich: „Die Gefahr ist ... wenn man davonlaufen muß ...“ Sie sprang fort; sie mochte nicht dastehen und Angst haben. Bambi und Gobo sprangen ihr sogleich nach. Sie fingen wieder an zu spielen, tummelten sich in der grünen, rauschenden Seide der Wiese und hatten die ernste Frage im Nu vergessen. Nach einer Weile hielten sie inne und standen wie vorhin beisammen, um zu plaudern. Sie blickten zu ihren Müttern hinüber. Die waren ebenso nett beieinander, aßen ein wenig und unterhielten sich in einem ruhigen Gespräch.

Tante Ena hob das Haupt und rief zu ihren Kindern her: „Gobo! Faline! Nun müssen wir bald gehen ...“

Auch die Mutter mahnte Bambi: „Komm jetzt ... es ist Zeit.“

„Noch eine Weile“, bat Faline stürmisch, „noch eine kleine Weile.“

Bambi flehte: „Bleiben wir noch! Bitte! Es ist so schön!“

Und Gobo wiederholte bescheiden: „Es ist so schön ... noch eine Weile.“

Sie sprachen alle drei zugleich.

Ena sah die Mutter an: „Nun, hab’ ich’s nicht gesagt? Jetzt wollen sie sich nicht voneinander trennen.“

Da geschah noch etwas und es war viel größer als all das viele andere, was Bambi heute schon erlebt hatte.

Vom Walde her drang klopfendes Stampfen den Erdboden entlang. Äste knackten, Zweige rauschten und bevor man noch die Ohren spitzen konnte, brach es aus dem Dickicht hervor. Der eine in Rauschen und Prasseln, der andere im Saus hinterdrein. Wie der Sturmwind rasten sie hervor, vollführten einen weiten Bogen auf der Wiese, tauchten in den Wald zurück, wo man sie galoppieren hörte, kamen noch einmal aus dem Dickicht gebraust und standen plötzlich still, an zwanzig Schritte voneinander entfernt.

Bambi schaute sie an und regte sich nicht. Sie sahen wohl aus wie Mutter und Tante Ena. Doch auf ihren Häuptern blitzte die Krone des Gehörns, in braunen Perlen und hellen weißen Zinken. Bambi war ganz betäubt; er blickte von einem zum anderen. Der eine war kleiner und auch seine Krone war geringer. Aber der andere war gebieterisch schön. Er trug das Haupt hoch, und hoch ragte darauf die Krone. Die funkelte vom Dunkeln ins Helle, war verziert mit der Pracht vieler schwarzer und brauner Perlen und mit weit gestreckten, schimmernd weißen Enden.

„O!“ rief Faline in Bewunderung. Gobo wiederholte leise: „O!“ Bambi aber sagte gar nichts. Er war hingerissen und stumm.

Jetzt bewegten sich die beiden, wandten sich voneinander ab, jeder nach einer anderen Seite, und gingen langsam in den Wald zurück. Der Gebietende kam ganz nahe an die Kinder, an die Mutter und Tante Ena heran. In stiller Pracht schritt er vorüber, trug das geadelte Haupt königlich ernst erhoben und würdigte niemanden eines Blickes.

Die Kinder wagten nicht zu atmen, bis er im Dickicht verschwunden war. Sie schauten sich nach dem anderen um, aber gerade in diesem Augenblick schlossen sich die grünen Türen des Waldes hinter ihm.

Faline war die erste, die das Schweigen brach. „Wer war das?“ rief sie. Aber ihre kleine, kecke Stimme bebte.

Kaum hörbar wiederholte Gobo: „Wer war das?“

Bambi schwieg.

Tante Ena sagte feierlich: „Das waren die Väter.“

Sonst wurde nichts mehr gesprochen und man trennte sich. Tante Ena zog mit ihren Kindern gleich hier ins nächste Gebüsch. Es war ihr Weg. Bambi mußte mit der Mutter über die ganze Wiese zur Eiche, um die gewohnte Straße zu gewinnen. Er schwieg lange. Endlich fragte er: „Haben sie uns nicht gesehen?“

Die Mutter verstand, was er meinte, und erwiderte: „Gewiß. Sie sehen alles.“

Bambi fühlte sich beklommen; er scheute sich, Fragen zu stellen, aber es drängte ihn zu gewaltig. Er setzte an: „... Warum ...“ und schwieg.

Die Mutter half ihm: „Was willst du sagen, mein Kind?“

„Warum sind sie nicht bei uns geblieben?“

„Sie bleiben nicht bei uns“, antwortete die Mutter, „nur zu Zeiten ...“

Bambi fuhr fort: „Warum haben sie nicht mit uns gesprochen?“

Die Mutter sagte: „Jetzt sprechen sie nicht mit uns ... nur zu Zeiten ... Man muß warten, bis sie kommen, und man muß warten, bis sie zu uns reden ... wie es ihnen gefällt.“

Mit bestürmtem Gemüt fragte Bambi: „Wird mein Vater mit mir sprechen?“

„Gewiß, mein Kind“, verhieß ihm die Mutter, „wenn du erwachsen bist, wird er mit dir sprechen und du wirst manchmal bei ihm sein dürfen.“

Bambi ging schweigend neben der Mutter, sein ganzes Sinnen erfüllt von der Erscheinung des Vaters. „Wie schön er ist!“ dachte er, und immer wieder: „Wie schön er ist!“

Als ob die Mutter seine Gedanken hören könnte, sagte sie: „Wenn du am Leben bleibst, mein Kind, wenn du klug bist, die Gefahr vermeidest, dann wirst du auch einmal so stark und schön sein wie der Vater, und wirst auch eine solche Krone tragen wie er.“

Bambi atmete tief. Das Herz wurde ihm weit vor Glück und Ahnung.

Bambi: Eine Lebensgeschichte aus dem Walde

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