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Einleitendes Essay: Eine kurze Wirkungsgeschichte der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“

Die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ gelten als einer der wichtigsten Beiträge Sigmund Freuds zum modernen Verständnis des Menschen. Mit diesem 1905 veröffentlichten Frühwerk führte Freud den Begriff der Sexualität programmatisch in die Psychoanalyse ein. Durch die in den „Drei Abhandlungen“ geäußerten revolutionären Thesen zur Sexualität des Kindes, zur Homosexualität und zur sexuellen Grundlage allen menschlichen Verhaltens erreichte das Thema eine breitere Öffentlichkeit als je zuvor. Zugleich brachte es die zu dieser Zeit noch nicht etablierte Psychoanalyse aber auch in den Verruf, unseriöse und unsittliche Lehren zu vertreten. Um 1900 war Sexualität ein Tabuthema, wogegen sich Freud mit der Publikation und ihrem aussagekräftigen Titel wandte.1

Die „Abhandlungen zur Sexualtheorie“ sind in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil („Die sexuellen Abirrungen“) hinterfragt Freud die konventionellen Einstufungen von normalem und anormalem Sexualverhalten. So wendet er sich z.B. gegen die seinerzeit geltende Meinung, dass Homosexualität ein angeborener Fehler oder eine kulturelle Degeneration sei. Nach Freud ist der Mensch vielmehr ursprünglich bisexuell veranlagt2 und die Verknüpfung des sexuellen Triebs mit einem Objekt lockerer als bisher angenommen. Während „der Perverse“ seine Triebe ungehindert auslebt und der Neurotiker diese gänzlich unterdrückt, steht der „normale“ Mensch zwischen diesen Polen. Sexuelle Abweichungen werden bei Freud nicht mehr qualitativ von „normalem“ Verhalten unterschieden, sondern als bloße Übersteigerungen normalen Sexualverhaltens ernst genommen.3 Der Psychoanalyse geht es dabei nicht um die Bewertung von Verhaltensweisen, sondern um die Bedeutung, die diese für das Individuum bzw. die Gesellschaft haben.

Im zweiten Teil seiner Untersuchung beschreibt Freud die infantile Sexualität. Die Annahme, dass die sexuelle Entwicklung des Menschen im Säuglingsalter einsetze, war um 1900 ebenfalls eine skandalöse These, da man bisher glaubte, die Sexualität entwickele sich erst mit der Pubertät. Heutzutage sind die von Freud beschriebenen psychosexuellen Entwicklungsphasen, die orale (1. Lebensjahr), anale (2.-3. Lebensjahr) und phallische4 Phase (4.-6. Lebensjahr), sowie die Latenzphase (6.-12. Lebensjahr), über die Grenzen der Psychoanalyse hinaus bekannt und werden als psychoanalytische Entwicklungspsychologie ernst genommen.5 Der Verlauf dieser frühen Phasen entscheidet nach Freud maßgeblich die Entwicklung der späteren Persönlichkeit. In der Behandlung seiner Patienten entdeckte Freud, dass deren neurotische Symptome alle einen sexuellen Grund haben. Aus diesen Beobachtungen leitete er ab, dass Neurosen die Folgen von Störungen der frühkindlichen Sexualität seien.

Im dritten Abschnitt („Die Umgestaltungen der Pubertät“) schlägt Freud die Brücke zwischen der kindlichen Entdeckung der Lust und dem erwachsenen Sexualverhalten, das Freud mit dem Satz „Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung“ charakterisiert.6 In der Pubertät werde, so Freud, ein neues Sexualziel gegeben. Der autoerotische Sexualtrieb der Kindheit verlagert sich nun auf ein externes Sexualobjekt. Mit dieser Wandlung erfährt das menschliche Sexualleben seine „endgültige normale Gestaltung“7. Störungen in dieser Phase der Wandlung können ebenso eine krankhafte Entwicklung des Sexualverhaltens hervorrufen, wie Störungen in der infantilen Phase. Freuds Aufmerksamkeit war in der Abfassung seiner Sexualtheorie stets auf diese pathologischen Phänomene gerichtet, von denen aus er die Ursprünge menschlicher Sexualität ableitete.

Anders als Freuds erstes großes Werk „Die Traumdeutung“ von 1900 wurden die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ rege aufgenommen und in den Fachzeitschriften eingehend besprochen. Insgesamt bescheinigten die Rezensenten dem Buch, dass es originelle und anregende Hypothesen enthalte. Dabei wurden weniger die Überlegungen zur kindlichen Sexualität in Frage gestellt, sondern eher die Rückführung aller Fälle von Hysterien und Zwangsneurosen auf die Verdrängung von Sexualinhalten bezweifelt.8 Während die Fachgemeinde eine interessierte Offenheit gegenüber den Thesen Freuds zeigte,9 waren es vor allem Journalisten und Religionsvertreter, die die Freud’schen Forschungen zur Sexualität v.a. angesichts der Behauptung einer infantilen Sexualität als Obszönität verurteilten.10

Ein bedeutender Verdienst der Freud’schen Sexualtheorie liegt jedoch darin, dass er abweichendes Sexualverhalten als Übersteigerung der normalen Sexualität bestimmte und damit die Kluft zwischen Normalem und Anormalem hinterfragte. Michel Foucault durchleuchtete in kritischer Absicht in seinem Werk „Sexualität und Wahrheit“ (1977), wie Perversionen im 19. Jahrhundert dadurch erst geschaffen wurden, dass sie zum Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses erhoben wurden. Im 19. Jahrhundert waren wissenschaftliche Arbeiten über das Sexuelle als Pathologien des Sexuellen verfasst worden und mit moralischen Wertungen behaftet. Freud schrieb in seiner „Sexualtheorie“ gegen diese Sichtweise an und eröffnete den Blick für sexuelles Verhalten in seinen verschiedensten Ausprägungen als Weisen der Menschen, mit ihrer individuellen und kulturellen Umwelt umzugehen und auf diese zu reagieren.11 Freud sah die Sexualität zwischen biologischen und gesellschaftlichen Anforderungen eingespannt und legte damit erstmals ein Körper und Geist zusammenführendes Entwicklungsmodell der Sexualität vor, das alle Lebensphasen des Menschen umfasste. Bis heute ist dieses Entwicklungsmodell Maßstab für alle späteren Entwicklungspsychologien geblieben, wiewohl Kontroversen um verschiedene Definitionen, wie z.B. den Triebbegriff, ausgetragen und neue Bezugsgrößen gefunden wurden und werden.

Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in Freiberg (Mähren), heute Příbor, als Sohn seiner jüdischen Eltern Amalie und Jakob Freud geboren. In Folge wirtschaftlicher Nöte zog die vormals wohlhabende Familie nach Wien, wo Freud das Leopoldstädter Communal-Realgymnasium (1865-73) besuchte. Freud war ein begabter Schüler und bestand die Matura mit Auszeichnung. Inspiriert von Goethes Aufsatz „Die Natur“ beschließt Freud 1873 Medizin an der Universität Wien zu studieren. Während seines Studiums forschte er über die Geschlechtsorgane des Aals und las Philosophen wie John Stuart Mill und Franz Brentano. 1881 promovierte er sich zum Doktor der Medizin. Sein Thema: Die Nervenfasern und Nervenzellen niederer Fischarten. In den folgenden Jahren arbeitete Freud unter Theodor Meynert im Laboratorium für Gehirnanatomie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, wo er sich u.a. mit Fragen der Psychiatrie, Neuropathologie und klinischen Neurologie beschäftigte. Seine histologischen und klinischen Arbeiten wurden nach seiner Habilitation im Jahr 1885 mit der Ernennung zum Privatdozenten für Neuropathologie gewürdigt. Auf der Suche nach einem Thema, das ihm den ersehnten wissenschaftlichen Durchbruch bringen würde, gelangte Freud über den Umweg weiterer Studien zur Wirkung von Kokain, die er in Selbstversuchen in seiner so genannten „Kokainepisode“ (1884-87) erforschte, zur Psychopathologie und Neurosenpsychologie. Während eines fünfmonatigen Studienaufenthaltes bei Jean-Martin Charcot, dem berühmten Direktor der Nervenklinik der Salpêtrière, erhielt Freud nachhaltige Anregungen von dessen Forschungen zur Hysterie und der Auswirkung von Hypnose und Suggestion als mögliche Therapieform. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1886 heiratete Freud Martha Bernays (1861-1951), die er 1882 kennen gelernt hatte und mit der er sechs Kinder hatte. Im selben Jahr eröffnete Sigmund Freud seine Praxis für Nervenkrankheiten, wo er das in der akademischen Medizin umstrittene Heilverfahren der Hypnose einsetzte.12 Nach Jahren der Erforschung hysterischer Phänomene kam Freud in Zusammenarbeit mit Josef Breuer, dessen Behandlung der Anna O. (Bertha Pappenheim) Freuds Aufmerksamkeit schon länger auf sich gezogen hatte, zu dem Schluss, dass nicht durch Hypnose, sondern durch Verfahren der Bewusstmachung vergessener Erlebnisse neurotische Störungen aufgelöst werden könnten.13 In der Erkenntnis, dass die Aufarbeitung scheinbar verdrängter Erlebnisse durch die Technik der freien Assoziation und einer sich daran anschließenden Deutung durch den Therapeuten pathologische Symptome beseitigen können, zog Freud den Schluss, dass es ein sich auf die menschlichen Handlungen aktiv auswirkendes „Unterbewusstes“ geben müsse. In die 1890er fällt die auf diesen Erkenntnissen basierende Begründung und Weiterentwicklung der Psychoanalyse als Behandlungs- und Untersuchungsmethode, auch als Zugang zum Verständnis des menschlichen Seelenlebens im Allgemeinen. Bis 1900 waren die wesentlichen Grundpfeiler der Psychoanalyse wie das Konzept des Unbewussten, die Bedeutung und das Wesen des Traums und der Fehlleistungen, die frühkindliche Sexualität und sexuelle Ätiologie der Neurosen abgesteckt.14 In der Zeit danach wurden diese Erkenntnisse weiter ausdifferenziert und Begriffe gesucht, die das Unbewusste näher zu bestimmen vermochten, wobei sich Freud stark an den Naturwissenschaften orientierte. 1900 veröffentlichte Freud sein erstes großes Werk „Die Traumdeutung“, 1902 folgte die Titularprofessur, der jedoch niemals eine ordentliche Berufung folgte.

Breitere Aufmerksamkeit bekam Freud mit den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905). Danach wuchs die Anhängerschaft der Psychoanalyse stetig. Freud lernte in dieser Zeit C.G. Jung kennen und diskutierte mit Alfred Adler, Otto Rank und Wilhelm Stekel im Rahmen der von Freud gegründeten „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ über Grundfragen der Psychoanalyse. In zahlreichen Schriften15 entwickelte Freud bis zu seinem Tod 1939 die grundlegenden Ideen der Psychoanalyse, wie z.B. den Aufbau der psychischen Struktur, nach welchem sich die Struktur der menschlichen Psyche aus drei Teilen (Instanzen), dem Es, dem Ich und dem Über-Ich, zusammensetzt. In den 1920ern, als die Psychoanalyse bereits weltweite Anerkennung fand, befand sich Freud auf dem Höhepunkt seines Schaffens und veröffentlichte zentrale Werke wie „Jenseits des Lustprinzips“ (1920), „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), „Das Ich und das Es“ (1923), „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930). 1930 wurde Freud von der Stadt Frankfurt am Main für die sprachliche Qualität seiner Werke mit dem Goethepreis geehrt. Weitere Anerkennung wurde Freud mit der Ernennung zum Ehrenmitglied der British Royal Society of Medicine zuteil. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Freud 1938 gezwungen, nach London zu emigrieren, wo er 1939 an Gaumenkrebs verstarb.


Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie

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