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Für alte Damen hat er ein Gespür

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(1. Preis beim Rindlerwahn-Schreibwettbewerb 2013)

Der tote Indianer stinkt. Sein Leichnam ist erstaunlich gut erhalten. Nur die Augenhöhlen sind leer. Gut, dass Schmitt-von Walderhoff am anderen Ende des Tisches (Dithmarschener Kapitänsmöbel, Eiche, geölt), platziert wurde. Er schaut lieber nicht hin.

Die alte Kloock ist im Nebenraum. Telefoniert schon wieder. Hier steht auch ein Apparat. So ein unglaubliches Ding mit Wählscheibe, Brokatbezug und Gold-Troddeln. Aber vielleicht will sie nicht, dass er mithört.

Sie muss wohl noch um einiges verschrobener sein, als er nach den Warnungen seines Auftraggebers, der Johansen Antiquitäten Compagnie, vermutet hat.

Nichts gegen Indianer-Zauber, nichts gegen Esoterik. Aber eine Müffel-Mumie in der guten Stube? Meißner (Original 18. Jahrhundert!) neben einem Sammelsurium aus Kristallen, Federn und etwas, das verdächtig nach Voodoo-Püppchen aussieht. Über dem Steinway ein - Traumfänger?

Aber egal. Da ist sie wieder. Und sie ist eine Kundin der Kategorie 1 A: Sehr reich. Liebenswürdig, harmlos, Marke Ringellöckchen und Trippelschritt. Schmitt-von Walderhoff wird sie so schnell um den Finger wickeln, dass es fast schon peinlich ist. Hier winken dicke Provisionen. Und wenn er neben den Ankäufen noch das eine oder andere Silber in die eigene Tasche steckt, wem schadet das schon? Nun? Eben!

Schmitt-von Walderhoff hat sich dem Anlass entsprechend zurecht gemacht: Polo-Shirt mit Edel-Jeans; Baumwollpulli (schalartig um die Schultern geschlungen); Leder-Slipper. Alles in weiß, versteht sich. Die leichte Welle im blonden Haar betont seine Ähnlichkeit mit einem gewissen „Traumschiff“-Schauspieler.

Schmitt-von Walderhoff nimmt einen Silberlöffel – einfacher Spaten –bewundert den Glanz. (Oder doch sein eigenes Spiegelbild?) Dann lässt er das gute Stück ganz aus Versehen fallen, und während er sich bückt, um es aufzuheben, rutscht es irgendwie - er weiß selbst kaum, wie das passieren konnte! - in seine Herrenhandtasche.

Wieder aufgerichtet, wirft er seiner Gastgeberin ein Lächeln zu. Denn für reizende alte Damen hat er ein Gespür.

„Erstaunlich, wie gut diese indianische Mumie erhalten ist. Von wann datiert sie?“

„Mumie? Welche Mumie? Ach, den meinen Sie…“ Die alte Dame wedelt mit einer Hand in Richtung Häuptling Schlimmer Stinker. „Von gestern Abend. Traurige Sache. Aber wat mutt, dat mutt. Herrliches Wetter heute, nicht?“

Wie bitte? Gestern Abend? Was ist gestern Abend passiert? Warum sitzt der noch da? Knigge-GAU! Schmitt-von Walderhoff durchscannt sein Hirn. Komplettes Vakuum. Kein Eintrag zu „frische Indianerleiche im Wohnzimmer“.

Das Altchen hat da weniger Probleme. „Den Tee ostfriesisch? Mit Sahne und Kluntjes? Ich persönlich bevorzuge einen Schuss Soja-Milch. Sie wissen ja, die Gesundheit.“ Sie wirft ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und reicht das geblümte Tässchen herüber. Dann: „Natürlich war es Notwehr.“

„Notwehr? Ach so. Selbstverständlich. Die Polizei… äh, der Notarzt…?“ Idiot! Wieso muss er die Polizei ins Spiel bringen? Hastig trinkt Schmitt-von Walderhoff einen Schluck. Zu heiß! Der Tee ist viel zu heiß! Nur mit Mühe gelingt es ihm, ihn nicht auf das Spitzendeckchen mit dem Abbild eines indischen Gurus zu spucken. Knallend setzt er die Tasse ab. Hellbraune Brühe ergießt sich über die erhobene Hand des Heilsverkünders.

Lächeln, alter Knabe, lächeln! Und immer an die Provisionen denken… Schmitt-von Walderhoff verzieht das Gesicht zu etwas, von dem er hofft, dass es sein bestes Lausbuben-Lächeln sei. Es funktioniert.

„Kein Grund zur Sorge, min Jung. Wozu gibt es Waschmaschinen? Es wird Sie übrigens freuen zu hören, dass diese Tasse hier“ – sie klopft fröhlich mit dem Fingernagel auf das Prachtstück in ihrer Hand – „zu der Sammlung gehört, die ich veräußern möchte. Ach ja. Verzeihen Sie mir, ich muss einen Anruf erledigen.“

Schon wieder? Egal. Die Alte behauptet, sie hätte diesen Winnetou auf dem Gewissen. Sie hat ihn wohl kaum wegen eines Flecks auf der Tischdecke abgemurkst. Dieser grässliche leere Blick! Aber nicht sein Problem. Sollen sich die Bullen darum kümmern. Er wird sie rufen; klar wird er sie rufen. Sobald er das Geschäft abgeschlossen und diese entzückende Miniatur abgeräumt hat, ruft er die Polizei. Auch er hat ein Gewissen. Ja. das hat er. Da ist sie wieder. „Also, die Polizei sollten wir später…“

„Ach ja. Ich probier’s gleich noch mal. Aber wissen Sie was, Herr Schulz-von Tutenhof…“ Vertraulich beugt sie sich zu ihm herüber, legt ihm die Hand auf den Oberarm. „Die halten mich tatsächlich für verrückt!“

„Was Sie nicht sagen!“

„Ja, nicht wahr. Und wenn Sie mich jetzt einen Augenblick entschuldigen wollen…“ Das Dämchen geht, o Überraschung, ins Nebenzimmer. Schmitt-von Walderhoff riskiert einen kurzen Blick aus dem Panorama-Fenster. Ein Container-Schiff gleitet so nah vorbei, dass es direkt durch den Vorgarten zu schweben scheint. Und diese Rosenpracht!

Einen Panorama-Blick und einen Vorgarten kann man nicht einstecken. Wird er etwa noch sentimental auf seine alten Tage? Also, die Silberkanne. Schmitt-von Walderhoff hebt sie hoch, sucht nach dem Stempel am Boden. Dachte er sich’s doch.

Aua! Ein heißer Tropfen Tee verbrennt ihm die Nase.

„Die Kanne ist nicht verkäuflich. Aber Spirit Eagle, den können Sie haben.“

„Wie bitte?“ Mit einem viel zu lauten „Klong“ setzt er die Kanne auf dem Untersetzer - ebenfalls Silber! - ab. Mist. Die Alte ist schon zurück. Hat ihn beobachtet.

„Spirit Eagle. Sie hatten doch Interesse geäußert. An der Mumie.“

„Äh. Was soll ich denn… Nein, danke. Ich meine… das ist einfach nicht mein… Spezialgebiet. Er ist ja auch nicht… antik.“ Oh Gott.

„Nein, da haben Sie Recht.“ Die Alte betrachtet den Indianer. „Wissen Sie, es ist nicht immer leicht. Aber es war notwendig. Es war notwendig. Ich musste ihn vergiften, ich musste es tun. Schließlich wollte er, dass ich mich im Medizinrad - wir hatten es im Garten aufgebaut, wissen Sie - dass ich mich im Westen des Medizinrads aufstelle. Im Westen! Aber nicht mit Hella Kloock!“ Sie fuchtelt mit dem Zeigefinger unter Schmitt-von Walderhoffs verbrühter Nase herum. „Ihnen ist doch klar, dass nach indianischer Tradition Frau Tod im Westen lauert? Das war ein glatter Mordversuch!“

Schmitt-von Walderhoff nickt. Jetzt wird ihm die Sache zu heiß. Der Indianer ist tot, das Kloockchen hat die Bullen gerufen, das Geschäft kann warten. Rasch steht er auf.

„Frau Kloock, es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Aber da die Polizei nun kommt, möchte ich nicht länger stören!“

„Die Polizei? Ach, die haben es nie eilig, wenn ich sie rufe.“ Sie lächelt ihm zu. „So, nun trinken Sie mal noch einen Schluck, junger Mann!“

„Nein danke, ich…“

„Trinken, sage ich!“ Und zack! schubst sie ihn zurück in den Stuhl (Rosenholz), springt ihm auf den Schoß und beide kippen hintenüber, mitsamt der Tischdecke, an der sich Harry sinnlos festkrallt. Hella Kloock landet auf ihm, klemmt ihm blitzartig die Nase mit der Zuckerzange (reines Silber) ab. Unwillkürlich reißt Schmitt-von Walderhoff den Mund auf. Er will schreien, er braucht Luft, stattdessen landet ein Schwall Tee in seinem Schlund. Mund, Rachen, Kinn, alles verbrüht! Und geschluckt hat er auch was. Er stöhnt, will sich aufrappeln, aber die Glieder gehorchen ihm nicht. Seine Augen rollen nach oben, dann versinkt er im Nichts.

Als er erwacht, ist es dämmerig. Er hört ein Murmeln von nebenan. Die Hexe ist zu Hause. Telefoniert. Was sonst. Harry kann sich kaum bewegen. Ist zu schwach, um aufzustehen. Was für ein Teufelszeug von Gift war in dem Tee?

Aber da, in dem ganzen Chaos aus Tischdecke - Damast mit Kreuzstichstickerei - und Geschirr, liegt das Gute-Stuben-Telefon, das mit den Troddeln. Der Hörer daneben. Tut tut tut. Kommt er da ran? Schafft er das?

Los, Harry! Er zittert vor Anstrengung. Millimeter für Millimeter hebt er den Arm an. Ja, er schafft es! Auflegen. Abnehmen. Wählscheibe abtasten. Finger rein: Eins. Noch mal die eins. Und - null. O Gott, das dauert ja ewig, bis die Wählscheibe rumgesurrt ist… Geht ran, Leute!

Er lässt den Hörer fallen. Keine Kraft mehr. Und schon kommt sie zurückgeschlurft. Einen Löffel drohend erhoben. So einer wie der, den er eingesteckt hat. Sie hat ihn durchschaut! Das Telefon tutet weiter. Sie werden rangehen, sie werden mithören, sie werden kommen, ihn retten vor dieser Wahnsinnigen, dieser Mörderin… Tuut.

„Ach, min Jung, stehlen ist so unendlich schlechtes Karma! Aber du wirst den Schmerz“ - tuut - „ertragen, um deiner Seele Willen.“ Und sie schnippt ihm den Löffel auf das schutzlose Auge. Harry brüllt auf.

Tuu - Klick. „Hamburger Polizei, Notrufzentrale.“

Gerettet!

„Holen Sie mich hier raus! Elbchaussee 777! Bei Kloock!“

Nicht viel mehr als ein Krächzen.

„Kloock war der Name? Elbchaussee 777? Wir schicken sofort einen Wagen vorbei!“

Dreimal hurra.

Die Alte kniet neben Schmitt-von Walderhoff, schüttelt traurig den Kopf, ohne das Telefon zu beachten.

„Min Jung, min Jung, warum tust du dir das an? Aber sei unbesorgt, du wirst deine Augen nie wieder voller Gier auf materielle Güter richten!“ Zärtlich, besorgt, streicht sie ihm über die Wange.

Harry würgt. Seine Augen? Das eine ist schon fast blind von dem Schlag… Die Bullen sind unterwegs… Sie wird seine Augen… Die Bullen sind unterwegs! Sie wird sie mit dem Löffel… Die Bullen werden ihn retten…

Und dann, aus dem Hörer: „Die Kloock aus der Elbchaussee? Nee, nee, Kollege, lass man nach. Die ruft zweihundert Mal am Tag hier an. Stinkt vor Geld, aber völlig plemplem!“

Klick. Tut tut tut.

Der tote Indianer starrt aus leeren Höhlen zu ihm herüber.

Schmitt- von Walderhoff kneift die Augen zu, so fest, wie der kleine Harry, damals, als er Angst hatte vor den Monstern unterm Bett.

Dann kommt der Schmerz.

Pssst! Gemein...

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