Читать книгу Geschichten aus der Kleinstadt, Band 5 - Sigrid Schüler - Страница 3

Ich hab nichts gesagt

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Im Supermarkt hatte sie sich ein bisschen merkwürdig verhalten. Sie hatte nur kurz gegrüßt, mich kaum dabei angeblickt, und dann war sie mit ihrem Einkaufswagen hinter den Regalen verschwunden. Ich war nicht böse darum gewesen, denn ich hatte selber wenig Zeit, und gerade diese Frau verwickelte mich zu den unpassendsten Gelegenheiten stets in irgendwelche Klatschgespräche, denen ich mich nur schlecht entziehen konnte. Ich war froh gewesen, meinen Einkauf ungestörterledigen zu können, und deshalb hatte ich mir nichts dabei gedacht.

Dann, ein paar Tage später, gesellte sie sich zu mir, als ich den sonnigen Vormittag für die längst überfällige Pflege unseres Vorgartens nutzen wollte. Sie war wohl auf dem Weg zum Einkaufen gewesen, hatte aber, als sie mich sah, ihr Fahrrad in meine Richtung gelenkt, und jetzt stand sie neben mir. Ich hätte meine Arbeit gerne fortgesetzt, aber sie sah aus, als wolle sie ein Gespräch beginnen, und deshalb wandte ich mich ihr zu und grüßte.

„Na, fleißig bei der Arbeit?“, begann sie.

„Ja, muss ja.“

„Ist ja immer was zu tun, ne?“

„Mmmh.“

Es entstand eine kleine Pause.

„Du bist mit dem Garten schon durch?“, fragte ich, um das Schweigen zu überbrücken.

Sie nickte, und ich bekam ein gedehntes „Joa“ zur Antwort. Sonst sagte sie nichts.

Das kann nicht alles gewesen sein, dachte ich. Sonst hat sie doch immer was zu erzählen. Gerade, als ich meine Gartenarbeit wieder aufnehmen wollte, sagte sie: „Ist ja nicht einfach, ne!“

„Och. Wieso? Wenn´s zu schwer wird mit dem Garten, höre ich einfach auf.“

Als sie nichts darauf sagte, wurde mir klar, dass sie die Gartenarbeit nicht gemeint hatte. Sie machte ein etwas bedrücktes Gesicht. Mir kam der Gedanke, dass sie vielleicht Probleme hatte und sich mir anvertrauen wollte.

„Ist alles okay mit der Familie?“, fragte ich deshalb besorgt.

„Doch, doch. Bei uns schon!“, lautete ihre Antwort.

Im Prinzip war das sehr erfreulich, allerdings hatte die Betonung derart auf „uns“ gelegen, dass ich hellhörig wurde.

„Ist denn irgendwas?“, hakte ich deshalb nach.

„Nee, nee.“

Mit diesen Worten stieg sie wieder auf ihr Fahrrad, verabschiedete sich rasch und setzte ihren Weg fort. Ich blieb grübelnd zurück und fragte mich, worauf um alles in der Welt sie angespielt hatte. War was mit meinen Kindern? Ein Vorfall in der Schule, den sie mir aus gutem Grund verschwiegen hatten? Oder hatten sie was ausgefressen, als ich neulich mit einer Freundin nachmittags einkaufen gegangen war? Oder noch schlimmer: Drogen und Alkohol! Ich beschloss, die Kinder sofort zur Rede zu stellen, sobald sie aus der Schule zurückkamen. Mit einem Gefühl tiefer Beunruhigung beendete ich vorzeitig meine Gartenarbeit.

Beim Mittagessen schworen beide Kinder Stein und Bein, dass in den letzten sieben Wochen nichts Gravierendes vorgefallen war. Keine Prügeleien, keine verbalen Auseinandersetzungen, und heimlich geraucht hatten sie auch nicht. Aus dem Alter, in dem sie Blumen in den Nachbargärten gepflückt hatten, um sie ihrer Mama zu schenken, waren sie längst heraus. Also blieb die Frage, was diese Frau gemeint hatte, unbeantwortet.

Als mir nach ein paar Tagen immer noch nichts über eine vermeintliche Katastrophe, die über meine Familie hereingebrochen sein könnte, zu Ohren gekommen war, sagte ich mir, dass ich vielleicht ein bisschen zu empfindlich gewesen war. Vermutlich hatte ich in den Äußerungen dieser Frau einen Unterton gehört, der gar nicht vorhanden gewesen war.

Meine Unruhe legte sich, allerdings nicht für lange, denn nach dem Gottesdienst am Sonntag, als wir mit ein paar Gemeindemitgliedern vor der Kirche noch ein paar Worte wechselten, griff plötzlich die alte Dame, die ich nur vom Sehen kenne, meine Hand und tätschelte sie wohlwollend.

„Das wird!“, sagte sie zu mir, und ehe ich etwas erwidern konnte, war sie weitergegangen.

„Sag mal, was kann die Frau gemeint haben?“, fragte ich meinen Mann, der neben mir stand.

„Welche Frau?“

„Na, die dahinten.“

„Ich sehe keine.“

„Na, die, die da eben um die Ecke geht!“

„Kenne ich nicht! Kennst du die denn?“

„Nein, nicht richtig. Aber was hat die gemeint?“

„Wieso? Hat die was gesagt?“

Mich überkam plötzlich ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Ich wusste nicht, was die alte Dame gemeint hatte, und mein Mann verstand mich nicht. Hatte die Dame überhaupt etwas gemeint? Den ganzen Sonntag ging mir diese Frage nicht aus dem Kopf.

Und dann durchfuhr mich ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht stand die Firma meines Mannes nicht mehr so gut da wie im vergangenen Jahr. Waren die Zahlen, die sie schrieb, noch schwarz? Wie lange noch würden wir in unserem schönen Haus wohnen können? Sollte ich die Kinder vorsichtshalber schon mal vom Musikschulunterricht abmelden? Und warum sprach mein Mann nicht mit mir darüber?

Ich zerbrach mir den Kopf über und kam schließlich auf eine Lösung kam, die mich etwas beruhigte: Die Firma meines Mannes war gar nicht in Schwierigkeiten. Die alte Dame musste etwas anderes gemeint haben. Aber was?

In den folgenden Tagen wuchs mein Unbehagen, wenn ich im Ort einkaufen ging. Es passierte nichts, aber ich fühlte mich ein wenig unsicher. Wer würde mich als Nächstes auf etwas ansprechen, von dem ich keine Ahnung hatte, was es war? Wurde etwas über mich erzählt? Und wenn ja, was? Da gab es natürlich das eine oder andere, worauf ich nicht so stolz war, aber das lag schon so lange zurück. In der Grundschule hatte ich damals im Umkleideraum der Sporthalle meiner Freundin Wasser in die Gummistiefel gefüllt. Aber das hatte ich auch nur getan, weil sie mich beim Lehrer verpetzt hatte! Ich hatte nämlich die Mathehausaufgaben nicht, und Klaus-Peter hatte dann gemeint, die Zicke sollte doch ruhig mal nasse Füße bekommen. Sonst hätte ich so was ja gar nicht gemacht. Und ja, ich wusste, dass unser Kater bevorzugt in den Gärten zwei Straßen weiter hinten herumstreifte, und wahrscheinlich hinterließ er dort auch die eine oder andere Duftmarke. Aber kann ich einen Kater anbinden?

Die Einkäufe erledigte ich inzwischen so rasch ich konnte, ohne mich lange irgendwo aufzuhalten. Auch beim Zeitungshändler, mit dem ich sonst immer ein paar mehr Worte wechselte, blieb ich nicht länger als nötig.

Im Supermarkt hatte ich diesmal mit EC-Karte bezahlt, weil mein Bares nicht reichte. Wie immer hatte ich es eilig, und mir fiel natürlich zuerst das Portemonnaie und dann die EC-Karte runter und ich hatte das Gefühl, den ganzen Laden aufzuhalten. Die beiden Nachbarinnen, die an der Kasse hinter mir gestanden und meinen Kampf mit der Karte beobachtet hatten, riefen mir auf dem Parkplatz, als ich meine Einkäufe ins Auto umpackte, im Vorbeigehen zu: „Nicht genug Geld dabei gehabt?“ Völlig unnötig lief ich im Gesicht rot an. Wenn jetzt das Gerücht kursiert, dass wir pleite sind, kann ich das sogar verstehen, dachte ich.

Beim Auspacken der Einkäufe hatte ich das Gefühl, dass ich beobachtet würde. Hatte sich da nicht eine Gardine am Fenster gegenüber bewegt? Und warum schaute dieser Radfahrer, der durch unsere Straße fuhr, so penetrant in meinen Kofferraum? Langsam werde ich paranoid, dachte ich.

Ich war froh, die Tür hinter mir schließen und mich auf die Zubereitung des Mittagessens konzentrieren zu dürfen. Was immer auch geredet wurde, es sollte jedenfalls nicht heißen, meine Kinder bekämen nicht satt zu essen. Und damit auch niemand sagen konnte, ich würde mich nicht um den Haushalt kümmern, putzte ich die Fenster und erledigte die Gartenarbeit, die neulich liegen geblieben war.

Zweimal an diesem Tag fuhr die Frau, die vor Tagen das Grübeln bei mir in Gang gesetzt hatte, mit dem Fahrrad an mir vorbei. Während ich noch beim ersten Mal inständig hoffte, sie möge mich nicht in ein Gespräch verwickeln, störte es mich beim zweiten Mal, dass sie mich so gar nicht zu sehen schien. Das kurze Grüßen konnte man ja wohl kaum als solches gelten lassen. Frechheit, mich so zu ignorieren! Hatte ich ihr irgendwas getan, dass sie nicht mehr mit mir reden wollte? Verbissen arbeitete ich weiter.

„Na, wie geht’s?“

Unvermutet hatte mich jemand angesprochen. Es war eine Nachbarin, mit der ich sonst nicht viel zu tun hatte. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie auf mich zugekommen war, so vertieft war ich in meine Gedanken und meine Arbeit gewesen.

Ich versicherte ihr eilig, mir und meiner Familie gehe es prima, wirklich prima, und wir könnten ganz bestimmt nicht klagen, und alles sei in bester Ordnung, und auch mit den Kindern sei alles im Lot, was Schule, Freizeit und Freunde anbelange. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass sie meine Aussage in Zweifel zog. Vielleicht lag das daran, dass meine Stimme auch für meine Begriffe ein wenig schrill geklungen hatte.

Nachdenklich sah sie mich an. Sie sagte nichts, und ich betonte noch einmal zur Sicherheit, dass meine Kinder bisher nicht einmal heimlich geraucht hatten.

„Aber das heimliche Rauchen kriegt man doch gar nicht mit“, widersprach sie mir. „Sonst wäre es doch nicht heimlich.“

„Doch, doch, ich krieg so was mit!“, beteuerte ich. „Das riecht man doch an den Klamotten.“

„Also haben sie schon mal geraucht, und jetzt nicht mehr?“

„Wie meinst du das?“

„Na, früher haben die Klamotten nach Rauch gerochen, und jetzt riechen sie nicht mehr, oder wie?“

„Nein, die haben noch nie gerochen!“

Wieder schwieg meine Nachbarin und sah mich an. Ich fühlte mich von ihrem Blick regelrecht durchbohrt.

„Ich habe meinen Kindern versprochen, ihnen den Führerschein zu bezahlen, wenn sie bis zum achtzehnten Lebensjahr nicht rauchen“, erklärte sie. „Ich habe mal in einem Vortrag gehört, dass Kinder, wenn sie gelernt haben, zu Zigaretten „Nein“ zu sagen, auch einen guten Schutz gegen Drogen und so weiter haben.“

Aha!, dachte ich. Bestechung!

„Ja, das ist ein bisschen wie Bestechung“, fuhr sie fort, „aber mir ist das egal. Bisher hat es funktioniert.“

Bei uns funktioniert das auch ohne Bestechung, dachte ich.

„Schön, wenn man sicher sein kann, dass es auch ohne funktioniert, aber da bin ich mir bei meinen Kindern nicht ganz sicher.“ Sie lächelte mich an. „Meine sind ja auch schon ein paar Jahre weiter als deine. Aber ich finde, es ist besser, mit den Kindern offen darüber zu reden, als sie heimlich zu kontrollieren.“

Alles, was ich jetzt sage, ist sowieso verkehrt, dachte ich. Also schwieg ich, und ich konzentrierte mich darauf, meine Nachbarin so penetrant anzusehen, wie sie soeben mich angesehen hatte. Ich hatte ihre Nasenwurzel im Visier, damit ich nicht in ihre Augen starren musste. Es wirkte. Nach fünfzehn Sekunden blickte sie endlich zur Seite. Viel länger hätte ich es auch nicht ausgehalten, das muss ich zugeben.

„Wolltest du was Bestimmtes?“, fragte ich dann so freundlich wie möglich.

„Ach nein, ich wollte nur mal wissen, wie es dir so geht.“

Ich schwieg weiter. Freiwillig würde ich nichts mehr sagen.

„Na ja, du wirkst in letzter Zeit so – angespannt. Man sieht dich kaum noch“, fuhr sie in versöhnlichem Ton fort. „Bist immer in Eile.“

Ist ja auch kein Wunder, dachte ich.

Ich hatte jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder ich sagte die Wahrheit, nämlich dass bei uns alles in bester Ordnung sei – denn das war es ja auch, ganz unabhängig davon, was vielleicht im Ort erzählt wurde. Die Nachbarin würde mir allerdings kein Wort glauben. Oder ich log und gab zu, ich sei etwas angespannt gewesen in letzter Zeit. Eine kleine Erkältung vielleicht, mehrere Nächte nicht richtig geschlafen, das müsste doch als Erklärung ausreichen, überlegte ich. Ich entschied mich für die Lüge.

In mein Leben kehrte Entspannung ein. Ich traute mich wieder auf die Straße, und das Einkaufen machte auch wieder Spaß, selbst das Reden mit den Leuten, auch wenn ich in Eile war.

Ein paar Wochen später stand ich in einer langen Schlange von Leuten, die ihr Leergut am Automaten im Getränkemarkt abgeben wollten.

„Dieser Meyer, du weißt schon, der hat sich was geleistet!“, sagte ein Mann vor mir zu der Frau, die vor ihm stand.

Sie hatte sich zu ihm umgedreht und neigte ihm ihr Gesicht vertraulich zu. „Meinst du den Meyer?“, fragte sie.

Den Mann und die Frau kannte ich nur vom Sehen, aber ich kannte zwei Personen im Ort mit Namen Meyer. Wen meinten die beiden wohl? Meine Aufmerksamkeit war geweckt.

„Ja, genau den. Also, was man da hört!“

Die Frau schien noch nichts gehört zu haben, denn sie fragte: „Ja?!“

„Den Führerschein ist er ja los“, erklärte der Mann.

„Ach! Wieso denn das?“

Ja, das frage ich mich aber auch, dachte ich.

„Ich hab gehört, er ist in eine Kontrolle geraten. Na ja, den Rest kannst du dir denken!“

„Meinst du, er hat wieder – ?“

„Kann sein. Aber ich hab nichts gesagt, das hast du nicht von mir!“

Welchen Meyer meinen die wohl, überlegte ich. Das kann doch nur der sein, der in der Großen Straße wohnt. Oder der andere, der aus dem Schützenverein? Von beiden war mir schon einiges zu Ohren gekommen. Der Führerschein weg! Also das konnte nur der Meyer aus der Großen Straße sein. Da war vor ein paar Jahren schon mal was gewesen, Alkohol oder zu schnell gefahren oder so was. An die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt der sich nicht immer. Ziemlich rücksichtslos fuhr der, das hatte ich selbst schon gesehen.

Dieser Meyer, dachte ich. Typisch, das musste ja so kommen!

Geschichten aus der Kleinstadt, Band 5

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