Читать книгу Die tragende Haut - Silvia Boadella - Страница 7
ОглавлениеVorklang
Das Telefon klingelt, ich nehme ab und höre nur ein einziges Wort: „Komm!“ Es ist Monikas Stimme. Sie erreicht mich aus einer entfernten psychiatrischen Klinik in unserem Haus im Alpenvorland.
Soll ich wirklich gehen? Nur weil sie sagte: „Komm!“ und dann den Hörer auflegte? Mein Kopf zögert noch: Ruf in der Klinik an, finde zuerst heraus, was vor sich geht. Sara, unsere Freundin, ist gerade zu Besuch, da ist mein Kind und mein Hund, und nichts ist organisiert für eine Reise. „Geh erst in ein paar Tagen, bereite alles in Ruhe vor“, meint Dennis, mein Mann, beschwichtigend. Doch mein innerster Impuls sagt mir: Geh jetzt! Trotzdem telefoniere ich noch mit der Klinik. Ina, Monikas Krankenschwester, bestätigt mir: „Ihr Zustand ist bedenklich. Sie verweigert seit einigen Tagen das Essen und seit heute Morgen trinkt sie nichts mehr.“
Monika will also sterben. Und sie will es mit mir. Monika ist meine Stiefmutter, lange Zeit hatten wir es schwer miteinander. Komm! Dieses eine Wort von ihr schwingt in mir nach, wie ein Grundton des Vertrauens: Mirjam, ich zähle auf dich, ich brauche dich. Jetzt. Ich rufe sie nochmals an: „Monika, ja, ich komme. Ich fahre morgen zu dir.“ – „Wann bist du da?“ – „Um die Mittagszeit.“ – „Wann genau?“ – „Ich fahre um halb zehn von hier los und treffe dann um elf am Bahnhof bei dir ein. Von dort nehme ich ein Taxi zur Klinik“, erkläre ich ihr, damit sie meinen Weg zu unserer Begegnung kennt. „Um zwanzig nach elf bin ich da.“ – „Gut“, sagt sie. Sie stellt nun ihre innere Uhr auf diese Verabredung ein. Ich packe warme Sachen und etwas zum Übernachten ein. In ihrem Zimmer werde ich mir ein Bett hinstellen lassen und sie in diesem Prozess nicht mehr verlassen. Ich stelle mich auf eine längere Zeitspanne ein. In meine Handtasche stecke ich noch einen dünnen Band mit Gedichten. „Wann bist du wieder zurück?“, bedrängt mich meine Familie. – „Zeitpunkt unbekannt.“ – „Glaubst du wirklich, dass Monika stirbt?“, fragt Dennis. „Ja, ich bin mir sicher.“
Ich wusste nicht, dass Monika schon seit Frühlingsbeginn ins Sterben eingetreten war. Ina erzählte mir später: „Ich musste sie im Rollstuhl oft ans offene Fenster schieben. Da schaute sie dann stundenlang in den Park hinaus. Sie schien heiter dabei.“
Monika sah in den aufblühenden Frühling: ins grüne Gras, in die gelben Primeln, sie nährte ihre Seele mit Blüten. Ich selber hörte seit Frühlingsbeginn Beethovens Frühlingssonate, sie erfüllte mich ebenfalls mit Heiterkeit.
Mitten in der Nacht sinke ich in ein tiefes Vertrauen hinein. Ich liege auf dem Bett und habe gleichzeitig das Gefühl, in etwas wie Luft zu ruhen, von der ich getragen werde. Es kommt mir dabei vor, als würde ich hinübergetragen in eine andere Welt.
Am nächsten Morgen trete ich reisebereit vor das Haus. Ich blicke kurz über die Hügel auf den weiten See hinunter, der am Horizont in den Himmel aufsteigt.
Wie ich im Zug sitze und durch die blühende Landschaft fahre, höre ich Beethovens Musik in mir erklingen und sehe den Frühling in einer unbekannten, strahlenden Kraft. Ich fahre durch ein goldenes Licht hindurch, im Geburtskanal der Ankunft. Ankunft wohin? Ankunft ins Sterben.
Noch nie habe ich ein Sterben miterlebt. Meine Mutter starb, als ich noch fast ein Kind war, und mein Vater hielt mich von ihr fern. Alles, was ich von ihr noch zu Gesicht bekam, war eine versiegelte Urne. Er selber starb später so plötzlich, dass ich auch bei ihm nicht dabei sein konnte.
Einmal erst in meinem bisherigen Leben habe ich einem Toten ins Angesicht gesehen. Es war der Sohn meiner Freundin, der kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war und danach in der Kapelle des Kinderspitals aufgebahrt wurde. Ich spürte eine Distanz zu ihm, er sah für mich wie ein wächsernes Püppchen aus. Ich konnte alles nur von außen wahrnehmen und das schmerzte mich. Damals war ich befremdet. Wie eine Fremde in einem fremden Geschehen.
Mit Monika bin ich nun mittendrin, in diesem gemeinsamen Geschehen, im Gold der Morgensonne. Unterwegs blühen mir die Obstbäume zu und grüßen mich mit ihrem festlichen Glanz.