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|11| Einleitung

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Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit Quellen und den gegenwärtig gelebten Formen christlicher Spiritualität. Durch ihren theologisch-wissenschaftlichen Charakter unterscheidet sich die Theologie des geistlichen Lebens von einer praktisch orientierten Hinführung zum Geheimnis des Glaubens und kann eine solche nicht ersetzen. Sie beschränkt sich auch nicht auf eine einzige Gestalt und Ausprägung christlicher Spiritualität, sondern hat die Aufgabe, die geschichtlich gewachsene Vielfalt in ihren Hauptströmen zu erschliessen und die farbige Fülle, durch die sich die Lebenswelt des Glaubens auszeichnet, zur Anschauung zu bringen. Als systematisch-theologisches Fach bleibt sie nicht bei der Erkundung und Darstellung von vergangenen und gegenwärtigen Formen christlicher Spiritualität stehen, sondern fragt auch nach den wesentlichen Merkmalen und Orientierungspunkten für ein Leben aus dem Geist Jesu und sucht nach Kritierien, die zur Rechenschaft über den eigenen geistlichen Lebensvollzug dienen können.

Sowohl die historisch-hermeneutische als auch die systematisch-kriterielle Aufgabe der Theologie des geistlichen Lebens kann nicht von «nirgendwo» her betrieben werden. Zur wissenschaftlichen Selbstreflexion gehört es, sich über die unumgänglichen Festlegungen und perspektivischen Eingrenzungen Rechenschaft zu geben. Das vorliegende Buch versteht sich als Ergänzung zu meiner 2010 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienenen Einführung in die Theologie der Spiritualität, die in einer stärker verobjektivierenden Zugangsweise einen Einblick in die aktuellen Diskussionen dieses Faches vermittelt. Der vorliegende Band versucht demgegenüber eine eigene Synthese. Ich werde darin stärker mit eigener Stimme sprechen und vermehrt eine metaphorische Sprachform wählen, die nicht nur anschaulicher ist als die begriffliche, sondern auch ihre eigene Präzision und Wahrheit besitzt.1

|12| Es sind drei Leitgedanken, die den vorliegenden Entwurf bestimmen. Sie bilden ein dreifarbiges Geflecht: Der erste Leitgedanke trägt der Einsicht Rechnung, dass der Mensch durch den Glauben an den im Christusereignis sich offenbarenden Gott Heil und Heilung erfährt – nicht durch irgendwelche Werke und Eigenleistungen, seien sie noch so «spirituell». Und auch dieser Glaube ist noch Geschenk. Es ist der Heilige Geist, der uns den Glauben «nahelegt», klassisch formuliert: ins Herz einsenkt, indem er es mit seiner Liebe erfüllt (vgl. Röm 5,5). Dieser rote pfingstliche Faden, der sich durch das Buch zieht – und an dem sich entlangzutasten ich die Leserin und den Leser einlade –, wird ergänzt durch einen etwas unscheinbareren, aber nicht weniger wichtigen blauen tauftheologischen Faden. Leben aus dem Heiligen Geist ist ein Neuwerden aus der Taufe. Die Initiation zum Christsein wird nicht mit einem punktuellen sakramentalen Vollzug abgeschlossen, sondern stellt eine tägliche und lebenslange Verheissung und Herausforderung dar. Dieser baptesimale (von der Taufe geprägte) Charakter christlicher Spiritualität ist, trotz seiner starken Ausprägung im frühen Christentum, lange vernachlässigt worden. Zumindest was die katholische Theologie betrifft, musste er im 20. Jahrhundert wiederentdeckt werden.

Der dritte Faden schliesslich, der da und dort golden aufglänzend an die Oberfläche tritt, entfaltet die Doppeldeutigkeit, die im Wort Geistesgegenwart steckt. Geistesgegenwart meint im Kontext der Theologie des geistlichen Lebens und christlicher Spiritualität zunächst und vor allem die Gegenwart des Heiligen Geistes. So lässt sich christliche Spiritualität als Leben in und aus der Gegenwart Gottes beschreiben. Die wichtigste «geistliche» Übung besteht darin, diese Gegenwart Gottes zu suchen (vgl. Ps 27,8) und sich zu vergegenwärtigen (vgl. Ps 139). Doch kann sich Geistesgegenwart auch auf die vom Heiligen Geist geweckte Aufnahmebereitschaft und Präsenz beziehen. Der Geist Jesu entführt uns nicht in weltferne Traumwelten, sondern lässt uns geistesgegenwärtig und wach unser Leben gestalten und an den Aufgaben und Nöten unserer Zeit teilhaben.

Diese drei Leitfäden – der pfingstlich rote der gnadentheologischen Intuition, der blaue der Taufspiritualität und |13| der Goldfaden der manchmal herrlich glänzenden, aber nicht immer spürbaren Gegenwart Gottes – werden in den folgenden drei Teilen miteinander verflochten und mit geschichtlichen Stoffen und Texten2 verwoben: Grundlegung – Grunddimensionen – Grundvollzüge. Im ersten und grundlegenden Teil werden die drei Hauptfäden ausgezogen und zu einem Grundmuster verknüpft. Sie verbinden die biblische Geisterfahrung mit heutiger christlicher Spiritualität (Kap. 1), die österliche Ursprungserfahrung mit dem neuen Leben aus dem Geist Jesu, zu dem wir berufen sind (Kap. 2). Was sich schliesslich in theologischer Sprache als «Primat der Gnade» artikulieren lässt, zielt auf eine Spiritualität der Freude an Gottes heilsamer Nähe bei uns (Kap. 3).

Der zweite Teil, der sich in zwei Kapiteln den Grunddimensionen des geistlichen Lebens widmet, lokalisiert die christliche Existenz zwischen altem Dasein und neuer Schöpfung. Die Umwandlung des Menschen durch den Heiligen Geist berührt nicht nur die Innerlichkeit des Menschen, sondern betrifft alle Bereiche seines Lebens und führt zur Ausbildung einer neuen Lebensform (Kap. 4). Gerade die Neuheit und Radikalität eines Lebens aus dem Geist Jesu führt allerdings auch in vielfältige Spannungsfelder im Schnittpunkt von Kirche, Wüste und Welt (Kap. 5).

Im dritten Teil geht es schliesslich um die Grundvollzüge, die das Leben aus dem Ostergeheimnis kennzeichnen. Dabei kann das umfangreiche sechste Kapitel als das eigentliche Herzstück dieser Hinführung bezeichnet werden. Es beschäftigt sich mit dem Gebet in seinen vielfältigen Gestalten. Geistliches Leben betrifft alle Lebensvollzüge und -dimensionen: die Politik und die Arbeit ebenso wie zwischenmenschliche Beziehungen und die Welt der Künste. Und insofern hat es auch eine Theologie des geistlichen Lebens mit all diesen Bereichen zu tun. Als «Atem des Glaubens», der all diese Bereiche durchdringen kann, kommt dem Gebet jedoch eine Sonderrolle zu, die die spiritualitätstheologische Aufmerksamkeit in besonderem Mass auf sich zieht. Das siebte und abschliessende Kapitel bildet dazu die lebensgeschichtliche Entsprechung zum sechsten. Ein Leben, das sich vom Hören |14| auf die Heilige Schrift und von der feiernden Antwort auf die Verheissung des Evangeliums bestimmen lässt, verwandelt sich nach und nach und führt auf ungewohnte Wege, die zu kennen für die Reifung im Glauben von grosser Bedeutung ist.

Die Theologie des geistlichen Lebens steht in der Spannung zwischen einzigartigen geschichtlichen Ausformungen christlicher Spiritualität und den Verallgemeinerungen und Schematisierungen, die für eine theologische Systematik und Kriteriologie unumgänglich sind. Hier gilt es einen Mittelweg zu finden. Deshalb soll versucht werden, theologische Reflexion und paradigmatische Zeugnisberichte in ein ausgewogenes Zusammenspiel zu bringen. Es sollen Menschen zu Wort kommen, die aus der Perspektive von Betroffenen von dem erzählen, was ihnen in der Nachfolge Christi widerfuhr oder sie in diese hineinführte. An verschiedenen Stellen wurden zeitgenössische Zeugen und Zeuginnen gewählt, um die Lebendigkeit christlicher Spiritualität in der heutigen Welt zu veranschaulichen. Häufig sind es jedoch ältere Stimmen, die zu Wort kommen. Meist handelt es sich um klassische Texte der christlichen Spiritualitätsgeschichte. Diese Auswahl wird von der Überzeugung geleitet, dass spirituelle Erneuerung aus einer intensiven Beschäftigung mit den Quellen geschieht. In der gegenwärtigen Traditionskrise des europäischen Christentums, die auch die christliche Spiritualität betrifft, ist solche Erinnerungsarbeit meines Erachtens besonders dringlich. Das ist wie bei der Lektüre von biblischen Texten mit einer gewissen Mühe verbunden. Auch die klassischen Texte christlicher Spiritualitätsgeschichte sperren sich gegen eine schnelle Lektüre. Sie sind oft anspruchsvoll und erfordern eine intensive Auseinandersetzung. Das macht sie interessant. Wer sich auf sie einlässt, kommt so schnell nicht mehr los von ihnen.

Dass es sich bei den älteren und jüngeren Stimmen z. T. um Extrembeispiele handelt und das radikale Wüstenmönchtum des 4. Jahrhunderts im vorliegenden Entwurf einen zentralen Platz einnimmt, bedarf einer Begründung. Meine Wahl war zum einen vom Wunsch geleitet, ein möglichst einprägsames Beispiel für den jeweils zu veranschaulichenden Aspekt zu finden. Extrembeispiele kommen diesem Wunsch entgegen. An ihnen tritt in aller Deutlichkeit hervor, was in der |15| Alltäglichkeit christlichen Lebens oft verborgen bleibt. Zum anderen kommt dem frühen Mönchtum spiritualitätsgeschichtlich eine Sonderolle zu. Es vermag auch heutige spirituelle Suche durch seine inspirierte Nüchternheit zu orientieren.3 Damit soll nicht die zölibatäre Form christlichen Lebens zum Paradigma für alle anderen Lebensformen gemacht, sondern der symbolische Ort der Wüste für heutige Spiritualität in Erinnerung gehalten werden. Paradigmatisch ist die der Wüste abgewonnene Einsicht, «dass wahrhaft geistliches Leben nur möglich ist, wenn die Weltseite der Existenz ungeschminkt wahr- und ernst genommen wird.»4

Vergleicht man die Zeugnisse, so tritt etwas hervor, das gleichsam das raue Sacktuch darstellt, in das sich die drei hier gewählten Hauptfäden hineinsticken: die menschliche Existenz als eine von Armut, Krankheit und Gewalt heimgesuchte. Die Stimmen, die unseren Erkundungsgang in die Welt der christlichen Spiritualität begleiten werden, sind vom hellen und herben Geist der Seligpreisungen durchklungen. Sie bezeugen, dass das Evangelium dort am stärksten berührt und unter die Haut geht, wo Menschen sich als arm, gefangen und behindert erfahren, wo sie an die Schwelle des Todes kommen. Es ist die Stimme einer deutschen Philosophin jüdischer Abstammung, die in Auschwitz ermordet wird; die Stimme eines in Elend und zugleich überaus glücklich sterbenden Missionars, der aus Solidarität das Leben der Armen gewählt hat; die Stimme eines französischen Trappistenmönchs, der seinem gewaltsamen Tod klarsichtig und gelassen entgegenschaut; die Stimme eines widerständigen deutschen Theologen, dessen in Gefangenschaft verfassten Briefe an seine Braut die Güte der Schöpfung und der Sexualität preisen; eines italienischen Kleinen Bruders, den die Wüste das Gebet der Armut, die Kontemplation lehrt; die Stimme einer vièrge rouge, einer kämpferischen Philosophin, die auf ungewöhnliche Weise zum Gebet findet; die Stimme eines blinden Franzosen, der als Résistance-Kämpfer in den dunkelsten Jahren des 20. Jahrhunderts das Licht wiederfindet |16| und dem im KZ eine überwältigende mystische Erfahrung geschenkt wird; eines spanischen Karmeliten, der in einem elenden Klostergefängnis Gedichte von einer überweltlichen Schönheit schreibt und eine Mystagogie entwickelt, die Generationen von Gottessuchern prägen wird; eines ungarischen Jesuiten, den die Option für die Armen ins Gefängnis der argentinischen Militärjunta gebracht hat und der dort einen persönlichen Läuterungsweg durchlebt; eines Universitätsprofessors, der seine Lehrtätigkeit aufgibt, um mit Menschen mit schweren Behinderungen zusammenzuleben …

Geistbestimmtes Leben

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