Читать книгу Blast nun zum Rückzug - Simon Raven - Страница 5

Оглавление

Teil I

Die Anwärter

Gegen Ende November 1945, als die Georgic, ein Truppenschiff Seiner Majestät, sich Port Said näherte, sagte der Truppenkommandeur zum Kapitän:

»Kein Landgang für die Offiziersanwärter, würde ich sagen. Die ziehen sonst nur los und holen sich den Tripper.«

»Oder Schlimmeres«, sagte der Kapitän.

»Genau. Aber ich denke, wir sollten ihnen stattdessen irgendetwas Nettes spendieren. Als Entschädigung.«

»Ich weiß was«, sagte der Kapitän. »Wir lassen einen Zauberkünstler auftreten.«

»Aber einen Zauberkünstler haben wir in Port Said doch immer an Bord.«

»Das brauchen die Offiziersschüler ja aber nicht zu erfahren. Die werden denken, dass es, wie Sie sagten, eine nette Überraschung ist.«

Und so wurde in Port Said der übliche ägyptische Gaukler engagiert, an Bord zu kommen, um den dreihundert Fahnenjunkern die Zeit zu vertreiben. Er tat dies im Gesellschaftsraum der Ersten Klasse, der an dem betreffenden Tag nicht benötigt wurde, da die Offiziere, und somit praktisch alle mit Ausnahme der Anwärter, auf Landgang waren, ungeachtet des Ri­­sikos, dass man sich dabei den Tripper einfangen konnte. Das Ganze sorgte bei den Nachwuchsoffizieren dafür, dass sie, wie der Truppenkommandeur schon vorhergesehen hatte, sich übergangen fühlten und eine Wut im Bauch hatten, so dass sie anfangs keineswegs gewillt waren, einem streng riechenden alten Vagabunden mit seinen infantilen Zaubertricks ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Überall sah man missmutige Gesichter und skeptische Blicke, dauernd putzte jemand sich schnaubend die Nase oder scharrte mit den Füßen.

Der Ägypter, der missmutiges Publikum auf Truppentransportern mit Kurs gen Osten bereits gewohnt war, ließ sich nicht im Geringsten davon beirren, dass seine erste Darbietung – ein Strom farbenprächtiger Stofftücher, den er aus seinen weiten Ärmeln fließen ließ – allenfalls mit Spott quittiert wurde. Er machte einfach weiter mit Punkt zwei seines Programms (einer altbewährten Nummer, bei der er Eier in einen Fez schlug, um dann lebende Küken daraus hervorzuholen), wohl wissend, dass auch dies nur auf Verachtung stoßen würde, was zu jenem Zeitpunkt auch genau das war, was er wollte. Ebenso bei seinem dritten Trick, seinem vierten und seinem fünften – wobei ihm bei Letzterem hemmungsloses Buhen entgegenschlug, was Musik in den Ohren des Magiers war; denn von nun an wusste er, dass er seine Zuschauer genau in die Verfassung versetzt hatte (aufmüpfig und kritisch), die sich für die Illusion, die er ihnen gleich vorgaukeln wollte, als am zuträglichsten erwiesen hatte: ein Kunststück, das die Offiziersanwärter im Gegensatz zum Vorhergegangenen so verblüffen und entzücken würde, dass diese sich mit lächelnden Gesichtern voller Bewunderung und mit einer großzügigen Menge Münzen in den Händen um ihn scharen würden, bevor sie ihn ruhmvoll verabschieden und seiner Wege ziehen lassen würden.

Der Trick, den zu zeigen er sich anschickte, bildete das Glanz­stück seines Repertoires, war aber im Grunde ganz simpel: Er würde einen Mann aus dem Publikum hypnotisieren, ihn dann anweisen, sich in einen Sarg zu legen, welcher daraufhin, mit viel Gewese, vom Zauberer und seinen drei Lehrlingsgehilfen verschlossen, zugenagelt, beschwert und über Bord geworfen werden würde. Nach dem Abwurf des Sarges, seinem Versinken und viel Wehklagen vonseiten der Ägypter würde man das Schiff durchsuchen und nach einiger Zeit feststellen, dass das Opfer aus der Tiefe »wiederauferweckt« worden war, und das üblicherweise in einer halbwegs lächerlichen Pose, zum Beispiel auf einer Kloschüssel hockend. (Was den Sarg anbetraf, so wurde dieser anschließend ohne großen Aufwand von Tauchern wieder zutage gefördert.) Über die Jahre hatte der Zauberer herausgefunden, dass diese Mischung aus derber Komik und dem Makaberen bei britischem Publikum besonders gut ankam, und da der Ablauf bisher immer wie am Schnürchen geklappt hatte, begann er nun ohne das leiseste Zögern mit der Anbahnung seines kunstvollen Tricks.

»Gali, gali, gali«, flötete er, »könnte bitte einer von Ihnen galanten Offizieren hier als Freiwilliger nach vorne kommen?«

Die Laune der Fahnenjunker ließ sich dadurch, dass er vorgab, sie für Offiziere zu halten, nicht heben. Niemand machte Anstalten aufzustehen.

»Gali, gali«, bettelte der alte Scharlatan, nun ziemlich erbarmungswürdig. »Nur ein Gentleman, bitte … bitte!«

Daraufhin erhob sich schließlich Peter Morrison, ein großgewachsener Fahnenjunker mit leicht schlurfendem Gang und einem riesigen runden, begeisterten Gesicht. Tatsächlich langweilte die Vorführung Morrison mehr als die meisten anderen, da er sie nicht nur generell für unpassend hielt, sondern zudem für etwas, das nur geistigen Leichtgewichten gefallen konnte; doch wissend, dass es nun mal dies war, was seine Vorgesetzten ihm zugedacht hatten, fühlte er sich verpflichtet, ein wenig Interesse zu zeigen und seinen Teil dazu beizutragen, dass die Show weiter über die Bühne gehen konnte. Ihm tat außerdem der Zauberkünstler leid, der hier offensichtlich schwer zu kämpfen hatte. Aus all diesen Gründen stand Morrison auf und ging zum Zauberer nach vorne, der ihn mit offenen Armen und einem leisen Salam! empfing – und auf der Stelle damit anfing, ihn zu hypnotisieren.

Da es sich bei Peter Morrison um einen jungen Mann handelte, der mit Intelligenz und eiserner Willensstärke ausgestattet war, wäre Selbiges möglicherweise mit Schwierigkeiten verbunden gewesen. Aber weil er eifrig bemüht war zu helfen und dazu recht neugierig, was nun passieren würde, ließ Morrison es scheinbar mit sich geschehen, in einen tranceartigen Zustand versenkt zu werden (blieb in Wahrheit jedoch im Voll­besitz seiner Fähigkeiten), und es fiel ihm umso leichter mitzuspielen, weil er während des Kriegs einmal in einem Varietétheater in Norwich einem Hypnotiseur dabei zugesehen hatte, wie dieser bei einem seiner Opfer zu Werke gegangen war. Als ihm befohlen wurde, sich in den Sarg zu legen, leistete er dem traurig und würdevoll Folge; und selbst dann noch, als der Deckel über ihm verschlossen wurde (eine Erfahrung, die selbst die heitersten Gemüter verstörend fänden), blieb er weiterhin wie aufgebahrt liegen, wie es seine Rolle erforderte.

Nun folgte zwei volle Minuten lang das Einhämmern von Nägeln, begleitet von Schreckensäußerungen der Neulinge im Publikum, alldieweil der Boden des Sargs nach unten wegklappte, um Morrison mit einem dumpfen, im anhaltenden Getöse zu überhörenden Plumps in dem mit Kissen ausgepolsterten Untergestell abzuladen. Der Sargboden schwang sodann zurück nach oben und rastete mit einem Klicken wieder ein, wie auch die falsche, samtgepolsterte obere Abdeckung der Aufbahrungsvorrichtung, die mit einem ähnlichen Mechanismus versehen war. Zu diesem Zeitpunkt war Morrison ziemlich klar, wie das Ganze ablaufen würde, und er war weiterhin entschlossen, der Sache ihren albernen, aber harmlosen Lauf zu lassen.

Und so wäre zweifellos alles seinen Gang gegangen, hätte es nicht bei einer einzigen Sache eine Abweichung gegeben. Alles lief glatt – der Begräbniszug hinunter zu Deck C, das Versenken des beschwerten Sargs und das Hinausschmuggeln von Peter Morrison aus dem verlassenen Gesellschaftsraum –, bis die entsprechend instruierten Gehilfen Peter Morrison für seine »Auferstehung« zurechtmachen sollten. Weil ihr Meister angeordnet hatte, dass dieses Mal das Opfer in Rückenlage und nackt bis auf die Unterhosen auf einem Speisesaaltisch aufgefunden werden sollte, und sie zudem allen Grund zu der Annahme hatten, dass Morrison sich weiterhin in Trance befand, begannen sie, ihn von Kopf bis Fuß auszuziehen. Auch dagegen hätte Morrison nicht aufbegehrt, denn sie taten dies mit dem gebotenen Respekt, und er war ein gutmütiger Kerl, der mit einem Scherz auf seine Kosten umgehen konnte – hätte er nicht just an jenem Tag aufgrund einer Unachtsamkeit der Bordwäscherei keine Unterhosen getragen. Als die Ägypter also anfingen, ihm die Uniformhosen abzustreifen, protestierte er deutlich hörbar und händefuchtelnd, woraufhin die Lehrlinge, erschreckt von solch plötzlichem Eigenleben bei jemandem, den sie für nicht mehr als eine atmende Leiche gehalten hatten, schreiend und schnatternd Reißaus nahmen auf Deck C, um den zuständigen Hexenmeister zu finden.

Dieser genoss derweil nun doch die Gunst des Publikums. Wie immer hatte der Kontrast zwischen der Schäbigkeit seiner zuerst gezeigten Tricks und dem beeindruckenden Ausmaß dieses letzten seine Zuschauer beträchtlich in Schwung gebracht. Eine geschickt eingesetzte Bauchrednertechnik hatte aus dem sinkenden Sarg einen Schrei entweichen lassen, und es gab sogar einige, die hofften, Peter Morrison wäre tatsächlich, sei es durch die Bösartigkeit oder die Unfähigkeit des Magiers, auf den Grund des Meeres befördert worden. Das war etwas, worüber man in den Briefen nach Hause würde berichten können. Alle waren demnach höchst gespannt, wie es nun weitergehen würde – als die Gehilfen stammelnd auf dem Deck ankamen und sich ihrem Meister zu Füßen warfen.

Als jener begriff, was passiert war, war er verstört. Dass Morrison (nach Auffassung des Magiers) aus der Trance erwacht war, bevor diejenige Person, die ihn in diesen Zustand versetzt hatte, ihn daraus zurückgeholt hatte, war so noch nie vorgekommen und möglicherweise gefährlich. Die Besorgnis und das Unbehagen, die sich auf dem Gesicht des Gauklers zeigten und eindeutig echt waren, teilten sich umgehend auch den Offiziersanwärtern mit … die daraus, ganz richtig, schlossen, dass irgendetwas schiefgelaufen war, und, ganz unrichtig, dass dies nur bedeuten konnte, Morrison sei zu Schaden gekommen – und sie verlangten daraufhin in ganz unterschiedlicher Manier, entsetzt, entrüstet, ängstlich, mitfühlend, mit rassistischem Hass in der Stimme oder genüsslich das Schlimmste erwartend, eine Erklärung. Da er sich unter diesen Umständen mit einer solchen gar kein Gehör hätte verschaffen können, war der Zauberer einigermaßen erleichtert, als Peter selbst nun erschien und ihm mit seinem Auftauchen die Aufgabe abnahm. Doch erwies sich die Erklärung in der dargebotenen Form als nicht geglückt. Denn Peter, voller Bedauern, dass er die Gehilfen bei ihrem Tun gestört hatte, und bestrebt, das Kunststück nicht ohne einen entsprechenden Höhepunkt enden zu lassen, hatte sich mit Meerwasser übergossen, um den Eindruck zu vermitteln, er sei wirklich de profundis zurückgekehrt. Was schön und gut gewesen wäre, wenn die nun im Publikum vorherrschende Stimmung nicht nach etwas anderem verlangt hätte. Denn nachdem die Offiziersschüler gesehen hatten, wie der Zauberer immer nervöser geworden war, waren sie inzwischen davon überzeugt, dass hier irgendetwas ganz gewaltig falsch lief, auch war ihnen noch der grauenvolle Schrei, der aus dem Sarg ertönt war, in Erinnerung, und so gingen sie automatisch davon aus, dass der tropfnasse Peter tatsächlich darin untergegangen war und sich nur durch eigenes Vermögen und eigene Anstrengung gerettet hatte. Dieser lächerliche Gedanke hätte sich natürlich nie länger als ein paar Sekunden halten können; aber bevor diese Sekunden um waren, hatte bereits eine Horde Fahnenjunker, angeführt von Peters Freund Alister Mortleman, den glücklosen Zaubermeister brutal zur Gangway geprügelt und ihn von dort kopfüber in ein herumdümpelndes Bumboot geworfen, das durch den Aufprall wie ein Taschenmesser über ihm zusammenklappte und zehn Sekunden später unterging.

»Also nun«, sagte der Truppenkommandeur. »Mir wurde aufgetragen, eine Untersuchung des gestrigen kleinen Vorkommnisses vorzunehmen. Rühren Sie sich, meine Herren, bitte.«

Der Truppenkommandeur hob den Blick und schaute vorwurfsvoll die zehn eng gedrängt dastehenden Offiziersanwärter an, die sich in seiner Tageskajüte eingefunden hatten, setzte dann sein Monokel ein und begann das vor ihm liegende Papier vorzulesen:

»Vor dem britischen Konsul in Port Said wurde durch Mustapha Duqaq, professioneller Zaubermeister, zu Protokoll gegeben, dass am 25. Tag im November des Jahres 1945, als er sich auf offi­zielle Einladung hin an Bord der Georgic, eines Truppenschiffs Seiner Majestät, im Hafen von Port Said aufhielt, er, Mustapha Duqaq, von einer Gruppe Offiziersanwärter vom Deck des oben genannten Schiffes in ein kleines, sich in seinem eigenen Besitz befindliches Boot hinabgeworfen wurde, das für seine Abfahrt be­reit­stand; dass er selbst dabei körperliche Verletzungen erlitten habe, deren Kosten sich auf 73 Pfund Sterling und 14 Schilling belaufen …«

»Sir«, tönte Alister Mortleman da wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts, »wie will er das denn jetzt schon so genau wissen?«

»Unterbrechen Sie mich nicht!«, sagte der Truppenkommandeur und blinzelte hinter seinem Monokel. »… dass sein Boot, mit einem Gegenwert von 270 Pfund Sterling, demoliert wurde und gesunken ist, dass dabei Gegenstände des für seine Berufsausübung erforderlichen Equipments im Wert von 185 Pfund Sterling verloren gingen oder unwiederbringlich beschädigt wurden …«

»Aber Sir, sein ganzes Equipment war im Gesellschaftsraum in der Ersten Klasse …«

»Würden Sie mich bitte nicht unterbrechen, Sir … und dass zwei seiner Helfer, die sich im Boot befanden, ertrunken seien; geschätzter Pro-Kopf-Wert ein Pfund und zehn Schilling. Sie sind angehalten, diese Anschuldigungen unverzüglich zu untersuchen und die für den Angriff Verantwortlichen unter Arrest zu stellen. Anschließend wird umgehend ein Bericht an die Zivil- und die Militärbehörde in Port Said erfolgen, und letztere wird Sie darüber in Kenntnis setzen, wie die Übergabe der Beklagten an die zuständige ägyptische Behörde abzulaufen hat. Ich verbleibe, Sir … da-di, da-da … J. Kershaw, Brigadegeneral, B. M. C., Port Said. Sehen Sie«, sagte der Truppenkommandeur verdrießlich, »wo Ihre kleine Posse hingeführt hat?«

»Aber Sir, das wollten wir nicht, wir …«

»Herrgott noch mal, Mann, Ruhe jetzt! Jedes Mal, wenn Sie den Mund aufmachen, machen Sie alles nur schlimmer. – Schon besser!«, sagte der Truppenkommandeur, als eine beklommene Stille eingetreten war. »Nun, meine Herren, wir werden den Hauptzeugen der Geschehnisse anhören, Feldwebel W. T. Pulcher von der Militärpolizei. Hören Sie ihm gut zu – und unterbrechen Sie ihn nicht!«

»Können wir ihn im Anschluss ins Kreuzverhör nehmen, Sir?«

»Wenn Sie das möchten …«, er lachte unvermittelt in sich hinein. »Stabsfeldwebel, bringen Sie Feldwebel W. T. Pulcher rein.«

»… liiinks, rechts, liiinks, rechts, stillgestanden!«

»Machen Sie Ihre Aussage, Feldwebel Pulcher.«

»Sir ! Am fünfundzwanzigsten November hatte ich zusammen mit dem diensthabenden Wachoffizier die Aufsicht über die Landungsbrücke. Ungefähr um 15.15 Uhr, da gab’s auf einmal lautes Geschrei und mächtigen Rabatz, und eine Gruppe Offiziersanwärter rennt mit etwas daher, das aussieht wie ’n Ballen schmutzige Wäsche, und das haben die direkt an meiner Ohrmuschel vorbei ins Hafenbecken geworfen. Sir !«

»Doch der Wäscheballen war in Wirklichkeit ein Ägypter?«

»Sir.«

»Haben Sie ihn denn nicht erkannt?«

»Nein, Sir. Wohl bloß ein langfingriger Strolch – dachte ich da.«

»Aber Feldwebel! Der Magier kommt jedes Mal an Bord, wenn wir in Port Said vor Anker gehen, und Sie sind seit über einem Jahr auf diesem Schiff. Sie müssten ihn doch inzwischen kennen.«

»Verzeihen Sie, Sir, aber die Kanaken seh’n für mich alle gleich aus.«

»Und was war mit dem Wachoffizier? Hat der ihn nicht er­kannt?«

»Der Wachoffizier, Sir, war grade weg, mal die Schlange ausschütteln.«

»Na dann … Konnten Sie irgendeinen der beteiligten Fahnenjunker erkennen? Zum Beispiel jemanden von denen hier?«

Feldwebel Pulcher musterte die Offiziersanwärter mit höflicher Verachtung, wie ein Kronprinz im Bordell. »Verzeihen Sie, Sir«, sagte er schließlich, »aber Fahnenjunker seh’n für mich alle gleich aus.«

»Sie können mir also nicht weiterhelfen?«

»Nein, Sir.«

»Und möchte einer der Herren hier noch ein Kreuzverhör vornehmen? Nein? Wegtreten, bitte, Feldwebel Pulcher …«

»Also«, sagte der Truppenkommandeur einige Minuten später, »keiner hat genau gesehen, was passiert ist, und keiner hat das Opfer oder einen der Angreifer erkennen können. Dabei stehen doch die Angreifer, mit vielleicht einer oder zwei Ausnahmen, hier vor mir in der Kajüte. Es muss also doch, wie Sie daraus ableiten können, irgendjemand die Beteiligten erkannt haben. Rätselhaft – denken Sie einmal darüber nach, meine Herren. Einer aus Ihren eigenen Reihen, der Sie verpfiffen hat? Gott bewahre! Ich selbst? Ich war an Land. Einer meiner nächsten Untergebenen? Die waren auch alle an Land – außer natürlich Feldwebel Pulcher. Der eine Frau und fünf Kinder in Wolverhampton hat, meine Herren, und sich vielleicht über ein kleines Zeichen der Anerkennung freut, mit dem Sie zum Ausdruck bringen, wie sehr Sie die Reise genossen haben – wenn wir dann in zwei Wochen in Bombay ankommen.«

Der Truppenkommandeur machte eine Pause, damit das Gesagte seine Wirkung entfalten konnte.

»Und obwohl die Beweislage so unzulänglich ist, meine Her­ren, kann ich Ihnen versichern: Die Sache wäre damit nicht erledigt, wenn wir nicht längst« – er linste durch ein Bullauge – »draußen auf dem Roten Meer wären. Sie wundern sich vielleicht, warum unser Schiff nicht in Port Said oder Sues festgehalten wurde. Die Antwort kann nur sein, dass jemand … irgendwer … da etwas verschleppt hat. Mit dem Ergebnis, dass wir statt einer vollumfänglichen polizeilichen Untersuchung unter persönlicher Mitwirkung des Zauberers lediglich diese Funknachricht auf dem Tisch haben.« Er wedelte mit dem Blatt Papier, aus dem er zuvor vorgelesen hatte. »Kurz gesagt liegt es jetzt an mir.«

Der Truppenkommandeur zündete sich eine Zigarre an und ließ durch sein Monokel ein Funkeln in den Augen erkennen.

»Und da ich nichts herausfinden kann, kann man nichts machen. Keiner kann nach Ägypten zurückgeschickt werden, nicht mal, wenn wir dazu Mittel und Wege hätten. Obwohl ernsthafter Schaden angerichtet wurde, obwohl zwei Ägypter ertrunken sind – und alles nur wegen eines kindischen Ausbruchs von Panik, der für Offiziersanwärter skandalös und ent­würdigend ist – trotz alledem wird man nichts unternehmen. Wissen Sie, warum, meine Herren?«

»Weil«, fing Alister Mortleman an, »es keine Zeugen gibt für …«

»Lieber Himmel, machen Sie doch keinen größeren Narren aus sich, als der liebe Gott Ihnen zugedacht hat!«

Der Truppenkommandeur sog sich die Lunge mit Rauch voll und schickte ihn dann in einem dünnen, fauchenden Strom zu den Offiziersanwärtern.

»Es gibt genau zwei Gründe, meine Herren, warum keinem von Ihnen etwas passieren wird. Der eine ist, dass wir – die Briten – noch immer das Sagen haben. Das wird vielleicht nicht mehr lange so gehen, ganz sicher wird es nicht ewig so bleiben, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es uns weiterhin möglich, die Angelegenheiten in Häfen wie Port Said und Sues und in Ländern wie Ägypten so zu regeln, wie es uns gefällt.

Und der zweite Grund, warum Sie Schutz genießen, ist, dass Sie, solange Sie sich auf diesem Schiff befinden, meine Männer sind. Dass Sie außerdem auch zukünftige Offiziere sind, macht keinen Unterschied – für einfache Soldaten würde ich genau dasselbe tun. Sie sind meine Männer, meine Aufgabe ist es, Sie sicher nach Bombay zu bringen, und ich werde keinesfalls irgendeinen von Ihnen in Ägypten oder sonst wo zurücklassen. Es ist, könnte man sagen, eine Frage der Ehre – denn die erste und letzte Pflicht, der ein Offizier seinen Untergebenen gegenüber unterliegt, ist, diese niemals, unter gar keinen Umständen, im Stich zu lassen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag, meine Herren. Mr. Morrison, Sie sind bitte so gut und bleiben noch einen Moment …«

Als die anderen gegangen waren, durfte Peter sich setzen.

»Also nun«, sagte der Truppenkommandeur. »Sie haben bei all dem nicht wirklich etwas falsch gemacht, aber ich möchte Sie dennoch warnen.«

»Ja, Sir?«, sagte Peter, mit sich selbst zufrieden, aber auch ein wenig unwirsch.

»Ja, Sir. Sehen Sie, nachdem Sie einmal einen bestimmten Kurs eingeschlagen hatten – in diesem Fall, dem Zauberkünstler zu helfen, indem Sie so tun, als wären Sie tatsächlich hypnotisiert –, hätten Sie dabei bleiben sollen. Es sei denn, es wäre etwas Schwerwiegendes dazwischengekommen.«

»Es ist etwas dazwischengekommen, Sir. Das habe ich Ihnen ja erzählt. Diese Ägypter wollten mich untenrum entblößen.«

»Aber vollkommen ohne Arg und Tücke.«

»Aber jeder hätte es sehen können.«

»Jetzt benehmen Sie sich nicht wie ein Erstklässler!«, sagte der Truppenkommandeur. »An so was stören sich nur Leute aus einfachen Verhältnissen. Und noch was. Nachdem Sie diese Ägypter verschreckt hatten, meinten Sie sich mit Wasser begießen zu müssen. Warum?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt, Sir! Obwohl ich nicht wollte, dass man mich so der Lächerlichkeit preisgibt, war es mir doch wichtig, dass der Trick am Ende aufgeht.«

»Sehr lobenswert. Was Sie dann aber getan haben, Morrison, war Folgendes: Sie haben in eine Situation, über die Sie überhaupt nichts wussten, eine zusätzliche Komponente eingebracht. So etwas ist äußerst gefährlich.«

»Ich wusste eigentlich sogar recht genau, was passieren sollte.«

»Sie wussten aber nicht, was tatsächlich vor sich ging. Sie wussten nicht, dass sich der Zauberer auf dem Deck in einer misslichen Lage befand. Und auch nicht, warum. Und so haben Sie das Eine getan, was die Lage noch verschlimmern musste: Sie haben einen dramatischen Auftritt hingelegt, mit dem Sie die wildesten Spekulationen der Jungs da draußen bestätigt und sie in einen Mob verwandelt haben.«

»Ich hatte nicht im Entferntesten die Absicht …«

»Mein lieber Freund, natürlich hatten Sie das nicht. Es ist nie so gemeint, bei niemandem. Aber all der Ärger hätte sich vermeiden lassen, wenn Sie sich einfach bloß an die alte Regel gehalten hätten: Sich nie einmischen! Darin besteht Ihr Vergehen, Morrison: Sie haben sich eingemischt. Sie haben das Falsche getan, das Katastrophalste überhaupt, aus dem, wie Sie dachten, richtigen Grund. Seien Sie also gewarnt. So was passiert jeden Tag«, sagte der Truppenkommandeur, »und jeden Tag bringt das eine vielversprechende Militärlaufbahn zu einem vorzeitigen Ende.«

»Dieser Truppenkommandeur«, sagte Alister Mortleman, »tritt äußerst gewandt auf.«

»Was man eben einen Mann von Welt nennt«, sagte Barry Strange.

»Verschlagen«, sagte Peter Morrison.

Die drei lehnten über der Reling und betrachteten die fliegenden Fische. Nach einer halben Minute erwies sich dies als eher triste Ablenkung, und nachdem sich Ernüchterung breitgemacht hatte, war diese bald allgemeinem Missmut gewi­chen.

»Er hat einfach seine Position ausgenutzt«, fuhr Peter fort, »um die ganze Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.«

»Soll mir eigentlich nur recht sein«, sagte Mortleman, der groß und stämmig in seinen dschungelgrünen kurzen Hosen dastand.

»Mir auch«, sagte Barry, der wie ein beseelter Vierzehnjähriger am Sporttag wirkte, mit seinem goldblonden Haar und den golden gebräunten Schenkeln.

»Er gibt ein schändliches Beispiel ab«, sagte Peter, dessen Shorts ihm unförmig bis unters Knie hingen. »Wie kann man von Offiziersanwärtern erwarten, dass sie die Inder anständig behandeln, wenn sie sehen, dass ein Vorgesetzter, ein Offizier sich so gegenüber den Ägyptern verhält?«

»Sich wie verhält?«

»Ignoriert, dass sie Wiedergutmachung fordern.«

»Wahrscheinlich dachte er, dass es ohnehin nicht drauf ankommt«, sagte Barry freimütig, »weil die Ägypter so verdorben und widerwärtig sind. Aber Inder sind so viel anständiger, wisst ihr, loyal und sauber – da wollen wir dann von selbst nett zu ihnen sein.«

»Wollen wir das?«, sagte Alister. »›Die Kanaken seh’n für mich alle gleich aus‹«, zitierte er.

»Dieses Wort solltest du nicht benutzen«, sagte Peter gewissenhaft. »Es drückt aus, dass du sie für minderwertig hältst, wie Feldwebel Pulcher oder der Truppenkommandeur es tun.«

»Ich halte sie auch für minderwertig. Und jetzt hör verdammt noch mal auf, den Truppenkommandeur zu bekritteln. Wenn er nicht wäre, würden ich und Barry und die anderen jetzt vielleicht in einem Verlies in Port Said verfaulen.

»Ich sehe das doch richtig«, sagte Barry, »dass die Sache wirk­lich vom Tisch ist? Ich meine, da werden nicht am Ende noch Leute in Bombay auf uns warten, um uns festzunehmen?«

»Du hast doch gehört, was der Gentleman gesagt hat. Sie wüssten gar nicht, wen sie verhaften sollten.«

»Und da bist du dir sicher, Alister?«

»Ich bin mir da ganz sicher, mein kleiner Barry.«

»Wie siehst du das, Peter?«

»Ich finde«, sagte Peter, »dass ihr beide großes Glück gehabt habt …«

»Wir haben es für dich getan, Himmelherrgott!«

»… und dass es jetzt an euch liegt, euch zu bewähren, jetzt, wo ihr eine zweite Chance bekommen habt.«

»Du meine Güte!«, sagte Alister. »Mir wird klar, warum du auf deiner Schule Hauskapitän warst. So was von ernst!«

»Standfest«, sagte Barry und schaute scheu zu Peter rüber.

»Herrisch. So war das an meiner Schule auch. Hast dir alle Jungs angeschaut und die zehn längsten Gesichter rausgesucht, mit so störrisch rausguckenden Zähnen, schon hattest du die zehn Hauskapitäne.«

»Peter hat keine vorstehenden Zähne. Und ein rundes Gesicht.«

»Von Zeit zu Zeit wird es ein bisschen eiförmig. Ihn machen sie ganz bestimmt zum J. U. O. wenn wir Bangalore erreichen.«

»J. U. O.?«

»Junior-Unteroffizier. Ist dem Zugführer gegenüber für das Betragen und die Anwesenheit aller Soldaten im Zug verantwortlich.«

»Wenn das so ist«, sagte Peter, »werde ich wegen meiner Hosen was unternehmen müssen.«

Er fing an, die Säume nach innen einzuschlagen.

»Meint ihr, ich könnte das so machen und sie dann annähen?«

»Mach dir darum keine Gedanken«, sagte Alister. »Wir bekom­men im Durchgangslager in der Nähe von Bombay eine neue Garnitur, und dann noch mal, wenn wir in Bangalore ankommen.«

»Woher weißt du das?«

»Feldwebel Pulcher hat es mir erzählt. Niemand kommt in den Fernen Osten, ohne wenigstens dreimal mit verschiedener Tropenausrüstung ausgestattet worden zu sein. Dhobi-Mann-Gelumpe hat er es genannt.«

»Dhobi-Mann?«

»Indisch für Waschmann.«

»Aber es wird doch sicher«, sagte Barry, der ein aufmerksamer Geist war, »nicht nötig sein, uns im Durchgangslager neu einzukleiden, wenn in Bangalore dann gleich wieder alles ausgewechselt werden soll.«

»Es kann sein, dass wir monatelang im Durchgangslager bleiben«, sagte Alister.

»Unsinn!«, sagte Peter. »Wir sollen am neunten Dezember in Bombay ankommen und sind in Bangalore spätestens für den sechzehnten angekündigt.«

»Nach offizieller Verlautbarung, Peterchen. Aber in Durchgangslagern gehen Leute verschütt. Man vergisst sie dort. Jeden Tag«, sagte Alister, »gehen sie zum Lagerbüro, um sich nach ihrem Verlegungsbefehl zu erkundigen, und der Stabsfeldwebel sagt ihnen, dass noch keiner eingegangen ist, und dann kommt ein neuer Stabsfeldwebel, der sie nicht kennt, und der sagt, dass er sie auf keiner einzigen Liste finden kann, dass sie noch nicht mal bei der Versorgungsstärke mit eingerechnet seien, und folglich könnten sie auch kein Essen und keinen Sold erhalten, und dann taumeln sie einfach so durchs Lager wie Geister, bis sie sich nicht mehr an ihren eigenen Namen erinnern können und entweder sterben oder sich unter die Einheimischen mischen.«

»O nein!«, sagte Barry entsetzt.

»Denen können ja wohl nicht dreihundert Offiziersanwärter abhandenkommen«, sagte Peter beschwichtigend.

»Warum nicht? Der Krieg ist vorbei, und niemand hat wirklich Verwendung für uns. Es würde mich sehr überraschen«, sagte Alister, »wenn wir es überhaupt je bis zum Offizier bringen.«

»Du bist schon zu lang auf diesem Schiff«, sagte Peter. »Du musst mal wieder ordentlich rangenommen werden.«

»Das kannst du laut sagen. Ich war seit einer Woche nicht auf dem Scheißhaus. Herrgott, diese fliegenden Fische sind stink­langweilig«, sagte Alister. »Was Kipling an denen bloß ge­funden hat.«

»Brahmahnen«, verkündete ein dürrer, blasser Major in der Uniform der Madras Rifles, »sind Priester und Gelehrte. Die Farbe der Kaste: Weiß. Kschatrijas sind Herrscher, Adelige und Krieger. Die Farbe der Kaste: Rot.«

Die dreihundert Offiziersanwärter waren im großen Vorlesungssaal des Durchgangslagers in Kalyan, ungefähr vierzig Meilen von Bombay, versammelt. Sie waren bereits zehn Tage dort und hatten zweimal neue Tropenausrüstung ausgehändigt bekommen, doch nun waren beide Zuteilungen wieder eingezogen worden, so dass sie gezwungen waren, die dicken Hemden und Hosen des Feldanzugs zu tragen, in dem sie sechs Wochen zuvor England verlassen hatten. Es wurde ihnen jedoch versichert, dass sie jetzt jeden Tag mit einer neuen Tropenausstattung rechnen durften – dann nämlich, wenn ein Zug bereitgestellt worden sei, um sie Richtung Süden nach Bangalore zu bringen. Hier aber lag das Problem. Der Eisenbahntransportoffizier war nicht befugt, einen Zug anzufordern, bevor nicht der oberste Quartiermeister in Kalyan die Offiziersanwärter mit dem korrekten Drillich � Khaki � von OA während der Verbringung zum Standort zu tragen ausgestattet hatte; und der oberste Quartiermeister war wiederum nicht befugt, Bekleidung an die Offiziersanwärter auszugeben, bevor kein endgültiges Datum für die Zugfahrt feststand. Mit etwas gutem Willen hätten die beiden betreffenden Offiziere diese Schwierigkeit ausräumen können, aber guter Wille war in Kalyan Mangelware, und die Angelegenheit hatte inzwischen den Punkt erreicht, an dem Dauerschach geboten war. Derweil gaben sich die Offiziersanwärter tagelang verschwitzt dem Müßiggang hin und sollten sich nur dann und wann zusammenfinden, um improvisierte Schulungen über das Reich anzuhören, das demnächst in ihre Hände übergehen sollte.

»Die Waischja«, sagte der dürre Major (der sich in Erwartung eines Prozesses vor dem Militärgericht im Arrest befand und somit, all seiner sonstigen Pflichten enthoben, Zeit für diese hatte), »sind die einfachen Leute, Händler und Bauern. Die Farbe der Kaste: Gelb. Die Schudra sind Diener, Sklaven, alles in der Art. Farbe der Kaste: Schwarz.

Außerhalb dieser Gliederung der Hindu-Gesellschaft stehen noch diejenigen, die einem Hindu nicht nahekommen können, ohne diesen zu beschmutzen – die Unberührbaren, Parias oder Ausgestoßenen. Einige von ihnen haben einen so niedrigen Stand, dass sie nicht nur Unberührbare sind, sondern sogar Unsichtbare und nur nach Einbruch der Dunkelheit in Erscheinung treten dürfen.«

Eine lange Pause entstand, in welcher der Major, der befand, das Thema sei nun erschöpfend behandelt, sich eine treffende Wendung auszudenken versuchte, mit der er enden konnte. Bevor ihm dies allerdings gelang, zeigte sein Bewacher, ein rund­licher Hauptmann des Indischen Feldzeugkorps, vorwurfs­voll auf die Uhr im Vorlesungssaal und murmelte etwas von dreißig Minuten, die noch übrig seien. Der Major tat einen tiefen Seufzer, wühlte in seinen schwer strapazierten Gehirnwindungen nach etwas, das er sonst noch sagen konnte, und fuhr dann schnarrend fort:

»Zwischen den Kasten oder Varna gab und gibt es sehr strenge Regeln, ihren Umgang miteinander betreffend. Ein Brah­mane kann einen Schudra um den Preis einer Katze töten. Jedenfalls hat man das mir so beigebracht, als ich selbst noch in der Offiziersausbildung war, es kann aber sein, dass das inzwischen nicht mehr gilt. Wenn umgekehrt ein Schudra einen Brahmanen tötet, wird er auf der Stelle strengstens bestraft – wie genau, weiß ich nicht –, und dazu gilt er dann als jemand, der sich bis in alle Ewigkeit in Verdammnis gebracht hat. All das sorgt auf alle Fälle dafür, dass jedermann weiß, wo er hingehört.«

Der Major ließ ein verzweifeltes Schnauben hören. Er schau­te zum Hauptmann hinüber, der freundlich, aber bestimmt den Kopf schüttelte.

»Wacker weiter, alter Knabe!«, sagte der Hauptmann.

»Entscheidend ist aber«, quälte sich der Major weiter, »dass diese Wallahs hier in Indien das alles so hinnehmen. Die glauben wirklich daran. Für die Leute hier besteht das, was wir ›unser Seelenheil finden‹ nennen, schlicht darin, schön an seinem Platz zu bleiben. Man muss nichts tun, man muss einfach bloß am richtigen Ort ausharren und sich so verhalten, wie es eben so üblich ist. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Händler. Was Sie also machen, ist ein Schildchen aufhängen und C. Hasri, Händler draufschreiben – und sich einfach druntersetzen. Sich so verhalten, wie es eben so üblich ist, verstehen Sie? Den Leuten ist es egal, ob Sie wirklich etwas verkaufen oder nicht. Sitzen Sie einfach schön brav unter Ihrem Schildchen, und Sie werden tonnenweise Punkte für Ihr Seelenheil sammeln, und wenn Sie dann wiedergeboren werden, dann sind Sie auf der Leiter ein Stück weiter oben. Dann sind Sie vielleicht ein Kschatrija, ein Kämpfer. Fairerweise muss man übrigens sagen, dass die Kämpfer die Einzigen sind, die tatsächlich auch tun, was ihre Aufgabe ist. Sie sind sehr gut im Kämpfen, das werden Sie bald sehen.«

Für einen Augenblick schien es, als hätte dieser Gedanke den Major innerlich erbaut, doch dann wurde er finsterer als zuvor.

»Das einzige Problem ist, dass es sie nicht groß kümmert, gegen wen sie kämpfen, denn sie bekommen die Punkte für ihr Seelenheil einfach bloß fürs Kämpfen, verstehen Sie, und es ist ihnen vollkommen gleich, ob sie Japsen mit dem Bajo­nett aufspießen oder die Ehefrau ihres europäischen Sahib skal­pieren. Vorausgesetzt natürlich, es ist das, was ihr Vorgesetzter ihnen vorher befohlen hat, denn Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten bedeutet, dass man den zugewiesenen Platz ausfüllt, und es ist ja nicht dein Bier, drüber nachzudenken, welche Gurgel du da aufschlitzt, wenn man es dir erst mal aufgetragen hat. Und deswegen müssen wir auch so schrecklich aufpassen, welchen Indern wir erlauben, Offiziere zu werden. Es hat natürlich immer schon Offiziere des Vizekönigs gegeben, und gerade fangen wir an, auch Königlich-Indische Offiziere zu benennen, aber die Sache ist furchtbar heikel, weil man bei den Gesellen nie weiß, wo sie am Ende stehen, es sei denn, man behält die Knute selbst in der Hand. Es ist also nicht vorstellbar, dass einer von denen jemals mehr Befehlsgewalt erhalten wird als höchstens auf ganz subalternen Rängen …«

»Stimmt das denn – was der Major da gesagt hat?«, wollte Barry Strange am Abend wissen.

»Es klang vernünftig«, sagte Alister Mortleman, »abgesehen davon, dass er manchmal geklungen hat, als würde er denken, dass noch immer Krieg ist.«

»Ich fand, dass er ziemlich derangiert wirkte«, sagte Peter Morrison. »Er muss demnächst vors Militärgericht, wisst ihr. Hat Gelder abgezweigt, die eigentlich fürs Offizierskasino bestimmt waren.«

Sie spazierten über das zum Ausbildungslager gehörende Rummelplatzgelände. Der Sturzkampfbomber hing ungenutzt und verlassen quer über ihnen am Himmel. Einige einfache junge Soldaten, meist solche, die zur festen Belegschaft gehörten, schlenderten von Bude zu Bude.

»Selbstverständlich«, sagte Peter, »hat er nur über die Hindus gesprochen. Mohammedaner sind ganz anders, wie ich gehört habe.«

Da sie alle bisher weder mit einem Vertreter der einen noch der anderen Bekanntschaft gemacht hatten, verhallte diese Bemerkung unkommentiert.

»Wand des Todes«, Alister zeigt mit dem Finger darauf. »Lasst uns da reingehen!«

Aber der Mischling am Eingang sagte nein, das gehe nicht. Mit dem Motorrad stimme etwas nicht – ob sie in der nächsten Woche wiederkommen könnten? Was immer auch an dem Motorrad kaputt sein mochte, niemand schien große Eile zu haben, es zu reparieren, denn es stand ein paar Meter entfernt da, das Hinterrad in einer Halterung aufgebockt, die Vorderseite Richtung Wand. Auf dem Sitzpolster hatte sich, falsch herum, ein rotgesichtiger, ungepflegter Engländer um die vierzig breitgemacht, der eine dünne, schwarze Zigarre rauchte.

»Tut mir leid, Kumpels!«, sagte er.

»Ist das das Motorrad?«

»Ja. Wir warten drauf, dass der Rummelplatzbetreiber das Geld für ’nen neuen Hinterreifen lockermacht.«

»Und Sie sind der Fahrer?«

»Ja. Wenn es was zu fahren gibt.«

»Na«, sagte Barry freundlich, »wenn Sie den neuen Hinterreifen haben, dann kommen doch bestimmt viele Leute und wollen das sehen.«

Der Höllenreiter fasste den Stumpen zwischen Daumen und Finger und nahm ihn sich aus dem Mund.

»Denkt das bloß nicht«, sagte er, das brennende Ende mit den Nägeln abklemmend. »Die alten Soldaten – die, die auf dem Heimweg sind – haben zu viel gesehen, als dass sie sich um mich noch scheren. Und was die Jungs angeht, die auf dem Weg zu den Außenstationen hier durchkommen – die kriegen vom Rummelplatz Heimweh und bleiben lieber fort.«

»Wer kommt denn dann überhaupt her?«

»Manchmal einer von den Bürohengsten drüben aus dem Lager. Die hoffen, hier ’n Mädchen aufzugabeln.« Er steckte sich den Zigarrenstummel in seine Brusttasche und senkte die Stimme. »Gibt ’n paar Halb-und-halbe hier, Mischware, für ’ne Nummer. Zehn Chips pro Schuss, und für den Preis sind die gar nicht schlecht. Wenn ihr wollt, Jungs, kann ich euch mit’nander bekanntmachen.«

»Nein danke.«

Sie wandten sich um und gingen weiter.

»Viel Glück mit dem Motorrad!«, rief Barry ihm noch zu.

»Ein widerlicher Kerl!«, sagte Peter.

»Hat ja nicht viel zu lachen, auf so ’nem jämmerlichen Rum­mel, und dann noch mit ’nem kaputten Reifen … Was meinte der denn mit ›zehn Chips‹?«

»Sagt man so, für ›Rupien‹.«

»Mann«, sagte Alister, »wenn wir hier noch lange festsitzen, gönne ich mir am Ende noch die zehn Chips.«

»Zehn Chips, für die du dir vor allem Krankheiten holst«, sagte Peter. »In ein oder zwei Tagen sind wir hier weg, keine Sorge.«

»Aber wenn nicht«, sagte Barry, »dann müssen wir nächste Woche noch mal herkommen und uns die Wand des Todes anschauen. Mir tut der arme Kerl leid.«

»Unser kleiner Barry möchte gern die Mischware für ’ne Nummer kennenlernen«, frotzelte Alister.

»Ich finde das ekelhaft von ihm«, sagte Barry, wobei er Peter ansah, »aber er tut mir trotzdem leid.«

»Wir werden längst weg sein, bevor der Reifen wieder ganz ist«, versicherte ihm Peter.

Aber trotz seiner Beteuerung hing Schwermut über der kleinen Gruppe, schroff und hässlich wie der Sturzkampfbomber.

»Kommt schon!«, sagte Peter, der sich verpflichtet fühlte, etwas zur Hebung der Moral zu unternehmen. »Ich spendiere uns dreien eine Karte für das tätowierte Rhinozeros!«

Das tätowierte Rhinozeros war ausgestopft.

Vier Tage später waren sie noch immer in Kalyan, es sah folglich so aus, als könnte Barry die Wand des Todes doch noch zu sehen bekommen; und tatsächlich hatte Alister versprochen, am nächsten Tag – Heiligabend – mit ihm dort hinzugehen. Derweil machte sich ein beträchtlicher Aufruhr breit, weil ein Offizier eigens aus Delhi eingeflogen war, um zu ihnen zu sprechen. Sein Name war Oberstleutnant Glastonbury, er sah aus wie ein größerer und schlafferer Bruder von Douglas Fairbanks junior, und er war (wie Peter allen mitteilte) jemand ganz Wichtiges im Stab von Lord Wavell. Die Offiziersanwärter gingen davon aus, dass er gekommen war, um ihnen zu erklären, warum sich die Verlegung nach Bangalore schon so lange verzögerte – doch nicht nur äußerte er sich nicht dazu, er schien überhaupt nicht zu wissen, dass es eine Verzögerung gab. Er war angereist, um ihnen, wie er sagte, etwas über ihre weiteren beruflichen Aussichten in der Armee zu erzählen.

»Über hundert von Ihnen«, begann er schleppend, »sind als Offiziersanwärter für die Infanterie der Indischen Armee hierhergekommen. Ich muss Ihnen jedoch mitteilen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass mehr als nur eine Handvoll von Ihnen jemals Offiziere der Indischen Armee sein werden.«

»Was hab ich dir gesagt?«, flüsterte Alister Peter erbost zu. »Die wollen uns alle nicht. Steht ihm ins Gesicht geschrieben.«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, fuhr Oberstleutnant Glastonbury langatmig fort, »werden mindestens siebenundneunzig Prozent von Ihnen einen Offiziersbrief eines britischen Linien­regiments der Infanterie erhalten, und Sie werden Einheiten dieser Regimenter im Fernen Osten zugeteilt, sobald Sie Bangalore verlassen.«

Er wiederholte das noch mal auf vielfältige Weise die folgenden zwanzig Minuten hindurch und fragte dann, ob es Fragen gebe.

»Sir, können Sie uns sagen«, fragte Peter, »warum so wenige von uns in die Indische Armee aufgenommen werden?«

»Weil die neue Vorgehensweise ist, Einheimische, also Inder, zu Offizieren zu ernennen.«

»Warum hat man uns dann als Anwärter für die Indische Armee angenommen?«

»Weil niemand die neue Vorgehensweise vorhergesehen hat.«

»Sind wir weiterhin Offiziersanwärter der Indischen Armee?«, bohrte Peter weiter nach.

»So weit erst einmal ja. Es führt zu nichts, hier bei mir dar­über in Eifer zu geraten, mein Freund. Ich bin nur der Über­bringer der Nachricht aus Delhi. Ohnedies, ich selbst ge­höre der Kavallerie an« – matt und bequemlich hörte sich das an – »und ich weiß ohnehin nie so recht, was die Fritzen von der Infanterie vorhaben. Mit Ihnen, aber auch mit allen anderen. Nur eins weiß ich genau, und das sollten Sie besser auch gleich begreifen.«

Es schaute auf die versammelten Fahnenjunker herunter wie ein mildtätiger Jeremias.

»Das alles hier drüben geht zu Ende, verstehen Sie? In der Indischen Armee haben Sie keine Zukunft, selbst wenn Sie tatsächlich noch dort aufgenommen werden sollten. Weil die Vorstellung aus ist, Freunde. Es dauert vielleicht noch ein Jahr oder zwei, alles abzuwickeln, aber die Audienz, der Durbar, ist zu Ende. Wenn Sie also noch lang genug hier sind, dürfen Sie helfen, die Fensterläden zu schließen und die Fahne einzuholen. Und mehr schaut für Sie dabei nicht heraus.«

Bevor Oberstleutnant Glastonbury Kalyan verließ, ging er auf Ersuchen der Offiziersanwärter zum Kommandanten des Durchgangslagers und erkundigte sich, wann diese damit rechnen konnten, nach Bangalore verlegt zu werden. Die kurzangebundene Antwort lautete, dass der Kommandant es nicht wisse und es ihm überdies egal sei, und das sagte er Glastonbury auch so und ließ ihn obendrein wissen, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle.

»Dem flattern die Nerven«, erklärte Glastonbury gutgelaunt der Abordnung von Fahnenjunkern, die ihn zum nahegelegenen Flugfeld begleiteten. »Ein Kleinbürger, eigentlich kein schlechter Kerl, bloß ist er stocksteif vor Sorge, was wohl aus ihm werden wird, wenn das arme alte Britische Raj hier zusammenpacken kann.«

»Und dennoch hätte er sich Ihnen gegenüber etwas höflicher zeigen können, Sir«, sagte Peter.

»Ihm hat schon meine Aufmachung nicht gefallen.« Das Regiment, dem Glastonbury angehörte, ein britisches, waren die 49th Earl Hamilton’s Light Dragoons, und seine Uniform war, selbst noch in der für die Tropen tauglichen Variante, sehr auffällig. »Und Besucher aus Delhi mag er auch nicht. Sie bringen selten gute Nachrichten … Vielen Dank, dass Sie mich begleitet haben, Gentlemen! Sollte ich etwas Neues für Sie in Erfahrung bringen können, schaue ich bei Ihnen in Ban­galore vorbei.«

Was alles schön und gut war, aber nichts daran änderte, dass die Offiziersanwärter weiter in Kalyan vor sich hingammelten, so dass sie nun davon ausgehen mussten, auch noch die folgenden zwölf Tage über die Weihnachtszeit dort zu verbringen. Am nächsten Tag also – Heiligabend – zogen Alister Mortleman und Barry Strange spät am Nachmittag los, um der Wand des Todes einen Besuch abzustatten und herauszufinden, ob sie nun in Betrieb war. Peter, der urplötzlich unter der an diesem Ort verbreiteten Art Durchfall (»Kalyanische Kackerei«) litt, blieb zurück, um in der Nähe der Sanitäranlagen zu sein.

»Weißt du was?«, sagte Alister zu Barry. »Ich denke, ich werde mir eins dieser Mischlingsmädchen besorgen, von denen der Geselle uns erzählt hat.«

»Weißt du denn, was man da machen muss?«

»Natürlich! Du musst einfach bloß … na ja … du weißt schon.«

Barry, der es nicht wusste, nickte.

»Und du?«

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Barry, der anderen immer gern gefallen wollte und daher sein Auftreten in moralischer Hinsicht der jeweiligen Begleitung anpasste. »Aber ich hab nicht genug Geld.«

»Zehn Chips? Ich hab genug für uns beide.«

Sie kamen auf dem Rummelplatz an. Der Sturzkampfbomber ragte noch immer in genau demselben Winkel in die Luft, wie sie ihn zuletzt schon gesehen hatten.

»Vielsagend«, bemerkte Alister.

»Ich möchte mir aber nichts holen.«

»Wirst du nicht – wenn du einen von denen benutzt.«

Alister gab seinem Freund ein kleines Briefchen. Sie gingen zur Wand des Todes hinüber, vor der der Fahrer auf dem Motorrad saß; wie der Sturzkampfbomber schien er sich, seit sie ihn zuletzt dort zurückgelassen hatten, nicht bewegt zu haben.

»Ich glaube«, sagte Barry, »wir müssen jetzt langsam zurück. Um sechs findet ein Weihnachtsgottesdienst in der Garnisonskirche statt.«

»Quatsch!«, sagte Alister. Und dann zum Fahrer: »Na, hallo!«

»Hallo, ihr wieder!«, sagte der Höllenreiter.

»Wir … Wir hätten gern, dass Sie uns mit zwei der Mädchen bekanntmachen, von denen Sie erzählt haben.«

»Aber gern. Nur habt ihr jetzt keine Zeit.«

»Jede Menge Zeit haben wir! Nicht mal zum Appell antreten müssen wir, erst am Tag nach Weihnachten.«

»Eure Truppe packt grade zusammen«, sagte der Motorradfahrer.

»Unsinn. Wir kommen doch eben von dort.«

»Wie ihr meint.«

»Es wäre aber schon … für Heiligabend.«

»Mir ist das gleich«, sagte der Fahrer. »Wenn ihr zwei Mädels wollt, könnt ihr die haben. Zehn Chips für jeden, plus fünf für mich.«

Barry, der seinen Blick über den im schwindenden Licht liegenden Rummelplatz schweifen ließ, an den geschlossenen Buden entlang und den Hügel hinauf, der sich dahinter wie ein dünner, ungleichmäßiger Kegel gen Himmel schraubte, kamen einige Verszeilen aus seiner Kindheit in den Sinn:

Treu Thomas lag am Huntlie-Strand,

Da thät sein Aug’ ein Wunder schau’n;

Da sah er, wie ’ne schöne Frau

Ritt nieder am Hollunderbaum.

Treu Thomas hatte den Weg »ins Zauberreich der Elfen« gewählt und Barry, das sah er nun, hatte dasselbe getan. Treu Thomas hatte das Schicksal sieben Jahre lang zur Wanderschaft verdammt – und fürwahr, wenn Barry es richtig in Erinnerung hatte, »kehrt’ nie mehr in sein Land er heim«. Barry musste in seines zurück, solange noch Zeit war. Vielleicht war es schon zu spät, und er würde sich von allen abgeschnitten im leeren Raum auf einem Eiland wiederfinden, für immer verdammt, in dieser Kirmeswelt zu bleiben. Barry erschauderte, wirbelte herum und stürzte davon.

»Kluger Junge«, sagte der Motorradfahrer zu Alister. »War­um tust du nicht dasselbe?«

Doch Alister wich nicht von der Stelle. »Hier sind fünfzehn Rupien«, sagte er.

Der Fahrer nahm das Geld, rührte sich aber nicht.

»Durch den Eingang hinein«, sagte er zu Alister, »die erste Tür links und dann hoch auf die Galerie.«

»Und dann?«

»Such dir eine aus. Da oben findest du alles, was du brauchst.«

»Besonders privat ist das dort aber nicht.«

»Was erwartest du für fünfzehn Chips?«

Alister atmete tief ein und stapfte durch die Eingangstür.

Als Barry sich wieder in der Unterkunft der Offiziersanwärter im Durchgangslager eingefunden hatte, befand sich alles in Aufruhr. Ein eiliger Verlegungsbefehl war eingetroffen (niemand wusste genau, woher, doch war das Wort »Delhi« in aller Munde), und so sollten die dreihundert Offiziersanwärter um Mitternacht den Zug besteigen. Da die meisten kaum persönliches Gepäck mitführten, stellte das Zusammenpacken sie nicht vor Probleme, aber es waren ungeheuer viele Formalitäten einzuhalten. Ärgerlich stiefelten die zuständigen Hauptfeldwebel mit ihren dicken, in dreifacher Ausführung vorhandenen Listen hin und her, während woanders leise miteinander redend Offiziere gruppenweise beieinanderstanden, die man zuvor noch nie gesehen hatte und die sich jetzt ungeduldig mit ihren Stöckchen an die Waden schlugen.

»… Morrison, P.«

»Hier, Herr Hauptfeldwebel!«

»Mortleman, A.«

»Der ist kurz spazierengegangen. Ist gleich zurück.«

»Das will ich aber auch hoffen, Junge!«

»Er konnte ja nicht wissen, was jetzt passiert.«

»Er konnte es nicht wissen, Junge? Ich konnte das auch nicht wissen, und trotzdem bin ich hier und schreie mir die Seele aus dem Leib, oder etwa nicht? Stehe auf dem Exerzierplatz, wenn man mich braucht, und es ist mir gleich, ob es Heiligabend ist oder der Jüngste Tag. Murphy, J. … Muscateer, Earl von … Zacccharias, W. Raus mit Ihnen – und angetreten!«

»O bitte, Herr Hauptfeldwebel: Ich hab solchen Durchfall!«

»Folgen Sie der Kolonne in Ihrem Tempo bis zur Kleiderkammer und kneifen Sie die Arschbacken zusammen. Was die­­ser Haufen hier braucht, wäre ein Kindermädchen!«

»Verzeihen Sie, Herr Hauptfeldwebel, dürfte ich …?«

»Ja, Eure Lordschaft? Haben Sie Ihr Krönchen verloren, Eure Lordschaft? Nein? … Bloß Ihr Soldbuch? Sonst haben Sie nichts verloren? Nun, dann sehen Sie besser zu, dass Sie es wiederfinden, Mr. Lord Muscateer, Sir, aber wirklich, denn wenn Sie jemand danach fragt und Sie haben es nicht, dann sind Sie namenlos – oder etwa nicht, my Lord ? – und das würde bedeuten, dass Sie ruckzuck in einem Verlies verschwinden und man nie wieder von Ihnen hört. Raus !«

»… Morrison, P.«

»Herr Hauptfeldwebel.«

»Tropenfeldblusen: drei, von OA während der Verbringung zum Standort zu tragen, Hosen drei, Shorts drei. Hier unterschreiben. Geht noch mit dem Zusammenkneifen, hoffe ich?«

»Grade so, Herr Hauptfeldwebel.«

»Mortleman, A. Das ist der, der grade Gassi geht. Einer von Ihnen, meine Herren, schafft ihn mir besser gleich her, das kann ich Ihnen sagen, denn wenn er heute Nacht nicht in dem Zug sitzt, dann kriegen sie ihn wegen Desertierens dran – hat sich während stetiger Marschbereitschaft von der Truppe entfernt. Was hat er für eine Größe? … So ’n Riesenkerl, der Lumpenhund, was? Also, Sie nehmen diese Zuteilung hier für ihn mit, Mr. Morrison, P., und jetzt nichts wie raus hier mit Ihnen, bevor Ihr Gekröse am Ende noch in meiner schön sauberen Kleiderkammer landet. Murphy, J. – Tropenfeldblusen, Hosen, Shorts – und hier haben wir ja wieder Seine Lordschaft, für Sie habe ich eine ganz besondere Montur, my Lord, aus Seide …«

Gott!, dachte Peter, als er auf der Schüssel saß, seine eigene und Alisters Tropenuniform neben seinen Knöcheln aufgestapelt, wie brühwarmes Wasser, und es rauscht nur so durch. Soll ich mich krankmelden? Mich krankmelden und nicht mitfahren? Es kann Wochen dauern, bis ich dann hier wegkomme; kann sein, dass sie mich einer später angekommenen Gruppe zuteilen, kann sein, dass sie sagen, ich hätte meine Chance verpasst – und sie schicken mich einfach zurück nach Hause. Kalyanische Kackerei – aaaaaautsch – aber es wird ja wohl eine Toilette im Zug geben, man soll in fremden Ländern nicht von der Seite seiner Freunde weichen, man darf wegen einer Lappalie wie der Kalyanischen Kackerei nicht aus der Reihe treten. Pfffffchiiiijuuuuh – damit sollte nun aber für die nächsten zwanzig Minuten erst mal Ruhe herrschen.

Jemand betrat eine Kabine in der Nähe und musste sich fürchterlich übergeben. Da es keine Türen gab, sah Peter kurz hin, als er vorüberging: Alister, würgend und schwankend über den Toilettensitz gebeugt.

»Alister.«

»Peterchen. Ich bin so was von besoffen. Jetzt geht’s mir schon besser, aber wie müde ich bin! So müde. Hilf mir ins Bett, Peterchen.«

»Nix da Bett, Alister! Du musst in diese Tropenuniform hier steigen und deine Ausrüstung herrichten und um 23 Uhr auf dem Exerzierplatz stehen, damit der Transporter uns mitnimmt, so dass wir um Mitternacht den Zug besteigen können.«

»Gott, mir geht’s dreckig. Und du siehst auch schrecklich aus. Los, ins Bett!«

»Nix da Bett! Geh los und pack dein Zeug. Obwohl, ich glaube … ich muss erst noch mal kacken gehen …«

Also ging Peter noch mal kacken, und Alister übergab sich aus Kameradschaft ein weiteres Mal – und danach taumelten sie zu ihrem Basha (Zelt) und legten sich trotz Peters Mahnung, dies nicht zu tun, auf ihre Charpais (Liegen), während Barry um sie herumfuhrwerkte, um ihre Koppeltragegestelle zu bestücken und Alister dabei lüsterne Fragen zu stellen.

»Die hat mir dieses Zeug gegeben«, sagte Alister. »War kein Alkohol, glaube ich. Irgendwas, mit dem ich es besser hinkriegen würde, meinte sie. Richtig teuer, dreißig Chips extra, aber es hat wirklich gewirkt und …«

»… und hat dich jetzt übel erwischt«, sagte Barry trocken. »Heb mal deinen Hintern, bitte, Alister, sonst krieg ich die Hosen nicht hoch. Gut so. Ich schau bloß mal schnell, wie Peter zurechtkommt, und dann bin ich gleich wieder bei dir und helfe dir mit deinem Tornister und der restlichen Ausrüstung …«

»… Morrison, P.«

»Herr Hauptfeldwebel!«

»Mortleman, A. … Schön, dass Sie inzwischen auch eingetroffen sind, Mr. Mortleman. Sie haben hoffentlich einen angenehmen Spaziergang hinter sich, Sir, auch wenn Sie jetzt davon ganz grün im Gesicht sind. Murphy, J. … Eure Lordschaft … Zaccharias, W. Und jetzt ab mit Ihnen allen aufs Transportfahrzeug. Wenn Sie erlauben, Mr. Mortleman. (Herrgott, Bürschchen, was haben Sie denn getrunken? Sie stinken ja wie ein Turm der Parsen. Hat Ihnen niemand gesagt, dass Sie nie etwas trinken sollen, was diese Mädchen Ihnen anbieten?) Und hoch den Hintern – danke schön, Mr. Strange! Meine Empfehlung, die Herren, und eine angenehme Reise nach Bangalore. Es wird Ihnen dort schon gefallen, aber ich gebe Ihnen einen letzten Rat: Rühren Sie bloß niemals die Orangenbaisertorte in Ley Wongs chinesischem Restaurant an!«

Als die Weihnachtssonne über ihnen aufging, fuhren sie gerade durch Poona, ihr Weihnachtsessen verspeisten sie auf einem Ausweichgleis in Solapur.

Aufgrund von Peters Kalyanischer Kackerei und Alisters wie­der­holtem Erbrechen war die Nacht unruhig gewesen. Da es pro Waggon nur ein WC gab und jeder Waggon zwei Züge mit Fahnenjunkern transportierte, bei denen überdies in der hellen Aufregung selbst die nicht an der Kalyanischen Kackerei Leidenden den starken Drang verspürten, sich zu erleichtern, waren beträchtliche hygienische und logistische Schwierigkeiten aufgetreten. Barry tat jedoch, was er konnte, um das Unwohlsein seiner beiden Freunde zu lindern, und wurde dabei tatkräftig vom Earl of Muscateer unterstützt, der für den Fall, dass das Klo besetzt war, für den verzweifelten Peter eine raffinierte Vorrichtung ersann, bei der Kochgeschirr und ein Öleinfülltrichter zum Einsatz kamen, und der den Großteil seines besten Eau de Colognes aufbrauchte, um Alister zu säubern. Als sie schließlich Poona hinter sich gelassen hatten, war halbwegs so etwas wie Ordnung hergestellt, und als das »Dinner« in Solapur ausgegeben wurde (eine zähflüssige Pampe, die auf dem Bahnsteig aus großen Behältnissen in ihre Essgeschirre geklatscht wurde), waren sowohl Alister als auch Peter so weit wieder bei Kräften, dass sie mit aussteigen und sich zusammen mit den anderen anstellen konnten.

Erleichternd kam hinzu, dass der Spätnachmittag dort, wo sie sich nun befanden, mild und wohltuend war und es Unterhaltung in Form einer indischen Barackensiedlung gab, die sich unmittelbar unter ihnen an die Aufschüttung für das Ausweichgleis anschloss. Auf dem Bahnsteig stehend, konnten sie das bunte und malerische Treiben von bestimmt tausend Einheimischen beobachten, deren gesamter Lebensraum, wie es schien, nur etwas größer war als ein ordentlich bemessener Krocket-Rasenplatz.

»Das Quartier der Unberührbaren, oder was meint ihr?«

»Was für ein Kakerlakennest«, sagte Alister. »Gott sei Dank leben wir in einem Land, das niemals so überfüllt sein könnte.«

»Wieso denn nicht?«, sagte Lord Muscateer.

»Kannst du dir vorstellen, dass irgendwer in England jemals so leben würde? Schau mal, das verwahrloste kleine Mädchen dort – das kackt grade auf ihre eigene Türschwelle.«

»Nach letzter Nacht«, sagte Peter, »kann man daran schwerlich etwas Verwerfliches finden. Wo«, fragte er Muscateer, »hattest du denn eigentlich diesen Öltrichter her? So etwas trägt man doch nicht einfach so mit sich herum.«

»Mein alter Herr hat mir geraten, einen mitzunehmen. ›Wann immer ein Mann weiter als Calais gen Osten reist‹, hat er zu mir gesagt, ›sollte er einen großen Öltrichter mitnehmen. Du hast keine Vorstellung, wie praktisch der sein kann!‹ Und wie es aussieht, hatte mein alter Herr damit recht.«

»Ich bin ihm sehr dankbar – und dir. Der ist aber sicher sperrig im Gepäck.«

»Zumindest verliert man ihn nicht so leicht. Nicht wie ein Soldbuch. Ich konnte meins immer noch nicht finden«, sagte Muscateer zerknirscht. »Meinst du, die können deswegen wirklich Stunk machen?«

»Na ja. Ein bisschen Aufhebens werden sie schon darum machen. Ist praktisch dasselbe wie ein Personalausweis. Ich würde es denen einfach beichten.«

»Was meinte denn eigentlich dieser Hauptfeldwebel?«

»Von wegen dass sie dich in ein Verlies sperren werden? Das ist natürlich Humbug.«

»Nein, das doch nicht. Dass wir die Orangenbaisertorte in Ley Wongs chinesischem Restaurant nicht essen sollen. Warum in aller Welt sagt er uns denn so was?«

»Das hab ich gar nicht mitbekommen«, sagte Peter. »Was denkt ihr, wie viele Inder teilen sich wohl eine solche Hütte als Unterkunft?«

»Ich habe vorhin gezählt, dass zehn in eine hineingegangen sind«, sagte Barry, »und keiner ist wieder rausgekommen.«

Doch wurde weiteren Mutmaßungen, in welchem Verhältnis Mensch und Umwelt hier zueinander standen, dadurch Einhalt geboten, dass sie zu ihren Holzbänken zurückbeordert wurden. Der Zug rollte vom Nebengleis und ratterte mit ihnen über das staubige Hochland von Dekkan nach Gulbarga davon. Für einige Zeit ließen sie ihre Blicke über die gelbe, steinige Ebene schweifen, bis die Sonne hinter den Westghats versank und alles im Dunkeln lag. Daraufhin wickelten sie sich von den Beinen bis über den Bauch in Decken, dösten und fröstelten, nickten immer wieder kurz ein, schnarchten und sabberten und wimmerten, alldieweil die qualvolle Nacht dahinkroch und sich schließlich vor der guten alten Sonne davonschlich.

Um zwölf Uhr mittags waren sie die allerdings leid, als der Zug in Kodur hielt, wo sie ein Mittagessen bekamen – dicke Scheiben zadderigen Fleisches in einer glibberigen Soße, garniert mit nur halb garen Kartoffeln. Inzwischen war die Sonne ihr Feind, ein Feind, der mit jeder Minute des sich langsam dahinziehenden Nachmittags an Grausamkeit zunahm, während sie durch die Ebene auf die Berge zu krochen. Diese erreichten sie am frühen Abend und empfanden die kühle Luft als einen Segen, bis, als die Sonne sank und der Zug sich immer höher in die Berge emporschraubte, die Kühle zunehmend frischer wurde und sich schließlich in bittere Kälte verwandelte, deretwegen sie sich kläglich unter ihren einfachen kurzen Decken zusammenkrümmten wie Kinder im Armenhaus, die wissen, dass ihnen gleich Hiebe drohen.

Im Morgengrauen: die Küstenebene. Am späten Vormittag: Madras. In Madras ein Frühstück mit bitter gewordenem Tee und kleinen blassgelben Spiegeleiern (für jeden eins), und dann ein Zugwechsel.

»Letzte Etappe«, sagte Peter zu Muscateer.

Von nun an würden sie nach Westen in den Staat Mysore und nach Bangalore fahren, zunächst zurück über die Küsten­ebene und dann langsam ansteigend auf das Plateau hinauf, das gerade hoch genug lag, um die Sonne abzumildern, ohne dass es kalt wurde; und somit in ein verheißungsvolles Land voller blauer Tage und wispernder Palmbäume, ein herrschaftliches Land, in dem man von Reichtümern und heiterer Geruhsamkeit umgeben war, ein legendäres Land mit Polo-Chukkas und doppelten Whiskys und Tigerjagden, ein annehmliches Land, in dem ein Heer von Dienern sich vor Fahnenjunkern verbeugte und sich um alles kümmerte und Offiziersbriefe ausgegeben wurden wie bunte Bouquets auf einem Ball. Mit einem Ruck und einem Schlingern wand sich der Zug aus Madras heraus: Heute Abend Bangalore – dieser Ruf schallte durch die Waggons; Abendessen in Bangalore – SAGT ES ALLEN WEITER!

Sie erreichten Bangalore um 2.30 Uhr in der Nacht.

Als sie nun endlich angekommen waren, sollte sich zeigen, dass man sie sehnlichst erwartet hatte. Ein mütterlicher Stabsfeldwebel teilte sie, unter der Aufsicht eines plattnasigen ­Gurkha-Hauptmanns, der ihn jedoch nicht behelligte, in Züge auf und wies sie in eine ganze Flotte von Pritschenwagen mit offenem Verdeck ein, die sie durch enge Basarstraßen und dann durch Vororte mit schemenhaft erkennbaren, großzügigen Wohngebäuden transportierten und auf einem flachen Sandplatz anhielten, scheinbar mitten im Nirgendwo, tatsächlich aber mitten auf dem Gelände der Offiziersschule. Denn auf beiden Seiten des Sandplatzes tauchten aus dem Dunkel der Nacht lange, graue Gebäude mit niedrigen Verandas auf, von denen jedes, wie man ihnen mitteilte, eine Messe war, und in einer davon wurden sie alle unverzüglich und reichlich verköstigt.

Währenddessen hatten sich indische Träger in großer Zahl eingefunden und wurden von dem mütterlich wirkenden Stabs­feldwebel und zwei friedfertigen Helfern so aufgeteilt, dass je ein Träger für vier Fahnenjunker zur Verfügung stand. Jeder der Träger klaubte nun umgehend die Gurte mit der Feldausrüstung seiner vier jungen Sahibs auf und führte sie dann, sich höflich entschuldigend, dass er die Koffer erst später holen könne, im Trab trippelnd (nicht schneller als die Engländer gingen) zu den Quartieren der Fahnenjunker, die aus Reihen von parallel angelegten, einstöckigen Basha-Zelten bestanden, von denen jedes fünfzehn Abteilungen enthielt und folglich einen Zug von dreißig Fahnenjunkern, immer zwei Kameraden zusammen, beherbergte. Die Betten waren mit sauberem Leinen bezogen und mit Moskitonetzen ausgestattet; in den angrenzenden Duschen gab es heißes Wasser; neben jedem Kissen standen ein Trinkglas und eine Karaffe; doch was auch neben jedem Kissen lag, und weniger als Annehmlichkeit gedacht, war eine höfliche Notiz, dass man Mr. … (je nachdem) in der OS willkommen heiße und um 6.15 Uhr am folgenden Morgen zum Appell auf dem Sandplatz zwischen den beiden Messegebäuden erwarte. Es war bereits 4.45 Uhr.

Also traten sie um 6.15 Uhr an (nachdem sie von ihren Trägern mit Tee und grünen Bananen um 5.45 Uhr geweckt worden waren), und nun wurde alles ganz klar organisiert: Sie würden drei Kompanien bilden, zwei mit drei Zügen und eine mit vier; Kp A und B würden eine der beiden Messen benutzen (»­Clive«), während Kp C mit ihren vier Zügen die andere und etwas kleinere Messe (»Wellesley«) benutzen würde. Jeder Zug würde von einem Hauptmann der Indischen Armee kommandiert und zu weiten Teilen auch ausgebildet werden, disziplinarisch unterstützt von einem Junior-Unteroffizier aus den Reihen der Offiziersanwärter; jede Kompanie würde von einem Major der Indischen Armee kommandiert werden, unterstützt von einem (britischen) Stabsfeldwebel und einem Senior-­Unteroffizier aus den Reihen der Offiziersanwärter. Derzeit gab es sechs weitere Kompanien mit Offiziersanwärtern in der OS, die sich in unterschiedlichen Stadien der üblichen Ausbildung befanden, und darüber hinaus eine indische Kompanie (versuchsweise), deren Status noch nicht feststand und deren Angehörigen, sollten sie zufällig auf einen davon treffen, mit höflicher Gleichgültigkeit zu begegnen war. Das gesamte Schützenfest (wie der mütterliche Stabsfeldwebel erklärte) wurde vom Kommandeur, dem Brigadegeneral Percy de Glanville Man­wood, Offizierskreuzträger des Orders of the British Empire, ehemals bei den Chota Nagpur Lancers, befehligt – »und fragen Sie mich nicht, warum ein Offizier eines Regiments der berittenen Truppe Offiziere der Infanterie ausbildet, schließlich bin ich ja bloß ein einfacher Mann, meine Herren, der sich um seinen eigenen Kram kümmert. Und das beinhaltet, Sie nun freundlich zu bitten, sich Zug für Zug zur Kleiderkammer zu begeben, wo Sie die richtige Ausrüstung erhalten werden, und hübsche schwarze Transportkisten, worin sie dieselbe aufbewahren können«.

Woraufhin der 1. Zug von Kp A von demjenigen Fahnenjunker, den man für den wahrscheinlichsten Kandidaten für die Aufgabe des J. U. O. ansah (einen vormaligen Stabsgefreiten der Militärpolizei), in Marsch gesetzt wurde – und der Rest ließ sich auf den Verandas nieder, um zu warten.

»Dafür, dass wir jetzt hier herumsitzen, hätten sie uns nicht so früh aus den Betten holen müssen«, sagte Alister verärgert.

»Hier im Orient«, sagte Peter, »muss jeder früh aufstehen. Es ist ungesund, im Bett liegen zu bleiben.«

»Und wenigstens«, sagte Barry, »können wir hier zusammen rumsitzen.«

Denn so hatte es sich zum Glück ergeben. Bei der Einteilung der Fahnenjunker in Züge war man zum Teil alphabetisch und zum Teil snobistisch vorgegangen, so dass diejenigen, die von Privatschulen kamen und besseren Regimentern angehörten, strikt von ihren weniger begünstigten Kameraden getrennt wurden, weil Brigadegeneral P. de G. Manwood (ungeachtet der offiziellen, genau gegenteilig lautenden Devise) der Meinung war, dass man sich untereinander am wohlsten fühle, wenn man von Menschen mit demselben gesellschaftlichen Hintergrund umgeben sei. Doch bestand auch das Bedürfnis, sich in dieser Angelegenheit zumindest auf dem Papier zu der offiziellen Doktrin zu bekennen, und so war man zu einem wohlüberlegten Kompromiss gelangt, wonach jeder Zug gesellschaftlich eine homogene Einheit bildete, jede Kompanie jedoch, insgesamt betrachtet, eine bunte gesellschaftliche Mischung darstellte – Kp A beispielsweise bestand demnach aus einem Zug mit jungen Männern aus der Oberschicht, einem anderen mit jungen Männern aus nicht so angesehenen Privatschulen und einem mit … was Alister »Proleten« nannte. (Das war der, der eben, angeführt von dem ehemaligen Polizisten, losmarschiert war.) Nun, Peter Morrison, Alister Mortleman, Lord Muscateer und Barry Strange gehörten alle einem alpha­betischen Block aus der Oberschicht und der gehobenen Mittelschicht an, die den 2. Zg von Kp C bildete; und so kam es, dass sie, während sie in der Tat das Vergnügen genossen, gemeinsam herumzusitzen, wie Barry gesagt hatte, zudem sehr lange miteinander herumsaßen, weil der 2. Zg der Kp C zwar nicht gesellschaftlich, aber numerisch gesehen ganz hinten stand. Sie saßen tatsächlich immer noch miteinander herum, als ihr Mittagessen (oder genauer gesagt die Lieferung eines indischen Henkelmanns) schon über zwei Stunden zurücklag.

»Ich dachte immer«, sagte Barry, »dass in Indien alle ein Mittagsschläfchen machen.«

»Das wurde 1941 abgeschafft«, erklärte Peter ihm. »Damit wurde zu viel wertvolle Zeit verschenkt, die man für die Ausbildung nutzen konnte.«

»Natürlich. Deshalb stehen wir auch so früh auf – damit wir den wertvollen Teil unserer Ausbildung absolvieren, bevor es zu heiß wird.«

»Hier oben wird es nie zu heiß. Wir befinden uns hier in Klimazone I.«

»Und deswegen meinen die, sie können beides machen«, grummelte Alister, »uns beim ersten Geierfurz wecken und uns den ganzen Nachmittag lang schinden.«

»Offiziere«, erinnerte ihn Peter, »müssen bereit sein, sehr lang am Stück zu arbeiten. Wenn in jemandem ein Gewerkschaftlerherz schlägt, ist er hier fehl am Platz.«

»Außerdem«, sagte Muscateer, der gerne herumsaß, »kannst du nicht behaupten, dass sie uns jetzt gerade besonders schinden.«

»Mich wundert aber schon, dass sie sich nicht irgendetwas Sinnvolles ausgedacht haben, was wir tun könnten«, sagte Peter. »Ich habe keinen Offizier mehr gesehen, seit wir letzte Nacht am Bahnhof angekommen sind.«

(Was Peter jedoch nicht wusste, war, dass alle Offiziere der OS, nachdem eine dringliche Anweisung aus Delhi eingetroffen war, an einer von Brigadegeneral Manwood einberufenen Sonderbesprechung teilnahmen, um die Modernisierung der Ausbildungsinhalte zu besprechen – ob beispielsweise den Offiziersanwärtern die Handhabung des Stocks einexerziert wer­den sollten oder nicht.)

»Ich frage mich«, sagte Barry, »was für einen Offizier unser Zug wohl bekommt.«

»Auf jeden Fall einen von der Indischen Armee«, sagte Alister.

»Macht das irgendeinen Unterschied?«

»Einer meiner Urgroßväter war bei der Coldstream-Garde«, sagte Muscateer, »und der musste in die Indische Armee wechseln, nachdem es irgendwelche Unannehmlichkeiten gegeben hatte wegen der Ehefrau eines anderen. Normalerweise wurde man nach solchen Streitigkeiten bloß in ein Linienregiment versetzt, damit man aus London raus war. Aber mein Urgroßvater war so ein schlimmer Kerl, dass sie ihn hierhergeschickt haben. Na, klärt das die wichtigsten Fragen?«

»Und was ist dann mit ihm passiert?«

»Er ist in ein Duell geraten, mit einem Radscha. Auf Elefanten. Aber tags darauf wurde bekannt, dass ihm als Erbe der Titel zugefallen war, also wurde das schnell vertuscht. Er hat hinterher immer wieder gesagt, dass die Offiziere der Indischen Armee die schlimmsten Stiefellecker überhaupt sind, wenn man adelig ist. – Aber ein paar von euch haben sich ja die Indische Armee ausgesucht, oder? Tut mir leid und so.«

»Ich bin Offiziersanwärter für die Indische Armee«, sagte Peter. »Aber der Mann, der uns in Kalyan besucht hat, hat mir wenig Hoffnung gemacht.«

»Ich hoffe ja auf die Rifle Brigade«, sagte Alister und zeigte mit einigem Eifer auf sein Mützenabzeichen.

»Und ich gehe zu den Wessex Fusiliers«, sagte Barry stolz. »Da waren schon meine Brüder, wisst ihr?«

»Ja. Verstehe«, sagte Muscateer.

»Zu welchem Regiment gehst du denn, Muscateer?« – das kam von Alister.

»Ich hab es bisher immer mit meinem heimatlichen Haufen gehalten – den Wiltshires.«

»Ich hätte gedacht, jemand wie du geht zur Garde.«

»Da war man von uns seit Urgroßvaters kleiner Affäre nicht mehr sehr angetan. Und mein alter Herr sagt sowieso, ein Mann sollte an der Seite seiner Landsleute stehen. Er sagt, dass die Kerls, die am meisten taugen, das immer schon so gemacht haben, und dass eure vornehmen Regimenter in London bloß ein Haufen Kleinkrämer sind, die andern mit ihrer warmen Lanze gern im Abflussrohr rumstochern.«

»Ziemlich derb, oder?«

»Mein alter Herr drückt sich gern drastisch aus«, sagte Muscateer mit einem trägen, liebevollen Lächeln. »Da kommt der nette Stabsfeldwebel. Ich glaube, jetzt sind wir endlich dran.«

In der Kleiderkammer teilte man jedem von ihnen zu und verlangte dafür eine Unterschrift: fünf neue Khaki-Drillich-Garnituren, deren Stoff von deutlich schlechterer Qualität war als bei den vorherigen; einen Fliegenwedel; ein Fahrrad; drei Paar Pyjamas aus grobem Flanellstoff (ob man sie wollte oder nicht); zehn Paar kurze weiße Unterhosen der Art, die beim Pinkeln nur schwer zu handhaben waren und von denen man Leistenflechte bekam; einen Tropenhut; ein Zelt; ein Feldbett; einen Feld-Waschstand; eine Feldflasche aus Leder zum Umhängen; eine Bibel und ein Gebetbuch (um eine Beerdigungszeremonie abhalten zu können, falls kein Kir­chenvertreter verfügbar war) sowie einen Rohrstock. Sie erhielten zudem, wie der mütterliche Stabsfeldwebel angekündigt hatte, je eine schwarze Transportkiste aus Metall, in die alles hineinpasste außer dem Fahrrad. Aus irgendeinem Grund, der ihnen nicht recht klar wurde, mussten sie für all dies selbst zahlen, so der Heereslieferant, und zwar in Raten, die ihnen in den folgenden sechs Monaten vom Sold abgezogen würden (der fortan etwa dem eines Unteroffiziers entsprach). Als alles in Augenschein genommen und verstaut worden war, kamen ihre Träger von den Quartieren herübergetrottet, um die gefüllten Transportkisten abzuholen, während sie selbst auf ihren neuen Fahrrädern zum Tee fuhren, mit Ausnahme von Lord Muscateer, der das Fahrradfahren nie gelernt hatte und seines daher schieben musste.

Am nächsten Tag begann die eigentliche Ausbildung. Von 6.15 bis 7.45 Uhr wurden sie in der Handhabung ihrer neuen Stöcke gedrillt. Nach dem Frühstück hatten sie Urdu, das ihnen in Vierergruppen von würdevollen, weiß gewandeten Munshis beigebracht wurde, die sie mit »Sahib« anredeten und erwarteten, dass man auch ihnen diese Höflichkeit erwies. Peter Morrison war froh, dass sie Urdu lernten, weil er glaubte, dass damit seine Chancen wuchsen, in die Indische Armee aufgenommen zu werden – denn warum, sagte er zu Barry, sollten die Behörden sie Urdu lernen lassen, wenn nicht einige von ihnen es am Ende auch brauchen würden? Barry, der jedermann gerne glücklich sah, stimmte Peter zu; aber Alister, der sehr schnell einen Riecher dafür entwickelt hatte, wie die Dinge in Indien gehandhabt wurden, sagte, dass Urdu-Unterricht einfach ein alter Brauch war, den die Verwaltung entweder aus Lethargie oder aus Sentimentalität noch nicht abgeschafft hatte.

Später am Morgen wurden ihnen die Kompanieoffiziere vorgestellt. Kp C sollte von einem Mann namens Major Baxter befehligt werden, einem fröhlichen und lauten kleinen Mann aus einem indischen Regiment, das so wenig Renommee besaß, dass es schon wieder dafür berühmt war. Major Baxter hatte einen Kopf so groß wie ein Elch und trug Shorts, die ihm fast einen Fuß weit über die Knie hinabhingen, was aber vielleicht nicht schlecht war, weil seine Beine aussahen wie die von Spinnen, nur mit Strümpfen und Schuhen bekleidet. Was die Zugführer anging, so gab es einen (gutaussehend und mürrisch), der Hauptmann Betteredge hieß, für Zug Nummer 1, und einen anderen namens Hauptmann Lafone, dessen Stimme noch gewöhnlicher klang als die von Major Baxter, für Zug Nummer 3, und noch einen anderen für Nummer 4; aber aus irgendeinem Grund gab es für Zug 2 noch keinen Zugführer, was ihnen das Gefühl gab, übergangen worden zu sein. Major Baxter sagte jedoch, dass in Kürze ein Offizier eintreffen würde und dass Peter Morrison, der aufgrund seines großen und verlässlichen Gesichts bereits zum J. U. O. ernannt worden war, bis dahin für ihr Wohl und ihr Benehmen Verantwortung trage.

Der KpFw für Kp C war eine Enttäuschung. Sie hatten alle gehofft, sie würden den mütterlichen Stabsfeldwebel bekommen, der bisher alles und jeden im Alleingang im Griff gehabt hatte, doch stellte sich nun heraus, dass er der Kompaniefeldwebel von Kp A sein würde, während Kp C ein Mann namens Stabsfeldwebel Cruxtable zugeteilt war. Dieser, aus dem Wiltshire Regiment stammend, hatte viel zu früh schon Fett angesetzt und besaß den scheelen Blick eines Straßenköters, der befürchtet, irgendwer könnte ihn mit einem Tritt aus dem Weg befördern, bevor er seinen Haufen fertig gemacht hat. Obwohl Muscateer, wie üblich seinen »Mannen« und seiner Heimat­erde treu verbunden, vorgab, Cruxtable in Ordnung zu finden (»einer von denen, die schon eine Weile hier sind«), mochte ihn keiner, und alle misstrauten ihm vom ersten Augenblick an. In Wahrheit jedoch, das fanden sie später heraus, hätte ihnen Schlimmeres widerfahren können; denn Cruxtable war schlicht und einfach ein räudiger Hund, und wie die meisten räudigen Hunde ließ er andere gern in Ruhe, in der Hoffnung, dass man ihn dann ähnlich behandelte.

Nachdem ihnen ihre Vorgesetzten vorgestellt worden waren, hielt Major Baxter den Offiziersanwärtern einen Vortrag darüber, welches Betragen und welche Geisteshaltung von ihnen erwartet wurde. Im Allgemeinen handelte es sich um negative Vorgaben: Die Fahnenjunker sollten sich nicht betrinken, kein Geld bei einheimischen Geldverleihern leihen und keine einheimischen Frauen frequentieren (eine Kategorie, unter die aus diversen Gründen auch Eurasierinnen fielen); sie hatten sich nicht für indische Politik zu interessieren und sollten nicht barfuß umherlaufen (um sich keine Hakenwürmer zu holen), und unter überhaupt gar keinen Umständen durften sie sich über irgendetwas beschweren, das mit der OS zu tun hatte. Sofern sie sich an diese einfachen und sinnvollen Bedingungen hielten, sagte Major Baxter, würden sie alle eine angenehme sechsmonatige Ausbildungszeit hier verbringen und am Ende obendrein noch den Offiziersbrief bekommen. Scheitern war ein in Bangalore gänzlich unbekannter Gedanke (nachdem es für die Regierung kostspielig genug war, die Leute dorthin zu schicken), es sei denn im Fall von Geistesgestörtheit, Tod oder dem dreimaligen Einfangen einer Geschlechtskrankheit, was der Grund dafür war, warum sie nicht mit Einheimischen ins Bett gehen sollten. Wenn sie irgendein persönliches Problem hätten, könnten sie damit jederzeit zu ihm kommen, doch, offen gesprochen, die Herren, werde von angehenden Offizieren erwartet, dass sie ihre Probleme für sich behalten können und nicht um Mitgefühl bettelnd herumlaufen müssen wie ein Haufen unkultivierter Rekruten. Und jetzt allen einen guten Morgen und ein sehr schönes Wochenende … oh, und eins noch. Obwohl in der OS nicht offiziell eine Kirchenparade vorgeschrieben sei, so werde es doch für wünschenswert erachtet, dass an den Sonntagen gut dreißig Prozent der Anwärter die in der Garnisonskirche stattfindende Morgenandacht besuchten. Stabsfeldwebel Cruxtable werde daher jeweils einen von drei Männern auslosen, ungeachtet der individuellen Glaubensrichtung, zumal zukünftige Offiziere ohnehin lernen müssten, persönliche Glaubensfragen gegenüber öffentlichen Pflichten hintanzustellen. Die einzigen Anwärter, die befreit waren, sollte das Los auf sie fallen, seien diejenigen, die zur Auswahl der Spieler beim Cricketturnier der OS gehörten, welches am Sonntag um elf Uhr beginne. Aus diesem Anlass werde Seine Hoheit der Maharadscha von Dharaparam ihnen die Ehre seiner Anwesenheit erweisen. Sollte sich Seine Hoheit einem Fahnenjunker in vertraulicher Weise nähern, so sei dieser hiermit gewarnt, sich in Acht zu nehmen, doch solle man dabei höflich bleiben.

Ausgehend von ihrer schulischen Vorgeschichte waren aus den Neuzugängen einige Fahnenjunker ausgewählt worden, am folgenden Sonntag am Cricketturnier der OS teilzunehmen. Zwei davon waren Peter und Alister. Peter, der einmal in einem erfolgreichen Jahr nur knapp daran gescheitert war, in die Schulelf aufgenommen zu werden, warf langsame Off-Breaks, deren immer exakt gleiche Geschwindigkeit und Flugbahn selbst die aufmerksamsten Gegner derartig einlullte, dass sie in kürzester Zeit zur Abschätzigkeit neigten und fatale Fehler machten. Alister dagegen war als Schlagmann ein Selbstdarsteller, der seine rechte Hand zu wenig unter Kontrolle hielt, aber dennoch für Winchester gespielt hatte.

Die Veranstaltung war nichts Besonderes, verlief aber auf annehmliche Weise, denn das Cricketfeld der OS war ansprechend gelegen und verfügte über eine der wenigen Gras-Pitches in ganz Indien. »Napier« (Peters und Alisters Mannschaft) war zuerst auf dem Feld und entließ »Curzon« (die gegnerische Mannschaft, aus der drei an Peters langweiligen Off-Breaks gescheitert waren) mit 194 Runs. Als »Napier« nach der Teepause am Schlag war, sammelte die Mannschaft schnell 97 für 2 (mithilfe aggressiver 34 Runs, die Alister am ersten Wicket holte) und verlegte sich danach darauf, langsam und ohne viel Risiko auf einen sehr wahrscheinlichen Sieg hinzuarbeiten. Als es 150 für 3 stand, schlug Peter, der erst als Nummer 10 an die Schlaglinie sollte und nicht davon ausging, dass es so weit kommen würde, Alister vor, eine Runde ums Spielfeld zu drehen, und sei es nur, damit dieser dem satten Gegluckse entkam, mit dem Seine Hoheit der Maharadscha von Dharaparam Alister von der Loge im Pavillon aus seine Gunst bezeigte.

In der entgegengesetzten Richtung drehten zwei Männer mit Panamahüten und leichten An­zügen ihre Runde ums Spielfeld. Obwohl einer von ihnen groß und schlaff und der andere dünn und drahtig aussah, gingen sie in makellosem Gleichschritt und stellten somit ein Musterbeispiel für entspanntes und elegantes Vorankommen dar.

»Das ist Oberstleutnant Glastonbury«, sagte Alister. »Der Kerl, der bei uns in Kalyan war.«

»Und der Kleinere heißt Hauptmann Detterling«, sagte Peter. »Dem bin ich ein- oder zweimal in England begegnet – in meiner Schule. Er ist der Einzige, der jemals ein Double Century in einem Spiel für die Schulmannschaft geholt hat. Natürlich vor meiner Zeit.«

Als Glastonbury und Detterling sich den beiden Fahnenjunkern näherten, zogen sie, mühelos miteinander in Einklang, gleichzeitig ihre Hüte. Auf dem von Detterling prangte das Hutband der Butterflies, wie Peter bemerkte, und auf Glastonburys das der Eton Ramblers. Nachdem Alister Detterling vorgestellt worden war und man sich in allen nötigen Kombinationen die Hände geschüttelt hatte, setzten die beiden Offiziere ihre Hüte wieder auf und machten kehrt, als wollten sie die Jüngeren nun begleiten.

»Wir gehen natürlich«, sagte Peter höflich, »mit in Ihre Richtung.«

»Nein«, sagte Detterling. »Sie beide sind Spieler – wir sind bloß Zuschauer.«

»Also schließen wir uns Ihnen an«, sagte Glastonbury.

Bevor Peter Zeit hatte, die ganze Tragweite dieses Höflichkeitsbeweises zu ermessen, begann Glastonbury zu erklären, warum sie hier waren. Er selbst war aus Delhi angereist, um dem Kommandeur der OS einzubläuen, dass bestimmte ziemlich radikale Änderungen am Ausbildungsprogramm vorzunehmen seien.

»Wir hatten sie gebeten, selbst dafür Sorge zu tragen«, sagte Glastonbury, »und uns dann mitzuteilen, wie sie es gelöst haben. Nun haben sie tatsächlich aber überhaupt nichts getan, also wurde ich hergeschickt, um ihnen ein bisschen auf die Pelle zu rücken. Die lassen Sie immer noch Urdu lernen, wie ich höre?«

»Ja«, sagte Alister, »und den Stockdrill. Das ist im Grunde alles, was sie uns bisher beigebracht haben.«

»Also, Urdu wird sicherlich abgeschafft«, sagte Glastonbury, »aber das Stocktraining bleibt Ihnen wohl erhalten.«

»Warum, Sir?«, sagte Alister missmutig.

Glastonbury blickte Alister einfach nur mit ein wenig größeren Augen an, als sollte die Antwort jeder geistig gesunden Person eigentlich offenkundig sein, und wechselte das Thema.

»Hauptmann Detterling ist als Ausbilder angereist«, sagte Glastonbury und nickte zu seinem Gefährten hinüber.

»Für unseren Zug? Wir haben noch keinen.«

Aus unersichtlichen Gründen tauschten Detterling und Glas­tonbury schuldbewusste Blicke aus.

»Ich fürchte, nein«, sagte Detterling. »Ich soll Militärstrafrecht unterrichten, und wie sich die Zusammenarbeit der Infanterie mit Panzern gestaltet, in der gesamten OS. Ich bin Kavallerist, verstehen Sie? Aus demselben Regiment wie Giles hier.«

Es kam Peter in den Sinn, dass, wo die beiden doch ganz offenbar Freunde und nahezu Altersgenossen waren, ein auffälliger Unterschied zwischen ihnen bestand, was ihren Rang betraf; zweifelsohne war Glastonburys Stellung als Oberstleutnant nur vorübergehend, doch gab es keinen Grund, warum Detterling nach beinahe sechs Jahren Krieg nicht ebenfalls durch ein Brevet auf einen vergleichbaren Posten hätte gehoben werden sollen. Es dämmerte Peter zudem, dass Detterling, als er ihn vor kaum drei Monaten zuletzt in England gesehen hatte, an ihrer beider alten Schule, gerade frisch dazu berufen worden war, Rekruten in den verschiedenen Ausbildungslagern zu sichten, um geeignete Kandidaten für die Kavallerie zu finden. Da ein solcher Posten langjährige Erfahrung voraussetzte, behielt man ihn normalerweise lange; und da dem so war, musste Detterlings Auftauchen in Bangalore noch erhellt werden.

»Ich nehme an«, sagte Detterling, die Frage vorwegnehmend, die Peter sich in seiner Wohlerzogenheit nicht zu stellen getraut hätte, »dass Sie sich fragen, was wohl aus dieser Arbeit von mir in England geworden ist. Kavallerieauswahloffizier der Panzertruppen. Die Sache war die, mein lieber Freund, dass ich keine Rekruten dafür finden konnte. Vielmehr das Gegenteil: Ich habe einfach alle abgeschreckt.«

»Wie denn das?«

»Für Panzer habe ich mich noch nie begeistern können. Ich habe denen stets gesagt, wie nett es doch wäre, wenn wir weiterhin Pferde hätten, und wie schrecklich es ist, dass es jetzt Panzer sind.«

»Werden Sie uns das auch erzählen? Wenn Sie uns zur Zusammenarbeit der Infanterie mit Panzern instruieren?«

»Ich gehe nicht davon aus, dass wir damit weit kommen werden, wenn es so weit ist – oder, Giles?«

»Es wird weiterhin im Ausbildungsplan sein«, sagte Glastonbury mit leicht mahnendem Ton.

»Aber da es nur wenige Panzer in Indien gibt«, sagte Detterling freudig, »werden uns keine zur Verfügung stehen, um damit Übungen abzuhalten.«

»Die Theorie kann man trotzdem lernen.«

»Mit der Theorie habe ich kein Problem«, sagte Detterling, »es sind bloß die Panzer an sich, die ich nicht ausstehen kann. Hässliche Brocken aus Metall, die so einen furchtbar widerlichen Geruch verbreiten … Ich glaube, ich werde Indien mögen«, sagte er, als er übers Cricketfeld hinweg zwei alte Damen erblickte, die, von turbantragenden Pferdeknechten unterstützt, einen Landauer mit geöffnetem Verdeck bestiegen. »Hier herrscht eine ähnliche Atmosphäre wie damals in Malta, als ich ’37 ins Regiment eingetreten bin. Du weißt schon, Lanzenreiter als Leibwache für den Kommandierenden General und die ganzen liebestollen Ehefrauen in ihren langen, weißen Kleidern.«

»Bleibt vielleicht nicht mehr lange so«, sagte Giles Glastonbury.

»Das macht einen Teil des Charmes aus. Zufälligerweise«, sagte Detterling, »befindet sich eine Art Cousin von mir hier. Muscateer heißt er. Kennt den jemand?«

»Ja, Sir«, beeilte sich Alister zu sagen.

»Na, dann treiben Sie ihn auf, seien Sie so gut, und wir gehen heute Abend alle zusammen essen … also, falls Sie Zeit haben.«

Peter und Alister sagten, sie hätten Zeit, und die Wellesley-Messe wurde als Treffpunkt für den Abend benannt. Einige Minuten später lieferte »Napier« den gewinnbringenden Schlag, woraufhin sie alle vier applaudierten, obschon Detterling sich zutiefst unzufrieden zeigte über die Art, wie der Schlag ausgeführt worden war. Es folgte ein großes Gewühl aus Turbanen und Kummerbunden; die beiden alten Damen in dem Landauer zogen erhaben übers Gras von dannen; Seine Hoheit, weiterhin vor sich hin glucksend, wurde in seinem Lagonda aus dem Jahr 1924, der noch immer in den alten Harrow-Farben lackiert war, weggefahren; und Peter und Alister gondelten in Rikschas durch die süße, diesige indische Dämmerung, um Muscateer zu finden (der den ganzen Tag damit verbracht hatte, das Aufsitzen auf sein Fahrrad zu üben) und sich für das Abendessen mit Detterling umzuziehen.

Weil Glastonbury und Detterling, was das Essen betraf, zu anspruchsvoll waren, um ein Dinner im Offiziersclub von Bagalore zu riskieren (»undefinierbare braune Suppe und hausbackenes Kantinenurry, vermutlich«), wurde beschlossen, dass man in Ley Wongs chinesisches Restaurant gehen würde, wo die Küche, wie Glastonbury ihnen verriet, abwechslungsreich sei und man, wie überall im Orient, über lange Zeit Kredit gewährt bekomme. Nicht dass Detterling bei einem Abendessen wie diesem darauf angewiesen sei, doch könne sich für die drei Offiziersanwärter eine persönliche Einführung bei Ley Wong durch Glastonbury als nützlich erweisen, weil Ley Wong jederzeit Schecks für sie flüssig machen und sie darüber hinaus zum Spezialpreis von seinen ganz besonderen Dienstleistungen als Zuhälter Gebrauch machen lassen würde.

»Mir gibt er immer fünfundzwanzig Prozent Nachlass«, sagte Glastonbury, als sie in dem von Pferden gezogenen Gharri saßen, das sie dort hintransportierte, »und sorgt dafür, dass die Mädchen das dann auch tun.«

»Wie kommt es, dass du ihn so gut kennst?«, fragte Detterling. »Du warst hier doch nie stationiert, soweit ich weiß.«

»Ich habe ihm vor einigen Jahren einen großen Dienst erwiesen. Damals, als ich zum ersten Mal hier unten war – du erinnerst dich« – das war nur für Detterling bestimmt – »nach diesem kleinen Problem, das ich in Tunesien hatte.«

Detterling erinnerte sich und nickte. Alister öffnete den Mund, um zu fragen, was es mit dem »kleinen Problem« auf sich hatte, doch ein Blick von Peter gebot ihm Einhalt.

»Nun, als ich zum ersten Mal nach Bombay kam«, sagte Glastonbury, »wusste keiner so recht, was er mit mir anfangen sollte – ich war vollkommen unerwartet hier aufgetaucht, verstehen Sie –, also haben sie mich zum Leiter des Hygiene- und Versorgungsamtes für Südindien gemacht. Ich musste zusammen mit einem Sanitätsoffizier und einem Kaplan her­umfahren und all die Lichtspielhäuser und Restaurants und Bars inspizieren und dann darüber berichten, ob sie für unsere kerngesunden britischen Soldaten geeignet sind oder nicht. Sie können es sich in etwa vorstellen, oder?«

Sie konnten, und Muscateer merkte an, dass sein alter Herr 1944 in Frankreich etwas ganz Ähnliches gemacht habe.

»Und er hat eine kleine Posse daraus gemacht«, sagte Detterling. »Ihr alter Herr hat jedem Bordell zwischen Calvados und den Ardennen eine Armeelizenz beschafft, bloß um Mont­gomery zu ärgern. Sie mussten jemanden hinter ihm herschicken, um die alle wieder zu schließen.«

»Nun denn, im Lauf der Zeit«, fuhr Glastonbury nach diesem Einwurf fort, »kam das Hygiene- und Versorgungsamt auch nach Bangalore, und der erste Ort, den wir unter die Lupe zu nehmen hatten, war Ley Wongs chinesisches Restaurant. Noch bevor wir damit angefangen hatten, kam ein indischer Informant zu uns und meldete, dass Ley Wong Schecks einer japanischen Bank angenommen hätte, das hieß, er hatte mit den Feinden des Königs und Kaisers Geschäfte gemacht. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass der Informant der Besitzer eines konkurrierenden Restaurants war – aber der Anzeige muss­te dennoch nachgegangen werden. Eigentlich war ich ein­deutig verpflichtet, sofort zur Polizei zu gehen.

Aber der Gedanke, dass da jemand japanische Schecks zu Geld machte, war so hanebüchen, dass ich dachte, den muss ich mir mal persönlich anschauen. Und er erwies sich als ein sehr netter kleiner Mann. Die Geschichte war die, dass er einen guten Kunden hatte, einen britischen Offizier, der vor dem Krieg ein wenig Geld bei einer japanischen Bank angelegt hatte und nun nicht einsah, warum er nicht in den Genuss desselbigen kommen sollte. Ley Wong sah das ebenso – insbesondere, weil sein Kunde bereit war, ihm fünfzig Prozent des Gegenwerts zu überlassen. Und außerdem, sagte mir Ley Wong, habe er es als interessante Herausforderung gesehen.«

»Und er hat es geschafft, dass die Schecks eingelöst wurden?«

»Ja! Seiner orientalischen Seele sei’s gedankt. Er ließ sie einfach über neutrales Gebiet laufen. Das war natürlich nicht so leicht, wie es klingt. Aber Ley Wong brachte es zustande, eine Art Rohrleitungssystem zu etablieren, über das er die Schecks nach Japan schickte, und das Bargeld erreichte ihn dann auf umgekehrtem Weg. Er musste den Mittelsmännern ein kleines Vermögen dafür bezahlen und verlor große Summen durch die Umtauschkurse en route, aber am Ende blieben ihm doch noch zwanzig Prozent aus dem Geschäft, und alle Beteiligten waren sehr zufrieden. Und ich, wo ich so darüber nachdachte, wollte auch nichts dagegen sagen. Wenn die Japaner schließlich dumm genug waren, Schecks auszubezahlen, die ein Engländer eingereicht hatte, wer stand denn dann am dümmsten da?«

»Es sei denn«, wandte Muscateer entschuldigend ein, »auf den Schecks waren kodierte Nachrichten oder so was?«

»So etwas stand außer Frage«, sagte Glastonbury, »weil der Offizier, der sie ausgeschrieben hatte, bei den Grenadieren war. Somit war offenkundig, dass alles seine Richtigkeit hatte, sagte mir Ley Wong, und ich habe ihm natürlich zugestimmt.«

Detterling seufzte ganz leise.

»Was hast du also unternommen?«

»Na ja, der Grenadier war zu dem Zeitpunkt schon woandershin verlegt worden, und wie ich es sah, war niemand zu Schaden gekommen, und es schien wirklich ein sehr nettes Restaurant zu sein, also sagte ich zu Ley Wong: Vergessen wir’s. Der Informant würde, wie Ley Wong mir sagte, keinen weiteren Ärger machen, weil er selbst bei der Polizei wegen irgendeiner Sache so schlecht angeschrieben war, dass er es nicht wagen würde, sich dort zu zeigen. Das war auch der Grund, warum er stattdessen bei mir aufgetaucht war.

»Aber er hatte das doch auch dem Doktor und dem Kaplan aus dem Amt gesagt«, meinte Detterling. »Wie hast du die denn zum Schweigen gebracht?«

»Die habe ich ganz feudal bei Ley Wong zum Essen eingeladen und habe ihnen erklärt, die ganze Geschichte wäre er­funden gewesen. Schien mir einfacher, als jede Einzelheit auf­zurollen.«

»Und damit haben sie sich zufriedengegeben?«

»Ich gehe davon aus. Wie es manchmal so kommt, habe ich sie beide nie wiedergesehen. Sie hatten am nächsten Morgen einen schlimmen Kater und mussten im Bett bleiben, und in der Zwischenzeit hatte ein Cousin von mir mitbekommen, dass ich in Indien war und wo ich mich aufhielt, und kabelte mir, dass ich juldi, juldi nach Delhi kommen solle, um in seinem Stab einen Posten zu übernehmen. Also bin ich juldi, juldi nach Delhi gefahren. Aber immer wenn ich in der Zwischenzeit einmal zufällig hier war, hat sich Ley Wong mir gegenüber äußerst dankbar gezeigt.«

»Die Mädchen, zum rabattierten Preis?«

»Nicht nur das. Er hat mir auch mal eine Elfenbeinschatulle geschenkt, mit einer Sammlung von Goldmünzen drin, vom Mogul Dschahangir geprägt.«

»Ganz schön … wertvoll.«

»Das kann man wohl sagen«, bemerkte Glastonbury mit größter Gleichgültigkeit. »Ein sehr berührendes Geschenk, fand ich. Offenbar hatte sich Ley Wong irgendwie in den Kopf gesetzt, dass das Sammeln von Münzen ein Hobby von mir sei. Tatsächlich habe ich ganz und gar keinen Bezug zu so etwas, aber ich wollte die Gefühle des armen Kerls nicht verletzen.«

»Was hast du also mit den Münzen gemacht?«, fragte Detterling beiläufig.

»Die liegen irgendwo in meinem Bungalow drüben in Delhi herum … Und da ist ja Ley Wong. Grinst übers ganze Gesicht!«

Peter allerdings kam es, als Ley Wong sie mit einer Verbeugung durch die Eingangstür und in ein Privatgemach einließ, so vor, als wäre das Grinsen des kleinen Chinesen ihnen nicht gänzlich wohlgesonnen. Es war zu unbewegt. Vielleicht, dachte Peter, war Ley Wong es langsam leid, den Glastonbury-Sahib mit rabattierten Mädchen und mongolischem Gold bei Laune zu halten. Doch wenn es so war, ließ er sein Missfallen nicht noch mal erkennen. Lange Reihen von Kellnern kamen und gingen, von Ley Wong persönlich beaufsichtigt, und brachten einen Gang mit traditionellen chinesischen Köstlichkeiten nach dem anderen und Flasche um Flasche eines seltenen Weißburgunders. Immer schneller folgte die Darbietung immer neuer Gerichte, und Ley Wong verbeugte sich jedes Mal noch tiefer; alldieweil Alister noch großmäuliger wurde, Muscateer noch liebenswürdiger, Detterling lakonischer und Glastonbury noch vertrauensseliger. Peter schien es, als würden alle verborgenen Geheimnisse von Delhi vor ihnen ausgebreitet und vereinten sich zu einem wahrhaft byzantinischen Spektakel, bestehend aus Leichtfertigkeit, Verrat und Verfall.

»Wissen Sie, was passiert ist?«, sagte Giles Glastonbury. »Die haben alle ihr Selbstbewusstsein verloren. Angefangen bei seiner Exzellenz, bis ganz nach unten. Man hat ihnen so lange und so oft erzählt, dass sie kein Recht hätten, hier zu sein, dass sie angefangen haben, das zu glauben. Was heißt, dass sie aufgehört haben, an sich und ihre Aufgabe zu glauben. Wenn das passiert, geht alles den Bach runter – nein, nicht einfach bloß den Bach runter, sondern alles löst sich auf.«

»Sie wirken aber nicht aufgelöst, Sir.«

»Bei mir ist das was anderes. Wissen Sie, ich habe all dem nie besonders stark angehangen. Ich habe es einfach bloß genommen, wie es kam, Tag für Tag, weil ich auch immer nur zufällig hier gelandet bin. Ich bin bloß jemand, der auf der Durchreise ist, Morrison. Aber für die alten Hasen hier unten … die Männer, die den Kern des Ganzen bilden … die haben wirklich ihr Herzblut hier reingesteckt, haben auf ihre Art selbst die Inder geliebt und ihr Äußerstes gegeben, um ihre Sache gut zu machen. Natürlich gab’s auch viel, was sie nicht gut gemacht haben, sie haben an allem rumgenörgelt und waren selbstzufrieden und wollten nicht verstehen, dass für die meisten Inder alte Gebräuche mehr zählen als Reinlichkeit – all so was; aber gleichzeitig haben sie wirklich versucht, Gerechtigkeit hier reinzubringen und tragfähige Strukturen zu schaffen, Menschen vor dem Verhungern zu bewahren oder davor, ihre erst acht Jahre alten Körper zu verkaufen, den Wohlstand und das Wissen zu vermehren. Bis zu einem bestimmten Punkt ist ihnen das gelungen, und bis zu einem bestimmten Punkt wurde ihnen das auch gedankt, und daher dachten sie, sie könnten für immer hierbleiben. Sie haben dieses Land zu ihrem gemacht und sind sogar geblieben, wenn sie in Ruhestand gegangen sind, manche jedenfalls, weil hier ihr Leben war.

Doch was ist jetzt passiert? Man erklärt ihnen, dass man sie hier nicht will und auch nie gewollt hat. Die Regierung in England schämt sich ihrer, die Amerikaner machen sich über sie lustig, die gebildeten Inder verlangen lauthals nach ihren Posten, und selbst die Kühe auf den Straßen scheinen sie bis aufs Blut zu hassen. Und selbstverständlich trifft sie das sehr. Sie sind verletzt … und sie haben nichts mehr. So geht es den Soldaten wie auch den Zivilbeamten – es ist überall dasselbe.«

»Und jetzt hat sich ihre Stimmung ins Böse verkehrt, wollen Sie das sagen?«

»Nicht ganz. Wenn Dinge sich auflösen«, sagte Glastonbury, »haben Sie das Gefühl, dass nun sowieso alles egal ist … dass Sie sich einfach gehenlassen können. All die Dinge, die Sie so lange schon mal tun wollten, für Ihren guten Leumund aber immer unterlassen haben – nun, jetzt machen Sie die einfach, soll Sie doch der Teufel holen! Mädels, Jungs, Sauferei, Haschisch, dem Chef oben sagen, dass er sich doch in den Nabel pissen soll – das können Sie alles machen, wenn die Barbaren an die Tore hämmern und die Welt in Flammen aufgeht. Was soll Sie noch aufhalten?«

»Anstand?«

»Nun gut, ja. Und das hält die Vorstellung hier ja auch noch am Laufen. Wenn wir das Land abgeben müssen, sagen manche, dann aber tipptopp, pukka, und wir wollen ­zusehen, dass davor dann alles schön in Ordnung ist. Die Besten von unseren Jungs, die denken so, klar. Aber das Mittelfeld – die haben einfach aufgehört, sich zuständig zu fühlen, und angefangen, nach den Bauchtänzerinnen zu rufen. Ihre Stimmung ist nicht gekippt, böse sind die nicht … aber verantwortungslos.«

»Aber nicht hier«, sagte Peter. »Noch nicht.«

»Abwarten! Sie sind die letzte Gruppe britischer Offiziersanwärter, die nach Bangalore gekommen sind, ein für alle Mal. Von jetzt an werden hier nur noch Inder sein. Mit zumeist indischen Ausbildern. Was also die weißen Offiziere angeht – ob sie nun der Indischen oder der Britischen Armee angehören –, so ist dies das letzte Ausbildungssemester an der Schule in der alten Form. Und wenn sich das erst mal herumgesprochen hat«, sagte Glastonbury, »wenn die Leute das Alte zum letzten Mal machen, dann sind sie zu niedergeschlagen, um sich groß darum zu bekümmern, wie gut oder schlecht sie ihre Sache machen. Auch hier: Verantwortungslosigkeit, wie Sie sehen – in etwas ehrbarerer Form als bei den anderen, aber am Ende läuft es auf dasselbe hinaus.«

Die Kellner setzten jedem der Gäste einen letzten Gang vor: ein cremiges Törtchen mit einer leichten Zuckerkruste und (so dachte Peter, als er es probierte) mit Grapefruit oder süßem Zitronat aromatisiert.

»Jedenfalls«, sagte Glastonbury, »wird all das Sie hier ganz sicher in einem betreffen. Möchtest du es ihnen sagen« – an Detterling gewandt – »oder soll ich?«

»Du scheinst grade in Dozierlaune zu sein, Giles,« sagte Detterling matt. »Mach ruhig du es.«

Glastonbury nickte. Er stieß seinen Nachtisch unangetastet von sich und bedeutete einem Diener, ihn abzuräumen. Da aber Ley Wong gerade nicht im Raum war, ließ der Diener sich Zeit, und bevor er das Schälchen vor Glastonbury ergreifen konnte, hatte Muscateer es sich geschnappt.

»Verzeihung und so!«, sagte Muscateer. »Aber spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Schmeckt wirklich faszinierend, das Zeug!«

Detterling, als der Gastgeber, gab dem Diener ein Zeichen, an seinen Platz an der Wand zurückzukehren.

»Ihre Großmutter hat auch so eine Schwäche für Süßes ge­habt«, sagte Detterling, um Muscateers Verhalten zu entschuldigen. »Also dann, Giles, erzähl ihnen, wie es abläuft.«

»Es ist folgendermaßen. Wie ich eben schon Morrison hier erklärt habe, wird die OS ab nächsten Monat nur noch indische Offiziersanwärter aufnehmen, mit indischen Ausbildern. Es gibt aber nicht viele indische Offiziere, die Erfahrung als Ausbilder haben, weshalb man sie hier an Ihnen ein bisschen üben lassen wird. Oder zumindest denken sie darüber nach – und Delhi unterstützt das, weil es die indischen Nationalisten beschwichtigen wird, wenn sie sehen, dass indische Offiziere weiße Offiziersanwärter ausbilden. Bevor aber eine endgültige Entscheidung fällt, wollen sie einen Probelauf durchführen, um zu sehen, wie gut es funktioniert. Und für diesen Probelauf wurde Ihr Zug ausgewählt. 2. Zg Kp C, steht im Papierkram.« Glastonbury drehte sich zu Peter. »J. U. O.: OA Morrison, P.«

»Das ist also der Grund, warum uns noch kein Offizier zugeteilt wurde.«

»Morgen um 6.15 Uhr werden Sie einen haben. Hauptmann Gilzai Khan von der 43. Khaipur Light Infantry.«

»Einen Moslem?«

»Ja. Das hat zunächst für Unmut gesorgt. Die Hindus haben erst eingelenkt, als wir sie darauf gebracht haben, dass im Fall des Scheiterns dieses Probelaufs alle die Schuld bei den Moslems sehen würden; sollte es aber ein Erfolg werden, würden beide Seiten davon profitieren. Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass mit Gilzai Khan ein Offizier ausgewählt wurde, der einen starken Charakter hat und von dem man nur Erfolge erwarten kann.«

»Was ich nicht verstehe«, sagte Muscateer, »mein alter Herr hat gesagt, dass einheimische Offiziere immer Jemadar und Ris­saldar heißen – oder so was in der Art.«

»Jemadars und Rissaldars sind Rangbezeichnungen im Offiziersdienst für den Vizekönig. Gilzai Khan hält einen Offiziersbrief direkt vom König.«

»Ihr alter Herr ist der Zeit schon immer ein wenig hinterhergehinkt«, bemerkte Hauptmann Detterling.

»Ein Kanake«, sagte Alister erbost. »Wir bekommen ’nen Kanaken als Offizier!«

»Es gibt Kanaken und Kanaken«, sagte Detterling bedächtig. »Ich würde mir dieses Wort an Ihrer Stelle abgewöhnen. Gilzai Khan hat möglicherweise nicht so viel dafür übrig.«

»Sie sind auf deren Seite, Sir?«

»Wir sind auf gar keiner Seite«, sagte Glastonbury. »Wir lassen Sie bloß wissen, wie alles vor sich gehen wird. Morrison hier könnte eine heikle Zeit als J. U. O. bevorstehen. Als seine Freunde werden Sie ihm doch sicher beistehen wollen.«

»Warum hat uns Major Baxter das nicht gesagt?«, sagte Alis­ter mit schriller Stimme. »Er ist der Kommandeur der Kompanie. Es wäre seine Aufgabe gewesen, nicht Ihre!«

»Mit Ihrem Einwand haben Sie recht, Mr. Mortleman«, sagte Oberstleutnant Glastonbury, »wenngleich ich die Art, wie Sie ihn vorbringen, nicht billigen kann.« Er ließ mit seinen Fingern einen kleinen Trommelwirbel auf dem Tisch erklingen, warf Muscateer, der ungewöhnlich stark schwitzte, einen Seitenblick zu, saugte kurz seine Lippen ein und fuhr fort. »Major Baxter«, sagte er, »ist ein Offizier, der in Kriegszeiten gute Verdienste erworben hat, er ist aber von seiner Natur her kein guter Diplomat. Dass er da Schwächen hat, weiß er selbst am besten; und als ich ihm erzählte, dass ich einige von Ihnen kenne, hat er mich gebeten, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen.«

»Da sind wir Ihnen sehr dankbar, Sir!«, sagte Peter. »Aber in ein oder zwei Tagen werden Sie nach Delhi zurückreisen. Wenn wir hier Ärger bekommen sollten, werden wir einen di­plomatischen Fürsprecher brauchen. Da Major Baxter, wie Sie und er selbst sagen, dafür kaum der richtige Mann ist, an den wir uns wenden könnten …«

»Sie dürfen sich«, sagte Detterling, »an mich wenden. Ich kann das mit Major Baxter für Sie regeln.«

Ein Aufwallen, ein ersticktes Würgen und noch ein Aufwallen – und Muscateer erbrach sich ganz fürchterlich.

»Wie kommt es bloß«, sagte Glastonbury verärgert, »dass jedes Mal, wenn ich mit Leuten hier esse, jemandem schlecht wird?«

»Zu viel von diesem Nachtisch …«

»Was war das denn?«

»Ein Orangenbaisertörtchen«, sagte Glastonbury. »Ley Wong ist berühmt dafür.«

»Merkwürdig. Ich fand, es schmeckte nach Grapefruit.«

Muscateer übergab sich gleich noch einmal.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Alister, »kommt das von dem Gedanken, dass uns ein verdammter Kanake herumkommandieren wird.«

Detterling schaute Alister kühl an, sagte aber nichts. Unzählige Kellner erschienen mit Eimern und Wischlappen. Kurz darauf, nachdem Detterling die Rechnung beglichen hatte, brachten Sie alle zusammen Muscateer heim in sein Basha. Unterwegs würgte er ganz erbärmlich, schaffte es aber gerade so, eine Sache zu sagen, und zwar zu Detterling: »Das erzählen Sie aber bitte nicht meinem alten Herrn, oder, Sir? Er wäre ungeheuer enttäuscht von mir.«

Blast nun zum Rückzug

Подняться наверх