Читать книгу Über London und Neuseeland nach Eggiwil - Simone Müller - Страница 7

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1 ERZÄHLEN

«Ich habe einmal angefangen, alles aufzuschreiben. Es ging dann verloren. Ein paar Seiten hat der Hund zerrissen.»

Geblieben ist die Fähigkeit zu erzählen. Die Stimme der Erzählerin ist tief und klar. Das Gesicht stark zerfurcht, die Augen fast blind. Die Erinnerung geht weit zurück, ins Jahr 1916; zu Alcide, dem schlafenden Bruder.

Das Haus der Familie Bärfuss steht ausserhalb von Zwingen, nahe beim Wald. Alcide liegt in einer kleinen Kammer auf einem hohen Holzbett und schläft. Er ist dreizehn Jahre älter als Klara, sie kennt den Bruder nur flüchtig. Er lebt schon lange nicht mehr zu Hause. Jetzt ist er endlich da, und die Mädchen, Klara und ihre Schwestern, wollen mit ihm spielen. Sie klettern zu ihm aufs Bett, schütteln ihn. Sie hüpfen auf dem Bett; lachen. «Komm, du musst erwachen, du musst mit uns spielen.»

Draussen auf dem Vorplatz haben sich Frauen aus dem Dorf versammelt, sie beten und trinken Kaffee. Fröhliche Kinderstimmen dringen aus Alcides Zimmer. Sophie Bärfuss, die Mutter, geht ins Haus. Sie findet die Mädchen, nimmt sie vom Bett, sagt: «Alcide schläft. Ihr müsst ihn schlafen lassen.» Klara ist drei Jahre alt. Noch entzieht sich das Wort «Tod» ihrer kindlichen Vorstellungskraft. Erst später wird sie verstehen, dass der Bruder nicht geschlafen hat, dass Alcide bereits tot war, als sie mit den Schwestern auf seinem Bett herumhüpfte.

97 Jahre später, im Februar 2013, zieht Claire noch einmal um. Von Sturry in der englischen Grafschaft Kent nach Eggiwil im Berner Emmental. Sie bringt zwei Koffer und zwei Taschen mit sowie eine alte Hermes Baby. Der eine Koffer, blau mit goldenen Schnallen, ist von Neuseeland. Auf dem andern steht der Name des Herstellers: Rochini, London. Die Schreibmaschine kann sie nicht mehr benutzen. Deshalb erzählt sie nun ihre Geschichte.

Zum Ritual des Erzählens gehört die Zubereitung des Kaffees. Ihre Bewegungen sind langsam und sicher. Sie füllt den weissen Kaldor mit Wasser und holt den Nescafé aus dem Schrank. Wenn das Wasser kocht, nimmt sie den Griff des Kaldors fest in die eine Hand, tastet sich mit der andern dem Herd entlang bis zur Tasse. Sie hält den Kaldor hoch über die Tasse. Giesst das heisse Wasser auf das Pulver. Ahnt mehr als dass sie sieht, wo die Tasse steht. «Milch?» Sie giesst Milch ein. Lässt die Tasse stehen, tastet nach dem Stock. Geht langsam die paar Schritte zu ihrem Stuhl. Setzt sich, beginnt zu erzählen.

Das war schon im November 2012 so, als ich Claire Parkes-Bärfuss in Sturry bei Canterbury kennenlernte. Sie hat Kaffee gemacht und hat angefangen zu erzählen. Mit der ihr eigenen Klarheit, in dieser ihr eigenen Sprache. Schweizerdeutsch – aber wenn ihr das englische Wort zuerst in den Sinn kommt, sagt sie es auf Englisch. Viele Geschichten habe ich mehrmals gehört. Aber immer genau gleich. Auch wenn ein Abstand von zwei Jahren dazwischen liegt, braucht Frau Parkes dieselben Worte, wenn sie ein Ereignis noch einmal schildert.

Frau Parkes? Wir sind im Gespräch bei «Frau Parkes» geblieben. Frau Parkes, und Frau Müller. Das war nicht Absicht, aber es hat sich so ergeben. Claire geht, wenn zu viel Nähe entsteht; sie ist oft gegangen in ihrem langen Leben. Frau Parkes ist geblieben. Hat einfach immer weitererzählt.

Sie ist eine ausserordentliche Erzählerin mit einem ungewöhnlichen Erinnerungsvermögen. «Fisher», sagt Claire. Fisher habe der Erzbischof geheissen, der 1953 die Königin von England gekrönt hat. «Daran kann ich mich noch erinnern.» Fisher? Sir Geoffrey Fisher, sagt Wikipedia. Claire hat noch nie etwas von Wikipedia gehört. Sie kennt das Internet nicht. Aber sie erinnert sich an Streptomycin. Das ist das Antibiotikum, das sie zu Beginn der 1950er-Jahre den Tuberkulosepatienten im Londoner «Chest Hospital» verabreicht hat. Sie erinnert sich an Daten und Ereignisse. Sie beschreibt Menschen und Orte. Vor allem aber erzählt sie Geschichten. Wie alle ihre Geschichten ist auch die Geschichte von Alcide mehrschichtig. Sie handelt vom Tod, der ihre Kindheit von Anfang an geprägt hat. Und sie handelt von einem unbedingten Lebenswillen. Sie erzählt von einer, die dem Tod sehr viel Leben abgerungen hat.

2 LANG HER… LANG

Am 12. November 1913 wird Leonie Klara als zwölftes von vierzehn Geschwistern in Zwingen im Laufental geboren. Das kleine Bauerndorf gehörte damals noch zum Kanton Bern, erst 1994 wechselte die Gemeinde zum Kanton Basel-Landschaft. Schon die Mutter, Sophie Hof, kam 1876 in Zwingen, ihrem Heimatort, zur Welt. Albert Bärfuss, der Vater, wurde 1870 in der Nachbargemeinde Brislach geboren. Sein Heimatort ist Eggiwil.

Die Mütter von Sophie und Albert, Maria Hof-Stark und Attilia Bärfuss-Stark, waren Schwestern, Sophie und Albert also Cousine und Cousin. Sie brauchten eine Spezialbewilligung für die Heirat. Der protestantische Albert musste zudem noch zum Katholizismus konvertieren, bevor er die katholische Sophie heiraten konnte. Am 9. Juni 1897 war es so weit, Sophie Hof und Albert Bärfuss wurden in Laufen getraut.

Klara, Kläry, Claire: Nur Leonie hat man ihr nie gesagt. «Ich wusste nicht einmal, dass Leonie mein erster Name ist. Als ich einen Pass machen musste, da schrieben sie Leonie hinein, und ich sagte: ‹Wer ist das?›»

Eine von vierzehn. Albert, das erste Kind von Sophie und Albert Bärfuss, kam 1897 zur Welt. 1898 wurde das zweite Kind geboren, wieder ein Junge, diesmal ein Josef. Er starb noch im gleichen Jahr. 1899 das dritte Kind, nochmals ein Junge. Wieder ein Josef. 1900 dann Alcide, 1902 Bendicht, 1904 Sophie, 1905 Anna Maria. Auch Anna Maria lebte nicht lange. Sie starb 1906.

Die vier Brüder Albert, Josef, Alcide und Bendicht wurden früh verdingt. «Es war kein Platz im Haus. Wir hatten ein ganzes Haus, aber es hatte einfach keinen Platz für alle.» Nach Alcide starben 1917 auch Josef und Bendicht. Sie starben an Tuberkulose. Wie später fünf weitere Geschwister und wie die Mutter, Sophie Bärfuss.

Spricht Claire von ihren «Geschwistern», dann meint sie diejenigen, die sie gekannt hat und mit denen sie zeitweise aufgewachsen ist. Nebst Albert und Sophie sind das auch: Anni, 1907. Lina, 1908. Dora, 1910. Paula, 1912. Fanny, 1916. Und Josef, 1917. Doch noch ein Josef; ein Sepp, ein Seppli. Die Mutter, sagt Claire, habe immer einen Seppli gewollt. Vielleicht, weil ihr Vater Josef geheissen hat. Drei ihrer vierzehn Kinder musste Sophie Bärfuss Josef taufen, bis ihr ein Seppli blieb.

Zwingen – zuerst erzählt Claire immer vom Wald: «Wir sind im Wald aufgewachsen. Wir kannten jedes Pflänzchen, jeden Baum. Wir waren immer im Wald, mittags gingen wir nach Hause zum Essen und dann wieder in den Wald.» Klara, die Älteste der drei jüngsten Bärfuss-Kinder, passt auf die beiden Kleinsten, Fanny und Sepp, auf. Nimmt sie zum Spielen mit, bringt sie abends wieder nach Hause. Später wird Claire sich an den Wald in Zwingen erinnern: «Was ich am meisten vermisste in England, war der Wald. Besonders im Frühling, wenn die Amseln zu singen begannen. Das hat mich richtig mitgenommen.»

Familie Bärfuss wohnt an der Strasse nach Laufen. «Ab und zu kam ein Velo, aber die meisten Leute waren zu Fuss unterwegs.» Am Waldrand steht die Gartenwirtschaft «Waldeck». Wenn es regnet, spielen die Kinder auf der Kegelbahn des Restaurants. Sehen Puppen in den abgegriffenen Kegeln. Augen, Münder, Nasen in den glatten Köpfen, Arme und Beine in den starren Holzkörpern.

Es gibt nur eine einzige richtige Puppe in Klaras Kindheit. Die Puppe ist aus Porzellan. Fanny hat sie von der Taufpatin geschenkt bekommen. Sepp will die Puppe auch haben. Er klammert sich an den Porzellanarm, zieht. Fanny zieht auch. Sepp lässt nicht los. Klara hört Porzellan splittern. Fanny starrt auf den Arm in ihrer Hand.

Noch ein Unterschlupf – hier riecht es nach Leder. Männerhände hantieren mit einer grossen Schere, passen Sohlen an, fädeln Garn in eine dicke Nadel. Eine Ecke der Werkstatt ist für die Kleinsten abgetrennt, «wie ein Laufgitter». Albert Bärfuss schustert Stiefel für das Schweizer Militär. Ein Paar nach dem andern. Wenn er genug Stiefel gemacht hat, kommen Offiziere aus Bern und holen die Schuhe ab. So ernährt er seine Familie. Früher war Albert Bärfuss Fabrikarbeiter – daran erinnert Claire sich jedoch nicht.

Am Sonntag stellt der Vater Tische und Bänke aus der Werkstatt vor das Haus, holt sein Schwyzerörgeli, spielt. Spaziergänger bleiben stehen. Von fern hört man die Gäste der Waldeck mitsingen.


Manchmal singt auch die Mutter. In der Laube oder in der Stube. Klara und Fanny sitzen auf ihrem Schoss, Sepp steht auf der Leiste zwischen den Stuhlbeinen. Claire erinnert sich an die Worte: «Sing mir das Lied…» Und an den Refrain: «Lang, lang ist’s her.» Erinnert sich, wie Sepp angestrengt zuhört, wartet, bis der Refrain kommt, mitsingt:

Lang… her

Lang…

Lang… her

Immer wieder diesen Refrain; nur diesen Refrain.

Wenn Claire «zu Hause» sagt, dann meint sie Zwingen. Meint die Geborgenheit, die sie, trotz Armut, erlebt hat, meint die Mutter. Meint die wenigen Erinnerungen an den Vater. Im Ersten Weltkrieg muss Albert Bärfuss in die Armee. Er ist Wachtmeister. Mit dem Vater verschwinden auch die Tauben aus dem Schlag in Zwingen. Brieftauben – sie werden ebenfalls in der Armee gebraucht. «Im Ersten Krieg nahmen sie alles, was ein bisschen fliegen konnte.» Der Vater hatte sich um den Taubenschlag gekümmert, hatte die Tiere fliegen lassen. Einmal war eine der Tauben nicht mehr zurückgekehrt. Seine Lieblingstaube. Sie kam nie wieder. «Was mit dem Vogel wohl passiert ist?»

Manchmal kommt Albert Bärfuss für ein paar Tage nach Hause. Viele Erinnerungen an ihn gehen auf diese Kurzurlaube zurück. Als der Vater 1918 aus dem Dienst entlassen wird, ist der Krieg noch nicht zu Ende. Albert Bärfuss ist geschwächt, und er ist krank. Auch andere Soldaten aus Zwingen und den umliegenden Gemeinden werden vorzeitig nach Hause geschickt. Sie leben nicht mehr lange. Sie sterben an der Spanischen Grippe. Die Pandemie hat in den Jahren 1918/19 weltweit ungefähr fünfzig Millionen Menschenleben gefordert. Albert Bärfuss stirbt am 30. Januar 1919. Klara ist im November fünf Jahre alt geworden, Sepp ist erst anderthalb. Er wird im Zweiten Weltkrieg in der gleichen Funktion Dienst leisten wie sein Vater im Ersten: «Sepp war auch Wachtmeister.»

Geblieben ist auch die Erinnerung an eine Fotografie. An ein Bild von Albert und Albert, von Vater und Sohn in Uniform: «Auf diesem Foto hat der Vater noch die alte Uniform und der Bruder schon die neue. Früher hatten sie ja fast die gleiche Uniform wie die Polizisten, die gleiche Farbe. Erst später bekamen sie das Grüne, das Albert trug. Auch diese komischen Pompons vorne hatte der Bruder dann nicht mehr.»

Nach Albert Bärfuss’ Tod zieht Albert, der Sohn, mit seiner Frau Martha und den beiden Kindern in das Haus in Zwingen ein. Martha bringt ihre Eltern mit. Der Estrich wird umgebaut, Alberts Schwiegereltern werden zuoberst im Haus einquartiert. Im Parterre, wo der Vater die Stiefel anfertigte, richtet der Sohn nun eine Mechanikerwerkstatt ein. Sophie Bärfuss muss mit den Kindern in die Kellerräume umziehen. Claire zögert, tönt dann doch an: dass es kaum genug Platz gab dort unten und wenig Licht, dass die Mutter nicht in den Keller ziehen wollte und sich doch kaum gewehrt hat. Sich nicht wehren konnte.

Es gibt Sätze, die fallen immer wieder. «Es gab einfach nicht genug Platz für alle» ist so ein Satz.

Auch Klara muss einmal von zu Hause weg. Nach Montreux, zu Albert Bärfuss’ Schwester. Die Tante betreibt am Genfersee ein Hotel. Klara ist nicht gern dort, hat Heimweh: «Ich vermisste die zwei Kleinen, Fanny und Sepp. Ich wollte einfach nach Hause. Sie gaben mir Schokolade, damit ich bleibe. Ich dachte, ich müsse die Schokolade sparen und teilen mit den Geschwistern – wir hatten das zu Hause ja nicht. Ich legte sie unter das Kopfkissen. In der Nacht schmolz sie, und alles war dreckig. Ich hatte Angst, dass sie mit mir schimpfen würden. Nach ein paar Monaten konnte ich nach Hause, und sie nahmen dann das Päuli.» Paula, statt Klara.

Enge Wohnverhältnisse gelten um die Jahrhundertwende als wichtige Ursache für die Ausbreitung der Tuberkulose in ärmeren Bevölkerungsschichten. Die Bakterien werden vor allem durch Tröpfcheninfektion übertragen. Wo viele Menschen auf wenig Raum zusammenleben, ist das Ansteckungsrisiko gross. Auch mangelhafte Ernährung ist ein Risikofaktor. Hunger hat Claire in Zwingen zwar nicht erlebt: «Wir hatten zu essen auf dem Tisch, und wir hatten immer genug.» Aber das Essen ist unausgewogen: «Im Sommer hatten wir frisches Gemüse aus dem Garten, im Winter Gemüse aus den Einmachgläsern im Keller. Dazu ein paar Kartoffeln, die gab es ja immer. Fleisch kaum, hie und da vielleicht ein bisschen Rindfleisch zum Sieden. Der Nachbar hatte Obstbäume im Garten, Zwetschgen und Äpfel. Was auf unserer Seite auf den Boden fiel, durften wir zusammenlesen.» Auf den abgeernteten Getreidefeldern sammeln die Kinder liegen gebliebene Ähren. Sie bringen die Ähren in die Mühle. Aus dem Mehl backt die Mutter Brot. Bis sie keine Kraft mehr hat zum Teigkneten. Weil die Tuberkulose sie zu sehr schwächt.

Albert Bärfuss hatte Hühner und zwei Schweine gehalten. Nach seinem Tod kommen die Tiere weg. Nun gibt es auch keine Eier mehr, keine Hühnereier und keine Taubeneier. Die wirtschaftliche Situation der Familie wird noch schwieriger, das Einkommen des Vaters fehlt. Sophie Bärfuss erhält keine staatliche Unterstützung. Manchmal hilft sie im Bahnhofbuffet Zwingen aus – bei Banketten oder andern grossen Anlässen, die zusätzliches Personal erfordern. Als man ihr anzusehen beginnt, dass sie krank ist, verliert sie auch diesen Verdienst.

Claire weiss fast nichts über den Krankheitsverlauf: «Die Mutter sagte nie, dass sie krank sei. Wir, die jüngsten Kinder, wussten eigentlich nichts davon. Sie war immer da, sie war einfach immer da für uns, ja.»

Sophie und Anni, die beiden ältesten Schwestern, müssen dann für ein Einkommen sorgen. In der Seidenfabrik in Grellingen, einer Gemeinde im unteren Laufental, gibt es Arbeit. Anni ist noch schulpflichtig und bricht die Schule vorzeitig ab, um in der Fabrik zu arbeiten. Claire erinnert sich an die Aluminiumkesseli der Schwestern – sie nahmen darin ihr Mittagessen mit. Sie erinnert sich auch an das Seidenmäschchen: «Ein weisses kleines Mäschchen aus Seidenfaden. So schön!» Sophie und Anni bringen das Mäschchen nach Hause, weil die jüngeren Geschwister wissen wollen, was sie denn so machten den ganzen Tag. Den ganzen Tag in der Fabrik.

Frühling 1920, die erste Klasse. Das Schulhaus steht im Dorf, der Weg entlang der Birs, an der grossen Papierfabrik vorbei, ist weit. Klara muss ihn alleine gehen. Paula lebt nicht zu Hause, und die älteren Schwestern haben andere Stundenpläne oder arbeiten bereits. Als die Fabrik erweitert und der Uferweg wegen der Bauarbeiten gesperrt wird, muss sie einen Umweg machen. Mittags kann sie jetzt nicht mehr nach Hause. Die Mutter packt den Zmittag ein: ein Stück Brot und einen Apfel. Im Winter kocht die Frau des Schulhausabwarts Suppe.

Zu dem ersten Schuljahr gehören auch die Ziegen: «Eine Tante von uns wohnte nahe der Bahn, sie hatte Ziegen. Wenn die Cousine von der Schule nach Hause kam, musste sie mit den Ziegen gehen, die wollten ein wenig hinaus. Sie kam bei uns in der Nähe vorbei. Ich wartete mit Fanny und Sepp, bis sie mit den Ziegen kam, und dann gingen wir mit ihr. Manchmal brachte sie Äpfel oder Kartoffeln mit. Es gab so ein grosses Wiesenbord, dort machten wir ein Loch und ein Feuer und taten den Apfel oder die Kartoffeln hinein. Meistens Kartoffeln, warum? Die Äpfel hätte man einwickeln müssen, sie verbrennen sonst, und man hat nicht mehr viel davon. Die beiden Kleinen gingen dann heim, und ich musste mit der Cousine und den Ziegen nach Hause. Das Bäsli – also die Tante – machte mir immer eine grosse Kartoffel zwäg, sie füllte ein wenig Käse oder Eier oder so hinein und backte sie im Ofen, und ich musste das essen, bevor ich dann auch nach Hause ging. Dazu warme Ziegenmilch, in so einer grossen Kachel, wie man sie früher auf den Bauernhöfen hatte. Ich vertrug Kuhmilch nicht gut, deshalb musste ich immer diese Ziegenmilch trinken.

Wenn es nicht gerade stark geregnet hat, war das jeden Tag so. Die Ziegen müssen halt hinaus, sonst beginnen sie zu stinken. Auch wenn man sie gut putzt und strählt, müssen sie richtig hinaus, an die Luft, sonst beginnen sie zu riechen, und das merkt man auch in der Milch. Sie geisselet dann.»

Zu Beginn der 1920er-Jahre verschlechtert sich der Zustand von Sophie Bärfuss. Die Behörden drängen, sie müsse die jüngeren Kinder weggeben. Sie sollen einzeln in der Gemeinde untergebracht werden. Die Mutter wehrt sich: Wenigstens Seppli, den Jüngsten, will sie behalten. Und wenn die Mädchen schon weg müssen, dann alle zusammen an den gleichen Ort, in ein katholisches Kinderheim.


Paula lebt schon seit einiger Zeit im Kinderheim Mariazell in Sursee im Kanton Luzern. Sie war nur kurz nach Zwingen zurückgekommen, hatte bald wieder weg müssen: «Als sie in die Schule kam, sagte die Mutter, sie solle jetzt von Montreux nach Hause kommen. Sie musste ja noch richtig Deutsch lernen, sie sprach eigentlich besser Französisch. Aber es ging dann nicht so gut. Die Tante hatte zwei Mädchen, die waren viel älter als Päuli, und wo sie hingingen, ins Kino oder irgendwo etwas essen, nahmen sie Päuli mit. Sie kauften ihr auch Kleider und Schuhe, alles. Damals trug man noch so geringelte farbige Strümpfe und so Halbschüeli und Gott weiss was. Das bekam sie zu Hause halt nicht. Nicht dass sie dachte, sie sei mehr als wir, aber sie konnte sich einfach nicht mehr abgeben mit uns.»

Auch Dora, Klara und Fanny kommen nun nach Mariazell.

Sophie Bärfuss hätte die Töchter lieber in das Luzerner Kinderheim des «Seraphischen Liebeswerks», eines Kinderhilfswerks des Kapuzinerordens, gegeben. Im Kinderheim Wesemlin hat es aber nicht für alle Platz.

Im Frühsommer 1921 kauft Sophie Bärfuss einen Ballen neuen, hellen Stoff. Sie näht daraus drei Kleider. Eins für Dora, eins für Klara und eins für Fanny. Jedes Kleid ist anders ausstaffiert. «Ich weiss noch, es war ein weisser Untergrund mit winzig kleinen Blümchen drin. Ein Kleid hatte vorne ein Knöpfchen zum Zumachen, ein anderes hinten. Wieder ein anderes hatte einen kleinen Gürtel. Meines hatte ein hellgrünes gehäkeltes Knöpfchen und ein Gürtelchen dazu. Das war das einzige neue Kleidchen, das ich je hatte. Und damit sind wir dann ins Heim.»

In Zwingen waren die Geschwister meist dunkel angezogen. Die Kleider des Vaters waren aus dunklem Stoff. Hatte er ein Kleidungsstück ausgetragen, schnitt die Mutter es für das älteste Kind zu. Wenn diesem die Ärmel zu kurz geworden waren, passte sie es erneut an, für das nächst jüngere. Immer weiter hinunter bis zum jüngsten. Zu Sepp. Klara hat nie etwas anderes gekannt. Claire weiss fast nichts über die letzten beiden Jahre der Mutter – nur dass Sepp noch eine Weile bei ihr bleibt, bevor auch er ins Kinderheim kommt, nach Luzern ins Wesemlin; dass sie das Haus aufgeben und in eine kleine Wohnung im Dorf ziehen muss; dass dort Sophie, die Tochter, mit ihr lebt. Sophie, die Schwester: «Sie hatte auch Tuberkulose, das sah man. Sophie war sehr dünn und hatte keine Energie und nichts.» Weil die Kranken immer dünner wurden, nannte man die Tuberkulose früher auch Schwindsucht. Sophie Bärfuss-Hof stirbt am 4. November 1923 in Laufen. Nur Albert und seine Familie leben jetzt noch im Haus in Zwingen. Bis auch Albert stirbt. An Tuberkulose, wie Sophie, Anni und Lini. Wie später Dora. Wirksame Medikamente gegen die Krankheit gibt es noch nicht. Antibiotika werden erst ab Mitte der 1940er-Jahre gegen Tuberkulose eingesetzt. Sophie, Anni, Lini. Eine der drei Schwestern soll am Tag der Beerdigung einer der beiden andern gestorben sein, weiss Claire vom Hörensagen.

Nach Alberts Tod ziehen Martha und die Kinder weg. Das Haus wird verkauft.

Eggiwil, 6. Juni 2013

Claire tastet mit einer Hand nach dem Stock, stützt sich mit der andern auf die Stuhllehne. Sie steht auf und geht zum Schrank, holt ihr kleines Nähkästchen. Früher hat sie oft genäht. Was von den vielen Utensilien noch geblieben ist, findet nun in dem kleinen grünen Kästchen Platz. Die Innenseite des Deckels ist mit Stoff ausgekleidet, drei kleine Mäschchen sind mit einer Nadel daran befestigt, zwei sind Abzeichen der englischen Krebshilfe. Das dritte ist von Anni.

Anni hat das Mäschchen selbst gehäkelt. Anni, die so gut handarbeiten konnte. Anni, die auf einem Instrument spielen konnte, ohne es gelernt zu haben. Anni, die einen boyfriend hatte. «Anni konnte alles.»

Nur Paula, Klara, Fanny und Sepp, die vier jüngsten der vierzehn Bärfuss-Kinder, werden älter als 27.

Im Kinderheim untersucht man die Mädchen auf Tuberkulose. Bei Klara stellt man einen Schatten auf der Lunge fest. Sie bekommt tägliche Ruhezeiten verordnet. Die Tuberkulose ist nie ausgebrochen.

Zwingen, 22. August 2013

Auf dem Friedhof reisst ein Mann Unkraut aus den Gehwegen. «Bärfuss?» Er zieht die Stirn hoch, schüttelt den Kopf. «Das gibt es hier nicht.» Er schweigt. Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf, Bewegung kommt in die Arme und Beine. «Ein Grab hat es noch gegeben, das war ein Bärfuss.» Er zeigt auf ein kleines Stück Gras, eingeklemmt zwischen dem Weg und dem frisch bepflanzten Nachbargrab. Es ist der einzige freie Platz in diesem Teil des Friedhofs. Neue Gräber werden auf der andern Seite angelegt. Den Arm noch immer ausgestreckt, setzt er sich in Richtung des Grasflecks in Bewegung. «Es ist nie jemand gekommen. Keiner hat mehr zu dem Grab geschaut, jahrelang nicht. Das war alles überwachsen. Und irgendwann hat man halt einmal gesagt: Jetzt ist fertig.» Das Grab sei dann vorzeitig aufgehoben worden. Seither ist der Platz leer. Er schaut noch einmal fragend. «Wer könnte das gewesen sein, dieser Bärfuss?» Ich weiss es nicht – enttäuscht wendet er sich ab. Reisst weiter Unkraut aus.

3 MARIAZELL

Dora, Klara und Fanny tragen also die weissen Röckchen mit den winzig kleinen Blümchen, als die Mutter sie im Juni 1921 ins Kinderheim Mariazell bringt. Die Zugreise von Zwingen nach Sursee im Kanton Luzern ist weit, Sophie Bärfuss muss noch am gleichen Tag zurück. «Die Mutter sagte ‹Adieu›, und wir begannen zu weinen. Wir waren uns ja nicht gewohnt, dass sie weggeht.» Die Mutter sagt dann auch noch: «Wir sehen uns wieder. Ich werde euch besuchen kommen.» Klara wird sich zwei Jahre lang an diese Sätze klammern; auf ein Lebenszeichen, auf einen Besuch der Mutter hoffen.

Ausser den Schwestern Dora, Paula und Fanny verliert Klara von einem Tag auf den andern alle Menschen, die ihr vertraut sind. Die Mutter und die Geschwister Albert, Sophie, Anni, Lina, Sepp. Die Tante mit den Ziegen und die Cousine, die Lehrerin, die Klassenkameradinnen. Nur Sepp wird sie später wiedersehen.

Mit den Menschen verschwinden auch das Haus, der Wald, die Schule. Sie verschwinden für immer, Klara wird nie mehr nach Zwingen zurückkehren. Später wird sie diese Erfahrung wiederholen. Sie wird weggehen von Orten, an denen sie sich wohlfühlt, von Menschen, die sie gern hat. Wird immer wieder aufbrechen. Weitergehen.

Das «Kinderasyl Mariazell», 1895 für Mädchen und Knaben aus armen Familien gegründet, wird von Baldegger Schwestern geführt. Die Klosterfrauen unterrichten auch an der internen Schule. Die Unterbringung im Heim kostet etwa 200 Franken pro Jahr und Kind. Da Sophie Bärfuss kein Geld hat, kommt die Gemeinde Zwingen dafür auf. Kleider erhalten die Heimkinder von reichen Familien, die weitergeben, was sie nicht mehr brauchen können. Schuhe? «Im Sommer waren wir einfach immer barfuss.» Auch draussen, auch wenn es regnet. Braune Striche markieren die Fusssohlenränder, dicke Hornhaut schützt vor spitzen Steinen. Bei den Eingangstüren stehen kleine Wassertröge. Die Kinder waschen sich den Schmutz von den Füssen, bevor sie ins Haus gehen.

Der Heimalltag ist minutiös strukturiert. Religion, Schule und Arbeit bestimmen den Tagesablauf:

«In den Schlafsälen stand ein Bett neben dem andern, und es gab auch eine Zelle mit Fenstern. Dort wachte eine Schwester. Sie kontrollierte, wer ins Bett gemacht hatte, und weckte die Kinder dann mitten in der Nacht auf.

Wir mussten immer früh aufstehen, kurz nach fünf Uhr. Neben dem Schlafsaal hatte es ein Waschzimmer mit Trögen und Wasserhähnen. Waschen, kämmen, anziehen, das Bett machen und dann das Morgengebet. Zwischen den Betten gab es einen Gang mit einem grossen Heiligenbild, dort knieten wir uns hin und beteten. Wenn das alles fertig war, musste man in einer Reihe einstehen und in die Kapelle gehen. Ein Kaplan las die Messe. Es kamen immer Kaplane, die nicht ganz gesund waren. Warum? Das war halt eine leichte Stelle. Nach der Messe ging man wieder ins Haus zurück. Zum Zmorge gab es eine Hafersuppe mit kleinen Brotmöcklein. Das mochte ich gar nicht! Wenn das Brot in der Suppe war, wurde es so schliferig, und das hat mich so gruuset. Uuff! Aber wir bekamen diese Suppe jeden Morgen. Nach dem Essen wusch man ab und brachte den Speisesaal in Ordnung, dann hatte man Schule bis am Mittag. Nach dem Zmittag mussten die Buben im Garten etwas helfen oder im Haus den Dreck auffegen und die Mädchen Strümpfe stopfen und flicken und Gott weiss was alles. Jeden Tag Strümpfe stopfen! Die Buben hatten dann doch meistens noch eine schöne Pause vor der Schule, wir aber nicht. Nach der Nachmittagsschule Hausaufgaben machen und vielleicht noch einmal etwas helfen. Dann kam das Nachtessen und das Abendgebet in der Kapelle, und danach war es Zeit, ins Bett zu gehen. So um 20 Uhr war Nachtruhe.

Am Samstag musste man putzen, die Gänge und die breiten Steintreppen in den Treppenhäusern, und in den Schulferien die grosse Hausputzete machen. Kissen, Decken, Matratzen hinausschleppen und dann klopfen. Damals hatte man ja noch keinen Staubsauger. Wir hatten eigentlich nie frei. Auch am Samstag und in den Ferien nicht.»

Ein Tag spielt sich gleich ab wie der nächste, Zeit zum Spielen gibt es kaum. In den Stunden nach der Schule, die Klara früher im Wald oder mit den Ziegen verbracht hat, muss sie nun Haushaltsarbeiten machen und beten. Abwechslung bringt höchstens der Sonntag. Dann gehen die Kinder im nahen Kapuzinerkloster in die Kirche. Meistens zweimal, am Morgen in die Messe und am Nachmittag, um den Rosenkranz zu beten. Klara gefallen die Gesänge der Kapuziner. Die Mönche geben auch bereitwillig Auskunft, wenn die Kinder ein Anliegen haben: «Es gab eine Türe, dort konnte man klopfen und fragen gehen, wenn man etwas wissen wollte, was im Leben ist oder so. Die Mönche öffneten das Besuchszimmerchen und erklärten einem das dann.»

Die Kinder leben abgeschottet von der Aussenwelt. Nicht einmal Sursee kennen sie: «Nur vor der Erstkommunion ging man zum Pfarrer in den Unterricht. Für diese halbe Stunde konnten wir ins Dorf, sonst nie. Die andern Kinder sind oft gekommen und haben gesagt: ‹Kommt doch mit uns spielen, seid doch nicht immer alleine›. Aber wir waren scheu. Wir getrauten uns nicht.» Nach der Erstkommunion fällt auch diese halbe Stunde weg.

Klara ist in Mariazell ganz auf sich gestellt. Alleine mit der Sehnsucht, dem Schmerz. «Die Oberin sagte, sie wolle uns die Mutter ersetzen, aber das kann man ja nicht. Especially sie nicht. Sie war sehr streng. Man konnte überhaupt nicht reden mit ihr. Wir hatten alle mehr oder weniger Angst vor ihr.» Wenn Claire vom Kinderheim erzählt, verändert sich ihre Stimme. Sie wird nicht leiser, aber ausdruckslos und seltsam flach. Als ob sich die Gefühle und Empfindungen, für die es im Heim keinen Platz gibt, aus der Stimme zurückziehen würden – auch in der Erinnerung.

Manchmal sagt Claire dann Sätze wie: «Ich bin eigentlich froh, haben sie uns streng gehalten im Heim. Sonst hätte man sich später nicht durchgebracht.» Oder: «Irgendwie ist man durchgekommen. Aber eine Kinderzeit hatten wir nicht.» Obwohl Klara gerne lernt, neugierig ist und oft mehr wissen möchte, als in den Schulstunden vermittelt wird, spricht Claire fast nie von der Schule. Wenn sie es tut, dann mit derselben tonlosen Stimme. Nur wenn sie sich an die Nüsse erinnert, die sie und die andern Kinder zu Weihnachten geschenkt bekommen, wird sie lebhaft. «Richtige Baumnüsse!» Sorgfältig, damit sie nicht kaputt gehen, knacken die Kinder die Schalen. Nehmen sie mit in die Schule, füllen Wasser ein, legen ein wenig Gras und ein Blümchen hinein. «Das war unser Blumenbouquet. Mehr hatten wir halt nicht.»

Klara passt sich an. Sie ist still, in sich gekehrt. Vielleicht entgeht sie deshalb den Körperstrafen: «Mich hat nie jemand geschlagen.» Andere kommen weniger glimpflich davon: «Es sind schon viele geprügelt worden. Meistens Buben. Es gab so ein Zimmerchen mit einem kleinen Vorraum, ganz dunkel. In dem Vorraum hatte es einen Koffer, auf den mussten sie dann liegen und bekamen mit der Rute. Daran mag ich mich noch erinnern. Man wusste immer, wenn wieder einer drangekommen war. Die Schwestern haben auch ab und zu eine Ohrfeige gegeben, wenn es nicht funktionierte. Und in der Schule hat es manchmal mit dem Lineal getätscht.»

Paula lernt noch eine andere Art der Bestrafung kennen. Sie macht in der Nacht oft ins Bett. Mittags nach der Schule, wenn die Mädchen Strümpfe stopfen, muss sie die nassen Leintücher holen und damit an den andern Kindern vorbei in die Waschküche. Sie muss die Leintücher in der Waschküche spülen. Alle wissen, weshalb Paula mit dem Bettzeug im Arm vorübergeht, wissen, weshalb Paula fast nie Strümpfe stopft am Mittag. Auch einer der Knaben muss regelmässig in die Waschküche.

Klara leidet mit, fühlt die Demütigung, die Schande. Sie hätte der Schwester gerne geholfen. Aber Klara ist hilflos – wie Paula. «Päuli… sie tat mir immer so leid. Sie konnten ja nichts dafür, sie und der Bube. Die Klosterfrauen hätten ja auch etwas für die beiden machen können, damit es aufhört.» Paula wird später nie mehr über das Bettnässen reden. Wie sie überhaupt kaum noch über das Kinderheim sprechen wird. Auch Fanny nicht. Nur Claire erzählt. Erzählt von dem strengen Regime der Baldegger Schwestern. Sie erzählt auch von dem toten Mädchen im Kinderheim – heiter und gelöst, als schildere sie eine Landschaft von ein wenig surrealer Schönheit. Das irritiert vorerst, weil es um den Tod eines Kindes geht: «Das Mädchen hatte vier Schwestern, es war das Jüngste. Ich weiss nicht, was es hatte, aber es starb dann im Heim. Als es tot war, durften wir es schauen gehen. Es lag auf dem Bett, bereit gemacht für den Sarg. Also so schön, so schön hat es ausgesehen! So friedlich. Wie ein Engelchen.»

Die Schilderung zeigt, wie sehr Klara gelitten hat im Kinderheim. Klara sieht im Gesicht des toten Mädchens, wonach sie sich sehnt: Zufriedenheit, so etwas wie Glück. Sie fühlt keinen Schmerz, keine Trauer, für einmal auch kein Mitleid. Sie weiss inzwischen, was «Tod» bedeutet, bringt die eigenen Erfahrungen mit dem Begriff in Verbindung. Sie kennt den Schmerz derjenigen, die zurückbleiben. Sieht dennoch nur diese Ruhe im Gesicht der Toten. Manchmal ist vielleicht auch Klara nahe daran gewesen, aufzugeben.

Noch trägt sie den Satz der Mutter mit: «Ich werde euch besuchen kommen.» Sie hofft, über Wochen und Monate hinweg, wartet. Im April 1923 schickt Sophie Bärfuss ein Gebetsbüchlein und ein Heiligenbildchen zu Klaras Erstkommunion. Es ist das erste Lebenszeichen der Mutter. Es bleibt das einzige.

«Sie kam nie mehr. Sie war zu krank.»

Ein paar wenige Worte machen schliesslich jede Hoffnung zunichte. Ende 1923, vielleicht auch erst 1924, wird den Bärfuss-Schwestern mitgeteilt: Die Mutter sei gestorben. Nicht wann, nicht wo, nur: tot. Die Fragen der Mädchen bleiben unbeantwortet. Sie wissen nur, dass sie jetzt Waisen sind. Mit dem Schmerz müssen sie selber fertig werden, jede für sich. «Es setzte mir schon sehr zu.» Die Oberschwester ordnet eine Andacht an: Neun Tage lang beten während der Mittagspause. In der Kapelle. Danach geht der Alltag weiter. Niemand spricht mehr von der Mutter.

Sie hätten einander nun mehr denn je gebraucht, die vier Schwestern: Dora, Paula, Klara und Fanny. In Mariazell sieht man es jedoch nicht gern, wenn Geschwister sich gegenseitig unterstützen. Daran ändert auch der Tod der Mutter nichts.

Dora, die älteste und aufmüpfigste der vier, spricht manchmal Französisch mit den Schwestern. Der Vater hatte viele Verwandte im Welschen, und auch in der Familie Bärfuss war manchmal Französisch gesprochen worden. Dora fürchtet, die Schwestern könnten die Sprache im Kinderheim verlernen. Den Klosterfrauen sind die sprachlichen Eskapaden ein Dorn im Auge: «Sie redeten selber nicht alle Französisch und hatten es deshalb nicht gerne, wenn wir es taten. Also versuchten sie, uns möglichst voneinander fernzuhalten.»

Kontakte zu Geschwistern, die nicht im Kinderheim leben, sind ohnehin verboten. Auch Sepp ist inzwischen ja in Luzern, im Wesemlin, dem Kinderheim des Seraphischen Liebeswerks: «Wir wussten, wo er war, aber wir durften nicht mit ihm verkehren.» Auch mit Fanny nicht – als die jüngste der Bärfuss-Schwestern dann von Mariazell fort kommt.

1925 besucht ein Ehepaar aus Stüsslingen im Kanton Solothurn das Heim. Herr und Frau von Arx möchten ein Kind adoptieren. Die kleine Klara gefällt ihnen auf Anhieb. Aber Klara will nicht. Nicht adoptiert werden und vor allem nicht weg von den Geschwistern. Sie erinnert sich an die Worte der Mutter: «Ich wusste, dass Muetti gesagt hatte, sie wolle die Familie beieinander behalten. Ich sagte dann, ich komme nicht.» Also nehmen Herr und Frau von Arx Fanny, die jüngere Schwester. Fanny, anstelle von Klara. Später erst taucht der Gedanke auf: «Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn ich gegangen wäre.»

Fanny – in Zwingen hat Klara auf die kleine Schwester aufgepasst, hat sie in den Wald mitgenommen; hat sie vermisst, als sie nach Montreux musste, zur Tante. Nun ist auch Fanny weg, von einem Tag auf den andern aus Klaras Leben verschwunden.

Nach Fanny geht Dora: «Sie kam aus der Schule und musste dann arbeiten gehen.» Die ältere hat der jüngeren Schwester immer bereitwillig erzählt, was sie von der Familie weiss. Die Jüngere hat begierig zugehört: «Ich habe mich immer dafür interessiert, woher ich komme.» Klara vermisst Dora. Die Schwester, an der sie sich orientiert, die sie bewundert. Die sie, vor allem, gern hat.

Klara und Paula: Nur zwei der vier Bärfuss-Schwestern sind jetzt noch in Sursee. Paula; Päuli. «Sie war immer eine Stille, konnte dasitzen und ins Blaue starren, und man wusste nicht, was sie sieht. Sie war einfach verschlossen… für sich. Päuli war auch nie an der Familiengeschichte interessiert. Sie war so ein dreamer. Warum? Ich weiss nicht. Sie war halt lange bei der Tante in Montreux.»

Dann aber hat Paula einmal Glück. Ihre Firmgotte, die sich manchmal ein wenig um sie kümmert, verhilft ihr zu einer Lehrstelle. Paula wird Damenschneiderin. Claire erinnert sich nur an ein einziges anderes Kind aus dem Heim, das wie Paula eine Lehre hatte machen können.

Nur Klara ist jetzt noch in Mariazell. Ein Jahr ist sie in Zwingen, sechs Jahre im Kinderheim zur Schule gegangen. Nach der siebten Klasse ist die obligatorische Schulzeit beendet. Bleibt noch das Haushaltungslehrjahr: «Die Mädchen machten dann noch ein Jahr Haushaltung. Wir waren jeweils eine Woche in der Küche und dann eine Woche in der Wäscherei. Wir mussten immer abwechseln. Zwischendrin, wenn alles in Ordnung war, musste man flicken und stricken. Blätze stricken und in die Pullover einsetzten, damit die Maschen nicht weitergingen. Das war gut, da konnte man vieles lernen, was einem später dann zugutekam.»

«Später»; bald schon. Nach dem Haushaltungslehrjahr werden die meisten Mädchen auf Bauernhöfen untergebracht. Eine nach der andern aus der Klasse verlässt Mariazell. Bis nur noch Klara übrig ist. Wieder nur Klara. «Die Oberin sagte, sie könne mich nicht zu Bauern geben, ich sei nicht zum Bauern geschaffen. Ich war zu zimperlich. Ich wollte immer sauber sein und habe mich oft gewaschen. Wir waren so erzogen worden, und das bleibt dann halt. Wir waren sieben in der Klasse, alle andern waren bereits bei Bauern. Ich fragte die Oberschwester einmal, warum ich noch da sei. Sie sagte, sie habe einfach noch keinen Platz für mich.»

Klara wäre gerne länger in die Schule gegangen. Hätte gerne Sprachen gelernt. Überhaupt gelernt. Sie weiss, welcher Beruf ihr gefallen würde: Krankenschwester. Und weiss auch, dass eine Lehre für eine wie sie nicht infrage kommt. Nicht einmal den Wunsch hätte sie sich auszusprechen gewagt. Paula, «Päuli»: hat sehr viel Glück gehabt.

Nicht zum Bauern geschaffen sei sie, sagt die Oberin. Aber auch Klara selbst behagt die Vorstellung, auf einem Bauernhof zu arbeiten, nicht. Das wird sie später auch Hans Moser sagen, dem jungen Bauern aus dem Bernbiet, der sie heiraten möchte. Hans Moser wird den langen Weg auf sich nehmen und Klara während des Kriegs im Tessin besuchen. Er wird sie beschwichtigen, sie müsse sich nur um das Haus kümmern, nicht aufs Feld, nicht in den Stall, nichts tun, das ihr nicht behage. «Ich sagte, ich könne das nicht. Jeden Morgen um vier Uhr aufstehen zum Grasen.»

Bäuerin werden, das hiesse auch: Wurzeln schlagen. Klara wird ihr Leben lang immer wieder weiterziehen. Wird sich niederlassen, um wieder aufzubrechen. Möglich, dass es vor allem andern die Sesshaftigkeit war, die sie schreckte. «Hans Moser war ein sehr netter Mann. Ruhig… ruhig, ja.» Das Foto von Hans Moser in Uniform hat Claire bis heute behalten. Es findet sich dann doch noch eine Stelle für Klara. In Adligenswil im Haushalt von Frau Stadelmann, einer alleinstehenden Hauswirtschaftslehrerin. Klara ist jetzt fünfzehn Jahre alt. Alt genug, auf eigenen Beinen zu stehen.

4 BANANEN

Sophie Bärfuss bleibt Vorbild für Klara, auch in der Pubertät. Wenn sie eine Entscheidung treffen muss, orientiert sie sich an der Mutter. Wie sehr, das zeigt die Geschichte mit den Bananen:

Klara ist etwa dreizehn Jahre alt, als ein Mädchen aus ihrer Klasse eine Banane in die Schule bringt. Die Lehrerin erklärt den Kindern die Frucht, schneidet sie in kleine Stücke. «Wir waren etwa fünfzehn im Klassenzimmer, und jedes bekam ein wenig von der Banane zum Versuchen.» Keines der Kinder hat zuvor schon einmal eine Banane gesehen. Klara mag den Geschmack. Sie mag ihn sehr.

Ein paar Tage später wird sie von der Oberschwester gerufen: «Du musst für uns eine wichtige Kommission machen!» Eine der Klosterfrauen arbeitet in Sursee als Krankenpflegerin. Sie macht Nachtwachen bei einer schwer kranken Frau und braucht ein Medikament für die Patientin, hat aber kein Geld dabei. Klara soll ihr das Geld bringen. «Ich band die Münzen in ein Nastuchzipfeli und versprach, dass ich alles genauso ausführen werde, wie die Oberschwester es gesagt hatte.» Klara macht sich auf den Weg. In Sursee kommt sie an ein paar Läden vorbei. Neben einer Eingangstür hängt ein Bündel Bananen. Sie bleibt stehen. Schaut die Bananen an: «Das hat mich so gluschtet! Ich dachte, ich könnte das Geld ja brauchen, um die Bananen zu kaufen.» Sie ringt mit sich, ringt heftig. Sie denkt an die kranke Frau, und plötzlich kommt ihr die Mutter in den Sinn. Die auch krank gewesen war, der sie nicht hatte helfen, kein Medikament hatte bringen können. «Der Mutter hätte ich das nicht angetan.» Klaras Hand umklammert das Nastuch. Sie geht weiter. «Was hätte ich nachher gemacht, ohne Geld? Was hätte ich der Schwester gesagt? Ich habe es verloren? Das wäre eine Lüge gewesen, und gelogen habe ich nicht. Die Mutter sagte jeweils: ‹Es kommt immer aus, wenn du lügst.› Und das ist aber auch wahr. Wenn auch nicht gerade sogleich, dann später.» Sie hat die Entscheidung nie bereut: «Ich bin heute noch froh, dass ich dort vorbei gegangen bin.» Klara orientiert sich also in doppeltem Sinn an der Mutter. Sie erinnert sich, wie die Mutter gelitten hat, und kann sich mit Hilfe der Erinnerung in die kranke Frau einfühlen. Später wird sie das noch oft tun: sich in andere hineinversetzen, mitleiden. Und aus Mitleid Entscheidungen treffen – die manchmal auf ihre eigenen Kosten gehen. Sie identifiziert sich aber auch mit der mütterlichen Haltung: Sophie Bärfuss hat das Lügen verurteilt. Klara, Claire, trägt nicht nur den Schmerz mit sich, sie hat die Mutter auch verinnerlicht.

Eggiwil, 28. Februar 2013

Claire ist soeben in die Schweiz zurückgekehrt. Die Wände in der kleinen Einzimmerwohnung in Eggiwil sind noch leer. Nur über der Kommode hängt eine Fotografie: Sophie Bärfuss mit ihren acht jüngsten Kindern. Im Büchergestell auf der gegenüberliegenden Seite steht ein kleiner Rahmen mit einem Ausschnitt aus der gleichen Aufnahme – das Gesicht der Mutter.

«Warum Eggiwil?» Die Antwort ist immer dieselbe: «Das ist mein Heimatort.» Der Heimatort, vom Vater auf die Tochter übertragen.

Sie ist jetzt 99. Noch einmal erinnert sie sich an die Sicherheit, die der Vater vermittelt, die Geborgenheit, die sie bei der Mutter erlebt hat. Erinnert sich an jenes Fundament, das sie früh zurücklassen, früh in sich verankern musste. Sucht den Ort auf, der sie mit dem Vater verbindet. Hängt das Bild der Mutter an die Wand. Skizziert noch einmal Zwingen. In Eggiwil.

5 FRAU BARFUSS

Das Dossier trägt die Signatur PA 269/860. In der dünnen Kartonmappe liegt ein dicker Stapel loser Blätter. Unter anderem auch ein Schreiben der Gemeinde Zwingen an das Luzerner Kinderheim Wesemlin. Die Gemeinde ersucht um Aufnahme der drei Mädchen Dora, Klara und Fanny ins Kinderheim. Begründung: Die Mutter der Kinder sei «phlegmatisch» und «unfähig, den vaterlosen aber kinderreichen Haushalt zu führen». In einem andern Brief bittet auch das katholische Pfarramt Zwingen um Aufnahme der Schwestern – wegen «arger Vernachlässigung von Seiten der Mutter». Die Frau, heisst es weiter, sei «zu träge zum arbeiten».

Im November 1923 stirbt Sophie Bärfuss an Tuberkulose. In keinem der Schreiben, die Anfang der 1920er-Jahre von der Gemeinde oder vom Pfarramt Zwingen nach Luzern gehen, wird ihre Krankheit auch nur erwähnt. Aus vielen Dokumenten geht jedoch deutlich hervor, wie arm die Familie war. Die Staats- und Kirchenvertreter machen keinen Hehl daraus, dass die Armut der Familie ihrer Ansicht nach selbst verschuldet und Sophie Bärfuss – einmal wird sie auch als «arbeitsscheu» beschrieben – für die desolate Situation verantwortlich ist. Das Dossier Klara Barfuss wird im Staatsarchiv Luzern aufbewahrt.

Barfuss? In einigen amtlichen Dokumenten findet sich der Name Barfuss, in andern Bärfuss. Claire erinnert sich an die Unterschrift unter ihrem Schulzeugnis in Zwingen – «Barfuss» schrieb die Mutter. In ihrem Pass steht Bärfuss.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts übergaben viele Luzerner Kinderheime ihre Dossiers dem Staatsarchiv, so 1994 auch das Kinderheim Wesemlin. Insgesamt handelte es sich um mehrere Dutzend Laufmeter Akten. Die meisten Dossiers wurden vernichtet, nur wenige zur exemplarischen Dokumentation archiviert. Ein übliches Vorgehen – aus Platzgründen können nicht alle Akten aufbewahrt werden.

Wenig später wurden in vielen Kinderheimen westlicher Länder gravierende Missstände aufgedeckt. Jahrzehntelang und oft noch bis in die 1970er-Jahre waren Kinder in Heimen misshandelt und sexuell missbraucht worden, systematische Gewaltanwendung hatte vierlerorts zur Tagesordnung gehört. Die Vorwürfe betrafen auch etliche Institutionen im Kanton Luzern. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden in der Schweiz zahlreiche Heime für Kinder und Jugendliche gegründet, die meistens von katholischen Ordensangehörigen geführt wurden – für den Staat eine kostengünstige Lösung. Besonders viele Kinderheime waren im katholischen Luzern entstanden.

Als in der breiten Öffentlichkeit der Ruf nach Aufarbeitung laut wurde, gab es viele Dossiers bereits nicht mehr. Oft haben auch die Institutionen selbst die Akten vernichtet. Von Paula Bärfuss zum Beispiel gibt es nur noch zwei Karteikarten. Von Sepp überhaupt nichts mehr. Dass die Dossiers von Dora, Klara und Fanny erhalten sind, ist also Zufall. Über die Zeit im Kinderheim Mariazell findet man darin allerdings fast nichts. Dokumentiert sind vor allem Briefwechsel zwischen den Behörden oder Arbeitgebern und den Kinderheimen Mariazell und Wesemlin. Die drei Bärfuss-Mädchen blieben im Wesemlin registriert, obwohl es dort 1921 keinen Platz für sie gegeben hatte. Das Heim organisierte die Unterbringung in Mariazell und war später, als die Mädchen – noch nicht volljährig – zu arbeiten begannen, erneut für sie zuständig.

In jedem der Dossiers hat es ein Formular, das Sophie Bärfuss, als die Mädchen ins Heim eintraten, unterschreiben musste. Auf dem Formular sind die Bedingungen für die Aufnahme ins Heim aufgelistet. Die Unterzeichnende verpflichtet sich, auf die Erziehung ihres Kindes keinen Einfluss mehr auszuüben sowie den brieflichen Kontakt möglichst einzuschränken. Sie verpflichtet sich auch, das Kind nur so oft zu besuchen, wie es «die betreffende Anstalt für angemessen erachtet». Der Mutter blieb nichts anderes übrig, als die Formulare zu unterzeichnen. Sie tat es ohne Vornamen, schrieb nur: Frau Barfuss.

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