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Kapitel 1 Der Zufall der Zeit Vom Boden abheben

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Kennen Sie den Spruch, wonach das Komische aus dem Tragischen plus Zeit besteht? Der Gedanke dahinter ist, dass jedes noch so schreckliche Unglück später zum Totlachen sein kann, vorausgesetzt, der Abstand ist weit genug, um darüber hinwegzukommen und die Lage mit neuen Augen zu betrachten. Der Regisseur Mel Brooks (der seinerseits der Ansicht war, dass die vergangene Zeit es ihm erlaubte, sich in The Producers über Hitler lustig zu machen) formulierte das auf eigene Art: „Tragödie ist, wenn ich mir in den Finger schneide. Komödie ist, wenn du in eine Jauchegrube fällst und stirbst.“


Wir kamen von einem Fußballspiel. Nach drei Minuten Nachspielzeit schlossen mein Sohn Jake und ich unsere Räder vom Geländer los und strampelten in Richtung Hyde Park. Das Eröffnungsspiel der Saison war für Chelsea eine leichte Sache gewesen, 2:0 gegen Leicester, Torschützen Costa und Hazard, und wir hatten es genossen, nach der Sommerpause wieder auf dem Platz zu sein. Auch die Heimfahrt tat gut – Ende August, Spätsommersonne, der Park randvoll mit Touristen.

Den Tag regierte ein Spielplan, der zwei Monate im Voraus veröffentlicht worden war, und die Anstoßzeit hatten einen Monat später die Fernsehsender diktiert. Aber als der Spieltag endlich da war, drehte sich alles um alte Rituale: Wann treffen wir uns, wann essen wir zu Mittag, wie lang braucht die Pizza, wann kommt die Rechnung, der Weg zum Stadion, die Länge der Schlange vor den Absperrungen, die Lieder aus dem Lautsprecher, ehe das Spiel losgeht – in letzter Zeit spielen sie immer „Parklife“ von Blur, synchronisiert mit den großen Momenten vergangener Tage auf der Videoleinwand. Und dann das Spiel selbst: wie lang es einem vorkommt, wenn man vorn liegt und auf den Abpfiff wartet, und wie schnell es geht, wenn die eigene Mannschaft im Rückstand ist.

Wir gingen eine Minute vor Schluss, um nicht ins Gedränge zu kommen, auch das eine Verhandlung über Zeitfragen: Wie wiegt man die Möglichkeit, ein Tor in letzter Minute zu verpassen, gegen den Wert auf, den man persönlich darauf legt, sich zehn Minuten Eingezwängtsein in einer Menschenmasse zu ersparen? Viele aus dem Publikum entschieden sich für den frühen Aufbruch, womit unser Plan beinahe durchkreuzt war, und auf den Fahrrädern schlängelten wir uns durch die Pulks auf der Fulham Road. Mein jüngster Sohn Jake war 24, strotzte vor Energie und blieb auf der Exhibition Road ein Stück vor mir, bis wir an der Albert Hall vorbei waren. Das Schöne am Hyde Park ist, dass der Weg heutzutage unterteilt ist – eine Hälfte für Radfahrer, eine für Fußgänger. Und so rauscht man an der Serpentine Gallery vorbei, mit der Ausstellung eines Künstlers, von dem ich noch nie gehört hatte, und dann lief mir plötzlich Blut über das Gesicht, ein pochender Schnitt knapp über meinem Auge, meine Sonnenbrille kaputt, mein Rad auf dem Weg, ein heftiger dumpfer Schmerz am rechten Ellbogen, eine Menge besorgter Leute mit diesem verkniffenen Gesichtsausdruck, dem ich entnahm, dass meine Kopfverletzung schlimm sein musste. Irgendwer rief einen Krankenwagen und jemand anders gab mir Papiertaschentücher, die ich mir an den Kopf hielt, und die Tücher färbten sich tiefrot.

Es war genau, wie die Leute immer gesagt hatten: Die Zeit schien tatsächlich langsamer abzulaufen. Den Sturz kann ich nicht richtig in Zeitlupe vor mir sehen, dafür aber in einer erweiterten Fassung, in der sich jedes noch so winzige Ereignis rund um den Unfall in die Länge zieht und registriert ist, so als ob es vielleicht das letzte meines Lebens wäre, meine Flugbahn vom Rad auf den Boden eher als ein eleganter Sturzflug durch die Luft statt als plumpes, panisches Stück Verwirrtheit, und ständig sagt jemand „Krankenwagen“.

Der Krankenwagen kam nach sechs langen Minuten oder etwas um den Dreh, wahrscheinlich weil er es schwer hatte, sich durch all die hilfreichen Leute zu schieben, und ich weiß noch, dass ich mir Sorgen um mein Rad machte und wer meiner Frau Bescheid sagen würde. Einer der Rettungssanitäter schnitt meinen Jackenärmel auf und zuckte ein bisschen zusammen, als er sah, was mit meinem Ellbogen los war. Keine freiliegenden Knochen, dafür aber eine Schwellung, so groß wie ein Suppenteller, und er sagte: „Das wird noch geröntgt, aber dass der gebrochen ist, kann ich Ihnen jetzt schon sagen!!“, und wir fuhren eilig zum Krankenhaus an der Fulham Road, an dem wir beide vor nicht einmal einer Viertelstunde vorbeigekommen waren. Ich fragte ihn, ob sie die Sirene einschalten würden, und er fragte mich, was passiert war.

Ich war ein Opfer der Zeit geworden. Ich war nicht schnell gefahren, weil der Weg so voll war. Jake fuhr vor mir, und links vor uns gingen viele Leute, und eine davon, eine Besucherin aus Portugal, wie wir später erfuhren, schlenderte ein Stück von ihren Freunden weg und kam mir dabei genau in die Quere. Ich wusste, ich würde sie rammen, noch ehe ich es tat, aber es war keine Zeit zum Bremsen oder auch nur, um die Hand auszustrecken, und mein Rad schien einfach unter mir zu verschwinden, während ich nach vorn kippte. Die Portugiesin, die vielleicht Mitte zwanzig war, stand unter Schock und war ganz betroffen, und Jake schrieb sich ihre Handynummer auf, aber wir haben keine Ahnung, wo die hingekommen ist. Schon in diesem Moment, als ich in der Nähe der Serpentine Gallery im Gras saß, wusste ich, glaube ich, dass es viel schlimmer hätte sein können, dass die Splitter meiner Sonnenbrille mir in die Augen hätten dringen können, und dann wäre ich blind geworden.

Vielleicht sind die Neurowissenschaftler inzwischen ein bisschen erschöpft von all den Geschichten, die ihnen erzählt werden, wie langsam die Zeit an einem Unfallort abläuft, und sie können Ihnen erklären, warum es einem so vorkommt. Unfälle sind etwas Erschreckendes und Furchteinflößendes. Wer vom Rad fällt oder eine Klippe hinunter, dessen Gehirn findet reichlich Platz für neue Erinnerungen, die sich unserer Großhirnrinde aufprägen können. An sie erinnern wir uns als wichtige Ereignisse, lebhaft und mit viel Action, und wenn wir diese Geschichte in unserem Kopf noch einmal ablaufen lassen oder anderen erzählen, dann scheint so viel zu passieren, dass es einfach länger gedauert haben muss als den Sekundenbruchteil, den es wirklich gedauert hat.

Gemessen an altbekannten Vorfällen, die sich unserer Hirnrinde so eingeprägt haben, dass wir nicht mehr an sie denken müssen (die Fahrt zum Einkaufen, bei der wir geistig mit anderem beschäftigt sind, die Routinehandlungen, die uns so vertraut sind, dass wir sagen, wir können das im Schlaf), beansprucht ein plötzliches neues Ereignis mehr Aufmerksamkeit im Gehirn. Der ungewohnte Umriss einer Frau, die eine weiße Markierungslinie überschreitet, der fliegende Kies, das Kreischen von Bremsen und Passanten – das alles sind ungewöhnliche Dinge, wenn man sie verarbeiten muss, während man den Schaden am verwundbaren Fleisch in Grenzen zu halten sucht.

Aber was passiert tatsächlich in dieser Momentaufnahme? Wieso scheint eine solche Momentaufnahme gleichzeitig ein ewig lang belichtetes Bild zu sein, was, wie wir wissen, unmöglich ist? Zwei kleine Bereiche in unserem Gehirn, die zusammen als Amygdala (Mandelkerne) bekannt sind – zwei Gruppen hyperreaktiver Nervenbündel im Temporallappen des Großhirns, die sich hauptsächlich mit Erinnerungsverarbeitung und Entscheidungsfindung beschäftigen –, spannen in Krisensituationen die übrigen Gehirnfunktionen ein, um reagieren zu können. Das ist etwas, was einen Sturz von einer Sekunde Dauer auf fünf oder noch mehr Sekunden zu dehnen scheint, und ausgelöst wird es durch Angst und plötzliche Schocks, die unser limbisches System so heftig treffen, dass wir sie vielleicht nie mehr vergessen. Aber unsere subjektive Zeitverzerrung ist nichts weiter als das; die gemessene Zeit auf der Uhr hat uns zuliebe nicht wirklich stillgestanden oder sich gedehnt. Stattdessen hat die Amygdala mit ihrem Zwillingskern emotional geladene Erinnerungen mit viel farbigeren Details hinterlegt, und die Zeitverzerrung, die wir empfinden, ergibt sich nur aus der Rückschau. Der Neurowissenschaftler David Eagleman, der zahlreiche Experimente zum Zeitempfinden unternommen hat und als Junge eine ähnliche Zeitdehnung erlebte, als er vom Dach fiel, beschreibt das als „einen Trick des Gedächtnisses, das eine Geschichte über eine Wirklichkeit schreibt“. Unsere neuronalen Mechanismen versuchen in einem fort, die Welt um uns herum in möglichst kurzer Zeit in eine verständliche Erzählung zu formen. Schriftsteller versuchen dasselbe, denn was, wenn nicht neu positionierte Zeit, ist Literatur, und was ist Geschichte, wenn nicht Zeit aus der Rückschau, Ereignisse, die aus unserer Zeit heraus neu bewertet werden?

Nicht, dass ich das im Krankenwagen auf der Fahrt zum Krankenhaus hätte erklären können; der Krankenwagen hat seine eigenen Routinen und Abläufe. Genau wie die Notaufnahme, wo ich eine gefühlte Ewigkeit saß und darauf wartete, dass mich jemand untersuchte. Nachdem meine Amygdala inzwischen wieder im Gleichgewicht war, herrschte jetzt eine andere Art gedehnter Zeit – die Zeitdehnung der Langeweile, rund zwei Stunden, in denen ich zu anderen Patienten hinübersah und mich fragte, wie ich nur den Großteil der Termine in meiner nächsten, randvollen Woche absagen sollte. Jake hatte vorgehabt, abends den letzten Zug nach St. Ives zu nehmen, aber der Zug würde ohne ihn abfahren. Nach einer Weile kam meine Frau Justine, und ich ging mit ihr durch, was passiert war, während mir immer noch blutiges Papier über dem Auge klebte; und nach einer weiteren Weile kam die Sache richtig in Gang, und ich lag auf einer Rollbahn in einer Kabine, während eine Schwester kontrollierte, ob ich meine Faust ballen konnte. Es war schon beinahe Mitternacht, als sie damit anfingen, meinen Ellbogen einzugipsen, um ihn so lange zu fixieren, bis sie mich operieren konnten, und ein Uhr vorbei, als ein netter Arzt, dessen Schicht zu Ende ging, sagte, er müsse zwar zurück zu seiner Frau und ihrem drei Wochen alten Baby, aber er wolle mich lieber selbst nähen, als das einem der Neuen zu überlassen, weil die Wunde so tief war.

Und dann war ich etwa um drei Uhr morgens allein. Meine Frau und mein Sohn waren mit den Fahrrädern auf der Rückbank nach Hause gefahren, und ich hatte noch kein Bett auf einer Station, also lag ich in einem abgedunkelten Zimmer, trug ein hinten zugebundenes getüpfeltes Nachthemd, den Arm in Gips auf meiner Brust, mit neun Stichen knapp über meiner Braue und Schmerzmitteln im Leib. Ich fragte mich, wie lange ich dableiben müsste und wann sie endlich operieren würden, und ich konnte hören, dass irgendwo etwas tropfte und jemand außerhalb des Raums etwas rief, und langsam wurde mir kalt.

Es kam mir vor, als könnte ich jedes Sandkorn Zeit spüren. Es war August 2014, aber das Datum erschien bedeutungslos und zufällig. Ein Sturz hatte mein überdrehtes Bewusstsein aufgebrochen, und alles war auf den Kopf gestellt. In einem Hinterzimmer in klinischer Umgebung spürte ich, wie ich einem Bewusstseinszustand entgegentrieb, in dem die Zeit nicht nur eine ungeahnte Dringlichkeit, sondern auch eine ungeahnte Lässigkeit gewann. Ich lag wieder in einer Wiege, wo ich über die Zeit nicht mehr zu bestimmen hatte, und das brachte mich zu der Frage, inwieweit ich das überhaupt je getan hatte.

War alles Zufall oder war alles festgelegt? Hatten wir die Kontrolle über etwas verloren, das wir erschaffen hatten? Wenn wir das Stadion nur eine halbe Minute vorher verlassen oder nur eine Winzigkeit fester in die Pedale getreten hätten, eine Radumdrehung mehr, oder wenn die Ampel an der Royal Albert Hall uns zum Halten gebracht hätte, und wenn die Frau aus Portugal sich an diesem Nachmittag mehr Zeit mit dem Kuchen gelassen hätte oder, noch besser, nie nach London gekommen wäre, dann wäre das nie passiert und Jake hätte noch seinen Zug erwischt und ich hätte mir in Match of the Day die sportlichen Höhepunkte des Tages angesehen und der Arzt wäre früher nach Hause gekommen und hätte seiner Frau helfen können. Alles, was in dieser Situation als Zeit erschien, war selbstauferlegt und selbstbestimmt, ein Arrangement der Moderne, das im Lauf der Generationen Schritt für Schritt feingetaktet worden war. Da fragte ich mich, wie es zu so einem Bündnis gekommen war. Die Zeit regelte den Verkehr, die Unterhaltung, den Sport, die medizinische Diagnostik, einfach alles – und die Menschen und Vorgänge, die diese Verbindungen in Gang gesetzt haben, sind das Thema dieses Buches.

Zeitfieber

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