Читать книгу Das Flüstern des Tornados - Sindy Sea Turtle - Страница 4
Kapitel 2: Der Neue
Оглавление„Das ist Nathan. Er hat den Highscore seines Jahrgangs an der Marie Baum Gesamtschule geschafft und konnte jetzt zu uns wechseln, um hier sein Abitur zu machen. Anna, Sie kümmern sich um den Neuen. Sie brauchen ja sowieso noch ein paar Sozialpunkte.“
Aus dem B-Sektor. Natürlich. Frau Meier musste es nicht erwähnen. Das konnte eh jeder sehen und riechen. Der muffige Geruch, der vom schlechten Sekundärwasser fürs Waschen herrührte, hing einfach an allen B-lern dran. Und eine Schuluniform würde Nathan erst bekommen, wenn er die ersten drei Monate hier überstand. Die Direktorin war da schon ein bisschen gnadenlos, aber neue Uniformen waren teuer, das musste sich lohnen. Ressourcenschonung ging eben vor. Das ganze Notenblabla hätte sich Frau Meier auch schenken können. Was für einen anderen Grund hätte es geben können, dass ein B-ler zu ihnen ans Gymnasium kam? Keinen. Jetzt hatte sie den Neuen an der Backe. Das machte die Meier doch mit Absicht. Sie war ja selbst aus dem B-Sektor und wollte denen immer helfen. Anna war die Klassenbeste. Gerne erinnerte die Meier sie an ihre Verantwortung für die Gesellschaft. Als ob das nötig wäre. Aber okay, ihr fehlten wirklich noch ein paar Sozialpunkte fürs Stipendium. Sonst würde sie nach dem Abitur keinen Platz in einem Geoengineering-Studiengang erhalten. Notentechnisch war sie ja schon prima aufgestellt, den Highscore ihrer Klasse würde sie sich von diesem Nathan ganz bestimmt nicht nehmen lassen. Das sollte der ruhig mal versuchen. Ein Paten-Amt bei einem Neuen war immerhin besser als die lästige Nachhilfe in den unteren Klassenstufen, die sie sonst immer gab. Und einer aus dem B-Sektor würde nicht viel Arbeit machen. Die waren ja alle immer so schrecklich langweilig und überangepasst, ja geradezu ängstlich. Wenn sie sich einmal an die gut gefilterte Luft und das gesunde Essen gewöhnt hatten, wollten sie eigentlich gar nicht mehr nach Hause. Aber an diesem Nathan war irgendetwas anders. Schon wie er dastand. Gar nicht schüchtern, eher selbstbewusst. Und sein Blick war nicht unsicher, wie bei anderen B-lern, nein, er war, eher, ja, wie eigentlich? Herausfordernd? Nein, trotzig, ja genau, das traf es. So, als wollte er zeigen, dass er hierhergehörte, auch wenn er wusste, dass ihn keiner haben wollte. Aber wie er sich fühlte, war schließlich nicht ihr Problem. Anna musste nur dafür sorgen, dass er ihr die volle Punktzahl als Patin gab, alles andere konnte ihr egal sein. Und, naja, für einen aus dem B-Sektor sah er auch ganz gut aus. Nicht, dass er ihr Typ gewesen wäre, aber immerhin.
„Nathan setzen Sie sich bitte zu Anna, Mia, du gehst bitte auf den freien Platz neben Paul, danke.“
Auch das noch! Daran hatte Anna nicht gedacht. Entsetzt schaute sie zu Mia rüber. Jetzt würde sie auch noch die anstehende Geschichtshausarbeit mit diesem Nathan zusammen machen müssen. Denn dafür wurden immer Zweierteams aus den Tischnachbarn gebildet. Anna hatte sich das mit ihrer besten Freundin Mia schon so schön vorgestellt. Mia war überhaupt nicht ehrgeizig und überließ immer ihr die Konzeption und das Schreiben. Dafür übernahm Mia die nervigen Recherchejobs und brachte das Ganze in Form. Diese Arbeitsteilung hatte sich in den letzten Jahren schon oft bewährt und brachte ihnen beiden immer eine gute Note ein. Damit war es für dieses Mal wohl vorbei.
Mia gab ihr einen kurzen Stoß mit dem Ellenbogen und riss Anna aus ihren Gedanken.
„Tut mir leid für dich, jetzt musst du das Gemuffel ertragen“, flüsterte sie. Dabei lächelte sie zaghaft und fing an, ihre Schulsachen in den Rucksack zu stopfen. Ja, natürlich. Mia fand das Umsetzen toll. Schon seit der Grundschule schwärmte sie für Paul. Das hatte in der ersten Klasse angefangen. Damals gab es noch integrierte Schulen mit Kindern aus beiden Sektoren und ohne Standard-Verpflegung für alle. Mias Eltern waren KEs, sie gehörten zur Klima-Elite. Entsprechend gut gefüllt war ihre Brotbox. Denn die Lebensmittelversorgung war im A-Sektor schon immer wesentlich besser gewesen. Die kleine und zierliche Mia war ein liebes Mädchen, eines das eigentlich gerne teilte. Doch zwei Mitschüler aus dem B-Sektor gaben sich nicht mit diesen kleinen Gaben zufrieden. Sie wollten alles haben. Bei Tisch klemmten sie Mia zwischen sich ein und bedienten sich aus ihrer Box. Jedes Mal, wenn Mia selbst hineingreifen wollte, schlugen sie ihr auf die Finger. Das Ganze machten sie so geschickt, dass die Aufsicht, nichts mitbekam. Mia drohten sie Schläge an, für den Fall, dass sie jemandem etwas sagen sollte. Allen anderen Schülern empfahlen sie eindringlich, sich rauszuhalten, wenn sie ihr eigenes Essen behalten wollten. Der Hinweis auf ihren übergroßen Hunger schreckte alle ab, auch Anna, die damals noch nicht mit Mia befreundet war. Die Gefahr, dass Mia sich beschweren würde, bestand sowieso nicht, denn Mia war ein ängstliches und zurückhaltendes Kind. Ihren Eltern gefiel das gar nicht, sie wollten eine forsche Klimakämpferin und überließen es ihre Tochter daher, ihre Konflikte selbst austragen. „Du musst lernen, dich zu wehren“ sagten sie ihr bei jeder Gelegenheit. Doch das traute sich Mia nicht. Der Essensklau ging eine ganze Weile so. Schließlich geschah etwas Unerwartetes. Ohne sich mit irgendjemandem abzusprechen, ohne Erwachsene um Hilfe zu bitten, schritt Paul ein. Eines Mittags nahm er Mia an die Hand und sagte: „Du sitzt heute neben mir.“ Er wählte einen Platz direkt vor der Aufsicht. Mia war so erstaunt und glücklich, dass Paul sie gerettet hatte, dass sie die ganze Essenzeit keinen Bissen herunterbrachte. Sie starrte Paul nur dankbar und mit tränengefüllten Augen an. Nach der Schule mussten die beiden B-ler ihren Drohungen natürlich Taten folgen lassen. Denn ihnen war klar, dass sie sonst nie wieder an Mias Brotbox herankommen würden. Als Paul auf den Schulhof trat, verblüffte er alle mit einer weiteren Aktion: Er fing an, die beiden B-ler mit Sprüchen wie „Traut ihr euch nur zu zweit gegen einen A-ler? Hätte ich mir ja denken können“ und „Geben euch eure Eltern nicht mal eure Kinderration mit?“ zu provozieren. Das zeigte augenblicklich Wirkung, die beiden B-ler gingen auf Paul los. Woran sie und alle anderen nicht gedachten hatten: Später sollte die, natürlich stumme, Videoaufzeichnung der Schulhof-Überwachungskameras genau zeigen, dass die Aggression von den beiden ausging. Es dauerte bei der nun folgenden heftigen Schlägerei nicht lange, bis ein Lehrer einschritt. Die beiden B-ler wurden nach einer kurzen Untersuchung des Vorfalls, bei der selbstverständlich keiner die Brotbox ins Spiel brachte, von der Schule verwiesen. Gewaltfreiheit war schließlich oberstes Gebot an Schulen. Paul hatte neben diversen blauen Flecken eine Platzwunde am Kopf davongetragen. Außer Mias offenbar lebenslanger Dankbarkeit und Zuneigung war die daraus resultierende Narbe an seiner Stirn das Einzige, was noch an diesen Vorfall erinnerte. Paul hatte später nie Interesse an Mia gezeigt und diese verharrte in stummer Anbetung aus der Ferne. Bis heute. Niemand außer Anna wusste von ihren Gefühlen für Paul. Aber das Schicksal meinte es offenbar gut mit Mia. Jetzt wurde sie durch die Umstände gezwungen, mit ihrer großen Liebe auf Tuchfühlung zu gehen. Anna gönnte es ihr, aber der Zusammenarbeit mit Nathan bei der Geschichte-Hausarbeit sah sie mit gemischten Gefühlen entgegen.
Scheu lächelnd setzte sich Mia neben Paul. Der begrüßte sie mit der ihm eigenen stoischen Ruhe und einem kurzen Nicken. Nun nahm Nathan neben Anna Platz. Er musterte sie verblüffender Weise ganz unverhohlen. Das verunsicherte Anna kurz. Für einen aus dem B-Sektor war das schon richtig frech. Der Test fiel offenbar positiv aus. Mit einem hauchzart angedeuteten Lächeln sagte er „Hi“ und ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen. Ziemlich unbefangen, na, das war ja mal etwas Neues. Dann ging es auch schon mit der Aufgabenverteilung los.
„Heute gebe ich die Themen für die Hausarbeit aus. Denkt daran, dass sie ein Drittel eurer Geschichtsnote für das erste Halbjahr ausmacht. Also gebt euch Mühe. Fangen wir mit dem ersten Team an: Anna und Nathan, ihr werdet euch mit der Einrichtung des Klima-Rates direkt nach dem Tipping-Point beschäftigen. Mia und Paul, ihr bildet ja jetzt ein Team. Ihr übernehmt die Einführung der Pandemie-Protokolle direkt im Anschluss. Die ersten beiden Klima-Kriege sind das Thema von Klara und Lorenz. Beachtet vor allem die Folgen der Lebensmittel-Rationierungen. Die Klima-Kriege drei und vier bearbeiten Jule und Max. Leon und Sophie: ihr beschäftigt euch mit der Restrukturierung der Landwirtschaft während des ersten Dürrejahrzehnts, Florian und Benjamin übernehmen die Umstellung der Energieproduktion während des gleichen Zeitraums, …“
Während Frau Meier weiter ihre Lister runterratterte, dreht sich Anna verblüfft zu Nathan. Auch er hob die erstaunt die Augenbrauen.
„Das sind doch Sechstklässler-Themen, was soll das?“, flüsterte er.
Sie zuckte mit den Schultern und antwortete in gedämpfter Lautstärke: „Keine Ahnung. Das Zeug haben wir schon tausend Mal durchgekaut.“
Doch das war offenbar nicht leise genug. Frau Meier war auf sie aufmerksam geworden.
„Anna, gibt es Fragen?“
„Die Themen sind doch viel zu einfach. Was sollen wir denn da schreiben?“
„Nun, ich war mit meinen Ausführungen noch nicht ganz zu Ende. Sie werden dieses Mal nicht, wie sonst, in der deutschen Enzyklopädie nach Fakten suchen, sondern in den Primärquellen. Ich will in ihren Arbeiten nur Original-Zitate lesen. Alle aufgeführten Fakten müssen mit einer Primärquelle belegt werden.“
Ein Raunen ging durch die Klasse.
„Primärquellen? Nicht online? Sie meinen Bücher und so etwas?“
Anna konnte es nicht fassen. Das hatten sie noch nie gemacht. Und sie hatte auch gar keine Lust, in staubigen alten Büchern nach Informationen zu suchen, die sich mit einem Klick in der offiziellen Enzyklopädie finden ließen. Frau Meier fand ihre Fassungslosigkeit offenbar höchst amüsant, sie lächelte.
„Ja, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Es ist ja noch alles da, sie müssen nur in die Zentralbibliothek im B-Sektor gehen. Das ein oder andere finden Sie vielleicht auch in der Schulbibliothek. Sie dürfen auch gerne Zeitzeugen befragen, wenn sie welche finden. Das gibt dann Extrapunkte. Eine Geschichtsarbeit in der Oberstufe erfordert nun mal etwas mehr Aufwand und intellektuelle Anstrengung, Anna.“
Aus den Augenwinkeln konnte Anna erkennen, dass Nathan inzwischen breit grinste. Er bemerkte ihren Blick und raunte ihr zu:
„Na, da bist du doch genau im richtigen Team gelandet, oder? Für ein Abenteuer im B-Sektor bin ich doch die perfekte Begleitung. Keine Angst, ich pass auf, dass dich niemand auffrisst.“
Wieder dieses freche Lächeln, dieses Mal wurde es sogar noch von einem Augenzwinkern begleitet. Der Scherz war geschmacklos. In den Zeiten der ersten Essensrationierungen war es wirklich vorgekommen, dass A-lern von Ausflügen in den B-Sektor nicht zurückkehrten. Damals hatte es Gerüchte gegeben, dass der Hunger die Menschen in den besonders verrufenen Vierteln des B-Sektors, jenen, die nah an der Grenze zur gesperrten C-Zone lagen, zu Kannibalen hatte werden lassen. Gut genährte A-ler, die sich unvorsichtiger Weise in diese Gebiete begeben hatten, sollen angeblich ihre Opfer gewesen sein. Von offizieller Seite wurde das immer dementiert. Aber die Geschichten über verschwundene Bürger hielten sich hartnäckig. Das war natürlich längst Vergangenheit, die Nahrungsmittelengpässe gehörten glücklicher Weise der Vergangenheit an. Anna konnte solche Bemerkungen trotzdem nicht leiden. Wie viele A-lern hatte sie nämlich immer ein ungutes Gefühl, wenn sie in den B-Sektor fuhr. Das war ja auch kein Wunder. Die schlechte Luft, der Schmutz überall und die vielen Menschen auf zu engem Raum stellten schließlich ein sehr reales Gesundheitsrisiko dar und das war alles andere als attraktiv. Aber Angst? Nein, Angst hatte sie nicht. Das konnte der Neue ruhig wissen. Deshalb zuckte sie betont lässig mit den Schultern und ging zum Gegenangriff über.
„Wenn, dann bist ja wohl du die attraktivere Beute. An dir ist viel mehr dran. Da werde wohl eher ich dich beschützen müssen.“
Das saß. Nathan war für einen aus dem B-Sektor tatsächlich sehr groß gewachsen und auch kräftig. Fast so, als hätte er als Kind das besonders nahrhafte Gesundheitsplus-Essen bekommen. Das konnte aber eigentlich nicht sein. Ihre verbale Attacke schien Nathan keinesfalls einzuschüchtern. Er war zwar kurz verblüfft, aber dann breitete sich wieder ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
„So, du findest mich attraktiv? Na, danke für das Kompliment. Hab‘ ich mir gleich gedacht, dass wir uns gut verstehen.“
Oh, das war also ein Test gewesen. Immerhin, sie hatte ihn bestanden. Aber komisch war die ganze Sache schon. So ungern sie es sich eingestand, Nathan hatte, verdammt nochmal, Recht. Was für ein seltsamer Zufall, dass sie ausgerechnet kurz vor dieser Hausarbeit Nathan als neuen Teampartner zugewiesen bekam. Während der beiden folgenden Engineering-Stunden grübelte Anna noch etwas über dieses seltsame Zusammentreffen von Patenschaft und Aufgabenstellung nach. Aber letztlich spielte es keine große Rolle. Sie würde mit oder ohne Nathan ihr Bestes geben und Bestnoten bekommen, so wie immer. Mit dieser Feststellung schob sie alle weiteren Gedanken beiseite und wandte sich wieder dem Unterricht zu. Ihre Unaufmerksamkeit war nicht weiter schlimm gewesen. Den Stoff, ein Vergleich der Energieausbeute von Fotovoltaik-Anlagen bei Smogstufe 8 mit den neuen, Tornado-resistenten Windkrafträdern, kannte sie schon zur Genüge. Er wurde nur zur Vorbereitung auf die Halbjahresprüfung wiederholt.