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Sherlock Holmes und die Ohren.
ОглавлениеIndem ich eine Reihe von typischen Fällen veröffentlicht habe, welche die ausserordentlichen geistigen Eigenschaften meines Freundes Sherlock Holmes dartun, war ich möglichst bestrebt, solche Abenteuer auszuwählen, die das geringste Mass von Sensation enthalten. Diese Fälle sind nach meiner Ansicht nämlich mehr als andere geeignet, die besonderen Gaben und Fähigkeiten meines Freundes darzulegen. Es ist indessen leider unmöglich, alles Sensationelle vom Kriminellen zu trennen, und da ich mir die Aufgabe gestellt habe, über die Taten Sherlock Holmes’ zu berichten, befinde ich mich in der peinlichen Lage, entweder wichtige Einzelheiten weglassen und so ein falsches Bild von dem Problem geben zu müssen, oder nur solche Fälle auszuwählen, die zufällig nicht zugleich auch »sensationell« sind. Nach dieser kurzen Vorrede greife ich nun zu meinen Notizen über einen Fall, der sich als eine besonders seltsame und zugleich schreckliche Folge von Ereignissen herausgestellt hat.
Es war ein sengend heisser Tag im August. Die Bakerstreet glühte wie ein Backofen, und das blendende Sonnenlicht auf der Backsteinwand des dem unseren gegenüberliegenden Hauses tat dem Auge weh. Man konnte nicht glauben, dass dies dieselben Mauern seien, welche sonst so furchtbar düster durch den Winternebel zu uns herüberblickten. Unsere Vorhänge waren halb geschlossen, und Holmes lag ausgestreckt auf dem Sofa; er las einen Brief, den er mit der Morgenpost erhalten hatte, nun zum zweitenmal durch. Was mich selbst betrifft, so hatte mich mein Dienst in Indien daran gewöhnt, grosse Hitze besser denn Kälte zu ertragen, und so war es mir bei einem Thermometerstand von 30 Grad ganz behaglich zumute. Aber die Morgenzeitung bot nichts Interessantes. Das Parlament war vertagt worden; alle Welt hatte die Stadt verlassen, und ich selbst sehnte mich nach der fühlen Dämmerung des Waldes oder nach der frischen Seeluft. Mein Guthaben auf der Bank war erschöpft; dies bildete den einzigen Grund, warum ich meine Ferien noch verschoben hatte, und was meinen Freund betraf, so übten weder das Meer noch der Wald die geringste Anziehung auf ihn aus. Er liebte es, im Mittelpunkt von fünf Millionen Leuten zu sitzen und seine Fühlfäden überallhin über sie auszuspannen, stets gewärtig, bei dem geringsten Verdacht eines unaufgeklärten Verbrechens in Tätigkeit zu treten. Die Wertschätzung der Natur war unter seinen verschiedenen Gaben keineswegs anzutreffen, und aufs Land kam er nur dann, wenn er den Uebeltäter der Stadt zeitweilig verliess, um den Spuren seines Genossen auf dem Lande zu folgen.
Da ich fand, dass Holmes zu eifrig mit seinem Brief beschäftigt war, als dass ich ihn hätte unterbrechen mögen, warf ich die langweilige Zeitung beiseite und lehnte mich in meinen Stuhl zurück, worauf ich bald in Träumerei verfiel. Plötzlich riss mich die Stimme Sherlock Holmes’ aus meinen Gedanken.
„Du hast recht, Watson,“ sagte er, „dies scheint auch mir eine ganz unsinnige Art zu sein, Streitigkeiten zu erledigen.“
„Ganz sinnlos!“ rief ich aus. Aber dann wurde mir plötzlich klar, dass Sherlock Holmes den innersten Gedanken meiner Seele ausgesprochen hatte. Ich fuhr in meinem Stuhl in die Höhe und sah ihn mit unverhohlenem Erstaunen an.
„Wie kamst du darauf, Holmes?“ rief ich aus, „das übersteigt doch alles, was ich je für möglich gehalten hätte.
Er lachte herzlich über mein Erstaunen. „Du wirst dich erinnern,“ sagte er, „dass vor einiger Zeit, als ich dir jene Stelle aus einer von Poes Erzählungen vorlas, in der ein scharfer kritischer Denker den unausgesprochenen Gedanken seines Freundes folgt, dass du damals grosse Luft zeigtest, diesen Fall lediglich als einen gewandten Trick des Verfassers aufzufassen. Als ich dir damals bemerkte, dass ich die ständige Gewohnheit habe, ganz dasselbe zu tun, drücktest du mir unverkennbar deinen Zweifel an meiner Behauptung aus.“
„O, nein!“
„Vielleicht nicht mit der Stimme, mein lieber Watson, aber ganz sicherlich mit deinen Augenbrauen. So hatte ich jetzt, als ich sah, dass du deine Zeitung wegwarfest, und in deinem Stuhle anfingest, deine Gedanken wandern zu lassen, eine selten gute Gelegenheit, deinem Gedankenzug zu folgen und ihn dann plötzlich zu unterbrechen, wodurch ich dir mit grösster Klarheit beweisen konnte, dass ich genau von deinen Gedanken unterrichtet war.“
Aber ich war noch lange nicht befriedigt. „In dem Beispiel, das du mir vorgelesen hast,“ sagte ich, „schloss jener scharfe Denker nach den Handlungen des Mannes, den er beobachtete. Wenn ich mich recht erinnere, so stolperte er über einen Haufen Steine, blickte dann zum Himmel empor usw., ich dagegen bin hier ganz ruhig in meinem Stuhl gesessen — was kann ich dir da überhaupt für Anhaltspunkte gegeben haben?“
„Du tust dir selbst unrecht. Der Gesichtsausdruck ist dem Menschen als das Mittel gegeben, seine Gemütsbewegungen zu offenbaren, und deine Gesichtszüge folgen jeder Regung aufs willigste.“
„Willst du damit sagen, dass du mir die Gedanken vom Gesicht abgelesen hast?“
„Vom Gesicht und ganz besonders von den Augen! Vielleicht kannst du dich gar nicht mehr besinnen, wie deine Träumerei begonnen hat.“
„Nein, das kann ich nicht.“
„Dann will ich es dir sagen. Nachdem du die Zeitung zu Boden geworfen hast, — und das war es, was meine Aufmerksamkeit auf dich lenkte — sassest du etwa eine halbe Minute lang mit ausdruckslosem Gesichte da. Dann richteten sich deine Augen auf das neugerahmte Porträt des Generals Gordon, und ich sah an der Veränderung in deinem Gesicht, dass eine Kette von Gedanken in deinem Gehirn zu entstehen begonnen hatte; aber sie führte mich nicht weit. Deine Augen streiften das nichteingerahmte Porträt des Henry, Ward Beecher, das da oben über deinen Büchern hängt. Dann schautest du an der Wand hinauf, und was du dabei dachtest, war ganz offensichtlich: Wenn, dachtest du, auch dieses Porträt gerahmt wäre, würde es gerade die leere Fläche dort füllen und so ein hübsches Pendant zu dem Gordon bilden.“
„Du bist meinen Gedanken wunderbar gefolgt!“ rief ich aus.
„Soweit hatte ich kaum fehlgehen können. Aber nun kehrten deine Gedanken wieder zu Beecher zurück, und du schautest das Bild scharf an, wie wenn du den Charakter des Mannes in seinen Gesichtszügen hättest studieren wollen. Dann lösten sich die Falten über deinem Auge, aber immer noch sahst du nach dem Bilde hinüber, und dein Gesicht war sehr ernsthaft und gedankenvoll. Du riefest dir zweifellos die Einzelheiten aus Beechers Leben ins Gedächtnis zurück; nun war es ganz klar, dass du das nicht konntest, ohne dabei auch an die Mission zu denken, die er zurzeit des Bürgerkrieges im Interesse der amerikanischen Nordstaaten erfüllt hatte, denn ich erinnere mich noch ganz genau, wie leidenschaftlich du damals deiner Missbilligung über die Art und Weise Ausdruck gegeben hast, in welcher dieser würdige Mann von den weniger gemütlichen Elementen unserer Bevölkerung empfangen wurde. Du bist damals so empört gewesen, dass ich genau wusste, du könntest nicht an Beecher denken, ohne auch auf diese Mission zu kommen. Als dann einen Augenblick später deine Augen von dem Bilde sich wegwandten, konnte ich mit Recht annehmen, dass deine Gedanken nun beim nordamerikanischen Bürgerkrieg angelangt seien, und als ich jetzt beobachtete, dass deine Lippen sich zusammenkniffen, deine Augen glänzten und deine beiden Hände die Stuhllehnen fester umklammerten, so war ich überzeugt davon, dass du an die heroischen Taten dachtest, die in diesem Verzweiflungskampfe auf beiden Seiten ausgeführt wurden. Aber dann auf einmal wurde dein Gesicht traurig; du schütteltest den Kopf, du dachtest über die traurige und schreckliche und nutzlose Vernichtung so vieler Menschenleben nach Deine Hand griff unwillkürlich nach deiner eigenen alten Wunde, und ein leichtes Lächeln zog über deine Lippen, was mir zeigte, dass ich dich von der Lächerlichkeit dieser Methode, internationale Streitigkeiten beizulegen, überzeugt hatte. Bei diesem Punkt angelangt drückte ich dir meine Zustimmung damit aus, dass dies ganz unsinnig sei, und zu meiner grossen Freude ersah ich aus deinem Verhalten, dass alle meine Schlussfolgerungen richtig gewesen waren.“
„Vollständig richtig!“ bemerkte ich. „Und nun, wo du mir alles erklärt hast, erscheint mir alles noch viel wunderbarer als zuvor.“
„O, das war alles sehr einfach, mein lieber Watson, ich versichere dich, eine ganz oberflächliche Sache. Ich würde auch gewiss deine Aufmerksamkeit nicht darauf gelenkt haben, hättest du mir nicht neulich deine Ungläubigkeit gezeigt. Aber hier habe ich ein kleines Problem vor mir, dessen Lösung sich vermutlich schwieriger gestalten wird als mein kleiner Versuch im Gedankenlesen. Hast du in der Zeitung die kleine Notiz bemerkt, die sich auf den sonderbaren Inhalt eines Paketes bezieht, das durch die Bost einem Fräulein Susanna Cushing, Grossstreet, in Croydon zugeschickt worden ist?“
„Nein, ich habe sie nicht gelesen.“
„So? Dann musst du sie übersehen haben; bitte, gib mir mal die Zeitung herüber. Hier ist’s, unter den Börsennachrichten. Vielleicht bist du so freundlich, mir den kurzen Bericht laut vorzulesen.“
Ich nahm die Zeitung zur Hand und las die bezeichnete Stelle vor. Sie war überschrieben: »Ein grausiges Paket« und lautete folgendermassen:
„Fräulein Susanna Cushing, Grossstreet, in Croydon, ist das Opfer eines offenbar ausserordentlich schlecht angebrachten, sogenannten »Scherzes« geworden, sofern nicht überhaupt dem Zwischenfall eine viel ernstere Bedeutung beigelegt werden muss. Gestern nachmittag um zwei Uhr erhielt das Fräulein durch die Post ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket. In dem Paket befand sich eine Pappschachtel, die mit sehr grobkörnigem Salz gefüllt war. Als Fräulein Cushing dieses ausleerte, erschrak sie zu Tode, als sie darin zwei menschliche Ohren fand, die augenscheinlich ganz frisch abgeschnitten waren. Die Schachtel war am Morgen vorher in Belfast aufgegeben worden. Wer der Absender ist, darüber fehlen noch alle Anhaltspunkte, und die ganze Angelegenheit ist um so rätselhafter, als Fräulein Cushing, eine unverheiratete Dame von über fünfzig Jahren, ein sehr zurückgezogenes Leben führt und so wenige Bekannte hat, dass sie nur selten etwas von der Post erhält. Einige Jahre vorher jedoch, als sie noch in Penge wohnte, vermietete sie in ihrem Hause Zimmer an drei junge Studenten der Medizin, die sich aber bei ihr so ungebührlich aufführten, dass sie gezwungen war, ihnen zu kündigen. Die Polizei ist der Ansicht, dass diese Studenten dem Fräulein den ungezogenen Streich gespielt haben, weil sie ihr wegen der Kündigung grollten und vielleicht hofften, sie durch Uebersendung eines solchen Andenkens aus dem Anatomiesaal zu erschrecken. Diese Annahme wird bis zu einem gewissen Grade dadurch gestützt, dass einer der Studenten aus Nordirland stammte und zwar — so glaubt sich wenigstens Fräulein Cushing zu erinnern — in Belfast zu Hause war. Der Fall wird eifrigst untersucht und liegt in den Händen des Herrn Lestrade, eines unsrerer tüchtigsten Detektivs.“
„Soweit die Zeitung,“ sagte Holmes, als ich geendigt hatte. „Nun zu unserem Freund Lestrade! Ich erhielt heute morgen eine kurze Mitteilung von ihm, in der er schreibt: ,Ich glaube, dass dieser Fall Ihr ganzes Interesse finden wird. Wir haben alle Hoffnung, die Angelegenheit aufzuklären, nur finden wir es etwas schwierig, so rasch vorzudringen, als es uns geboten scheint. Wir haben natürlich an die Post in Belfast telegraphiert, aber gerade an diesem Tage wurde eine grosse Anzahl von Paketen aufgegeben, und den Leuten dort ist es nicht möglich, den Ueberbringer des bewussten Paketes noch zu ermitteln. Die Schachtel ist eine Zigarettenschachtel für hundert Stück, aber diese Feststellung bringt uns natürlich nicht weiter. Die Annahme, dass die jungen Mediziner im Spiel sind, scheint mir noch am meisten begründet zu sein, aber wenn Sie einige Stunden übrig hätten, so würde ich mich sehr freuen, wenn Sie zu mir kämen. Sie werden mich entweder auf der Polizeistation oder in der Grossstreet finden.‘ Was sagst du dazu? Hast du Lust, trotz der grossen Hitze mit mir nach. Croydon zu fahren, auf die Möglichkeit hin, einen weiteren Fall für deine Annalen zu finden?“
„Gewiss! Ich wünsche mir gerade so etwas.“
„Gut, so gehen wir also! Rufe, bitte, nach unseren Stiefeln und lass einen Wagen bestellen. Ich bin im Augenblick fertig, ich will mich nur rasch noch umziehen und mir einige Zigarren einstecken.“
Während wir im Zug sassen, prasselte ein Gewitterregen nieder, und als wir in Croydon anlangten, war die Hitze weniger drückend als in London. Holmes hatte Lestrade telegraphisch von unserem Kommen unterrichtet, und so erwartete uns der Detektiv so tipp topp und sauber wie immer an der Station. Ein kleiner Gang von fünf Minuten brachte uns zur Grossstreet, wo Fräulein Cushing wohnte. Es war eine sehr lange Strasse mit hübschen, kleinen, zweistöckigen Backsteinhäusern; alle die Steintreppen vor den Häusern waren sauber weiss gestrichen, und kleine Gruppen von beschürzten Dienstmädchen schwatzten miteinander vor den Türen. Vor einem der Häuser hielt Lestrade und läutete an der Tür, die von einem kleinen, ordentlich gekleideten Mädchen geöffnet wurde. Fräulein Cushing sass in der Vorderstube, in die uns, das Mädchen führte. Das Fräulein hatte ein seelengutes Gesicht mit grossen, sanften Augen, und graue, gewundene Locken fielen ihr zu beiden Seiten über die Schläfen hinunter. Eine Stickerei lag auf ihrem Schoss, und ein Korb mit farbigen Seidenfäden stand neben ihr auf einem Stuhl.
„Sie sind draussen im Schuppen, diese grässlichen Dinger!“ rief sie Lestrade bei seinem Eintritt entgegen. „Ich wünschte, Sie würden sie mitnehmen, damit ich’s aus dem Haus habe.“
„Das wollen wir auch, Fräulein Cushing. Ich habe sie nur hier gelassen, damit Herr Holmes sie in Ihrer Gegenwart besehen kann.“
„Aber, bitte, warum denn in meiner Gegenwart?“
„Für den Fall, dass er irgendwelche Fragen an Sie zu richten hätte.“
„Aber was soll das nützen, mir noch weitere Fragen vorzulegen, wenn ich Ihnen doch schon erklärt habe, dass ich absolut nichts von der Sache weiss?“
„Sie haben ganz recht,“ sagte Holmes in seiner beruhigenden Art. „Ich kann mir denken, wie Sie in dieser Angelegenheit bereits mehr als genug mit Fragen belästigt worden sind.“
„Ja, wahrhaftig! Ich bin eine ruhige Frau und führe ein zurückgezogenes Leben. Es hat etwas Aufregendes für mich, meinen Namen in den Zeitungen zu finden und die Polizei im Hause zu haben. Herr Lestrade, ich will die Dinger nicht in meinem Zimmer haben! Wenn Herr Holmes sie sehen will, so müssen Sie hinaus in den Schuppen gehen.“
Wir begaben uns nun zu dem kleinen Schuppen, der in dem schmalen Gärtchen hinter dem Hause lag. Lestrade ging hinein und brachte eine gelbe Pappschachtel, ein Stück braunes Papier und einen Bindfaden heraus. In dem Garten stand eine Bank. Darauf setzten wir uns alle drei nieder, während Holmes nacheinander untersuchte, was ihm Lestrade an Indizien überreicht hatte.
„Dieser Bindfaden da kommt mir ausserordentlich interessant vor,“ bemerkte er, indem er ihn genau untersuchte und dann daran roch. „Für was halten Sie das, Lestrade?“
„Der Bindfaden ist offenbar geteert.“
„Ganz richtig. Es ist ein Stück geteertes Segelgarn. Sie haben auch ohne Zweifel bemerkt, dass Fräulein Cushing den Bindfaden mit einer Schere aufgeschnitten hat, wie man an der doppelten Einkerbung sehen kann. Das ist von Wichtigkeit.“
„Die Wichtig`keit hiervon vermag ich keineswegs einzusehen,“ bemerkte Lestrade.
„Die Bedeutung liegt in der Tatsache, dass der Knoten nicht verlegt ist und dass dieser Knoten von ganz besonderer Art ist.“
„Gewiss, gewiss,“ antwortete Lestrade zuvorkommend. „Der Knoten ist sehr schön geschlungen, und ich habe mir bereits früher schon eine Notiz darüber gemacht.“
„Gut! Das wäre also der Bindfaden, und nun wollen wir mal das Packpapier ansehen. Gewöhnliches braunes Papier mit einem ausgesprochenen Geruch von gebranntem Kaffee. Was, Sie haben das nicht bemerkt? Aber ich denke doch, darüber kann gar kein Zweifel herrschen. Die Adresse in ziemlich ungelenken Buchstaben geschrieben: ,Fräulein S. Cushing, Grossstreet in Croydon‘. Der Schreiber hat eine Feder mit sehr breiter Spitze, vermutlich eine J-Feder, und ganz schlechte Tinte benützt. Das Wort Croydon war ursprünglich mit einem i geschrieben, das dann nachher in ein y umgeändert wurde. Das Paket wurde also adressiert von einem Mann — denn die Schrift ist ganz entschieden männlich — von begrenzter Erziehung, der von der Stadt Croydon nichts wusste. Gut soweit! Die Schachtel ist eine gelbe Zigarettenschachtel für hundert Stück; es ist nichts Besonderes an ihr zu bemerken, ausser den zwei Fingerabdrücken, die da in der linken unteren Ecke zu sehen sind. Sie ist mit grobem Salz ausgefüllt, und es ist von dem Salze, wie man es benützt, um Häute und derartige Sachen zu konservieren. Und darin liegen nun diese äusserst merkwürdigen Einschlüsse.“ Während er dies sprach, nahm er die beiden Ohren heraus; er legte ein Brett über seine Knie und untersuchte die Ohren eingehend, wobei Lestrade und ich uns von beiden Seiten zu ihm herabneigten und abwechselnd diese schrecklichen Fleischstücke und das gedankenvolle ernste Antlitz unseres Freundes betrachteten. Endlich legte er sie wieder in die Schachtel zurück und sass dann einige Zeit in tiefem Nachdenken da.
„Sie haben ohne Zweifel bemerkt,“ sagte er dann zu Lestrade, „dass diese Ohren kein Paạr bilden.“
„Natürlich habe ich das bemerkt; aber wenn alles nur ein schlechter Scherz einiger junger Mediziner ist, so war es diesen ebenso leicht gewesen, zwei verschiedene Ohren aus dem Anatomiesaal zu schicken, als ein Paar.“
„Selbstverständlich! Aber es handelt sich hier gar nicht um einen Scherz.“
„Sind Sie dessen so sicher?“
„Der Augenschein spricht sehr dagegen. Die Leichname erhalten für anatomische Zwecke eine Einspritzung mit einer fäulniswidrigen Flüssigkeit. Davon aber zeigen diese Ohren nichts. Sie sind mit einem nicht sehr scharfen Instrument abgeschnitten worden, und so etwas wäre kaum der Fall, wenn es ein Student der Medizin getan hätte. Ausserdem würde einem Mediziner Formol oder Spiritus als Konservierungsmittel viel näher liegen als irgend etwas anderes; am allerwenigsten würde er wohl an Salz denken. Ich wiederhole Ihnen, es handelt sich hier nicht um einen schlechten Witz, sondern wir stehen vor einem Verbrechen, das durchaus ernst aufzufassen ist.“
Ein leichter Schauder überrieselte mich, als ich den Worten meines Freundes lauschte und den schweren Ernst beobachtete, der sich in seinen Zügen ausdrückte. Diese unvermittelte Einleitung schien mir auf irgendwelche fremdartige und unerklärliche Schrecken hinzuweisen, die im Hintergrunde lauerten. Lestrade aber schüttelte den Kopf, als sei er nur halb überzeugt von Holmes’ Worten.
„Man kann natürlich Einwendungen gegen meine Anschauung, dass es sich nur um einen Scherz handelt, erheben,“ sagte er; „das unterliegt keinem Zweifel. Aber gegen die andere Anschauung lassen sich doch noch zwingendere Gründe ins Feld führen. Wir wissen, dass diese Frau in Penge sowohl wie hier seit zwanzig Jahren ein sehr stilles und ehrbares Leben geführt hat. Während dieser ganzen Zeit ist sie kaum einmal einen vollen Tag von hier weggewesen. Warum nun ums Himmelswillen sollte irgend ein Verbrecher gerade ihr die Beweise seiner Schuld zuschicken, vollends wenn sie von der ganzen Sache so gar nichts weiss, wie sie vorgibt? Sie müsste denn geradezu die raffinierteste Schauspielerin sein!“
„Das ist gerade das Problem, das wir zu lösen haben,“ antwortete Holmes, „und ich für meinen Teil werde dem Problem auf den Leib gehen, indem ich zunächst einmal überzeugt bin, dass meine Annahmen richtig sind, und dass es sich um einen Doppelmord handelt. Eines von diesen Ohren ist das einer Frau, es ist klein, zierlich geformt und weist ein Loch für einen Ohrring auf. Das andere hat einem Mann gehört; es ist sonngebräunt, gröber in den Formen und gleichfalls am Ohrläppchen durchlocht. Diese beiden Leute sind wahrscheinlich tot, oder wir würden inzwischen von ihnen gehört haben. Heute haben wir Freitag; das Paket wurde am Donnerstag morgen zur Post gegeben. Die Tat hat sich also am Mittwoch oder Dienstag oder noch früher zugetragen. Wenn diese beiden Leute ermordet worden sind, wer anders als der Mörder sollte diese Zeichen seiner Tat an Fräulein Cushing geschickt haben? Der Absender des Pakets ist der Mann, den wir suchen müssen. Aber er muss irgend einen starken Grund dafür gehabt haben, dies Paket an Fräulein Cushing zu schicken. Welchen Grund nun? Ich kann mir kaum einen andern denken, als den, ihr auf diese Weise zu sagen, dass die Tat vollbracht ist; oder schliesslich, um ihr eine Dual zu bereiten. Aber in beiden Fällen müsste sie wissen, wer der Täter ist. Weiss sie das? Ich glaube nicht. Wenn sie es wüsste, warum hätte sie dann die Polizei benachrichtigt? Sie hätte ganz einfach die Ohren in ihrem Garten vergraben können, und kein Mensch würde irgend etwas davon erfahren haben. Das würde sie sicherlich getan haben, wenn sie gewünscht hätte, den Verbrecher zu schützen. Aber wenn sie diesen Wunsch nicht hat, so würde sie der Polizei auch sogleich seinen Namen verraten haben, wenn sie ihn wüsste. Hier gehen die Fäden so durcheinander, dass wir sie notwendig erst entwirren müssen.“
Er hatte rasch und mit erhobener Stimme gesprochen, wobei er über den Gartenzaun hinweg ins Leere blickte. Nun aber sprang er hastig auf und schritt nach dem Hause zu.
„Ich möchte einige Fragen an Fräulein Cushing richten,“ sagte er.
„In diesem Falle kann ich Sie ja allein lassen,“ bemerkte Lestrade, „ich habe noch eine andere Sache hier zu erledigen. Ich glaube auch nicht, dass ich aus Fräulein Cushing noch irgend etwas Neues herausbringen werde. Wenn Sie fertig sind, so treffen Sie mich bitte nachher auf der Polizeistation.“
„Auf unserem Rückweg nach dem Bahnhof werden wir vorsprechen,“ antwortete Holmes. Einen Augenblick später standen wir wieder in dem Vorderzimmer, wo die Dame immer noch ruhig an ihrem Sofakissen weiterstickte. Sie legte es in den Schoss, als wir eintraten, und sah uns mit ihren offenen blauen Augen fragend an.
„Ich bin überzeugt,“ sagte sie, „dass es sich hier um einen Irrtum handelt, und das Paket gar nicht für mich bestimmt war. Ich habe dies dem Herrn vom Scotland Yard schon wiederholt erklärt, aber er hat dafür nur ein Lächeln übrig. Auf der ganzen Welt habe ich, soviel ich weiss, keinen einzigen Feind, warum also sollte mir jemand diesen Streich spielen?“
„Ich komme zur selben Ansicht wie Sie, Fräulein Cushing,“ entgegnete Holmes und setzte sich neben sie. „Ich glaube, dass dies mehr als wahrscheinlich ist —“ Er hielt plötzlich inne, und wie ich aufsah, war ich überrascht, zu bemerken, dass er mit sonderbarem Interesse das Profil der Dame beobachtete. Ueberraschung und Befriedigung, beides konnte man einen Augenblick in seinem angespannten Gesichte lesen, obgleich es wieder ebenso ausdruckslos wie immer war, als Fräulein Cushing sich zu ihm wandte, um die Ursache seines plötzlichen Schweigens zu ergründen. Ich selbst starrte auf ihr flach geordnetes, von grauen Fäden durchzogenes Haar, ihren Kamm, ihre kleinen goldenen Ohrringe, ihre freundlichen Gesichtszüge; aber ich konnte nichts entdecken, was die offensichtliche Aufregung meines Freundes hätte erklären können.
„Dann hätte ich noch zwei Fragen . . .“
„O, ich habe jetzt genug,“ rief Fräulein Cushing ungeduldig.
„Sie haben zwei Schwestern, nicht wahr?“
„Woher wissen Sie das?“
„Ich bemerkte in dem Augenblick, als ich das Zimmer betrat, dass Sie auf dem Kaminsims eine Photographie von drei Damen haben. Eine dieser Damien sind unzweifelhaft Sie selbst, während die beiden anderen Ihnen so ausserordentlich ähnlich sehen, dass ich über die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht im Zweifel sein konnte.“
„Ja, Sie haben ganz recht: Es sind meine beiden Schwestern Sara und Mary.“
„Und hier neben mir habe ich ein weiteres Bild Ihrer jüngeren Schwester bemerkt, in Gesellschaft eines Mannes, der nach seiner Uniform zu schliessen ein Steward ist. Das Bild wurde in Liverpool aufgenommen. Ich sehe, dass sie damals noch nicht verheiratet war.“
„Sie beobachten sehr rasch!“
„Das ist mein Geschäft.“
„Ja, Sie haben ganz recht. Aber wenige Tage darauf hat sie sich mit Herrn Browner verheiratet. Er fuhr mit der Südamerikalinie, als dies Bild aufgenommen wurde, aber seine Zuneigung zu seiner Frau war so gross, dass er, um die langen Trennungen von ihr zu vermeiden, feinen Dienst wechselte und auf einem Dampfer Stellung nahm, der zwischen Liverpool und London verkehrt.“
„Ach, auf der »Alten Heimat« vielleicht?“
„Nein, er war auf der »Maiblume«, als ich zuletzt von ihm hörte. Sim kam einmal hierher und hat mich besucht. Das geschah, ehe er das Gelöbnis gebrochen hat. Aber nachher fing er an zu trinken, sowie er an Land war, und so oft er dann getrunken hatte, wurde er aufgeregt und halb wahnsinnig. O, es war ein böser Tag, an dem er zum erstenmal wieder zum Glas griff. Zuerst brach er mit mir und dann fing er mit Sara Streit an und nun, wo. Mary aufgehört hat, uns zu schreiben, weiss ich gar nichts mehr von den beiden.“
Fräulein Cushing war jetzt bei einem Thema angelangt, für das sie Interesse hatte. Das unterlag keinem Zweifel. Wie die meisten Leute, die ein einsames Leben führen, war sie zuerst zurückhaltend, wurde aber schliesslich ungewöhnlich mitteilsam. Sie erzählte uns vieles über ihren Schwager, den Steward, und kam dann auf ihre früheren Mieter zu sprechen, die Studenten, von deren Ausschweifungen sie uns eingehend berichtete, indem sie uns ihre Namen nannte und die der Hospitäler, in denen sie Assistenten waren.
Holmes lauschte aufmerksam allem, was sie erzählte, und warf von Zeit zu Zeit eine Frage ein.
„Was Ihre zweite Schwester Sara betrifft,“ sagte er, „so wundert es mich, dass Sie nicht zusammen wohnen, wo Sie doch beide unverheiratet sind.“
„O, wenn Sie Saras Temperament kennten, so würde Sie das nicht weiter wundern. Ich versuchte es zuerst, als ich nach Croydon kam, mit ihr, und wir haben auch bis vor etwa zwei Monaten zusammengelebt; aber dann sind wir auseinandergegangen. Ich möchte nichts Böses über meine Schwester sagen, aber sie hat sich von jeher gern in die Angelegenheiten anderer gemischt, und es war schwer mit ihr auszukommen.“
„Sie sagten, dass sie mit Ihren Verwandten in Liverpool Streit bekommen hätte, nicht?“
„Ja, trotzdem sie früher die besten Freunde gewesen sind. Sie kam sogar gerade deshalb nach Liverpool, um in ihrer Nähe leben zu können. Und nun kennt sie keine Bezeichnung mehr, die für meinen Schwager hart genug wäre. Das letzte halbe Jahr, das wir beisammen wohnten, sprach sie nur davon, wie sehr er trinke und dabei herunterkomme. Ich glaube, er hat sich ihre Einmischung in seinen Haushalt nicht gefallen lassen und hat ihr gehörig die Meinung gesagt; und damit war dann der Krach da.“
„Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Mitteilungen,“ schloss Holmes, indem er sich erhob und ihr eine Verbeugung machte. „Ihre Schwester Sara wohnt, wie Sie sagten, in der Newstreet in Wallington? Ich empfehle mich Ihnen und bedauere lebhaft, dass Sie hier in einer Sache so belästigt worden sind, mit der Sie, wie Sie sagen, nichts zu tun haben.“
Als wir aus dem Haus traten, fuhr eben eine Droschke vorbei. Holmes rief den Kutscher an. „Wie weit ist es bis Wallington?“ fragte er.
„Bloss ’ne halbe Meile.“
„All right. Steig’ ein, Watson! Wir müssen unser Eisen schmieden, solange es warm ist. So einfach die ganze Geschichte auch ist, so stehen doch zwei oder drei sehr lehrreiche Einzelheiten in Verbindung damit.“ Und dann zum Kutscher: „Halten Sie auf dem Hinweg am nächsten Telegraphenbureau.“
Holmes schickte ein kurzes Telegramm ab und während des Restes der Fahrt lag er in die Wagenpolster zurückgelehnt, den Hut über die Augen gezogen, damit ihm die Sonne nicht ins Gesicht scheine. Der Kutscher hielt vor einem Haus, das ähnlich gebaut war wie das des alten Fräuleins, von dem wir kamen. Mein Freund befahl ihm zu warten und hatte die Hand schon am Klingelknopf, als die Tür aufging und ein ernst aussehender junger Herr in Schwarz und mit einem Zylinderhut heraustrat.
„Ist Fräulein Sara Cushing zu Hause?“ fragte Holmes.
„Fräulein Sara Cushing ist sehr krank,“ sagte er. „Seit gestern zeigen sich bei ihr Symptome einer gefährlichen Nervenerkrankung. Ich bin ihr Arzt und kann unmöglich die Verantwortlichkeit auf mich laden, ihr jetzt irgendwelchen Besuch zu gestatten. Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, in etwa zehn Tagen wieder zu kommen.“ Er zog seine Handschuhe an, schloss die Tür und ging die Strasse hinunter.
„Dann eben nicht,“ sagte Sherlock Holmes in seiner gewohnten guten Laune.
„Vielleicht hätte sie dir auch gar nichts von Bedeutung sagen können oder sagen wollen,“ bemerkte ich.
„Ich wollte auch gar nichts derartiges von ihr wissen. Ich wollte sie nur sehen, und nun glaube ich, dass ich trotzdem erreicht habe, was ich wollte. — Kutscher, fahren Sie uns nach einem anständigen Hotel! Wir können da zuerst mal zu Mittag essen, und nachher wollen wir zur Polizeistation.“
Das Mittagessen war sehr gemütlich; Holmes liess sich ein Kursbuch geben, in dem er etwas aufschlug, dann aber erzählte er während des ganzen Essens beinahe nichts anderes als Geschichten von Violinen und wie er seine eigene echte Stradivarius, die zum mindestent 10000 Mark wert sei, bei einem Trödeljuden für 55 Mark gekauft hätte. Dies brachte ihn auf Paganini zu sprechen, und über eine Stunde lang sassen wir noch bei einer Flasche Burgunder, während Holmes eine Anekdote nach der anderen über diesen ausserordentlichen Mann erzählte. Der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, und die frühere Hitze hatte sich in eine angenehme milde Frische verwandelt, als wir uns auf der Polizeistation einfanden. Lestrade erwartete uns vor der Tür.
„Ein Telegramm für Sie, Herr Holmes,“ sagte er.
„Aha, das ist die Antwort.“ Er riss es auf, seine Augen flogen über den Inhalt; dann steckte er es in die Tasche. „Es ist alles so, wie ich gedacht habe,“ sagte er.
„Haben Sie irgend etwas herausgefunden?“
„Ich habe alles herausgefunden.“
„Was!“ Lestrade sah ihn voll der grössten Verwunderung an. „Sie scherzen, Herr Holmes!“
„In meinem ganzen Leben habe ich noch nie weniger gescherzt als jetzt. Es ist ein abscheuliches Verbrechen begangen worden, und ich glaube nun alle Einzelheiten desselben aufgeklärt zu haben.“
„Und wo ist der Verbrecher?“
Holmes schrieb einige Worte auf die Rückseite seiner Visitenkarte und überreichte sie Lestrade.
„Das ist er,“ sagte er. „Sie können ihn aber nicht vor morgen nacht verhaften lassen. Ich möchte Sie noch bitten, dass Sie meinen Namen mit diesem Fall nicht in Verbindung bringen, denn ich ziehe es vor, nicht im Zusammenhang mit solchen Verbrechen genannt zu werden, deren Entdeckung so gänzlich ohne alle Schwierigkeiten ist. Empfehle mich, Herr Lestrade!“
Wir gingen miteinander zum Bahnhof und liessen Lestrade ein wenig verdutzt zurück. Aber mit verklärtem Antlitz und voll Entzücken schaute er auf die Karte, die Holmes ihm überreicht hatte.
„Also der Fall,“ begann Sherlock Holmes, als wir an diesem Abend in der Bakerstreet unsere Zigarren rauchten, „der Fall ist einer von denen, wie du sie unter dem Namen »Späte Rache« und »Das Zeichen der Vier« veröffentlicht hast und bei denen wir genötigt waren, von den Wirkungen rückwärts auf die Ursachen zu schliessen. Ich habe an Lestrade geschrieben, er möchte uns die Einzelheiten, die mir noch unbekannt sind, später mitteilen; diese Einzelheiten kann er natürlich erst dann erfahren, wenn er den Mann hinter Schloss und Riegel hat. Dass er ihn sich nicht entwischen lassen wird, davon bin ich überzeugt, denn obgleich Lestrade die Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, fast gänzlich abgeht, so ist er doch zähe wie ein Bluthund, wenn es ihm erst einmal aufgegangen ist, was er zu tun hat. Gerade dieser Ausdauer verdankt er es ja, dass er der Chef unserer Geheimpolizei geworden ist.“
„Die Kette deiner Beweise ist also noch nicht vollständig?“ fragte ich.
„Doch, in der Hauptsache ist die Kette geschlossen. Wir wissen, wer der Urheber des Verbrechens ist, obgleich ich das eine Opfer noch nicht kenne. Du wirst dir natürlich inzwischen auch deine Meinung über den Fall gebildet haben.“
„Ich nehme an, dass dieser Jim Browner, der Steward des Liverpooler Schiffes, der Mann ist, den du im Verdacht hast.“
„O, im Verdacht! Es handelt sich um ein bisschen mehr als das.“
„Und doch kann ich nirgends mehr als ziemlich vage Indizien erblicken.“
„Im Gegenteil, ich meine, dass es keinen durchsichtigeren Fall geben könnte. Ich will die Hauptsachen einmal wiederholen: Zunächst sind wir völlig voraussetzungslos an den Fall herangetreten, und das ist immer ein grosser Vorteil. Du wirst dich erinnern, dass wir uns vorläufig noch gar keine Meinung zurechtgemacht hatten. Wir kamen einfach nach Croydon, um dort alles in Augenschein zu nehmen, zu beobachten, und aus diesen Beobachtungen die nötigen Schlüsse zu ziehen. Was haben wir zuerst gesehen? Eine sehr liebe und ehrbare Dame, die mir vollständig ungeeignet erschien, irgendein verbrecherisches Geheimnis in ihrem Busen bewahren zu können, und eine Photographie, die mir zeigte, dass sie noch zwei Schwestern habe. Sogleich, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass das Paket vielleicht für eine dieser beiden bestimmt gewesen sein könnte. Vorläufig aber legte ich diesen Gedanken sozusagen beiseite; ich konnte ihn ja später bei Bedarf wieder aufnehmen. Dann gingen wir in den Garten zu dem Schuppen, wo wir den äusserst merkwürdigen Inhalt der Schachtel untersuchten.
Der Bindfaden war von jener Art, wie ihn die Segelflicker auf unseren Schiffen benützen, und sofort wurden meine Gedanken zur See hingelenkt. Als ich ferner bemerkte, dass der Knoten ein regelrechter Schifferknoten war, dass das Paket in einem Seehafen aufgegeben, und dass das männliche Ohr für einen Ohrring durchlocht war, so stand es für mich fest, dass alle Beteiligten in dem Drama unter unserer seefahrenden Bevölkerung zu suchen wären. Wenn bei uns ein Mann Ohrringe trägt, so ist er in den weitaus meisten Fällen ein Seemann. Als ich mir dann die Adresse näher ansah, bemerkte ich, dass sie ,Fräulein S. Cushing‘ lautete. Nun, die älteste der drei Schwestern ist natürlich ein Fräulein Cushing, und obgleich ihr Vorname mit S. anfing, so schien es mir doch möglich, dass das Paket für eine ihrer beiden Schwestern bestimmt gewesen sei. In diesem Fall hätten wir unsere Nachforschungen auf Grund einer neuen Unterlage anstellen müssen. Ich ging deshalb in das Haus, um mir über diesen Punkt Klarheit zu verschaffen. Ich fing damit an, Fräulein Cushing zu versichern, ich sei überzeugt, dass hier ein Irrtum vorliege; Worauf ich plötzlich innehielt, wie du wohl bemerkt haben wirst. Der Grund war, dass ich auf einmal etwas sah, was mich mit Erstaunen erfüllte und gleichzeitig das Feld für unsere Nachforschungen wesentlich beschränkte. Du bist ja Arzt, Watson, und weisst als solcher, dass kein Teil des menschlichen Körpers so grosse Verschiedenheiten aufweist, wie das Ohr. Jedes Ohr hat in der Regel seine Besonderheiten und unterscheidet sich von allen übrigen Ohren der Welt. Im anthropologischen Journal vom letzten Jahre wirst du zwei Abhandlungen über dieses Thema aus meiner Feder finden. Ich untersuchte daher die Ohren in der Schachtel mit den Augen eines Kenners, wobei ich mir ihre anatomischen Sonderheiten wohl merkte. Nun denke dir mein Erstaunen, als ich an Fräulein Cushing bemerkte, dass ihr Ohr dem weiblichen Ohr, das wir kurz zuvor in der Schachtel gesehen hatten, fast zum Verwechseln ähnlich sah. Ein jeder Zufall war da ausgeschlossen: Die gleiche Verkürzung der Pinna, dieselbe breite Kurve des Ohrläppchens, dieselbe Biegung des inneren Knorpels. In allen Hauptteilen war es dasselbe Ohr. Ich war mir natürlich sogleich über die ungeheure Wichtigkeit dieser Entdeckung klar. Es gab nun keinen Zweifel mehr, dass das Opfer mit Fräulein Cushing blutsverwandt und zwar sehr nahe verwandt sein müsse. Ich fing daher an, mit ihr über ihre Familie zu sprechen, und du wirst dich erinnern, dass sie uns sogleich äusserst wichtige Einzelheiten mitteilte. So vor allem, dass der Name ihrer Schwester Sara sei und dass diese mit ihr bis vor kurzem zusammengewohnt habe. Ihre Adresse war also gleichfalls Grossstreet in Croydon gewesen, und es war mir leicht verständlich, wie das Versehen hatte entstehen können, und für wen das Paket bestimmt war. Dann hörten wir von diesem Steward, der mit der dritten Schwester verheiratet ist, dass er eine Zeitlang mit Fräulein Sara auf sehr gutem Fusse gestanden habe. Diese sei lediglich zu dem Zweck nach Liverpool gezogen, um die Browners öfters sehen zu können. Später aber habe sie ein Streit entzweit, und in diesem Streit sei alle Verbindung mit Croydon zerrissen worden, so dass Browner, wenn er an Fräulein Sara ein Paket schicken wollte, dies nur unter der alten Adresse tun konnte. Und nun begann sich die Geschichte wundervoll aufzuklären. Wir wussten von diesem Steward, dass er ein impulsiver Mann war, von starken Leidenschaften — du wirst dich erinnern, dass er seine offenbar sehr gute Stelle bei der Südamerikalinie aufgab und eine weniger gute auf dem Liverpooldampfer annahm, nur, um mehr bei seiner Frau zu sein — dass er ferner gelegentlich unmässig viel zu trinken pflegte. So hatte ich allen Grund zu der Annahme, dass seine Frau ermordet worden sei und dass ein Mann — wahrscheinlich ein Seemann — gleichzeitig ermordet wurde. Eifersucht drängt sich einem natürlich unter diesen Umständen sofort als Motiv der Tat auf. Aber warum nun sollten die Zeichen dieser Tat Fräulein Sara Cushing übersandt werden? Das ist nur erklärlich, wenn sie während ihres Aufenthaltes in Liverpool irgendwie die Ereignisse heraufbeschworen hatte, die dann zu der Katastrophe führten. Aus dem Kursbuch ersehe ich, dass die Liverpoollinie in Belfast, Dublin und Waterford anlegt, so dass also, wenn Browner die Tat begangen hat, und sogleich darauf auf seinen Dampfer gegangen ist, Belfast der erste Platz wäre, von dem aus er sein schreckliches Paket hätte abschicken können.
Eine zweite Lösung war nun freilich gleichfalls denkbar, und obwohl sie mir von vornherein als sehr unwahrscheinlich erschien, so war ich doch entschlossen, den Fall auch nach dieser Seite hin zu untersuchen, ehe ich weiter ging. Es hätte nämlich auch sein können, dass ein abgewiesener Liebhaber das Ehepaar Browner ermordet hätte. Dann wäre das männliche Ohr das des Stewards. Ich hatte selbst allerhand schwere Einwände gegen diese Theorie — allein sie lag im Bereich der Möglichkeit. Ich telegraphierte daher an meinen Freund Algar von der Liverpooler Geheimpolizei und bat ihn, nachzuforschen, ob sich Frau Browner zu Hause befinde, und ob der Steward Browner an Bord seines Dampfers »Maiblume« unterwegs sei. Dann gingen wir nach Wallington, um Fräulein Sara zu besuchen. Ich wollte durch diesen Besuch zunächst einmal herausfinden, in welchem Grade die Familienähnlichkeit des Ohres bei ihr ausgesprochen wäre. Ausserdem hätte nach meiner Ansicht gerade Fräulein Sara uns sehr wichtige Aufschlüsse geben können. Ich glaubte freilich von vornherein nicht, dass sie bereit sein würde, unsere Nachforschungen irgendwie zu unterstützen. Sie hatte von dem Vorfall unbedingt gehört, denn ganz Croydon war ja voll davon, und alle Zeitungen sprachen darüber. Und ich wusste, dass nur sie allein sagen konnte, für wen das Paket gemeint war. Hätte sie daher die Absicht gehabt, die gerichtlichen Nachforschungen zu unterstützen, so würde sie wahrscheinlich das, was sie sicherlich wusste, der Polizei geoffenbart haben. Indes, wir mussten den Versuch machen, sie zu sehen, und so gingen wir nach Wallington. Dort entdeckten wir, dass die Nachricht von der Ankunft des Pakets eine solche Wirkung auf sie ausgeübt hatte, dass die Folge eine schwere Erschütterung ihres Nervensystems war. Merkwürdigerweise nämlich fiel der Beginn ihrer Krankheit mit der Verbreitung der Nachricht über die Ohrengeschichte zusammen. Es war daher klarer denn je, dass sie die volle Bedeutung des Vorgefallenen erkannte, aber ebenso klar war es auch, dass wir vorläufig jedenfalls von ihr keine Hilfe erwarten durften. Zum Glück jedoch waren wir von ihrer Hilfe vollständig unabhängig. Eine telegraphische Antwort meines Freundes Algar erwartete mich auf der Polizeistation. Nichts konnte entscheidender sein. Frau Browners Haus war seit mehr denn drei Tagen geschlossen, und die Nachbarn waren der Ansicht, dass sie verreist sei, um ihre Verwandten zu besuchen. Ferner hatte Algar durch die Schiffahrtsgesellschaft festgestellt, dass Browner mit der »Maiblume« unterwegs sei, und ich schätze, dass sie morgen nacht in London fällig sein wird. Sowie der Steward ankommt, wird ihn der resolute, wenn auch nicht übermässig findige Lestrade in Empfang nehmen, und ich zweifle nicht daran, dass wir bald alle weiteren Einzelheiten erfahren werden.“
Sherlock Holmes wurde in seiner Erwartung nicht getäuscht. Zwei Tage später erhielt er ein dickes Kuvert, das eine kurze Mitteilung von Lestrade und ein mit der Schreibmaschine angefertigtes Dokument von mehreren Bogen Aktenpapier enthielt.
„Lestrade hat nun den Kerl richtig gefasst,“ sagte Holmes, indem er zu mir hinüberblickte. „Es wird dich wohl interessieren, was er zu sagen hat.“
„Mein lieber Herr Holmes!“ schreibt er, „ganz in Uebereinstimmung mit dem Plan, den wir gefasst hatten, um unsere Annahme bestätigt zu finden“, — das ,wir‘ ist wieder eine Glanzleistung, Watson, findest du nicht auch? — „ging ich gestern abend um sechs Uhr nach dem Albertdock und an Bord des Dampfers »Maiblume« der Liverpool-Dublin und London Paket-Fahrt-Aktiengesellschaft. Ich erfuhr dort, dass der Steward James Browner heisse und dass er sich während der letzten Reise so eigentümlich benommen hatte, dass der Kapitän genötigt war, ihn seiner Verpflichtungen zu entheben. Ich stieg in seine Kabine hinunter und fand ihn dort auf einer Kiste sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, hin- und herschwankend. Er ist ein grosser starker Kerl, glatt rasiert und sehr braun gebrannt. Er sprang empor, als er hörte, was meine Ankunft bedeute, und ich hatte meine Pfeife schon bereit, um einige Schutzleute herbeizurufen, die in der Nähe postiert waren, aber er schien ganz gebrochen zu sein und hielt mir willig die Hände für die Handschellen hin. Wir brachten ihn ins Untersuchungsgefängnis und ebenso seinen Koffer, da wir glaubten, wir könnten darin noch etwas Verdächtiges entdecken, was jedoch nicht der Fall war. Uebrigens brauchen wir auch gar keine weiteren Beweise, denn als er dem Inspektor des Gefängnisses übergeben wurde, erklärte er, ein Geständnis ablegen zu wollen, das wie üblich von einem Stenographen aufgenommen wurde. Ich sende Ihnen anliegend eine Abschrift davon. Der ganze Fall hat sich, wie ich Ihnen ja von vornherein erklärte, als ausserordentlich einfach erwiesen, doch möchte ich nicht versäumen, Ihnen für Ihre Hilfe bei den Nachforschungen zu danken.
Mit höflichem Gruss bin ich wie immer
Ihr G. Lestrade.“
„Hm! Die Sache war ja wirklich sehr einfach,“ bemerkte Holmes lächelnd, „aber ich glaube doch, dass sie ihn in etwas anderem Lichte erschienen ist, als er uns um Hilfe bat.“
„Und nun wollen wir sehen,“ fuhr Holmes fort, „was Browner zu sagen hat. Da die Erklärung stenographiert wurde, so hat sie für uns den Vorteil, die eigenen Worte des Verhafteten zu enthalten.“ Damit griff er zu dem Schriftstück und las es vor. Es lautete folgendermassen:
„Ob ich irgend etwas zu sagen habe? Ja, ich habe sogar sehr viel zu sagen. Ich will ein umfassendes Geständnis ablegen; hernach kann man mich aufknüpfen oder freilassen, das ist mir ganz einerlei. Ich sage Ihnen, dass ich seit der Tat kein Auge geschlossen habe, und ich glaube nicht, dass ich je wieder eines schliessen werde, bis ich ganz über Wachen und Schlafen hinaus bin. Manchmal ist es sein Gesicht, aber meistens ist’s das ihre. Die beiden verfolgen mich immer. Er sieht mich giftig und boshaft an, aber sie zeigt eine gewisse Ueberraschung in ihren Zügen. O, das unschuldige Lämmlein hatte allen Grund, überrascht zu sein, wenn sie den Tod aus einem Gesichte las, das selten anders als voll Liebe auf sie geblickt hatte. Aber Sara ist an allem schuld, und möge mein Fluch sie treffen, denn sie hat mein Leben zerstört! Ich will mich nicht von Schuld frei reden. Ich fing wieder zu trinken an, gerade, wie ich Scheusal es früher getan hatte. Aber sie würde mir verziehen haben, ich hätte einen Rückhalt an ihr gehabt, wenn dieses Frauenzimmer nur nie meine Schwelle überschritten hätte. Denn Sara Cushing liebte mich, und das ist der Anfang alles Uebels gewesen. Sie liebte mich so lange, bis auf einmal ihre ganze Liebe sich in giftigen Hass gegen mich verwandelte, als sie merkte, dass mir die kleinste Kleinigkeit meiner Frau wichtiger war als die ganze Sara Cushing. Sie waren drei Schwestern: Die ältere ist eine einfache gute Frau, die zweite der reine Teufel und die dritte war ein Engel. Sara war dreiunddreissig und Mary neunundzwanzig, als ich sie heiratete. Den ganzen Tag lebten wir in einem Glück zusammen, als wir unser Heim bezogen, und in ganz Liverpool gab es keine bessere Frau als meine Mary. Und dann baten wir uns Sara auf eine Woche zu Besuch, und aus der Woche wurde ein Monat, ein Ding führte ins andere, so dass sie schliesslich ganz zu unserem Haushalt gehörte.
Ich war damals beim blauen Kreuz, und wir legten uns ein wenig Geld auf die Seite, so dass uns das Leben so glänzend erschien wie ein neuer Taler. Mein Gott, wer hätte je gedacht, dass es zu einem solchen Ende kommen würde? Wer hätte so etwas auch nur denken können? Den Samstag und Sonntag über war ich meist bei meiner Frau, und wenn mein Schiff mit der Ladung aufgehalten wurde, so war ich wohl gar eine halbe oder eine ganze Woche zu Haus und auf diese Weise sehr oft mit meiner Schwägerin Sara zusammen. Sie hatte eine schlanke, schöne Gestalt, war: schwarz, stolz und temperamentvoll und hatte so eine Art, den Kopf zu tragen, und ihre Augen konnten. Funken sprühen. Aber wenn meine liebe Mary da war, so hatte ich auch nicht den geringsten Gedanken für meine Schwägerin übrig; das beschwöre ich, so wahr ich daran glaube, dass mir meine Tat vergeben werden wird.
Manchmal schien es mir, als lege sie es darauf an, mit mir allein zu sein oder mich zu einem Spaziergange mit ihr zu bewegen, aber ich dachte mir nichts bei alledem. Eines Abends aber wurden mir die Augen geöffnet. Ich kam von Bord; meine Frau war ausgegangen, aber Sara zu Haus. ,Wo ist Mary?‘ fragte ich. ,O, sie ist nur ausgegangen, um einige Rechnungen zu bezahlen.‘ Ich wurde ungeduldig und lief im Zimmer auf und ab. ,Kannst du nicht auch nur fünf Minuten ohne Mary zufrieden sein?‘ fragte sie. ,Es ist ein schlechtes Kompliment für mich, dass dir nicht einmal für so kurze Zeit meine Gesellschaft genügt.‘ ,Lass nur gut sein, meine Liebe,‘ sagte ich, indem ich ihr freundlich meine Hand entgegenstreckte, aber sie umfasste sie sogleich mit beiden Händen und die brannten wie im Fieber. Ich sah ihr in die Augen und las dort alles. Sie brauchte nicht zu sprechen, noch brauchte ich etwas zu hören. Ich riss mich von ihr los und ging weg. Dann eilte sie mir nach, erhob ihre Hand und schlug mich auf die Schulter, indem sie eigentümlich lachte. ,Immer sachte,‘ sagte sie und lief zur Tür hinaus.
Nun und von diesem Tage an hasste sie mich von ganzem Herzen und von ganzer Seele, und sie ist gerade eine Person, die gründlich hassen kann. Es war dumm von mir, zu erlauben, dass sie fernerhin noch bei uns wohnte — furchtbar dumm war es — aber ich sagte nie ein Wort über das Vorgefallene zu Mary, weil ich wusste, dass es sie betrüben würde. Das ging so eine Weile wie zuvor, und dann bemerkte ich auf einmal, dass sich in Mary etwas verändert hatte. Sie hatte mir bisher immer ihr Vertrauen geschenkt, aber nun plötzlich wurde sie so sonderbar und so misstrauisch und wollte immer wissen, wo ich gewesen wäre, und was ich getan hätte, und von wem meine Briefe kämen, und was ich in meinen Taschen hätte und tausend solche Dummheiten mehr. Tag für Tag wurde sie sonderbarer und reizbarer, so dass wir über Nichtigkeiten oft in grundlose Streitereien gerieten. All das war mir rätselhaft. Sara ging mir aus dem Weg, aber sie und meine Frau waren unzertrennlich. Jetzt ist es mir klar, dass sie Ränke geschmiedet hat und meine Frau gegen mich aufhetzte. Aber ich war damals solch ein Gimpel, dass ich nichts merkte. Dann brach ich mein Abstinenzgelöbnis und fing wieder an zu trinken, aber ich glaube nicht, dass ich es wieder angefangen hätte, wenn Mary so wie früher gewesen wäre. Nun freilich hatte sie einen Grund, mit mir unzufrieden zu sein, und die Kluft zwischen uns wurde weiter und weiter. Und dann kam dieser Alec Fairbairn daher, und alles wurde tausendmal schlimmer als zuvor. Zuerst besuchte er uns, um Sara zu sehen, aber bald kam er wegen uns, denn er war ein Mann mit sehr gewinnenden Manieren, und wohin er ging, überall freundete er sich rasch an. Er war ein schneidiger, flotter Bursche, der die halbe Welt gesehen hatte, und was er gesehen hatte, davon konnte er auch erzählen. Er war ein glänzender Gesellschafter, das will ich nicht leugnen, und für einen Seemann von einer wunderbaren weltmännischen Gewandtheit, so dass ich glaube, dass er früher einmal näher bei der Kapitänskajüte seine Koje hatte, als vorne im Mannschaftsraum. Einen ganzen Monat lang ging er in meinem Hause aus und ein, und nie kam mir der Gedanke, dass seine elegante, gerissene Art mir Schaden bringen könnte. Und dann schliesslich erweckte etwas meinen Verdacht, und von dem Tage an war meine Seelenruhe dahin.
Es betraf im Grunde nur eine Kleinigkeit. Ich war unerwartet ins Wohnzimmer getreten, und als ich meiner Frau entgegenging, begrüsste sie mich mit einem freundlichen Lächeln, wie sie aber sah, dass ich es war, verschwand das Lächeln, und an seine Stelle trat unverkennbare Enttäuschung. Das genügte mir. Sie konnte meine Schritte nur für die Alec Fairbairns gehalten haben. Wäre er damals zur Stelle gewesen, so hätte ich ihn umgebracht, denn ich war immer wie ein Wahnsinniger, wenn mein hitziges Temperament mit mir durchging. Mary sah die gefährliche Wut in meinen Augen brennen, und sie kam auf mich zugelaufen und legte mir die Hand auf den Arm. ,Jim, bitte, tus nicht, lieber Jim‘, sagte sie. ,Wo ist Sara?‘, fragte ich. ,In der Küche‘, sagte sie. Ich ging in die Küche. ,Sara‘, sagte ich, ,dieser Fairbairn wird nie mehr die Schwelle meines Hauses betreten.‘ ,Warum nicht?‘ fragte sie. ,Weil ich es ihm verbiete.‘ ,O‘, erwiderte sie darauf, ,wenn meine Freunde für dieses Haus nicht gut genug sind, so passe ich wohl auch nicht mehr zu euch.‘ ,Du kannst tun was du willst‘, antwortete ich, aber wenn dieser Fairbairn sein Gesicht jemals wieder unter meinem Dache blicken lässt, so schneide ich ihm die Ohren ab und schicke sie Dir!‘ Meine Wut entsetzte sie offenbar, denn sie sagte kein Wort mehr zu mir und verliess uns am selben Abend.
Ich weiss nun nicht, war es pure Bosheit auf seiten dieses Frauenzimmers oder glaubte sie, dass sie mich gegen meine Frau aufbringen könne, indem sie Mary zu Ungehörigkeiten veranlasste. Zwei Strassen entfernt mietete Sara ein Haus und errichtete eine Pension für Seeleute. Fairbairn wohnte dort, und Mary ging nachmittags oft zum Tee zu ihr hinüber. Wie oft sie hinging, weiss ich nicht, aber eines Tages, als ich ihr folgte und plötzlich im Zimmer erschien, machte sich Fairbairn durch das Fenster und über die Gartenmauer aus dem Staub. Da sah ich so recht, was für ein feiger Hund er war. Ich schwor meiner Frau, es würde sie das Leben kosten, wenn ich sie je wieder in seiner Gesellschaft sähe, und führte sie mit mir zurück, weinend und zitternd und so weiss im Gesicht wie ein Stück Papier. Alle Liebe zwischen uns hatte aufgehört, ja ich konnte sogar bemerken, dass sie mich hasste und fürchtete, und wenn der Gedanke daran mich dem Trunke in die Arme führte, so verachtete sie mich noch dazu.
Sara indessen sah ein, dass sie in Liverpool nicht mehr bleiben konnte, und so ging sie wieder zu ihrer Schwester nach Croydon, während bei mir zu Haus so ziemlich alles beim gleichen blieb. Dann kam diese letzte Woche und mit ihr all der Jammer und das Elend! Die Sache ging so zu: Wir standen vor einer siebentägigen Fahrt, aber ein grosses Fass der Deckladung geriet ins Rollen und schlug einige Planken los, so dass wir für zwölf Stunden in den Hafen zurück mussten. Ich ging von Bord und nach Hause. Allerlei Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, als ich in unsere Strasse einbog. In eben diesem Augenblick fuhr eine Droschke an mir vorbei, und da sass sie drin an der Seite dieses Fairbairn; sie lachten und schwatzten zusammen und dachten nicht entfernt an mich, und dass ich sie vom Trottoir aus beobachtete. Ich sage Ihnen und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass ich von diesem Augenblick an nicht mehr Herr meiner selbst war; es ist mir alles wie ein böser Traum, wenn ich daran zurückdenke. Ich hatte mich in der Zeit vorher noch mehr dem Trunke ergeben, und das und meine Aufregung liessen mich den Kopf verlieren. Noch jetzt hämmert mir etwas im Schädel wie ein Dampfhammer, aber an jenem Morgen, da war es, als ob die Niagarafälle in meinen. Ohren sausten und brausten.
Wie ich sie also da fahren sah, lief ich dem Wagen nach. Ich hatte einen schweren eichenen Stock in der Hand, und ich sage Ihnen, dass ich vom ersten Augenblicke an rot sah. Bald darauf hielten sie am Bahnhof. Es war eine grosse Menschenmenge am Schalter, so dass ich mich ganz nahe herandrängen konnte, ohne gesehen zu werden. Sie nahmen Billette nach Neu-Brighton. Ich auch, aber ich stieg in einen Wagen, der von ihrem Abteil ziemlich entfernt war. In Brighton gingen sie auf der Strandpromenade spazieren, und ich folgte ihnen stets in einem Abstand von etwa hundert Metern. Schliesslich sah ich sie, wie sie ein Boot mieteten und hinausruderten. Es war sehr heiss an diesem Tag, und so sagten sie sich wahrscheinlich, dass es auf dem Wasser kühler sein würde. Das war nun gerade, wie wenn eine höhere Macht sie in meine Hände gegeben hätte. Ein leichter Nebeldunst lag über der See, und man konnte höchstens einige hundert Schritt weit sehen. Ich mietete mir also gleichfalls ein Boot und ruderte ihnen nach. Ich konnte die Umrisse ihres Bootes erkennen, aber sie ruderten fast so schnell wie ich, und es dauerte ziemlich lange, ehe ich sie eingeholt hatte. Nach meiner Schätzung waren wir etwa eine volle Meile vom Ufer entfernt. Der Nebel hing wie ein Vorhang rings um uns herum, und wir drei waren auf dem Meere allein. Mein Gott, werde ich je ihre Gesichter vergessen, als sie erkannten, wer sich ihnen in dem Boot näherte? Sie schrien laut auf. Er fluchte wie ein Wahnsinniger und stiess nach mir mit dem Ruder, denn er musste in meinen Augen seinen Tod gelesen haben. Ich aber wich dem Stoss aus, und dann traf ihn ein Schlag mit meinem Stock, der ihm den Kopf zerschmetterte, wie wenn es ein Ei gewesen wäre. Ich hätte sie vielleicht geschont trotz meiner wahnsinnigen Wut, aber sie schlang ihre Arme um ihn und rief mehrmals „Alec! Alec!“ Ich schlug wieder zu und sie lag neben ihm. Ich war jetzt wie ein wildes Tier, das Blut geleckt hatte. Wäre Sara dabei gewesen, bei Gott, sie wäre ihrem Schicksal nicht entgangen. Dann zog ich mein Messer und — . . . weiter brauche ich nichts zu sagen. Eine wilde Freude erfasste mich bei dem Gedanken, was Sara wohl sagen würde, wenn sie die deutlichen Zeichen davon in Händen hätte, welche Früchte ihre Intrigen gezeitigt. Dann schnürte ich die beiden Leichen in dem Boote fest, schlug eine Planke aus dem Boden heraus und wartete, bis es gesunken war. Ich wusste ganz genau, dass der Vermieter des Bootes annehmen würde, sie hätten in dem Nebel die Orientierung verloren und wären auf die offene See hinausgetrieben. Ich aber ruderte zurück ans Land und ging wieder auf mein Schiff, ohne dass jemand den geringsten Verdacht gehabt hätte. In der Nacht machte ich das Paket für Sara Cushing, und am nächsten Tag schickte ich es von Belfast ab.
Das ist die Wahrheit und alles, was ich zu sagen habe, und nun kann man mich hängen oder kann mit mir tun, was man will — mehr kann man mich nicht strafen, als ich schon jetzt gestraft bin; ich kann kein Auge zumachen, ohne diese beiden Gesichter zu sehen, die mich immer noch wie damals anstarren, als sie bemerkten, wer aus dem Nebel heraus auf sie zugerudert kam. Ich habe sie rasch getötet, aber sie foltern mich langsam zu Tode, und wenn ich noch eine Nacht so wie die letzte zu verbringen habe, so bin ich am nächsten Morgen entweder verrückt oder tot. Ich bitte Sie inständig, lassen Sie mich nicht allein in meiner Zelle! Um der Barmherzigkeit willen, lassen Sie mich nicht allein!“
„Ein Menschenschicksal, Watson!“ sagte Holmes feierlich, als er das Papier wieder auf den Tisch legte. „Wenn die Welt nicht vom Zufall regiert wird, was undenkbar ist, — zu was diese Ereignisse voll Jammer und Gewalttat? Wir stehen hier vor einem Rätsel, von dessen Lösung die Menschheit so weit entfernt ist wie nur je.“ — —
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