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2. Kapitel

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Der Fluch der Baskervilles

Ich habe ein Manuskript mitgebracht«, sagte Dr James Mortimer.

»Das sah ich bereits, als Sie ins Zimmer traten«, antwortete Holmes.

»Es ist eine alte Handschrift.«

»Frühes achtzehntes Jahrhundert, vorausgesetzt, es ist keine Fälschung.«

»Wie kommen Sie darauf, Sir?«

»Ein Streifen davon war die ganze Zeit sichtbar, so dass ich die Schrift betrachten konnte, während wir miteinander sprachen. Das wäre ein armseliger Experte, der eine Handschrift nicht auf ein Jahrzehnt genau datieren kann. Vielleicht haben Sie meine kleine Monographie zu diesem Thema gelesen. Ich schätze das Alter des Dokuments auf etwa 1730.«

»Das genaue Datum ist 1742.« Dr Mortimer zog das Manuskript aus seiner Brusttasche. »Dieses Familiendokument ist mir von Sir Charles Baskerville anvertraut worden, dessen plötzlicher tragischer Tod vor rund drei Monaten in der Grafschaft Devonshire so großes Aufsehen erregt hat. Ich darf wohl sagen, dass ich nicht nur sein ärztlicher Berater war, sondern auch sein persönlicher Freund. Er war ein energischer Mann, Sir, scharfsinnig, praktisch veranlagt und ebenso wenig anfällig für irgendwelche phantastischen Hirngespinste wie ich selbst. Trotzdem hat er dieses Schriftstück sehr ernst genommen, und so war er innerlich auf jenen Tod vorbereitet, der ihn schließlich ereilt hat.«

Holmes nahm das Manuskript in die Hand und strich es auf seinem Knie glatt.

»Sie werden bemerken, Watson, dass die lange und die kurze Form des ›S‹ abwechselnd gebraucht werden. Dies ist einer der Indikatoren, die es mir ermöglichten, die Handschrift zu datieren.«

Ich blickte ihm über die Schulter und betrachtete das vergilbte Papier und die verblasste Schrift. Am Kopf des Blattes stand »Baskerville Hall« und am Schluss in großen krausen Ziffern »1742«.

»Es scheint eine Art Bericht zu sein.«

»Ja, es ist die Aufzeichnung einer Familienlegende, die im Geschlecht der Baskervilles überliefert ist.«

»Aber wenn ich Sie recht verstehe, ist Ihr Anliegen von einer mehr gegenwärtigen, praktischen Natur?«

»Nur allzu gegenwärtig, allerdings. Eine höchst reale und dringliche Angelegenheit, in der binnen vierundzwanzig Stunden eine Entscheidung fallen muss. Aber dieses Dokument ist nicht lang, und es ist mit der Sache aufs Engste verbunden. Wenn Sie gestatten, lese ich es vor.«

Holmes lehnte sich im Sessel zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander und schloss resigniert die Augen. Dr Mortimer hielt das Manuskript ins Licht und las mit seiner hohen, etwas heiseren Stimme die nachfolgende Erzählung aus alten Zeiten:

»Um den Ursprung des Hundes der Baskervilles ranken sich mancherlei Legenden, aber da ich in direkter Linie von Hugo Baskerville abstamme und die Historie von meinem Vater gehört habe, dem sie wiederum von seinem Vater überliefert worden ist, schreibe ich sie hier nieder in der festen Überzeugung, dass sich alles genau so zugetragen hat, wie ich es hier berichten werde. Ich will und wünsche, dass Ihr, meine Söhne, in dem festen Glauben leben sollt, dass jene höhere Gerechtigkeit, die uns für unsere Sünden straft, dieselben auch in überreicher Gnade vergeben kann und dass kein Fluch so mächtig ist, dass er nicht durch Gebet und tätige Reue überwunden werden kann. Möget Ihr aus dieser Geschichte lernen, nicht die Früchte der Vergangenheit zu fürchten, sondern in der Zukunft Umsicht walten zu lassen, auf dass jene verruchten Leidenschaften, die unserem Geschlecht so schweres Leid zugefügt haben, niemals wieder zu unserem Schaden entfesselt werden mögen.

Wisset also, dass in der Zeit der Großen Rebellion (deren Geschichte, aufgezeichnet von dem gelehrten Lord Clarendon, ich Euch recht angelegentlich zur Lektüre empfehle) der Herrensitz der Baskervilles im Besitz von Hugo desselben Namens war, und dieser war unleugbar ein wilder, lasterhafter und gottloser Mann. Dies hätten seine Nachbarn ihm wohl noch verzeihen mögen, sintemalen in den hiesigen Landstrichen Heilige niemals haben gedeihen wollen; aber ihm waren Wollust und Grausamkeit in solchem Maße zu eigen, dass sein Name im ganzen Westen Englands sprichwörtlich wurde. Nun begab es sich, dass dieser Hugo zur Tochter eines Freibauern, dessen Land an den Besitz der Baskervilles grenzte, in Liebe entbrannte (sofern man eine so schändliche Leidenschaft wie die seine mit einem so edlen Wort benennen darf). Aber die junge Maid, die züchtig und ehrbar war, verstand es, seine Nähe zu meiden, denn sie kannte und fürchtete seinen schlimmen Ruf. Es begab sich aber, dass jener Hugo an einem Sankt-Michaelis-Tag, als er wusste, dass ihr Vater und ihre Brüder fort waren, zusammen mit fünf oder sechs seiner ruchlosen, frevelhaften Gesellen in das Haus des Freibauern eindrang und das Mädchen entführte. Sie schleppten die Maid zum Herrenhaus und schlossen sie in einem Zimmer im obersten Stockwerk ein, und darauf setzten Hugo und seine Kumpane sich zu einem üppigen Zechgelage, wie sie es allnächtlich zu tun pflegten. Dem armen Mädchen dort oben mochten wohl die Sinne geschwunden sein, als sie das Singen und Grölen und das entsetzliche Fluchen hörte, das von unten heraufscholl, denn man sagt, dass solche Worte, wie Hugo Baskerville sie im Weinrausch ausstieß, jedem, der sie in den Mund nahm, sogleich das Tor zur Hölle geöffnet hätten. Zuletzt tat sie in ihrer Verzweiflung etwas, was auch der tapferste und gewandteste Mann kaum gewagt hätte – sie benutzte das Efeugestrüpp, das die Südwand des Herrenhauses bedeckte (und das sie noch immer bedeckt), und kletterte daran hinunter, von ihrem Gefängnis oben unter dem Dach bis auf den festen Erdboden, und dann floh sie quer über das Moor zu ihrem Vaterhaus. Es lagen aber drei Wegstunden zwischen dem Herrenhaus und dem Hof ihres Vaters.

Kurz darauf verließ Hugo seine Gäste, um seiner Gefangenen Speise und Trank – und vielleicht auch Schlimmeres – zu bringen, da fand er den Käfig leer und den Vogel entflohen. Und nun schien es, als würde der Teufel in ihn fahren, denn er stürzte die Treppen hinunter in den Speisesaal und sprang mit einem wilden Satz auf den großen Tisch, dass die Flaschen und Platten nur so tanzten, und er schrie den Tafelnden zu, noch in selbiger Nacht wolle er sich mit Leib und Seele dem Bösen verschreiben, wenn er nur die Dirne bekommen könnte. Und während seine Saufkumpane noch voller Entsetzen auf den Rasenden starrten, rief einer von ihnen, der noch verruchter war als die anderen, oder vielleicht auch nur noch betrunkener, man solle die Hunde auf sie hetzen. Da rannte Hugo aus dem Haus und schrie seinen Stallknechten zu, sie sollten sein Pferd satteln und die Meute aus dem Zwinger lassen. Er warf den Hunden ein Halstuch des Mädchens hin und ließ sie die Fährte aufnehmen, und dann ging die wilde Jagd wie der Sturmwind über das vom Mondlicht erhellte Moor.

Die Zechkumpane standen eine Weile starr vor Verblüffung; sie vermochten kaum zu begreifen, was sich da in solcher Hast abgespielt hatte. Aber dann dämmerte in ihren umnebelten Hirnen eine Ahnung auf, was sich dort auf dem Moor wohl begeben würde. Alles geriet in Aufruhr, die einen riefen nach ihren Pistolen, die anderen nach ihren Pferden, und wieder andere nach mehr Wein. Endlich kehrte ein wenig Vernunft in ihre wirren Köpfe ein, und die ganze Gesellschaft, dreizehn an der Zahl, sprang auf ihre Pferde und nahm die Verfolgung auf. Der Mond schien hell vom Himmel, und Seite an Seite sprengten sie in die Richtung, die das Mädchen genommen haben musste, um ihr väterliches Haus zu erreichen.

Sie hatten eine oder zwei Meilen zurückgelegt, da begegneten sie einem Schafhirten, der nachts im Moor Wache hielt, und sie schrien ihm zu, ob er nicht die wilde Jagd gesehen hätte. Der Mann aber, so berichtet die Legende, war so von Angst geschüttelt, dass er kaum reden konnte. Endlich aber sagte er, er habe die Unglückliche tatsächlich gesehen, und auch die Meute auf ihrer Spur. ›Aber ich habe noch mehr gesehen‹, sagte er. ›Hugo Baskerville sprengte auf seiner schwarzen Stute an mir vorüber, und hinter ihm lief lautlos ein Hund – ein solcher Höllenhund, wie Gott ihn mir niemals auf die Fersen hetzen wolle!‹

Die bezechten Junker bedachten den Schäfer mit Flüchen und galoppierten weiter. Aber nach kurzer Zeit überlief es sie kalt, denn vom Moor her hörten sie ein galoppierendes Pferd näher kommen, und die schwarze Stute raste, mit weißem Schaum bedeckt, an ihnen vorüber – mit schleifendem Zügel und leerem Sattel. Da drängten die Zechbrüder sich eng aneinander, denn Furcht überkam sie. Aber sie ritten weiter, obwohl jeder Einzelne von ihnen, wäre er allein gewesen, nur allzu gern sein Pferd herumgeworfen hätte. Sie trabten langsam voran, und schließlich fanden sie die Meute. Die Hunde, die doch bekannt waren für ihre edle Rasse und ihre Tapferkeit, drängten sich am Rande eines Tales, eines goyal, wie wir es hier in Exmoor nennen, winselnd aneinander. Einige schlichen sich seitlich fort, andere starrten mit gesträubten Haaren und stieren Augen in das Tal hinein, das vor ihnen lag.

Die Reiter hatten angehalten, und die Herren waren, wie Ihr Euch denken könnt, jetzt viel nüchterner als bei ihrem Aufbruch. Die meisten wollten um keinen Preis weiterreiten, nur drei von ihnen, die Kühnsten oder die Betrunkensten, wagten sich in das Tal hinein. Dieses öffnete sich zu einer breiten Senke, in der zwei von jenen Steinriesen standen und auch heute noch stehen, die in uralten Zeiten von einem längst vergessenen Volk errichtet worden sind. Das Mondlicht fiel hell auf den grasigen Talgrund, und in der Mitte lag das unglückliche Mädchen, das dort vor Angst und Erschöpfung tot hingesunken war. Doch es war nicht der Anblick ihres Leichnams, und auch nicht der Anblick des toten Hugo Baskerville, der daneben lag, was den drei draufgängerischen Wüstlingen die Haare zu Berge stehen ließ, sondern es war das grausige Wesen, das über Hugos Leichnam stand und ihm die Kehle zerfleischte – eine riesige schwarze Bestie in Gestalt eines Hundes, aber viel größer als jeder Hund, den je eines Sterblichen Auge erblickt hatte. Vor ihren entsetzten Augen riss das Tier dem Hugo Baskerville die Gurgel heraus, und als es seine glühenden Augen und triefenden Lefzen den Reitern zuwandte, kreischten sie vor Angst laut auf und flohen schreiend über das Moor, als gälte es ihr Leben. Man sagt, einer von ihnen sei noch in derselben Nacht vor Entsetzen ob dieses Anblicks gestorben, und die beiden anderen blieben für den Rest ihrer Tage gebrochene Männer.

Dies, meine Söhne, ist die Geschichte vom Ursprung des Hundes, der der Legende nach unsere Familie seither so schwer heimgesucht hat. Ich habe sie hier niedergeschrieben im Wissen, dass Bekanntes uns weniger Grauen einflößt als dunkle Gerüchte oder Andeutungen. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass einige unserer Vorfahren ein unseliges Ende gefunden haben und eines plötzlichen, gewaltsamen oder mysteriösen Todes gestorben sind. Dennoch wollen wir auf die unendliche Güte der Vorsehung vertrauen, welche Unschuldige nicht auf ewig und nicht über das dritte oder vierte Glied hinaus bestraft, wie es in der Heiligen Schrift steht. Ich empfehle Euch der Gnade der Vorsehung, meine Söhne, aber ich gebe Euch auch den Rat, Vorsicht walten zu lassen und dem Moor fern zu bleiben in jenen finsteren Stunden, da die Macht des Bösen dort ihr Unwesen treibt.

(Dies schrieb Hugo Baskerville für seine Söhne Rodger und John, mit der Mahnung, ihrer Schwester Elisabeth nichts davon mitzuteilen.)«

Dr Mortimer beendete die Lesung dieses außerordentlichen Berichts, schob seine Brille auf die Stirn und blickte erwartungsvoll zu Mr Sherlock Holmes hinüber. Der gähnte und warf seinen Zigarettenstummel ins Feuer.

»Nun?« fragte er.

»Finden Sie das nicht faszinierend?«

»Vielleicht für Märchensammler.«

Dr Mortimer zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der Tasche.

»Dann, Mr Holmes, kann ich jetzt mit etwas Aktuellerem dienen. Dies ist der Devon Country Chronicle vom 14. Juni mit einem kurzen Bericht über die Umstände des Todes von Sir Charles Baskerville, welcher wenige Tage vor diesem Datum erfolgt war.«

Mein Freund beugte sich ein wenig vor, und sein Gesichtsausdruck wurde aufmerksamer. Unser Gast schob seine Brille zurecht und begann:

»Der kürzlich erfolgte plötzliche Tod von Sir Charles Baskerville, welcher bei der kommenden Wahl als aussichtsreicher Kandidat der Liberalen Partei für Mittel-Devon galt, hat einen Schatten über unsere Grafschaft geworfen. Obwohl Sir Charles erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in Baskerville Hall gelebt hat, gewann er durch seine Liebenswürdigkeit und seine außerordentliche Freigebigkeit die Zuneigung und Achtung aller, die mit ihm in Berührung kamen. In dieser Welt der nouveau riches ist es erquickend, einem Spross aus altem, unverschuldet in böse Zeitläufte geratenen Landadel zu begegnen, der aus eigener Kraft ein Vermögen erworben hat und es nutzt, um dem verblichenen Glanz seines Geschlechtes wieder zu neuer Größe zu verhelfen. Wie allgemein bekannt, hat Sir Charles mit Spekulationen in Südafrika ein großes Vermögen erworben. Anders als viele andere, die kein Ende finden können, bis das Glücksrad sich gegen sie kehrt, war er weise genug, seine Gewinne zu Geld zu machen und damit nach England zurückzukehren. Vor zwei Jahren nahm er seinen Wohnsitz in Baskerville Hall. Seine weitreichenden Wiederaufbau- und Modernisierungspläne waren das allgemeine Gespräch in der Gegend, bis sein plötzlicher Tod dem einen Schlussstrich setzte. Da er selbst kinderlos war, war es sein ausdrücklicher Wunsch, die ganze Region noch zu seinen Lebzeiten von seinem Wohlstand profitieren zu lassen, und so mancher dürfte auch persönliche Gründe haben, das vorzeitige Ableben des Gutsherrn zu beklagen. Seine großzügigen Spenden an Wohltätigkeitseinrichtungen sowohl im engeren Umkreis wie auch in der ganzen Grafschaft waren nicht selten Thema dieser Spalten.

Die gerichtliche Untersuchung konnte die Todesumstände von Sir Charles nicht gänzlich aufklären, aber es wurde genug Klarheit geschaffen, um gewissen Gerüchten entgegentreten zu können, die auf einem althergebrachten lokalen Aberglauben beruhen. Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf ein Verbrechen oder auf einen anderen als einen natürlichen Tod. Sir Charles war Witwer und galt als Mann von leicht exzentrischer Lebensart. Trotz seines beträchtlichen Reichtums war er bescheiden in seinen persönlichen Ansprüchen. Das gesamte Hauspersonal von Baskerville Hall besteht lediglich aus dem Ehepaar Barrymore; der Mann bekleidet die Stellung eines Butlers und seine Frau die der Haushälterin. Ihre Aussage, die durch das Zeugnis mehrerer Freunde des Verstorbenen bestätigt wurde, ging dahin, dass Sir Charles schon seit einiger Zeit bei schwacher Gesundheit gewesen sei. Erwähnt wurde insbesondere ein Herzleiden, das sich in rasch wechselnder Gesichtsfarbe, Atemnot und akuten Anfällen einer nervösen Gemütsverstimmung geäußert habe. Dr James Mortimer, persönlicher Freund und ärztlicher Berater des Verstorbenen, bestätigte dies durch seine Aussage.

Die Faktenlage ist unkompliziert. Sir Charles Baskerville hatte die Gewohnheit, jede Nacht vor dem Schlafengehen einen Spaziergang durch die berühmte Eibenallee von Baskerville Hall zu machen. Dies wurde von den Barrymores bezeugt. Am 4. Juni hatte Sir Charles angekündigt, am Tag darauf nach London reisen zu wollen, und er hatte Barrymore angewiesen, sein Gepäck zu besorgen. Am Abend verließ er das Haus zu seinem gewohnten Spaziergang, bei dem er wie gewöhnlich eine Zigarre rauchte. Er kehrte nicht zurück. Als Barrymore gegen Mitternacht die Haustür noch offen fand, wurde er unruhig, zündete eine Laterne an und ging auf die Suche nach seinem Herrn. Es hatte an diesem Tag geregnet, und Sir Charles’ Fußspuren waren in der Eibenallee gut zu erkennen. Auf halbem Weg befindet sich eine Pforte, die zum Moor hinausführt. Es gibt Hinweise, dass Sir Charles hier eine Zeit lang verweilt hat. Dann hat er seinen Weg durch die Allee fortgesetzt, und an ihrem äußersten Ende wurde sein Leichnam gefunden. Noch nicht geklärt ist Barrymores Aussage, die Fußspuren seines Herren hätten jenseits der Pforte anders ausgesehen als vorher; er sei von dort aus augenscheinlich auf Zehenspitzen weitergegangen. Ein Zigeuner namens Murphy, ein Pferdehändler, befand sich um diese Zeit in nicht allzu weiter Entfernung auf dem Moor, allerdings in angetrunkenem Zustand, wie er selbst zugab. Er sagte aus, er habe Schreie gehört, konnte jedoch nicht sagen, aus welcher Richtung diese gekommen seien. An Sir Charles’ Leichnam waren keine Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen, allerdings waren seine Gesichtszüge nach Aussage des Arztes auf unbegreifliche Weise verzerrt – so sehr, dass Dr Mortimer zunächst kaum glauben konnte, dass es wirklich sein Patient und persönlicher Freund war, der dort vor ihm lag. Indessen ist dieses Symptom nicht untypisch bei einem Tod infolge Atemnot und Herzversagen. Diese Erklärung wurde durch den Obduktionsbefund bestätigt, der eine schon lange bestehende Erkrankung des Herzens attestiert hat. Die gerichtliche Untersuchungskommission entschied in Übereinstimmung mit dem ärztlichen Zeugnis in diesem Sinne. Das ist sehr zu begrüßen, denn natürlich ist es für die Region von größter Bedeutung, dass Sir Charles’ Erbe sich in Baskerville Hall niederlässt und dessen segensreiches Wirken fortsetzt, das auf so traurige Weise unterbrochen worden ist. Wäre den abenteuerlichen Gerüchten, die in Zusammenhang mit dieser Affäre aufgekommen sind, nicht durch den prosaischen Befund des Untersuchungsrichters jede Grundlage entzogen worden, hätte es schwierig werden können, einen Pächter für Baskerville Hall zu finden. Der nächste Angehörige von Sir Charles Baskerville ist dem Vernehmen nach Mr Henry Baskerville, ein Sohn von dessen jüngerem Bruder. Den letzten Nachrichten zufolge hält der junge Mann sich in Amerika auf, und es wurden bereits Ermittlungen eingeleitet, um ihn von dem ihm zugefallenen Erbe in Kenntnis zu setzen.«

Dr Mortimer faltete die Zeitung wieder zusammen und steckte sie in seine Tasche.

»Dies, Mr Holmes, sind die öffentlich bekannten Fakten im Zusammenhang mit dem Tod von Sir Charles Baskerville.«

»Ich möchte Ihnen meinen Dank aussprechen«, sagte Sherlock Holmes. »Sie haben mich auf einen Fall aufmerksam gemacht, der tatsächlich einige interessante Aspekte hat. Ich hatte seinerzeit die Zeitungsmeldungen gelesen, aber ich war damals sehr eingespannt in diese kleine Affäre der vatikanischen Kameen, und in meinem Bestreben, dem Papst gefällig zu sein, habe ich einige interessante Fälle in England aus den Augen verloren. Aber Sie sagten, dieser Artikel enthalte lediglich die öffentlich bekannten Fakten?«

»So ist es.«

»Dann lassen Sie mich die nicht öffentlichen wissen.« Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und setzte seine gleichgültig-skeptische Miene auf.

»Das werde ich gern tun«, sagte Dr Mortimer mit allen Anzeichen einer starken Gemütserregung, »aber ich muss Ihnen vorher sagen, dass ich Ihnen damit etwas erzähle, was ich bisher keinem einzigen Menschen anvertraut habe. Mein Beweggrund dafür, dass ich es bei der Leichenschau vor den Geschworenen verschwiegen habe, war, dass ich als Mann der Wissenschaft davor zurückscheue, mich in der Öffentlichkeit als jemand darzustellen, der dummen Ammenmärchen Glauben schenkt. Ein weiteres Motiv war, dass Baskerville Hall gewiss keinen neuen Bewohner finden wird, wie in der Zeitung ganz richtig bemerkt, wenn der ohnehin schon düstere Ruf des Besitzes noch weiter diskreditiert würde. Aus diesen beiden Gründen glaubte ich mich im Recht, wenn ich nicht alles sagte, was ich wusste. Überdies hätte es auch keine praktischen Auswirkungen auf die Untersuchung gehabt. Aber Ihnen gegenüber habe ich keinen Grund, nicht ganz offen zu sein.

Das Moor ist sehr dünn besiedelt, daher sind alle, die dort leben, eng auf ihre Nachbarn angewiesen. So ergab es sich, dass ich viel mit Sir Charles Baskerville verkehrte. Mit Ausnahme von Mr Frankland in Lafter Hall und Mr Stapleton, einem Naturkundler, findet man im weiteren Umkreis keinen einzigen gebildeten Menschen. Sir Charles lebte recht zurückgezogen, aber durch seine Krankheit kamen wir in Kontakt miteinander, und ein gemeinsames Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen vertiefte die Bekanntschaft. Er hatte aus Südafrika zahlreiche Kuriositäten mitgebracht, und so haben wir viele angenehme Abende miteinander und mit lebhaften Diskussionen über die anatomischen Eigenarten der Buschmänner und der Hottentotten verbracht.

Im Laufe der letzten Monate wurde mir immer klarer, dass Sir Charles’ Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Er hatte sich diese Legende, die ich Ihnen vorgelesen habe, sehr zu Herzen genommen, was so weit ging, dass er seine Spaziergänge zwar auf eigenem Grund und Boden unternahm, aber unter keinen Umständen bereit war, das Moor zu betreten, schon gar nicht in der Dunkelheit. So unbegreiflich es Ihnen erscheinen mag, Mr Holmes, aber er war allen Ernstes davon überzeugt, dass ein grauenvolles Verhängnis über seiner Familie schwebte, und ich muss sagen, was er von seinen Vorfahren zu berichten wusste, klang nicht eben ermutigend. Unablässig verfolgte ihn die Vorstellung einer dunklen Macht, die ihn umgab, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich auf meinen nächtlichen Fahrten zu einem Patienten nicht ein merkwürdiges Wesen gesehen oder das Gebell eines Hundes gehört hätte. Die letztere Frage stellte er mir mehrfach, jedes Mal mit vor Erregung bebender Stimme.

Ich erinnere mich genau an einen Abend etwa drei Wochen vor dem traurigen Ereignis. Als ich mit meinem Einspänner vor dem Herrenhaus vorfuhr, stand er zufällig im Eingang. Ich stieg aus und ging auf ihn zu, da bemerkte ich, dass sein Blick über meine Schulter hinweg etwas fixierte und er mit dem Ausdruck tiefsten Grauens dorthin starrte. Ich fuhr herum und konnte gerade noch einen Blick auf ein Tier am Ende der Zufahrt erhaschen, das ich für ein großes schwarzes Kalb hielt. Er war so verängstigt, dass ich mich genötigt sah, dorthin zu gehen und nachzuschauen, wo das Tier geblieben war. Natürlich war es längst verschwunden, aber der Vorfall hatte ihn augenscheinlich zutiefst verstört. Ich blieb den Abend über bei ihm, und bei dieser Gelegenheit vertraute er mir die Familienlegende an, wohl um mir eine Begründung für seinen Nervenzustand zu geben, und er übergab mir zu treuen Händen das Dokument, das ich Ihnen gerade vorgelesen habe. Ich erwähne diesen Vorfall, weil ihm in Anbetracht der darauf folgenden Tragödie eine gewisse Bedeutung zukommt. Damals war ich allerdings fest überzeugt, dass die Sache völlig harmlos und seine Furcht unbegründet war.

Dass Sir Charles eine Reise nach London plante, geschah auf mein Anraten. Ich wusste, dass sein Herz angegriffen war, und die ständige Angst, in der er lebte, auch wenn es reine Hirngespinste waren, wirkte sich offensichtlich negativ auf seinen Gesundheitszustand aus. Ein paar Monate in der Metropole mit ihren Zerstreuungen, meinte ich, würden einen neuen Menschen aus ihm machen. Unser gemeinsamer Freund Mr Stapleton, der sich ebenfalls um Sir Charles’ Gesundheit sorgte, teilte diese Ansicht. Am letzten Abend vor dem Antritt der Reise kam es dann zu der schrecklichen Katastrophe.

In der Nacht von Sir Charles’ Tod schickte der Butler Barrymore, der den Leichnam gefunden hatte, den Stallknecht Perkins zu mir, und da ich trotz der späten Stunde noch wach war, erreichte ich Baskerville Hall schon eine Stunde nach dem Unglück. Ich kann sämtliche Fakten, die während der gerichtlichen Untersuchung zur Sprache kamen, als Augenzeuge bestätigen. Ich bin den Fußspuren durch die Eibenallee gefolgt, ich habe die Stelle an der Pforte zum Moor gesehen, wo er offenkundig einige Zeit gestanden und gewartet hat, ich habe bemerkt, dass seine Fußspuren von jener Stelle ab anders aussahen, ich habe gesehen, dass der weiche Kies des Weges keine anderen Spuren als die von Barrymore zeigte, und schließlich habe ich den Leichnam, der bis dahin nicht angerührt worden war, gewissenhaft untersucht. Sir Charles lag auf dem Gesicht, die Arme ausgestreckt, die Finger ins Erdreich gekrallt, und sein Gesicht war in heftiger Konvulsion so verzerrt, dass ich ihn kaum erkannte. Mit Sicherheit wies er keinerlei körperliche Verletzung auf. Aber eine falsche Angabe hat Barrymore bei der Leichenschau doch gemacht: Er hat gesagt, in der Nähe der Leiche seien keine weiteren Spuren zu sehen gewesen. Jedenfalls habe er keine bemerkt. Aber ich habe welche gesehen – ein kleines Stück entfernt, aber frisch und deutlich.«

»Fußspuren?«

»Fußspuren.«

»Von einem Mann oder von einer Frau?«

Dr Mortimer blickte uns einen Augenblick lang bedeutungsvoll an, dann sank seine Stimme zu einem Flüstern herab, als er antwortete:

»Mr Holmes, es waren Spuren eines gigantischen Hundes.«

Der Hund der Baskervilles

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