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4. KAPITEL

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Die Erzählung des kahlköpfigen Mannes

Wir folgten dem Inder durch einen schäbigen, ordinären Flur, der armselig beleuchtet und noch armseliger möbliert war, bis zu einer Tür auf der rechten Seite, die er aufstieß. Blendend helles Licht strömte uns entgegen, und mitten im Licht stand ein kleiner Mann, dessen ungewöhnlich hoher Schädel von einem Kranz borstiger roter Haare umgeben war, aus dem eine glänzende Glatze aufragte wie ein Berggipfel aus einem Tannenwald. Er rang unablässig die Hände, und über sein Gesicht lief unaufhörlich ein Zucken – mal freundlich, mal missmutig, aber niemals fand seine Miene für einen Augenblick Ruhe. Die Natur hatte ihm eine hängende Unterlippe und eine allzu sichtbare Reihe gelber, un-regelmäßiger Zähne verliehen, welche er vergeblich zu verbergen suchte, indem er sich ständig mit der Hand über die untere Gesichtshälfte fuhr. Trotz der auffälligen Glatze machte er noch einen jugendlichen Eindruck. Tatsächlich hatte er gerade erst sein dreißigstes Lebensjahr vollendet.

»Ihr Diener, Miss Morstan«, wiederholte er gebetsmühlenartig mit seiner hohen, dünnen Stimme. »Ihr Diener, Gentlemen. Bitte, treten Sie ein in mein kleines Sanktum. Es ist klein, Miss, aber nach meinem Geschmack eingerichtet. Eine Oase der Kunst in der unkultivierten Einöde von Südlondon.«

Der Anblick der Räume, in die wir gebeten wurden, setzte uns alle in Erstaunen. In diesem schäbigen Haus wirkten sie so fehl am Platz wie ein Diamant reinsten Wassers in einer Fassung von Messing. Üppigste schimmernde Vorhänge und Wandteppiche bedeckten die Wände und waren nur hier und da gerafft, um den Blick auf ein kostbar gerahmtes Gemälde oder eine orientalische Vase freizugeben. Der Teppich war in Bernsteinfarben und Schwarz gehalten und so dick, dass der Fuß wohlig darin versank wie in einem weichen Moospolster. Zwei große, quer darüber gebreitete Tigerfelle steigerten noch den Eindruck von orientalischem Luxus, ebenso eine gewaltige indische Wasserpfeife, die auf einer Matte in der Ecke stand. In der Mitte des Zimmers hing an einem fast unsichtbaren Golddraht eine brennende Lampe in Form einer silbernen Taube, die die Luft mit einem feinen aromatischen Duft erfüllte.

»Mr Thaddeus Sholto«, stellte sich der kleine Mann unter anhaltendem nervösen Zucken und Lächeln vor. »So lautet mein Name. Sie sind natürlich Miss Morstan, und diese beiden Gentlemen –«

»Dies ist Mr Sherlock Holmes, und dies ist Doktor Watson.«

»Ein Arzt?« rief er begeistert. »Haben Sie Ihr Stethoskop dabei? Dürfte ich Sie wohl bitten – würden Sie die Freundlichkeit haben? Ich mache mir ernste Sorgen wegen meiner Mitralklappe – wenn Sie so ungemein freundlich sein würden! Der Aortenklappe kann ich wohl noch trauen, aber ich wäre Ihnen überaus verbunden für Ihre Meinung über meine Mitralklappe.«

Ich folgte seinem Wunsch und horchte sein Herz ab, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen, abgesehen von der Tatsache, dass er offenbar vor Furcht außer sich war, denn er zitterte am ganzen Leibe.

»Es hört sich alles ganz normal an«, erklärte ich. »Sie haben keinen Grund zur Beunruhigung.«

»Sie werden meine Besorgnis verzeihen, Miss Morstan«, sagte er scheinbar leichthin. »Aber ich bin eine Beute vieler Krankheiten und misstraue dieser Herzklappe schon seit längerer Zeit. Es erleichtert mich ungemein, zu hören, dass diese Sorge unbegründet ist. Hätte Ihr Vater, Miss Morstan, es vermieden, seinem Herzen zu viel zuzumuten, dann wäre er vielleicht heute noch am Leben.«

Ich hätte dem Mann ins Gesicht schlagen können vor Zorn über die herzlose, beiläufige Art und Weise, mit der er ein so heikles Thema berührte. Miss Morstan sank auf einen Stuhl, und ihr Gesicht wurde bleich bis in die Lippen.

»Ich wusste in meinem Herzen, dass er tot ist«, sagte sie.

»Ich kann Ihnen alle Einzelheiten erzählen«, sagte er, »und noch mehr: Ich kann Ihnen zu Ihrem Recht verhelfen, und das werde ich tun, was auch immer Bruder Bartholomew dazu sagen mag. Ich bin so froh, dass Ihre Freunde hier sind – nicht nur als Ihr Begleitschutz, sondern auch als Zeugen für das, was ich zu sagen habe und was ich tun werde. Zu dritt können wir Bruder Bartholomew getrost die Stirn bieten. Aber bitte ziehen Sie keine Außenstehenden hinzu – Polizei oder andere Amtspersonen. Wir können alles sehr zufriedenstellend unter uns regeln, ohne irgendwelche Einmischung von außen. Nichts würde Bruder Bartholomew mehr verärgern als die geringste öffentliche Aufmerksamkeit.«

Er nahm auf einem niedrigen Sofa Platz und blinzelte uns aus seinen schwachen, wässrig-blauen Augen fragend an.

»Was mich anbelangt«, erwiderte Holmes, »so wird alles, was auch immer Sie sagen, unter uns bleiben.«

Ich nickte als Zeichen der Zustimmung mit dem Kopf.

»Sehr gut! Bestens!« rief er. »Darf ich Ihnen ein Glas Chianti anbieten, Miss Morstan? Oder Tokayer? Andere Weine habe ich leider nicht im Haus. Soll ich eine Flasche öffnen? Nein? Nun, dann hoffe ich, dass Sie nichts gegen Tabakrauch einzuwenden haben, gegen den balsamischen Wohlgeruch orientalischen Tabaks. Ich bin ein wenig nervös veranlagt, und meine Huka ist mir ein unschätzbares Sedativum.«

Er hielt ein brennendes Wachslicht an den weiten Pfeifenkopf, und schon gluckerte der Rauch munter durch das Rosenwasser. Wir drei saßen im Halbkreis, vorgebeugt und das Kinn in die Hand gestützt, vor dem seltsamen, zappeligen kleinen Mann mit dem hohen, glänzenden Schädel, der nervös seine Pfeife paffte.

»Als ich mich entschloss, mit Ihnen in Verbindung zu treten«, begann er seinen Bericht, »hätte ich Ihnen natürlich auch meine Adresse nennen können. Aber ich fürchtete, Sie könnten meine Bitte ignorieren und Leute hierher bringen, die mir nicht angenehm wären. Deshalb nahm ich mir die Freiheit heraus, unser Treffen so zu arrangieren, dass mein Diener Williams Gelegenheit hatte, Sie erst zu begutachten. Ich habe volles Vertrauen in seine Diskretion, und er hatte Anweisung, sich sofort zurückzuziehen, falls ihm irgend etwas verdächtig erscheinen sollte. Sie werden diese Vorsichtsmaßnahme hoffentlich entschuldigen, aber ich bin ein Mensch von zurückgezogener, ich möchte sogar sagen: von verfeinerter Lebensart, und für mich gibt es nichts Unästhetischeres als einen Polizisten. Ich habe eine angeborene Abneigung gegen jede Form von rohem Materialismus. Mit der groben Volksmasse komme ich nur selten in Berührung. Wie Sie sehen, lebe ich in meiner eigenen kleinen Welt erlesener Schönheit. Ich darf mich wohl einen Förderer der Künste nennen. Das ist eine kleine Schwäche von mir. Diese Landschaft dort ist ein echter Corot, und selbst wenn ein Fachmann vielleicht den Schatten eines Zweifels auf die Echtheit jenes Salvator Rosa werfen könnte, so ist dieser Bouguereau dort über jeden Zweifel erhaben. Ich hege eine Vorliebe für die moderne französische Schule.«

»Entschuldigen Sie bitte, Mr Sholto«, unterbrach ihn Miss Morstan, »aber ich bin eigens auf Ihre Aufforderung hierher gekommen, um etwas zu erfahren, was Sie mir mitteilen wollen. Der Abend ist schon fortgeschritten, und ich möchte Sie bitten, unsere Unterredung so kurz wie möglich zu halten.«

»Eine Weile dauern wird es auf alle Fälle«, entgegnete er, »denn wir müssen natürlich nach Norwood fahren und Bruder Bartholomew einen Besuch abstatten. Wir werden alle zusammen hinfahren und versuchen, mit Bruder Bartholomew fertigzuwerden. Er ist sehr verärgert, weil ich diesen Weg eingeschlagen habe, der mir der richtige zu sein schien. Gestern Abend hatten wir deshalb einen recht heftigen Wortwechsel. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Mensch er sein kann, wenn er böse wird.«

»Wenn wir jetzt noch nach Norwood fahren müssen, täten wir sicherlich gut daran, sogleich aufzubrechen«, erlaubte ich mir zu bemerken.

Er lachte laut auf, bis seine Ohren rot wurden.

»Wo denken Sie hin?« rief er. »Ich möchte nicht wissen, was er sagen würde, wenn wir ihm einfach so ins Haus fallen. Nein, ich muss Sie erst vorbereiten, und dafür müssen Sie erfahren, wie wir zueinander stehen. Aber zu allererst muss ich sagen, dass es in dieser Geschichte einige Punkte gibt, die mir selbst nicht klar sind. Ich kann Ihnen lediglich die Tatsachen unterbreiten, soweit sie mir bekannt sind.

Mein Vater war, wie Sie gewiss schon vermutet haben, John Sholto, ehemals Major in der Britisch-Indischen Armee. Vor gut elf Jahren nahm er seinen Abschied und zog sich nach Pondicherry Lodge in Upper Norwood zurück, um dort seinen Ruhestand zu verleben. Er hatte in Indien prosperiert und brachte ein ansehnliches Vermögen, eine große Sammlung wertvoller Antiquitäten und seine indische Dienerschaft mit nach England. Mit diesem Kapital konnte er ein Haus erwerben und in beträchtlichem Wohlstand leben. Mein Zwillingsbruder Bartholomew und ich sind seine einzigen Kinder.

Ich erinnere mich sehr gut, welches Aufsehen das Verschwinden von Captain Morstan damals erregte. Wir lasen alle Einzelheiten in der Zeitung, und da wir wussten, dass er ein Freund unseres Vaters gewesen war, unterhielten wir uns in seiner Gegenwart darüber, und er beteiligte sich an unseren Mutmaßungen, was Morstan wohl zugestoßen sein könnte. Niemals hätten wir es für möglich gehalten, dass das Geheimnis in seiner Brust verborgen lag und dass er der einzige noch lebende Mensch auf der Welt war, der das Schicksal von Arthur Morstan kannte.

Es blieb uns allerdings nicht verborgen, dass ein dunkles Geheimnis das Leben unseres Vaters überschattete, ja dass sogar eine reale Gefahr über ihm schwebte. Er hatte Angst, alleine auszugehen, und er hatte ständig zwei Preisboxer in seinen Diensten, die in Pondicherry Lodge als Pförtner angestellt waren. Williams, der Sie heute Abend kutschiert hat, ist einer ein ihnen. Er war früher englischer Meister im Leichtgewicht. Der Vater sprach aber niemals mit uns über die Ursache seiner Furcht; er zeigte lediglich eine höchst auffällige Aversion gegen Menschen mit einer hölzernen Beinprothese. Einmal schoss er tatsächlich mit seinem Revolver auf einen Mann mit Holzbein, der sich als völlig harmloser Hausierer herausstellte, welcher die Häuser nach Aufträgen abklapperte. Wir konnten die Sache nur vertuschen, indem wir ihm ein beträchtliches Schweigegeld zahlten. Mein Bruder und ich hielten das damals für eine bloße Marotte unseres Vaters, aber die späteren Ereignisse haben uns eines Besseren belehrt.

Anfang des Jahres 1882 erhielt der Vater einen Brief aus Indien, der ihm einen argen Schock versetzte. Er wurde fast ohnmächtig, als er den Brief am Frühstückstisch öffnete, und von diesem Tage an kränkelte er dem Tod entgegen. Was in dem Brief stand, erfuhren wir nie, aber ich konnte einen Blick darauf werfen, als mein Vater ihn in der Hand hielt, und ich konnte erkennen, dass er nur kurz und in krakeliger Handschrift geschrieben war. Der Vater hatte schon seit vielen Jahren an einer vergrößerten Milz gelitten, und nun verschlimmerte sich das Übel zusehends, und Ende April teilte man uns mit, dass keine Hoffnung mehr bestand und er eine letzte Aussprache mit uns wünschte.

Als wir in sein Zimmer traten, lag er aufgerichtet in den Kissen und atmete schwer. Er beschwor uns, die Tür sorgfältig zu schließen und zu beiden Seiten neben sein Bett zu treten. Dann ergriff er unsere Hände und machte uns mit gebrochener Stimme, die von Gemütsbewegung wie von Schmerz gezeichnet war, ein unvergessliches Geständnis. Ich will versuchen, Ihnen dieses Bekenntnis in seinen eigenen Worten wiederzugeben.

›Es gibt nur Eines, was mir angesichts des Todes auf der Seele liegt‹, sagte er. ›Das ist das Unrecht, das ich der Waise des armen Morstan angetan habe. In meiner verfluchten Geldgier, der schlimmsten Sünde meines Lebens, habe ich ihr den Schatz vorenthalten, der wenigstens zur Hälfte ihr zusteht. Dabei habe ich ihn selbst gar nicht angerührt – so blind und töricht macht uns die Habsucht. Das bloße Gefühl des Besitzens war mir so wichtig, dass ich es nicht ertragen konnte, mit jemandem zu teilen. Seht ihr das Perlendiadem, das dort neben der Chininflasche liegt? Selbst von ihm konnte ich mich nicht trennen, obwohl ich es dem Schatz entnommen hatte in der Absicht, es Morstans Tochter zu schicken. Ihr, meine Söhne, sollt ihr ihren gerechten Anteil an dem Agra-Schatz zukommen lassen. Aber schickt ihr nichts, auch nicht das Perlendiadem, bevor ich unter der Erde bin. Schließlich ist schon mancher noch schlimmer dran gewesen als ich und doch wieder gesund geworden.

Nun will ich euch berichten, wie Morstan zu Tode kam‹, fuhr er fort. ›Er hatte schon seit vielen Jahren am schwachen Herzen gelitten, das aber vor aller Welt verheimlicht. Ich war der einzige, der es wusste. Nun sind wir, als wir beide in Indien dienten, durch eine seltsame Verkettung von Umständen in den Besitz eines bedeutenden Schatzes gelangt. Ich habe ihn nach England gebracht, und als Morstan hier eintraf, suchte er mich noch am Abend seiner Ankunft auf, um seinen Anteil zu fordern. Er kam vom Bahnhof zu Fuß hierher, und mein alter treuer Diener Lal Chowdar, der nun auch schon tot ist, ließ ihn ein. Morstan und ich gerieten in Streit über die Aufteilung des Schatzes, und es kam zu einem heftigen Wortwechsel. In einem Wutanfall sprang Morstan vom Stuhl auf, doch plötzlich presste er die Hand auf die Brust, wurde aschbleich und stürzte rücklings zu Boden, wobei er mit dem Kopf gegen eine Ecke der Schatztruhe schlug. Als ich mich über ihn beugte, stellte ich mit Entsetzen fest, dass er tot war.

Ich saß minutenlang verwirrt und ratlos da und fragte mich, was ich nun tun sollte. Mein erster Impuls war natürlich, Hilfe zu holen, aber dann dämmerte mir, dass man mich höchstwahrscheinlich für Morstans Mörder halten werde. Sein Tod im Verlauf eines hitzigen Streits und die klaffende Kopfwunde würden einen schweren Verdacht auf mich werfen. Falls eine gerichtliche Untersuchung stattfand, würden außerdem gewisse Tatsachen über den Schatz ans Licht kommen, die ich unter allen Umständen geheim halten wollte. Morstan hatte mir gesagt, dass er keiner Menschenseele erzählt hatte, wohin er gehen wollte, und ich fand, es sei auch nicht nötig, dass je eine Menschenseele davon erfuhr.

So wälzte ich die Sache in Gedanken hin und her, als ich aufblickte und plötzlich meinen Diener Lal Chowdar in der Tür stehen sah. Er schlich herein und riegelte die Tür hinter sich zu. ›Seid ohne Furcht, Sahib‹, sagte er. ›Niemand braucht zu erfahren, dass Ihr ihn umgebracht habt. Wir wollen ihn beiseite schaffen, dann kräht kein Hahn mehr danach.‹ – ›Ich habe ihn nicht umgebracht!‹ rief ich. Aber Lal Chowdar schüttelte nur lächelnd den Kopf. ›Ich habe alles gehört, Sahib‹, sagte er. ›Ich hörte den Streit, und ich hörte den Schlag. Aber meine Lippen sind versiegelt. Das ganze Haus liegt in tiefem Schlaf. Schaffen wir ihn gemeinsam fort.‹ – Das entschied die Sache. Wenn schon mein eigener Diener nicht an meine Unschuld glaubte, wie konnte ich dann hoffen, vor zwölf engstirnigen Kleinhändlern auf der Geschworenenbank zu bestehen? So schafften Lal Chowdar und ich noch in der Nacht die Leiche fort, und wenige Tage darauf waren die Londoner Zeitungen voll von Artikeln über das rätselhafte Verschwinden des Captain Morstan. Nach allem, was ich euch jetzt erzählt habe, werdet ihr einsehen, dass ich für diese Sache kaum verantwortlich zu machen bin. Schuldig habe ich mich allein dadurch gemacht, dass wir nicht nur die Leiche versteckt haben, sondern auch den Schatz, und dass ich von Morstans Anteil ebenso wenig lassen konnte wie von meinem eigenen. Deshalb ist es mein Wunsch und Wille, dass ihr Wiedergutmachung leisten sollt. Beugt euch zu mir herunter, mit dem Ohr ganz dicht zu meinem Mund. Der Schatz ist in –‹

In diesem Augenblick malte sich in seinen Zügen eine furchtbare Veränderung: Seine Augen quollen vor Furcht heraus, sein Kiefer sank herab, und er kreischte mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde: ›Lasst ihn nicht herein! Um Christi willen, lasst ihn nicht herein!‹ Wir fuhren herum zu dem Fenster, das sein entsetzter Blick fixierte. Aus der Dunkelheit starrte uns ein Gesicht an. Wir sahen, wie sich die Nase weiß von dem gegen die Scheibe gepressten Gesicht abhob. Es war ein bärtiges, behaartes Gesicht mit wilden, grausamen Augen und dem Ausdruck geballten Hasses. Mein Bruder und ich stürzten zum Fenster, aber der Mann war fort. Als wir zu unserem Vater zurückkehrten, war sein Kopf in die Kissen gesunken, und sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Noch am selben Abend durchsuchten wir den Garten, fanden aber keine Spur von dem Eindringling, bis auf einen einzigen Fußabdruck in einem Blumenbeet genau unter dem fraglichen Fenster. Ohne diese Spur hätten wir das wilde, hasserfüllte Gesicht am Fenster wohl für eine Ausgeburt unserer Phantasie gehalten. Aber schon bald sollten wir einen anderen, schlagenden Beweis erhalten, dass um uns herum dunkle Mächte am Werk waren: Am nächsten Morgen fand man das Fenster von unseres Vaters Sterbezimmer offen stehen, seine Schränke und Truhen waren durchwühlt, und an seine Brust war ein Papierfetzen geheftet, auf dem von ungelenker Hand die Worte gekrakelt waren: ›Das Zeichen der Vier‹. Was das zu bedeuten hatte oder wer unser nächtlicher Besucher war, haben wir nie erfahren. Soweit wir feststellen konnten, war nichts von Vaters Eigentum gestohlen worden, aber alles war herausgerissen und durcheinandergeworfen. Natürlich brachten mein Bruder und ich diesen bizarren Vorfall mit der Furcht in Verbindung, die unseren Vater zu Lebzeiten verfolgt hatte, aber das Ganze ist uns bis heute ein vollkommenes Rätsel.«

Der kleine Mann hielt inne, um seine Wasserpfeife wieder in Brand zu stecken, dann paffte er einige Augenblicke, tief in Gedanken versunken. Wir hatten seiner abenteuerlichen Erzählung in atemloser Spannung gelauscht. Bei dem lakonischen Bericht über den Tod ihres Vaters war Miss Morstan leichenblass geworden, und ich hatte einen Augenblick befürchtet, sie würde ohnmächtig werden. Sie hatte sich jedoch rasch wieder gefangen, nachdem ich ihr aus einer venezianischen Karaffe, die auf dem Beistelltisch stand, ein Glas Wasser eingeschenkt und wortlos gereicht hatte. Sherlock Holmes saß mit abwesendem Gesichtsausdruck in seinem Sessel zurückgelehnt, die sprühenden Augen halb unter tief gesenkten Augenlidern verborgen. Als ich zu ihm hinüber blickte, musste ich daran denken, wie bitter er erst heute Morgen über die Banalität des Lebens geklagt hatte. Hier war jedenfalls ein Problem, das seinen Scharfsinn auf die äußerste Probe stellen würde. Mr Thaddeus Sholto ließ seinen Blick zwischen uns hin- und herwandern, sichtlich stolz auf den Eindruck, den sein Bericht auf uns gemacht hatte. Dann nahm er, unterbrochen von Zügen aus seiner übergroßen Pfeife, seine Erzählung wieder auf.

»Mein Bruder und ich waren, wie Sie sich vorstellen können, durch die Nachricht von einem Schatz, die wir von unserem Vater erfahren hatten, in größte Aufregung versetzt worden. Wochen- und monatelang suchten wir in allen Ecken und Enden danach und wühlten den Garten um, ohne irgend etwas zu finden. Wir hätten rasend werden können bei dem Gedanken, dass der Vater just in dem Augenblick gestorben war, als ihm der Ort des Verstecks auf der Zunge lag. An den köstlichen Perlen, die zu dem Schatz gehört hatten, konnten wir die Herrlichkeiten ermessen, die uns entgangen waren. Wegen dieses Perlendiadems kam es übrigens zwischen meinem Bruder Bartholomew und mir zu einem kleinen Wortwechsel. Die Perlen waren augenscheinlich von großem Wert, und er wollte sie nicht hergeben, denn unter uns gesagt, mein Bruder neigt ein wenig zu dem gleichen Charakterfehler wie unser Vater. Er meinte auch, dass wir ins Gerede und am Ende in Schwierigkeiten kommen würden, wenn wir uns von den Perlen trennen würden. Alles, was ich ihm gegenüber erreichen konnte, war, dass ich mir Miss Morstans Adresse verschaffen und ihr in regelmäßigen Zeitabständen jeweils eine einzelne Perle zukommen lassen durfte, sodass sie zumindest keine Not leiden musste.«

»Das war sehr freundlich von Ihnen«, sagte unsere Begleiterin ernst, »es war wirklich sehr gütig von Ihnen.«

Der kleine Mann machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Wir waren lediglich Ihre Treuhänder«, sagte er. »Das ist jedenfalls meine Ansicht, auch wenn Bruder Bartholomew die Sache freilich in einem anderen Licht sieht. Aber wir besitzen beide selbst ein beträchtliches Vermögen, und mir stand das Verlangen nicht nach mehr. Auch sehe ich es als Zeichen von ausgesprochen schlechtem Geschmack an, eine junge Dame auf so schändliche Weise zu übervorteilen. ›Le mauvais goût mène au crime.‹ Die Franzosen haben eine höchst elegante Art, solche Dinge auszudrücken. Jedenfalls führte unser Dissens schließlich so weit, dass ich es für das Beste hielt, mir eine eigene Wohnung zu nehmen. Ich verließ also Pondicherry Lodge und nahm den alten Khitmutgar und Williams mit. Gestern habe ich nun erfahren, dass ein Ereignis von allergrößter Wichtigkeit eingetreten ist: Der Schatz ist gefunden worden. Ich setzte mich sogleich mit Miss Morstan in Verbindung, und jetzt müssen wir nur noch nach Norwood hinausfahren und unseren Anteil einfordern. Ich habe Bruder Bartholomew bereits gestern Abend mein Vorhaben auseinandergesetzt; er wird uns also erwarten, wenn wir ihm auch schwerlich willkommen sein werden.«

Mr Thaddeus Sholto hatte seine Erzählung beendet und saß mit unruhig zuckendem Gesicht auf seinem exquisiten Sofa. Wir waren eine Weile sprachlos vor Überraschung über diese neue Wendung, die der rätselhafte Fall genommen hatte. Dann sprang Holmes als Erster auf.

»Sie haben richtig gehandelt, Sir, von Anfang bis Ende!« rief er. »Vielleicht können wir uns erkenntlich zeigen, indem wir etwas Licht auf die Fakten werfen, die Ihnen noch unbekannt sind. Aber, wie Miss Morstan vorhin bemerkte, es ist schon spät, und wir sollten die Sache unverzüglich in Angriff nehmen.«

Unser neuer Bekannter rollte mit penibler Sorgfalt den Schlauch seiner Huka auf, dann holte er hinter einem Vorhang einen langen Überzieher mit Knebelverschlüssen hervor, dessen Kragen und Manschetten mit Astrachan besetzt waren. Trotz der drückend schwülen Nacht knöpfte er ihn bis oben hin fest zu, dann krönte er seine Erscheinung mit einer Mütze aus Kaninchenfell, deren Klappen die Ohren bedeckten, sodass von ihm kaum mehr zu sehen war als sein spitzes, nervöses Gesicht.

»Ich bin ein wenig kränklich«, bemerkte er, während er uns durch den Korridor vorausging, »und stets genötigt, auf meine zarte Gesundheit Rücksicht zu nehmen.«

Draußen stand der Wagen schon bereit. Unser abendliches Programm war offenbar im Voraus abgesprochen worden, denn kaum waren wir eingestiegen, da fuhr der Kutscher schon in raschem Tempo los. Thaddeus Sholto redete unaufhörlich auf uns ein; seine schrille Stimme übertönte sogar das Gerassel der Räder.

»Bartholomew ist ein schlauer Bursche«, sagte er. »Was glauben Sie wohl, wie er herausgefunden hat, wo der Schatz versteckt war? Er war zu dem Schluss gekommen, dass das Versteck irgendwo im Innern des Hauses liegen musste, und so stellte er Messungen an und vermaß das gesamte Haus bis auf den Kubikzoll. Dabei stellte er fest, dass die Höhe des Gebäudes vierundsiebzig Fuß beträgt, aber wenn er die Höhe der einzelnen Räume addierte und dabei auch die Zwischendecken berücksichtigte, deren Dicke er durch Bohrungen ermittelte, so waren es in der Summe nicht mehr als siebzig Fuß. Es gab also eine Differenz von vier Fuß Raumhöhe, und die konnten nur im Dachraum des Hauses liegen. Also schlug er ein Loch in die Putzdecke des am höchsten gelegenen Zimmers, und tatsächlich stieß er auf eine kleine zugemauerte Dachkammer, von deren Existenz niemand etwas gewusst hatte. Und dort, auf zwei Deckenbalken gestützt, stand die Schatztruhe. Er ließ sie durch das Loch hinunter, und nun haben wir sie. Mein Bruder schätzt den Wert der Juwelen auf mindestens eine halbe Million Pfund Sterling.«

Als er diese gigantische Summe nannte, blickten wir uns mit aufgerissenen Augen an. Wenn es uns gelang, Miss Morstans Ansprüche durchzusetzen, würde sich die bescheidene Gouvernante in die reichste Erbin Englands verwandeln. Jeder, der ihr aufrichtig wohlwollte, musste sich über eine solche Nachricht freuen, aber ich muss zu meiner Beschämung gestehen, dass Selbstsucht meine Seele beschlich und mein Herz schwer wie Blei wurde. Ich stammelte ein paar unzusammenhängende Worte, die einen Glückwunsch darstellen sollten, dann saß ich geknickt und mit hängendem Kopf da, taub für das Geschwätz unseres neuen Bekannten. Er war offensichtlich ein eingefleischter Hypochonder, und ich hörte nur mit halbem Ohr zu, als er mich mit einem endlosen Schwall von Symptomen überschüttete und um Unterweisung über die Zusammensetzung und Wirkung unzähliger Wundermittel bat, von denen er etliche in einem Lederetui in seiner Tasche bei sich trug. Ich kann nur hoffen, dass er alle Ratschläge vergessen hat, die ich ihm an jenem Abend gab. Holmes behauptet nämlich, er habe mitgehört, dass ich dringend davor warnte, mehr als zwei Tropfen Rizinusöl einzunehmen, während ich Strychnin in großen Dosen als Beruhigungsmittel empfahl. Wie dem auch sei, ich war froh, als unser Wagen endlich mit einem Ruck hielt und der Kutscher vom Bock sprang und den Schlag öffnete.

»Dies, Miss Morstan, ist Pondicherry Lodge«, sagte Mr Thaddeus Sholto, während er ihr beim Aussteigen behilflich war.

Das Zeichen der Vier

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