Читать книгу Dr. Brinkmeier Classic 7 – Arztroman - Sissi Merz - Страница 3
Оглавление»Ach, ist das heut wieder ein Wetter! Ich spür’ die Kälte in allen Knochen. Wenn es nur bald Frühling werden tät.« Christel Brenner, die bewährte Sprechstundenhilfe im Doktorhaus von Wildenberg, warf einen wenig begeisterten Blick aus dem Fenster zum grauen Schneehimmel empor. Seit Tagen versank das idyllisch im Berchtesgadener Land gelegene Bergdorf nun in den weißen Massen, der Winter hatte Wildenberg fest im Griff.
Die patente Christel mit dem kurz geschnittenen Graukopf ließ sich aber nicht unterkriegen. Und als Dr. Max Brinkmeier, der Landarzt von Wildenberg, wenig später die Praxisräume betrat, hatte Christel schon frischen Kaffee gekocht.
»Recht frisch ist es heut, gelt?« merkte der hoch gewachsene Mediziner mit dem sandblonden Haar und den klaren, grau-blauen Augen an. »Ich hab’ ja nix gegen den Winter, aber langsam fängt man doch an, ans Frühjahr zu denken, gelt?«
»Wem sagst das, Doktor! Ich bin schließlich nimmer die Jüngste und spüre die Kälte in jedem Knochen.«
Max mußte lachen. »Christel, ich bitt dich! Du steckst doch noch manche Zwanzigjährige in die Tasche, fit wie du bist.«
»Schön wär’s!« Sie reichte dem Landarzt die Liste der Patienten, die für diesen Morgen angemeldet waren, und meinte: »Ich bin ja jetzt schon mehr als zwanzig Jahre hier in der Praxis. Ein junger Hüpfer bin ich leider nimmer.«
»Aber auch keine eingebildete Kranke wie unser Bürgermeister«, murmelte Dr. Brinkmeier, der die Liste überflog. »Der Burgmüller klagt also schon wieder über Gelenkschmerzen.« Er ließ den Zettel sinken und erklärte: »Das einzige, was ihm fehlt, ist Bewegung und eine ausgewogenere Ernährung. Er ist schlicht zu dick. Aber das will er net hören. Alle paar Wochen erscheint er hier und behauptet, das Rheuma seines Vaters selig geerbt zu haben. Ich kann sagen, was ich will, er beharrt stur auf seinem Standpunkt. Von einer Ernährungsumstellung und mehr Bewegung will er partout nichts wissen.«
Christel mußte schmunzeln. »Die Leut’ sind halt von Natur aus bequem, da kann man nix machen. Außerdem will der Burgmüller ja keinen Diätplan, sondern ein Rezept, das er dann zur Anna Stadler tragen kann.«
»Das hab’ ich mir fast gedacht. Also schön, tun wir ihm halt den Gefallen. Auch wenn’s medizinisch nicht korrekt ist.«
»Wir sind hier eben auf dem Land, da läßt sich manches leichter mit dem Herzen als mit dem Kopf lösen«, merkte Christel noch schmunzelnd an und reichte ihrem Chef einen Becher mit frischem Kaffee. »Das weißt doch selbst am besten, Doktor.«
Wenig später erschienen die ersten Patienten. Alois Burgmüller, Großbauer, Viehhändler und Ortsvorstand von Wildenberg, wollte gleich ins Sprechzimmer marschieren, aber Christel bremste ihn. »Du mußt schon warten, bis ich dich eini schick, Bürgermeister«, mahnte sie streng. »Hier geht alles der Reihe nach, gelt?«
Milli Reiter, die Hauserin von Hochwürden Hirtner, kicherte schadenfroh. »Da schau her, der hohe Herr muß warten wie die anderen auch. Wenn dich das net fuchsen tut, Burgmüller!«
Alois beachtete die alte Klatschbase nicht, er erklärte hoheitsvoll: »Ich hab’ keine Zeit zum Verwarten, schließlich lasten eine Menge Pflichten auf meinen Schultern. Also bitt schön, Christel, mach zu! Ich hab’ einen Termin.«
Sie musterte ihn kühl, drückte dann die Gegensprechanlange und ließ Dr. Brinkmeier wissen: »Der Burgmüller wär’ jetzt da.«
»Schick ihn halt durch, Christel«, kam es vom Doktor. Alois bedachte sie mit einem ärgerlichen Blick und ließ sich nun nicht mehr aufhalten. Drinnen beschwerte er sich sofort: »Die Christel nimmt sich immer mehr raus, Doktor, die solltest ein bisserl besser im Zaum halten. Sie behandelt einen Patienten wie den anderen. Und das ist doch wohl net in deinem Sinn, oder?«
»Aber gewiß doch ist das in meinem Sinn. Bei mir kriegt keiner eine Extrabehandlung«, versicherte der Landarzt freundlich. »Oder doch beinahe keiner...«
»Ah, da schau her! Du machst auch Ausnahmen. Also, raus mit der Sprache! Wer wird da bevorzugt behandelt und warum?«
Max hob leicht die Augenbrauen. »Ich dachte, du kommst wegen deinen Gelenkschmerzen her, Bürgermeister. Kann ich davon ausgehen, daß du momentan beschwerdefrei bist, wennst nur aufs Plaudern aus bist?«
»Ganz bestimmt nicht, sonst wäre ich ja net hier.« Alois verzog ärgerlich den Mund. »Ich kann es nur nicht leiden, wenn man mir keine gescheite Antwort gibt.«
»Nun gut, dann will ich dir antworten, Burgmüller: Du kriegst da eine gesonderte Behandlung, und die hast in der Tat der Christel zu verdanken.« Max mußte über die verständnislose Miene des Großbauern schmunzeln. »Dein so genanntes Rheuma ist nämlich nichts anderes als Bewegungsmangel und falsche Ernährung. Aber das sage ich dir ja nicht zum ersten Mal. Eigentlich müßte ich dich gleich wieder heimschicken, weil ich nämlich nichts für dich tun kann, das müßtest schon selbst machen. Aber die Christel meint, ein Rezept wird dir mehr helfen als meine mahnenden Worte. Und deshalb drücke ich eben ein Auge zu.«
Alois musterte sein Gegenüber ärgerlich. »Du willst mich wohl zum alten Fettsack stempeln, damit die Anna noch weniger von mir hält. Aber damit hast bei mir kein Glück, Doktor. Ich weiß, was ich weiß. Das Rheuma hatte schon mein Vater und auch mein Großvater. Und ich hab’s geerbt. Also, schreib mir halt was dagegen auf. Und wennst noch einmal sagst, ich wär’ zu dick, dann muß ich den Arzt wechseln!«
Was wie eine Drohung klingen sollte, prallte an Max Brinkmeier ab. Lächelnd riet er dem Bürgermeister: »Versuch es halt mal mit dem Kollegen Haselbeck in Schlehbusch. Ich fürchte allerdings, von dem wirst auch nix anderes zu hören bekommen als von mir.« Er reichte dem Burgmüller das Rezept. »Und eine Salbe gegen nix und wieder nix wird er dir wohl auch nicht verschreiben...«
Alois musterte den Landarzt mißbilligend. »Das würde dir so passen! Sag, Doktor, was spielt sich eigentlich zwischen dir und der Anna ab? Ich finde, ich hab’ ein Recht, es zu erfahren.«
Max schüttelte leicht den Kopf. »Also, Burgmüller, das geht zu weit. Bei allem Verständnis...«
»Ich brauch dein Verständnis net, Brinkmeier! Ich will wissen, ob du der Anna gut bist. Ich hab’ sie nämlich lieb und meine es ehrlich mit ihr, im Gegensatz zu dir!«
»Das reicht jetzt.« Max erhob sich. »Ich muß mich um meine anderen Patienten kümmern. Also, bitt schön...«
»Willst mir nicht antworten oder kannst es nicht?« Der Ortsvorstand von Wildenberg musterte den Landarzt forschend. »Ein jeder hier im Dorf weiß, daß du dein Herz schon an diese Buschärztin verschenkt hast. Ein Weiberl genügt dir wohl net, was? Aber glaub nur nicht, daß ich so einfach aufgebe. Ich hab’ die älteren Rechte. Und auf denen bestehe ich!«
»Würde mich nur mal interessieren, wie die Anna das sieht. Ich hab’ mir nämlich sagen lassen, daß sie nichts von dir wissen will, Burgmüller.«
»Pah, das wollen wir doch erst mal sehen!« Er schnappte sich sein Rezept und rauschte ohne Gruß aus dem Zimmer. Christel spitzte gleich darauf durch die Tür. »Was war denn los? Dicke Luft? Der Burgmüller sieht aus, als ob sein Blutdruck gefährlich im Steigen begriffen wär’...«
Max mußte lächeln. »Nix Besonderes. Du hast es ja selbst schon gesagt; er ist eben ein uneinsichtiger Sturschädel. Und das in jeder Beziehung.«
*
Anna Stadler öffnete an diesem Morgen die Rosenapotheke etwas später als sonst. Sie wollte zunächst noch mit ihrer Mutter telefonieren, die Geburtstag hatte. Die hübsche Blondine hatte den Laden vor einiger Zeit von ihren Eltern übernommen, die ihren Lebensabend auf Lanzarote verbrachten. Die Rosenapotheke bestand nun schon in der vierten Generation und war für die Menschen in Wildenberg längst zu einer Institution geworden. Daran, daß nun eine junge Frau hinter der Verkaufstheke stand, hatte sich mancher erst noch gewöhnen müssen. Und daß Anna auch den Sitz des Vaters im Gemeinderat übernommen hatte, erst recht. Nur der Geistliche von Wildenberg, Dominik Hirtner, und Alois Burgmüller hatten Anna freundlich im Ratskreis aufgenommen. Allerdings zeigte sich bald, daß der verwitwete Bürgermeister gewisse Absichten verfolgte, die Anna nur lästig waren. Daß Alois in sie verliebt war, gefiel ihr ganz und gar nicht. Seit einiger Zeit machte er ihr nun ausdauernd und wenig sensibel den Hof. Sie konnte tun und sagen, was sie wollte, er nahm es nicht zur Kenntnis. Doch Anna war eine selbstbewußte junge Frau und fest entschlossen, den alten Gockel in seine Schranken zu weisen.
»Anna, ich freue mich sehr, deine Stimme zu hören«, sagte Hedwig Stadler, nachdem ihre Tochter sie begrüßt und ihr gratuliert hatte. »Aber ich würde mich noch mehr freuen, wenn du uns endlich mal besuchen kommst. Wir haben schon so oft darüber gesprochen, doch du hast ja nie Zeit. Kannst du denn nicht mal für zwei Wochen eine Urlaubsvertretung bekommen? Du weißt doch, wie dein Vater dich vermißt.«
»Bitte, Mama, mach mir kein schlechtes Gewissen. Ich vermisse euch ja auch. Und ich würde es schön finden, mal für zwei Wochen zu euch in den sonnigen Süden zu kommen. Leider bin ich aber zu sehr eingespannt, es geht einfach nicht. Vielleicht später, wenn ich weniger am Hals habe.«
»Ach, Kind, das hat dein Vater auch immer gesagt. Wir haben so viel verschoben, was wir später nicht mehr nachholen konnten. Es ist einfach schade, wenn man sich so selten sieht. Wie geht es dir denn? Ist dir der Richtige noch nicht über den Weg gelaufen? Ich weiß, du findest das indiskret. Aber Mütter neigen nun mal zur Indiskretion. Und ich wünsche mir auch Enkelkinder.«
»Mama, bitte!« Anna verdrehte die Augen. Sie konnte ihrer Mutter ja schlecht sagen, daß es in Wildenberg durchaus einen Mann gab, für den ihr Herz schlug, daß dieser aber eine andere lieb hatte. Das hätte Hedwig Stadler nicht verstanden, denn sie hatte im Leben immer alles erreicht und bekommen.
»Nun sei doch mal ehrlich. Du bist schon über dreißig, Anna, es wird Zeit, an Nachwuchs zu denken. Und dazu gehört nun mal der richtige Mann. So ist das im Leben.«
»Was du nicht sagst«, rutschte es ihr unbedacht heraus. »Bitte, entschuldige, ich möchte mich nicht streiten, besonders nicht an deinem Geburtstag. Aber ich finde auch, daß dieses Thema nicht so wichtig ist. Jedenfalls momentan. Ich glaube, mir wird schon noch der Richtige über den Weg laufen. Und wenn nicht, werde ich auch nicht vor Gram eingehen. Ich kann sehr gut für mich selbst sorgen, Mama. Ich bin eine selbständige Frau.«
»Auch das noch.« Hedwig Stadler schien darin einen schweren Makel zu sehen. »Kein Wunder, daß du noch einschichtig bist, wenn du so keß auftrittst. Kein Mann will überrannt werden. Mannsbilder erobern uns, sie...«
Anna hörte nicht mehr zu. Es war immer dasselbe; niemals schaffte sie es, ein vernünftiges Gespräch mit ihrer Mutter zu führen, das war schon früher so gewesen. Hedwig war sehr konservativ eingestellt. Sie war zwar einverstanden gewesen, daß Anna studierte, um später einmal die Apotheke übernehmen zu können. Doch ihre Tochter war überzeugt, daß sie die ganze Zeit darauf gesetzt hatte, Anna mit einem zukünftigen Apotheker zu verheiraten. Daß das nicht geklappt hatte, schien sie noch immer zu wurmen.
»Hörst du mir überhaupt noch zu? Also, manchmal fürchte ich, es ist hoffnungslos mit dir, Madel. Die Dinge, auf die es im Leben ankommt, scheinen dir einfach nichts zu bedeuten.«
»Für jeden Menschen zählen doch andere Werte«, hielt sie der Mutter tapfer entgegen. »Aber ich habe jetzt auch keine Zeit mehr, mich noch länger über diese Dinge zu unterhalten. Bitte sei mir nicht böse, Mama. Ich muß aufsperren. Noch einen schönen Geburtstag wünsche ich dir!«
»Er wäre weitaus schöner, wenn ich mir keine Sorgen mehr um dich machen müßte, Kind«, bemängelte Hedwig leicht beleidigt.
Anna schenkte sich eine Erwiderung. Es hatte doch keinen Sinn, der Mutter ihre Sicht der Dinge klarzumachen. Wahrscheinlich wäre ihr das auch gar nicht gelungen...
Kurze Zeit später erschien Susi Angerer in der Rosenapotheke. Sie war Annas einzige Mitarbeiterin, hatte sich von der Aushilfe zur vollwertigen Kraft entwickelt. Das patente Madel bewunderte die schöne Apothekerin im stillen und hatte sie sich zum Vorbild genommen. Anna war ihrer Meinung nach eine richtige Dame. Sie wußte sich zu kleiden, hatte Geschmack und Stil. Sie fiel positiv auf in einem kleinen Flecken wie Wildenberg. Susi bemerkte gleich, wenn ihre Chefin schlechte Laune hatte. Und das schien an diesem Morgen der Fall zu sein.
»Stimmt was net?« wollte das Madel deshalb wissen. »Du schaust so deprimiert aus. Oder drückt nur das Wetter auf die Stimmung?«
»Ach, ich hab’ eben mit meiner Mutter telefoniert. Weißt, sie hat heut Geburtstag.«
»Und sie hat gewiß immer etwas auszusetzen.« Susi lachte unbekümmert. »Bei mir ist das net anders. So sind Mütter nun mal. Das kann man leider nicht ändern.«
»Ich wünschte, ich könnte das auch so leichtnehmen wie du, Susi. Aber ich ärgere mich immer, wenn sie mir Vorhaltungen macht und sich in mein Leben einmischen will.«
»Aber bei dir ist das doch halb so wild. Ich seh meine Mutter jeden Tag und kriege ständig was zu hören. Was würde ich dafür geben, wenn sie auf Lanzarote wär’...«
Nun mußte Anna doch schmunzeln. Susi verpaßte ihr allerdings gleich einen Dämpfer. »Oje, auch das noch. Der Burgmüller naht. Ich fürchte, das ist heut net dein Tag, Chefin. Soll ich ihn bedienen und ein bisserl abschrecken?«
»Laß nur, das wirst eh net schaffen. Ich kümmere mich schon um ihn.« Anna straffte sich, als Alois Burgmüller mit Schwung den Laden betrat und zielstrebig auf sie zu marschierte. Er nahm ihre Hand, drückte ein Busserl darauf und legte dann sein Rezept hinein. »Einen wunderschönen Morgen, Annerl! Mei, schaust wieder aus wie ein Traum. Am liebsten tät ich dich auf der Stelle entführen und vom Fleck weg heiraten.«
»Eine Rheumasalbe, Moment«, erwiderte sie sachlich.
Alois schüttelte leicht den Kopf und machte eine nachsichtige Miene. »Laß dir nur Zeit, meine Schöne. Bloß net hetzen!«
Anna wechselte einen vielsagenden Blick mit Susi Angerer, die grinste. Dann brachte sie dem Bürgermeister das Gewünschte und schlug vor: »Du solltest dir den Blutdruck messen lassen, Alois. Schaust ungesund rot aus.« Und mit leiser Ironie fügte sie noch hinzu: »Außerdem scheinst an Einbildungen zu leiden. Ich kann mich nicht entsinnen, dir einen Grund für die Benutzung solcher Kosenamen gegeben zu haben.«
»Aber, Annerl, sei halt nicht immer so kalt zu mir, das mag ich gar nicht. Du weißt doch, daß es für mich nur eine gibt«, schmeichelte er. »Gib mir eine Chance, nur eine kleine. Dann will ich dir beweisen, wieviel du mir bedeutest.«
»Du willst mir einen Gefallen tun?« Er nickte eifrig, da bat sie ihn lächelnd: »Laß mich doch einfach in Ruh, Alois. Einverstanden?«
»Ich fürchte, den Wunsch kann ich dir nicht erfüllen.« Er suchte ihren Blick. »Vergiß den Brinkmeier endlich! Bei dem hast eh keine Chance. Ich glaube fast, der ist ein wenig spinnert. Hängt allerweil dieser Frau nach, die in Afrika geblieben ist. Was willst denn mit so einem, wennst was Solides wie mich haben kannst? Denk halt einmal darüber nach.«
»Das brauche ich nicht, ich...« Sie verstummte, denn er mahnte sie:
»Du sollst mir jetzt noch keine Antwort geben, sondern nur darüber nachdenken. Wir sehen uns!«
Anna seufzte leise. »Ich kann es nicht fassen. Der Burgmüller schafft es doch immer wieder, mir das Wort abzuschneiden. Aber das wird ihm auch nichts nützen.«
»Bist sicher, Chefin? Eines Tages wirst ihm vielleicht doch noch nachgeben, bloß um deine Ruhe zu haben«, meinte Susi.
»Nein, das geschieht ganz gewiß nicht, da brauchst keine Angst zu haben, Susi. Weil der Alois mir nämlich zuwider ist mit seiner großkopferten, selbstsicheren Art.«
»Und weilst schon einen anderen gern hast, gelt?« Das Madel grinste vielsagend. »Ist ja auch nicht schwer zu verstehen, wenn man an unseren feschen Landarzt denkt...«
*
Dr. Brinkmeier hatte am frühen Nachmittag alle Patienten behandelt und konnte die Sprechstunde für diesen Tag beenden. Später wollte er noch seine Hausbesuche machen, doch zunächst nahm er zusammen mit seinem Vater das Mittagsmahl ein.
Während der junge Landarzt die Stiegen hinaufging, schweiften seine Gedanken kurz in die Vergangenheit ab. Es war noch nicht mal ein Jahr her, da hatte sein Leben noch völlig anders ausgesehen. Und damals hätte er es sich nicht mal im Traum einfallen lassen, daß er nun die Praxis des Vaters in Wildenberg, seinem Geburtsort, führen würde...
Während des Studiums in München hatte Max sich nämlich in eine Kommilitonin verliebt und beschlossen, mit ihr zusammen in die Entwicklungshilfe zu gehen. Josef Brinkmeier hatte das zunächst für einen schlechten Scherz gehalten. Er hatte fest darauf gezählt, daß Max sein Nachfolger werden würde. Als dem alten Landarzt klargeworden war, daß es seinem Sohn ernst war mit den Afrikaplänen, da hatte er auf jede nur erdenkliche Art und Weise versucht, Max wieder davon abzubringen. Und da es ihm nicht gelungen war, hatte er sich schließlich zutiefst beleidigt und verbittert zurückgezogen. Max und Dr. Julia Bruckner waren zusammen nach Ruanda gegangen und hatten dort auf einer Missionsstation gelebt und gearbeitet. Knapp zehn Jahre lang waren sie ein glückliches Paar gewesen; beruflich wie privat. Wann immer Max an Julia dachte, tat ihm das Herz vor Sehnsucht weh. Er liebte sie und konnte sie nicht vergessen. Und sie empfand ebenso.
Vor einigen Monaten hatte Josef Brinkmeier dann einen Zusammenbruch erlitten und war danach nicht mehr in der Lage gewesen, seine Praxis zu führen. Stur und enttäuscht vom Verhalten seines Sohnes hatte er alles aufgeben wollen, wofür er doch ein Leben lang gearbeitet hatte. Christel Brenner, die patente Sprechstundenhilfe, hatte das aber nicht einfach hingenommen. Sie war an Max herangetreten, hatte es schließlich geschafft, daß Vater und Sohn sich die Hand zur Versöhnung reichten. Und Max hatte die Pflicht, dem Vater zu helfen, über sein Lebensglück gestellt.
Auch heute noch schmerzte ihn die Erinnerung an den Abschied von Julia. Er hatte alles versucht, sie zum Mitkommen zu bewegen. Aber ihm war eigentlich von Anfang an klar gewesen, daß er auf verlorenem Posten kämpfte. Die Missionsstation Holy Spirit, gut fünfzig Kilometer südlich der ruandischen Hauptstadt Kigali gelegen, war für Julia viel mehr Heimat geworden wie für ihn. Sie hatte dort ihre Lebensaufgabe gefunden und konnte sie nicht so einfach aufgeben. Daran hatte auch ihr Besuch in Wildenberg über Weihnachten nichts ändern können.
Max seufzte leise, wenn er daran dachte, daß es nun auf unbestimmte Zeit für sie beide so weitergehen sollte. Eigentlich war das ein untragbarer Zustand. Aber eine Lösung fand sich nicht. Der junge Landarzt hatte eine eigene Wohnung im Doktorhaus von Wildenberg bezogen, doch die Mahlzeiten nahm er meist zusammen mit seinem Vater ein. Die alte Hauserin Afra, die für Max nach dem frühen Tod der Mutter zu einer Ersatzmutter geworden war, kochte gut und lieber für drei. Sie hatte den Mediziner, den sie von klein auf kannte, wie einen Sohn ins Herz geschlossen. Und dieses Herz, das da unter ihrer rauhen Schale schlug, das war aus purem Gold, behauptete Josef Brinkmeier...
»Ah, Max, da bist ja. Geh nur eini, dein Vater sitzt schon am Tisch. Ist recht spät geworden heut, gelt?«
»Die Sprechstunde hat länger gedauert als sonst. Was gibt’s denn Feines, Afra? Es duftet sehr verführerisch.«
Die alte Hauserin lächelte geschmeichelt. »Krautwickel in einem Senfsößerl. Laß es dir schmecken, Doktor.«
Max seufzte genüßlich. »Gott vergelt’s, Afra. Wenn ich in Afrika was vermißt habe, dann deine gute bayerische Küche.«
Josef Brinkmeier freute sich stets, seinen Sohn zu sehen. Daß dies nicht immer so gewesen war, daran dachten die beiden Ärzte heutzutage nicht mehr. Sie hatten sich zusammengerauft und kamen gut miteinander aus. Und das war schließlich die Hauptsache.
»Steckst im Streß, Bub? Soll ich dir ein bisserl unter die Arme greifen?« fragte der alte Landarzt, der seinem Sohn sehr ähnlich sah. »Zu der Jahreszeit werden die Leut eben öfter krank, das ist normal.«
»Ich schaff’ es schon, keine Angst. Nachher noch die Hausbesuche, aber es ist nur ein halbes Dutzend. Ich mache mir Sorgen um den alten Filsmeier, den Herrgottsschnitzer.«
»Den Schorschi? Der hat ein schwaches Herz, schon seit ein paar Jahren. Aber behandeln lassen wollte er sich von mir nicht. Ist ein rechter Eigenbrötler, aber ein großer Künstler.«
»Als Schnitzer ist er ein Genie. Daß er seine Krankheit nicht ernst nehmen will, erscheint mir allerdings eher narrisch.« Max bedachte Afra mit einem anerkennenden Blick, als diese noch etwas Soße brachte. »Du hast dich selbst übertroffen, Afra!«
»Da hörst es, Doktor. Dein Sohn weiß, wie sehr man sich über ein Lob freut, der geizt net so damit wie du«, warf sie Josef mit deutlicher Genugtuung in der Stimme vor.
»Ich hab’ dich nur selten gelobt, damit du nicht der Todsünde der Eitelkeit erliegst«, scherzte der launig. »Was würde denn das auf Hochwürden für einen Eindruck machen?«
Die Hauserin winkte ärgerlich ab und verließ rasch die Stube.
Max mußte schmunzeln, sein Vater merkte an: »Ich wundere mich, daß der Schorschi dich überhaupt in sein Häusel eini gelassen hat. Durfest ihn denn untersuchen?«
»Das schon. Aber es ist mir nur mit einer kleinen List gelungen. Weißt, Vater, die Strohmüllers wohnen doch im Nachbarhaus und kümmern sich auch ein wenig um den alten Mann. Jetzt hat der Strohmüller-Bauer mich gerufen, weil es dem Georg so schlecht ging, er sich allerweil gequält hat. Und dann hat er den Alten bei ihrer guten Nachbarschaft daran erinnert, daß es seine Pflicht ist, auch für sie da zu sein, wenn Not am Mann sei. Und das kann er ja net, wenn es ihm schlecht geht...«
Josef mußte lachen. »Ich wußte gar nicht, daß der Strohmüller ein so ausgekochtes Schlitzohr ist.«
»Leider hat das auf lange Sicht auch nicht sehr viel gebracht, weil der Filsmeier die Tabletten nicht nimmt, die ich ihm verschreibe. Und ein EKG hat er auch abgelehnt. Ich habe extra das tragbare Gerät zu ihm mitgenommen, doch er wollte nichts davon wissen. Ja, er ist schon ein rechter Exzentriker.«
»Und wie willst heut vorgehen? Fährst doch zu ihm, oder?«
»Schon. Ich werde ihn halt wie üblich untersuchen. Er müßte eigentlich ins Spital nach Berchtesgaden. Ich glaube, seine Herzprobleme wären durch einen Bypass zu lösen. Aber daran brauche ich nicht mal im Traum zu denken...«
Tatsächlich gestaltete sich der Besuch bei Georg Filsmeier auch an diesem kalten und trüben Spätwintertag recht problematisch für den jungen Landarzt. Jedesmal, wenn Max seinen Jeep vor dem kleinen, wie verwunschen wirkenden Haus am Ortsrand von Wildenberg abstellte, fühlte er sich ein wenig in seine Kindheit zurückversetzt.
Als Buben hatten er und sein jüngerer Bruder Lukas sich oft hierher geschlichen, um den Herrgottsschnitzer heimlich durch das Fenster in der Werkstatt zu beobachten. Freilich hatte der Filsmeier sie immer bemerkt und freundlich hereingebeten. Während Max dem schmalen Weg zum Haus folgte, der zu beiden Seiten von dichtem Buschwerk gesäumt wurde, dachte er daran, wie sie staunend und verzaubert der Entstehung der schönsten Heiligenfiguren beigewohnt hatten. Schon damals war es ihm wie ein Wunder erschienen, daß einer mit bloßen Händen und einem einfachen Schnitzmesser solche ausgeprägten Gesichtszüge ins Holz zaubern konnte. Die Figuren vom alten Filsmeier waren etwas ganz Besonderes. Und je älter er wurde, desto kunstfertiger ging er mit dem groben Rohstoff um. Schutzpatrone, Heilige und auch die Heilige Familie von seiner Hand fanden sich im ganzen Landkreis in Kirchen und Herrgottswinkeln. Sogar bis in die Schweiz hatte er seine Meisterwerke verkauft, war dabei aber immer bescheiden und gottesfürchtig geblieben.
Dr. Brinkmeier zog am Klingelstrang und fragte sich, warum der alte Georg ausgerechnet mit seiner Gesundheit so sorglos, ja, fahrlässig umging. Bedeutete ihm sein Leben denn nichts? Das konnte der junge Landarzt sich eigentlich nicht vorstellen. Denn er wußte, daß einer mit einem besonderen Talent es dadurch meist leichter hatte, einen Sinn im Leben zu sehen. Und er wußte auch, daß der Filsmeier ein gläubiger Mensch war.
Es dauerte eine Weile, bis sich schlurfende Schritte der Tür näherten, diese schließlich mit einem deutlich vernehmbaren Quietschen geöffnet wurde.
Seit Georg Filsmeier verwitwet war, gab er nichts mehr auf sein Äußeres. Das schmale Gesicht mit den wachen, hellen Augen wurde von einem ausladenden, weißen Bart zur Hälfte verdeckt, das schlohweiße Haar stand dem Herrgottsschnitzer wirr vom Kopf ab. Er trug ein altes, geflicktes Hemd und Hosen, die auch schon bessere Tage gesehen hatten. Unwillig blinzelte er den Besucher an und murrte: »Doktor, was willst? Ich hab dich net gerufen und mag auch nicht untersucht werden. Mir geht es gut.«
»Aber, Schorsch, ich muß mich wundern! Für einen gottesfürchtigen Mann gehen dir die Lügen recht leicht über die Lippen. Oder willst mir am End im Ernst erzählen, daß du keine Beschwerden hast? Sollte das vielleicht ein Wunder sein?«
»Über Wunder scherzt man net, das ist lästerlich«, mahnte der Alte und gab die Tür frei. »Von mir aus kannst reinkommen, aber brauchen tu ich dich net. Und was meine Beschwerden angeht, die hat der liebe Herrgott mir auferlegt als Buße. Und ich weiß sie zu tragen.«
Max folgte dem Alten in seine Werkstatt, wo ein kleiner Ofen aus Gußeisen wohlige Wärme verbreitete. Der Boden war mit einer dicken Schicht von Holzspänen bedeckt, es roch sehr aromatisch.
»Mach es mir nicht so schwer, Filsmeier«, bat der junge Landarzt freundlich, während sein Patient sich wieder an seiner Werkbank niedergelassen hatte und fortfuhr, einen Heiligen Florian zu bearbeiten. »Du mußt für eine Weile ins Spital. Nach einem kleinen Eingriff wirst dich besser fühlen und wieder ganz auf dem Posten sein. Mit deiner Konstitution kannst hundert Jahre alt werden. Aber dein Herz ist dafür zu schwach...«
»Ich mag net hundert werde. Die sechsundachtzig Jahr, die ich auf dem Buckel hab, reichen mir längst aus. Und ins Spital geh ich gleich gar net. Da käme ich gewiß nimmer lebend raus.«
»Jetzt redest aber einen Schmarrn. Die Kollegen dort können dir helfen. Ich hab’ ja hier nicht die Möglichkeit dazu. Die Tabletten, die ich dir verschreibe, hast gewiß net genommen.«
»Überflüssig«, murmelte der Alte. »Ganz überflüssig.«
»Das seh ich anders. Meine Patienten liegen mir nämlich am Herzen, einer wie der andere. Und ich werde net lockerlassen, bis du endlich vernünftig wirst, Schorsch. Schau, ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es hier ausgeschaut hat, als ich ein Bub gewesen bin. Der Garten war gepflegt, die Obstbäume haben reich getragen. Und überall hat es geblüht.«
»Ja, mei, damals hatte ich auch noch meine Christel, die Seele vom Ganzen. Ohne sie ist mein
Leben nur noch ein Jammertal.«
»Wenn es dir wieder besser geht, könntest auch im Garten was tun, die Arbeit an der frischen Luft ist gesund.«
Der Filsmeier hob den Blick und schaute sein Gegenüber mit seinen hellen Augen durchdringend an. »Sag einmal, Max Brinkmeier, stört dich hier was? Ist dir der Garten nimmer schön, das Haus nimmer ordentlich genug? Wenn das so ist, dann kann ich dir nur einen Rat geben: Komm halt nimmer her. Hernach mußt dich auch nicht über das alles hier ärgern.«
»So habe ich es nicht gemeint.« Max untersuchte den Alten oberflächlich. »Mein Bruder Lukas und ich, wir haben dich schon bewundert, als wir noch Buben waren. Es tut mir weh zu sehen, daß du offenbar keinen Lebenswillen mehr hast.«
Der alte Herrgottsschnitzer schwieg eine Weile, schließlich bekannte er leise: »Wenn man so lange auf der Welt ist wie ich, dann tut man Dinge, die net gut und net richtig sind. Hinterher bereut man es, aber dann ist es oft zu spät, noch etwas zu ändern. Mit manchem muß man leben, obwohl es einen bedrückt. Und irgendwann wird man dann müde. Ich wünsche mir, daß ich mich zu meiner Christel legen und ausruhen kann. Das verstehst net, Doktor, dazu bist noch zu jung.«
»Aber du hast doch noch eine Aufgabe. Das Schnitzmesser liegt dir ebenso gut in der Hand wie vor dreißig Jahren. Warum willst dann nimmer? Hast keine Freude mehr an deiner Arbeit?«
»Das ist es nicht.« Georg seufzte leise. »Aber es ist auch nicht so wichtig, ich mag net dauernd über mich reden. Lieber tu ich schnitzen. Wennst zuschauen magst, bist mir jederzeit willkommen, Doktor. Aber ins Spital geh ich nicht.«
Dr. Brinkmeier erhob sich. »Es tut mir leid, Schorsch, aber ich bin kein kleiner Bub mehr, dem es nicht auf eine Stunde ankommt. Ich muß zum nächsten Patienten. Bitte, überlege es dir noch einmal gründlich. Ich schau in den nächsten Tagen wieder bei dir vorbei. Vielleicht siehst ja doch ein, daß ein kurzer Aufenthalt im Spital gar nicht so schlimm wäre...«
Der Alte lächelte milde. »Ja, geh nur, die Jugend hat nie Zeit und es immer eilig. Die Ruhe kommt mit dem Alter. Aber man muß auch etwas tun, um sie zu bewahren. Und das ist mir wichtig.«
Unverrichteter Dinge mußte Max Brinkmeier das kleine Häuschen des Herrgottsschnitzers von Wildenberg wieder verlassen. Er hatte sich fest vorgenommen, Georg Filsmeier endlich zur Vernunft zu bringen. Doch leider schien dies unmöglich.
*
»Der Filsmeier ist ein alter, sturer Bock. Den müßte man ganz einfach mit Gewalt in den Krankenwagen verfrachten und ins Spital bringen. Manche Menschen wollen halt zu ihrem Glück gezwungen werden«, meinte Afra, als Max und Josef am Abend noch bei einem Glas Wein zusammensaßen. Die alte Hauserin brachte etwas von ihrem selbst gebackenen Früchtebrot, das gerade in der kalten Jahreszeit besonders gut mundete.
»Man kann niemanden zwingen, vernünftig zu sein«, hielt Max der Hauserin entgegen. »Der Georg sagt, er ist mit seinem Leben zufrieden und braucht keine Hilfe.«
»Aber wie kann man denn zufrieden sein, wenn es einem schlecht geht?« Afra schüttelte verständnislos den Kopf. »Das sagt er nur, weil er Angst vor dem Spital hat. Und in seinem Alter finde ich das fei recht kindisch.«
Brinkmeier senior wollte eben etwas erwidern, als das Telefon anschlug. Sein Sohn nahm den Anruf entgegen und erklärte dann knapp: »Ich muß auf der Stelle zum Filsmeier. Gerade haben wir noch von ihm geredet; jetzt hatte er einen Zusammenbruch.«
»Einen Zusammenbruch? Das Herz?«
»Vermutlich. Der Strohmüller hat ihn gefunden, als er nach dem Rechten sehen wollte, weil die Tür zur Werkstatt bei der Kälte offen gestanden hat.« Max verließ die Wohnung und lief die Treppe hinunter. Er schnappte sich seinen Notfallkoffer, Josef folgte ihm und fragte: »Soll ich vielleicht mitkommen? Mich kennt der Schorsch schon länger als dich. Und wenn er nun ins Spital muß...«
Der junge Landarzt war einverstanden. Wenig später fuhren die beiden Brinkmeiers zum Ortsrand, wo das kleine Haus von Georg Filsmeier zu finden war.
»Heut nachmittag hab’ ich noch nach ihm gesehen. Es ging ihm leidlich. Mit so einer raschen Verschlechterung hätte ich fei nicht gerechnet«, sinnierte Max, während sie zum Haus liefen. Der Strohmüller-Bauer trat den Ärzten an der Haustür entgegen. Man begrüßte sich per Handschlag, dann erklärte der Mann: »Er will keinen Doktor sehen und schon gar net ins Spital. Ich hab’ versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Aber seit er wieder bei Bewußtsein ist, benimmt er sich noch halsstarriger als sonst.«
»Das überrascht mich gar nicht«, meinte Max. »Aber ich muß ihn jetzt auf jeden Fall untersuchen. Es ist keine Zeit zu verlieren, falls es sich um einen Infarkt handelt.«
Josef folgte seinem Sohn, der nun die Schlafkammer des alten Herrgottsschnitzers betrat. Georg Filsmeier lag bleich, fast wächsern im Bett und starrte die Besucher abweisend an. Auf seiner Stirn lag kalter Schweiß, sein Atem ging rasselnd.
»Was willst da, Doktor? Ich hab’ dich net gerufen«, knurrte er unfreundlich. »Kann man denn hier niemals seine Ruhe haben, net mal, wenn’s zu Ende geht?«
»Wennst mich meine Arbeit machen läßt, dann wird es noch lange nicht mit dir zu Ende gehen«, entgegnete der Landarzt lapidar. Er untersuchte den Kranken gründlich, während sein Vater sich mit dem Filsmeier unterhielt. Der redete beruhigend auf den Alten ein, mahnte ihn, endlich vernünftig zu werden.
Nachdem Max dem Kranken eine entkrampfende Spritze gegeben hatte, beschloß er: »Du mußt ins Krankenhaus, Filsmeier. Hast einen Infarkt erlitten. Wenn die Kollegen dir gleich einen Akut-Herzkatheter setzen, kann der Schaden begrenzt werden. Aber wir müssen jetzt sofort handeln.«
»Das will ich nicht!« Mit erstaunlicher Willenskraft setzte Georg sich auf und schimpfte: »Ich hab’ dich nicht gerufen, Brinkmeier, und ich will auch keine Behandlung. Wenn jetzt Schluß ist, bin ich damit einverstanden.«
»Schorsch, du redest einen Schmarrn. Willst immer so fromm sein, dabei wirfst dein Leben einfach weg. Meinst vielleicht, das wird dem lieben Herrgott gefallen? Schließlich hat er dich mit einem ganz besonderen Talent ausgestattet. Und damit sollst die Menschen so lange wie irgend möglich erfreuen.«
»Schmarrn«, knurrte der Kranke. »Meine Zeit ist gekommen, das spür ich. Der Herr nimmt mich zu sich, damit ich endlich wieder bei meiner Christel sein kann. Und ihr könnt mich da net aufhalten. Das will ich nicht!« Georg schaute Max ernst an. »Bitt schön, Doktor, etwas kannst aber doch noch für mich tun. Sag dem Stadler-Madel Bescheid. Ich hab’ ihr noch was zu sagen.«
»Der Anna Stadler?« wunderte Max sich.
»Freilich, dem Madel, das jetzt die Apotheke hat. Die Tochter vom Johann!« Der Alte faßte sich ans Herz, seine Miene verzerrte sich. »Beeil dich, Doktor, ich hab’ nimmer viel Zeit. Und ich muß noch was loswerden, es ist wirklich sehr wichtig!«
Max tauschte einen ratlosen Blick mit seinem Vater, dieser hob leicht die Schultern. Der junge Mann nahm sein Handy und wählte Annas Nummer. Er wußte nicht recht, was er ihr sagen sollte. Aber er brachte es auch nicht über sich, dem alten Filsmeier diesen letzten Wunsch zu verwehren.
»Anna, gut, daß ich dich erwische. Ich hoffe, du hast noch net geschlafen«, sprach er schließlich ins Telefon. »Ich bin da beim alten Filsmeier. Na ja, es geht mit ihm zu Ende, aber er sagt, daß er dir noch was Wichtiges anvertrauen möchte.«
Die junge Apothekerin machte ein verdutztes Gesicht, sie fragte nach: »Mir? Ich kenne den Filsmeier ja kaum...«
»Ich kann es auch nicht recht verstehen. Aber er besteht darauf. Du würdest mir einen Gefallen tun, wennst herkommst.«
»Also gut, ich komme. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er von mir will.« Max bedankte sich bei Anna Stadler, dann versicherte er seinem Patienten: »Sie kommt her. Magst uns nicht verraten, was du auf dem Herzen hast, Schorsch? Was ist denn das für ein Geheimnis, das du mit der Anna Stadler besprechen magst?«
»Es ist was, das geht nur sie und mich an«, behauptete dieser geheimnisvoll.
Wenig später wurde draußen am Klingelstrang gezogen. Max ging zur Tür und ließ Anna herein. In der Diele blieben sie kurz stehen, und die junge Frau wollte wissen: »Was hat denn das zu bedeuten? Hat der Filsmeier dir denn nicht gesagt, warum er ausgerechnet mit mir reden will?«
»Leider nicht. Ich bin ebenso ratlos wie du.«
»Wie geht es ihm denn? Wird mein Besuch ihn nicht zu sehr anstrengen? Du hast gesagt, es geht mit ihm zu Ende.«
»Müßte es nicht. Wenn ich ihn ins Spital nach Berchtesgaden hätte schaffen können, dann würde er bestimmt wieder gesund. Aber er will nicht. Er weigert sich standhaft, sich richtig behandeln zu lassen. Und er will sich unbedingt etwas von der Seele reden.«
»Also schön, dann laß uns reingehen.« Anna zögerte kurz, betrat dann aber nach Max Brinkmeier die Schlafkammer des Alten. Georg Filsmeier dämmerte in einer Art Halbschlaf vor sich hin.
Die junge Frau trat an sein Bett und sprach ihn behutsam an. Ihre Stimme schien seine Lebensgeister für kurze Zeit wieder zu wecken. Er schlug die Augen auf, lächelte sogar ein wenig und bat dann mit matter Stimme: »Setz dich her, Madel. Ich hab’ dir was zu erzählen. Vielleicht ist es net recht, denn wir haben uns seinerzeit geschworen, es keinem anderen Menschen jemals zu sagen. Aber jetzt muß es sein, so kann ich net sterben.«
»Ach, Filsmeier, laß dich doch behandeln. Der Max Brinkmeier sagt, daß du wieder gesund werden kannst. Und dann reden wir in aller Ruhe darüber, einverstanden?« Sie nahm die runzlige und vom Arbeiten rauhe Hand des Alten in ihre und lächelte ihm ein wenig zu. »Hier in Wildenberg mag keiner auf dich verzichten.«
»Bist ein liebes Madel«, lobte er. Und ohne auf ihre Worte einzugehen begann er zu erzählen: »Dein Vater und ich, wir haben uns vor langen Jahren gut verstanden. Ich bin zwar viel älter gewesen, aber der Stadler war ein kluger Bursch. Er hat was vom Schnitzen verstanden und von der Jagd. Beides Dinge, die mir immer viel bedeutet haben.«