Читать книгу Dr. Brinkmeier Classic 8 – Arztroman - Sissi Merz - Страница 3

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»Ist das heut ein Streß! Ich faß es net.« Christel Brenner schüttelte den Kopf, während sie einige Quittungen für gezahlte Praxisgebühren ausstellte. Seit acht Uhr am Morgen strömten nun die Patienten ins Wildenberger Doktorhaus, und noch war kein Ende abzusehen. Selbst jetzt, da es bereits auf drei Uhr am Nachmittag zuging, war das Wartezimmer noch voll. Dr. Max Brinkmeier, der sympathische Landarzt der kleinen Gemeinde im Berchtesgadener Land, hatte seit Tagen alle Hände voll zu tun. Die Grippe machte sich im Tal breit, auch der Kollege aus der Nachbargemeinde Schlehbusch war von morgens bis abends auf den Beinen. Die kalten Tage Mitte Februar forderten ihren Tribut.

»Christel, mach das Sprechzimmer frei, ich muß zum Doktor!« Das war Alois Burgmüller, der Bürgermeister von Wildenberg, in ganzer Fülle. Er baute sich vor der Anmeldung auf und schniefte dekorativ. »Ich muß mich mal saftig beschweren!«

»Bitt schön, Bürgermeister, wennst was willst, setz dich ins Wartezimmer. Aber es kann dauern«, erwiderte sie nervös. »Du siehst ja, was da los ist. Der Doktor hat heut schon halb Wildenberg behandelt, wann er endlich seine Hausbesuche machen kann, weiß keiner. Und essen sollte er ja eigentlich auch mal was. Hast deine Karte dabei?«

»Wozu? Ich brauch keine Behandlung, ich will mich beschweren. Vielleicht hörst mir mal zu, Christel, statt dich bei mir zu beklagen. Gewiß ist der Doktor froh, daß er was zu tun hat.«

Die langjährige Sprechstundenhilfe bedachte den Burgmüller mit einem strengen Blick. Noch ehe sie ihm aber die passende Antwort geben konnte, erschien Josef Brinkmeier und ließ Christel wissen: »Ich löse den Max ab. Es nimmt ja heut gar kein Ende. Er soll was essen, die Afra drängt. Länger kann sie das Mittagsmahl fei net warmhalten. Und hernach die Hausbesuche.«

»Ich weiß net, Doktor, traust dir das zu? Das Wartezimmer ist voll, ich mein...«

»Hältst mich vielleicht für einen Invaliden? Bloß weil ich eine leichte Herzschwäche hab’, muß ich noch lang net den ganzen Tag hinter dem Ofen sitzen. Und wenn Not am Mann ist, kann ich sehr wohl noch einspringen. Immerhin ist das hier bis vor kurzem noch meine Praxis gewesen, net wahr?«

»Recht hast, Sepp, laß dir nix gefallen!« meinte Alois Burgmüller jovial. »Die Christel vergißt nur zu gern, wer da herinnen der Chef ist.«

»Der Chef ist mein Sohn«, stellte dieser richtig. »Was stehst hier überhaupt umeinand und hältst den Verkehr auf, Alois? Fehlt dir was, abgesehen von einer saftigen Erkältung?«

»Eben drum bin ich da und will mich beschweren«, kam der Großbauer und Bürgermeister wieder auf sein eigentliches Anliegen zurück. »Dein Sohn hat mich gegen Grippe geimpft. Und jetzt lauf’ ich mit einer Schnupfennase umeinand. Ist das vielleicht korrekt? Ich mein fast, die Impfung ist total wirkungslos. Und das laß ich mir net gefallen!«

»Red keinen Schmarrn daher«, brummte Dr. Brinkmeier, während er per Stirnmessung die Temperatur des störrischen Patienten nahm und ihn oberflächlich untersuchte. »Die Impfung wirkt gegen das Grippevirus. Eine Erkältung ist ganz was anderes. Das wäre ungefähr so, als wennst dich gegen Malaria impfen läßt und dich dann beschwerst, weil du in Afrika eine Magenverstimmung hast.«

Alois verzog unwillig den Mund. »Du kannst mir viel erzählen, Doktor. Als Laie ist man euch Medizinern ja auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Net einmal beschweren darf man sich!«

In diesem Moment erschien Max Brinkmeier und bat Christel, ihm kurz zur Hand zu gehen. Er grüßte den Burgmüller knapp, Josef fragte: »Kann ich übernehmen, Bub? Oder willst den Patienten erst noch behandeln? Du mußt essen und hernach die Hausbesuche machen. Die Afra hat es mir auf die Seele gebunden, dich endlich auffi zu schicken.«

Der hoch gewachsene, gutaussehende Mediziner mit dem sandfarbenen Haar zögerte kurz, dann meinte er: »Ich will noch rasch den Bichler untersuchen, es dauert nicht lang. Danke, Vater, ich hab’ wirklich nicht gewußt, wie ich heut alles schaffen soll.«

»Ist schon recht.« Josef warf Christel einen triumphierenden Blick zu. »Wenn ich gebraucht werde, bin ich doch zur Stelle.«

Wenig später verließ Max Brinkmeier die Praxisräume und stieg die Treppe hinauf. Seit er die Praxis von seinem Vater übernommen hatte, bewohnte er die Zimmer im zweiten Stock des Wildenberger Doktorhauses. In der ersten Etage lebte sein verwitweter Vater, und dort wirtschaftete auch die mittlerweile in die Jahre gekommene Hauserin Afra. Sie hatte Max wie einen Sohn ins Herz geschlossen und bekochte »ihre« beiden Doktoren nur zu gern. Als Max an diesem trüben und kalten Wintertag erschien, warf sie ihm jedoch erbost vor: »Wie kannst mich nur so lange warten lassen? Das Essen ist gewiß nimmer genießbar, so lange über der Zeit. Und ausgerechnet heut, wo ich Wammerln mit Kraut gekocht hab’...«

»Mei, Afra, das wird schon schmecken, ich kenne doch deine Kochkünste«, versicherte der junge Arzt nachdrücklich. »Ein Glück, daß die Grippe dich verschont hat. Wer sollte denn sonst für unser leibliches Wohl sorgen?«

Während sie servierte, brummte die Alte mit der rauhen Schale und dem butterweichen Kern: »Bin noch nie krank gewesen, mein Lebtag net. Ist doch Zeitverschwendung, sich ins Bett zu legen und dem Doktor noch mehr Arbeit zu machen. Laß es dir nur schmecken, ich wünsche einen gesegneten Appetit.«

»Vielen Dank, Afra. Magst mir net Gesellschaft leisten?«

»Gern.« Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und fragte: »Hast noch arg viel zu tun heut, gelt? Stärk dich nur, damit du auch alles packen kannst.«

»Die Hausbesuche stehen noch an. Und hernach muß ich in Sankt Bartholomä vorbeischauen. Ein paar der Kinder klagen auch über Beschwerden. Dieses Jahr greift die Grippe wirklich arg um sich. Es lassen sich halt immer noch zu wenig Leut impfen.«

»Daß du jetzt auch das Kinderheim betreust, finde ich arg großherzig, Doktor. Gewiß wird die Mutter Oberin dir dankbar sein. Aber es ist auf Dauer doch eigentlich zu viel Arbeit.«

»Der Haselbeck hat das vorher gemacht, aber die Schwestern waren nicht zufrieden mit ihm. So ganz schmeckt es mir fei nicht, dem Kollegen diese Aufgabe abspenstig zu machen. Doch die Mutter Oberin hat mich sehr eindringlich gebeten.«

»Hast halt ein goldenes Herz, Doktor. Trotzdem solltest dir nicht zuviel zumuten, das geht auf die Dauer nicht gut.«

»Ja, mag sein. Allerdings haben wir in Holy Spirit oft noch mehr leisten müssen. Mit nur zwei Ärzten ein Hospital im Busch zu führen, das ist eine echte Herausforderung.«

Kurz schweiften die Gedanken des jungen Mediziners in die Vergangenheit ab. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Max Brinkmeier nicht einmal im Traum daran gedacht, sein Leben in Wildenberg zu verbringen. Nach dem Medizinstudium war er nämlich zusammen mit einer Kollegin in die Entwicklungshilfe gegangen. Zehn Jahre lang hatten er und Dr. Julia Bruckner ihr Leben auf der Missionsstation Holy Spirit nahe der ruandischen Hauptstadt Kigali verbrachte. Max hatte sich sehr engagiert und sich schon nach relativ kurzer Zeit in Holy Spirit heimisch gefühlt. Das mochte auch an der Tatsache gelegen haben, daß er in Julia sein Lebensglück gefunden hatte. Zusammen waren die beiden ein unschlagbares Team gewesen, beruflich wie privat.

Doch dann war Josef Brinkmeier krank geworden, sein Herz hatte nicht mehr mitgemacht. Und Max hatte sich schweren Herzens entschieden, Afrika zu verlassen, um in sein Heimatdorf zurückzukehren. Seither vermißte er Julia schrecklich und sann ständig darüber nach, was er tun konnte, um dieser unerträglichen Trennung endlich ein Ende zu bereiten. Momentan sah es allerdings nicht so aus, als könne es da eine Lösung geben. Dr. Bruckner wollte die Missionsstation nicht verlassen. Und Max hatte seinen Platz in Wildenberg gefunden. Doch die Sehnsucht blieb...

Eine Weile später verließ der junge Landarzt das Doktorhaus, um seine Hausbesuche zu machen. Freilich vergewisserte Max sich vorher noch, daß in der Praxis alles glattlief, sein Vater zurechtkam. Josef wurde unwirsch, als sein Sohn sich danach erkundigte. »Ich bin hier schon fast so lange Doktor wie du auf der Welt bist. Da werde ich eine lächerliche Sprechstunde durchziehen können«, wetterte er. »Ein wenig mehr Vertrauen wäre wirklich angebracht, finde ich!«

»Ich geb schon acht, daß er es net übertreibt«, versprach Christel Max so leise, daß sein Vater es nicht mitbekam. Der junge Landarzt lächelte der langjährigen Mitarbeiterin zu und kniff verschwörerisch ein Auge zusammen. Dann machte er sich endlich auf den Weg. Auch die Liste der Hausbesuche war lang. Die Dunkelheit hatte ihr schwarzes Tuch bereits über das Land gebreitet, als Dr. Brinkmeier seinen Jeep auf den Parkplatz für Besucher des Kinderheims St. Bartholomä lenkte. Der große Bau war eigentlich ein Nonnenkloster, Kinderheim und katholische Schule waren aber angeschlossen. Als Max vor einer Weile mit einem kinderlosen Ehepaar hierher gekommen war, um eine Adoption zu ermöglichen, hatte die Mutter Oberin ihn überredet, die Kinder medizinisch zu betreuen. Sie hatte gleich bemerkt, daß der Mediziner gut mit diesen kleinen Patienten umgehen konnte. Was bei Dr. Haselbeck aus Schlehbusch nicht der Fall war. Zudem hatte der Kollege wenig Engagement gezeigt und war auch im Notfall nicht immer zu erreichen. Dr. Brinkmeier hatte versucht, dies mit Martin Haselbeck abzuklären, doch der hatte mal wieder auf stur geschaltet, wie das so seine Art war...

Max Brinkmeier wurde bereits erwartet. Eine junge Nonne ließ ihn ein und brachte ihn zu den Krankenzimmern, in denen einige Kinder mit Grippe lagen. Nachdem der Landarzt sich um seine kleinen Patienten gekümmert hatte, bat die Schwester ihn: »Kommen Sie bitte mit, Herr Doktor, die Mutter Oberin erwartet Sie noch auf ein Gespräch.«

Eigentlich wäre der junge Mann am liebsten gleich nach Hause gefahren, denn er war rechtschaffen müde. Doch er wollte auch nicht unhöflich sein. Und Max zeigte sich überrascht, als nicht nur Schwester Maria Roberta ihn begrüßte, sondern auch der Geistliche von Wildenberg, Hochwürden Dominik Hirtner.

»Mein lieber Doktor Brinkmeier, ich nehme die Gelegenheit wahr, Ihnen noch einmal für Ihr Engagement zu danken«, sagte dieser in seiner stillen, freundlichen Art. »Man hört nur Gutes über Ihr Wirken hier in Bartholomä.«

Max wiegelte ab. »Ich tue ja nur meine Arbeit, das sehe ich nicht als besonderes Verdienst an.«

»Nun, wir schon. Die Mutter Oberin hat mir eben noch einmal deutlich gemacht, daß auf Ihren Kollegen Haselbeck wenig Verlaß war. Ich bin froh, daß die medizinische Versorgung hier nun in verantwortungsvolleren Händen liegt. Und das kann ich gar nicht oft genug wiederholen: Sie sind ein wahrer Segen für das Heim, Herr Doktor. Ich hoffe nur, Sie haben sich nicht zuviel aufgeladen. Und wir wollen Sie nun auch nicht aufhalten. Sicher möchten Sie gerne nach Hause.«

»Das kann ich nicht leugnen.« Dr. Brinkmeier wandte sich an Schwester Maria Roberta. »Peggy und der kleine Ralf sind stabil. Wenn das Fieber nicht weiter steigt, kann ich Entwarnung geben. Sollte dies aber doch der Fall sein, müssen Sie mich sofort verständigen, Mutter Oberin. Dann werden wir die Kinder doch noch ins Spital nach Berchtesgaden bringen müssen.«

»Hoffen wir, daß alles gutgeht. Ich danke Ihnen, Herr Doktor.«

Max verabschiedete sich gleich darauf und machte sich ohne weiteren Aufenthalt auf den Heimweg. Er war hundemüde und sehnte sich nach seinem Bett und einer ausgiebigen Nachtruhe. Wenn nur kein Notfall dazwischenkam...

*

»Guten Abend, ein Glück, daß ich Sie noch erwische, Frau Stadler! Ich hatte schon Angst, daß Sie vorher schließen!«

Dr. Martin Haselbeck betrat die Rosenapotheke von Wildenberg und nickte Anna Stadler, der Apothekerin zu. Die hübsche junge Blondine erwiderte seinen Gruß knapp und stellte klar: »Ich wollte gerade schließen. Was brauchen Sie?«

»Hier, eine ganze Menge.« Er reichte ihr eine Liste, Anna bat Susi Angerer, ihre Mitarbeiterin, einiges aus dem Lager zu holen. »Vieles ist mir ausgegangen, kein Wunder bei dieser Krankheitswelle. Man weiß gar nimmer, wo einem der Kopf steht vor lauter Arbeit. Und da vergißt man halt auch mal, etwas rechtzeitig nachzubestellen, gelt? Hoffentlich sind Sie mir net bös, daß ich Ihnen so kurz vor Ladenschluß noch Arbeit mache.«

»Ist schon recht, dazu ist die Rosenapotheke schließlich da.«

»Sagen Sie, Frau Stadler, man hört, daß Sie mit dem Kollegen Brinkmeier näher befreundet sind. Bitte, denken Sie nicht, daß ich neugierig wäre. Ich frage aus einem bestimmten Grund.«

»Und was soll das für ein Grund sein?« forschte sie kühl.

»Tja, sehen Sie, der Max Brinkmeier ist ja nun sehr beliebt im Tal. Man hört nur Gutes über ihn. Und da fragt man sich halt, ob das alles auch wirklich stimmen kann. Mir ist jedenfalls noch kein Mensch begegnet, der nur gute Eigenschaften hatte.«

Anna lächelte schmal. »Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen, Herr Doktor Haselbeck. Aber Sie sollten nicht erwarten, daß ich Ihnen jetzt Munition gegen den Max liefere.«

»Munition?« Martin Haselbeck tat empört. »Wie kommen Sie denn auf eine solche Idee? Bloß weil ich Ihnen eine ganz harmlose Frage über einen Kollegen gestellt habe?«

»Wenn Sie den Max gerne näher kennenlernen möchten, kann ich Ihnen nur raten, das auf persönlichem Wege zu tun. Falls Sie aber auf Klatsch und Tratsch Wert legen, ist das hier die falsche Adresse. Wir haben uns verstanden?«

Der Landarzt von Schlehbusch wirkte beleidigt. »Es war ja nur höfliches Interesse. Aber wenn Sie einen absichtlich falsch verstehen...«

Nachdem Martin Haselbeck die Rosenapotheke wieder verlassen hatte, beschoß Anna Stadler: »Ich schau mal im Doktorhaus vorbei. Der Max sollte wissen, was da hinter seinem Rücken vorgeht. Ich werde einfach den Verdacht nicht los, daß Doktor Haselbeck etwas plant.«

»Glauben Sie, er will dem Doktor Brinkmeier schaden?«

»Möglich wäre es schon. Als der Max am Anfang hier in Wildenberg war, hat der Haselbeck krank danieder gelegen. Er war einverstanden, daß Doktor Brinkmeier seine Vertretung übernimmt. Aber nachher hat er nur rumgestänkert und so getan, als ob der Max ihm seine Patienten abspenstig machen wollte. Ich kann mir nicht helfen, aber der Mann ist mir unsympathisch.«

»Im Gegensatz zum Max Brinkmeier«, stichelte Susi und grinste dabei frech.

In Wildenberg war es ein offenes Geheimnis, daß die hübsche Apothekerin ein Auge auf den feschen Landarzt geworfen hatte. Leider war sie bislang nicht zum Zug gekommen, weil Max noch immer an Julia Bruckner dachte, sein Herz nicht frei war. Aufgeben wollte Anna deshalb aber noch lange nicht.

»Du hast es erfaßt, auch wenn’s recht vorlaut war«, meinte die Apothekerin nachsichtig. »Und jetzt kannst heimgehen, Susi. Ich wünsch’ dir einen schönen Feierabend.«

»Ich Ihnen auch. Aber wenn Sie ins Doktorhaus gehen, werden Sie den gewiß haben«, meinte das Mädchen keck und machte sich dann rasch auf den Heimweg.

Anna schloß den Laden ab. Sie lächelte vor sich hin, denn sie freute sich tatsächlich schon darauf, ein wenig Zeit mit Max Brinkmeier zu verbringen. Auch wenn sie sich noch nicht näher gekommen waren, mochte Anna den feschen Doktor doch von Herzen gern und war bereit, alles zu tun, um sein Herz irgendwann von der anderen zu trennen und für sich selbst zu gewinnen.

Freilich wußte Anna, daß Max’ Gefühle für Julia Bruckner sehr innig und beständig waren. Aber sie hatte den Landarzt heimlich lieb und war deshalb nicht gewillt, so rasch aufzugeben. Als die hübsche Apothekerin am Doktorhaus den Klingelstrang zog, dauerte es eine ganze Weile, bis ihr geöffnet wurde. Max freute sich, wie stets, sie zu sehen. Schließlich kannten sie einander bereits von Kindesbeinen an und hatten sich immer gut verstanden. »Komm nur rauf, Anna. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich eben vor dem Fernseher eingenickt bin. Es war ein langer Tag, aber für ein nettes Gespräch bin ich noch zu haben. Darf ich dir ein Glaserl Roten anbieten?«

»Gern.« Sie folgte ihm nach oben, meinte dann aber: »Ich fürchte, so richtig nett wird unser Gespräch nicht werden. Eben war nämlich der Haselbeck bei mir in der Apotheke. Und er hat sich recht seltsam benommen.«

»Seltsam? Kriegt er auch die Grippe?« scherzte Max.

»Das wohl eher net. Er hat versucht, mich auszufragen. Und zwar über dich. Na, was sagst dazu?«

»Hast ihm denn was erzählt?«

Sie schaute ihn kurz irritiert an, dann behauptete sie: »Klar, alles. Damit er ordentlich Munition gegen dich sammeln kann.«

»Der Haselbeck ist ein bissel schwierig. Ich glaube, er nimmt es mir übel, daß ich mich jetzt um die Kinder von St. Batholomä kümmere. Es war mir ja eigentlich auch nicht recht, aber die Mutter Oberin hat mich gedrängt.«

»Es war die rechte Entscheidung. Der Haselbeck hatte doch gar keine Lust, die Heimkinder zu betreuen. Und jetzt nimmt er es dir übel, daß du dich engagierst. Ich glaube, du hast recht, der ist wirklich ein schwieriger Mensch. Wenn ich ehrlich sein soll, möchte ich nicht mit dem auskommen müssen.«

»Halb so wild. Mit ein wenig Geduld wird das schon gehen.«

Anna schenkte Max ein Lächeln. »Du schaffst wohl alles, was du dir vornimmst, was?«

»Leider net alles.« Er erwiderte ihr Lächeln nur angedeutet.

Da ahnte die junge Frau, was dem Landarzt durch den Sinn ging. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ließ anklingen: »Manchmal muß man sich damit abfinden, daß was net geht. Auch wenn man sich noch so sehr danach sehnt oder es sich wünscht. Mein Vater hat mal zu mir gesagt, daß es eine Kunst ist, einen Menschen ein Leben lang mit Liebe festzuhalten. Die größere Kunst aber ist es, im richtigen Moment loslassen zu können. Verstehst?«

»Ich denke schon. Und ich kann deinem Vater in dem Punkt net widersprechen.« Max schwieg eine Weile nachdenklich, Anna trank einen Schluck Wein und merkte schließlich an: »Ich will mich nicht in dein Privatleben mischen, Max. Du weißt, wie ich zu dir steh. Ich mag dich, und ich schätze unsere Freundschaft. Aber ich seh auch, daß du unglücklich bist. Als die Julia über Weihnachten in Wildenberg gewesen ist, hab’ ich erfahren, wie tief eure Gefühle gehen. Und ich finde, wenn man sich wirklich und aufrichtig liebt, dann sollte alles andere unwichtig werden. Ist man allerdings nicht in der Lage, die Liebe absolut zu setzen, nun, dann ist sie vielleicht nicht viel wert.«

»Du meinst, die Julia sollte hierherkommen, Afrika aufgeben, so wie ich es getan habe?«

Die junge Apothekerin nickte spontan. »Alles andere wäre doch auf die Dauer unfair. Sie bindet dich an sich, aber sie ist net gewillt, eure Liebe zu leben. Ist das denn recht?«

»So leicht läßt sich darüber nicht urteilen, fürchte ich. Schau, Anna, für die Julia und mich war von Anfang an klar, daß die Arbeit an erster Stelle steht. Wenn ich mich damals entschlossen hätte, in die Praxis vom Vater einzusteigen, dann wäre sie ohne mich nach Ruanda geflogen, das weiß ich.«

»Das kann ich nicht glauben!« Anna schüttelte leicht den Kopf. »Aber das ist doch... ganz falsch!«

»Für dich vielleicht, weil du eine andere Einstellung hast. Die Julia ist Ärztin mit Leib und Seele. Ich glaube, daß unsere Beziehung deshalb auch so gut funktioniert hat, weil wir uns so ähnlich sind.«

»Willst damit sagen, du könntest keine Frau lieben, die in dem Punkt anders denkt?«

»Das hab’ ich nicht behauptet. Ich versuche nur, dir klar zu machen, warum das eben eine große Liebe ist zwischen der Julia und mir. Und daß daran nichts etwas ändern kann, keine Entfernung, keine Trennung. Verstehst mich?«

»Ich fürchte, ja.« Anna erhob sich. »Dann geh ich jetzt wohl besser heim. Ich hab’ einiges zu verdauen.«

»Es tut mir leid, wenn ich dir Kummer gemacht habe, das war nicht meine Absicht. Aber du hast selbst gesagt, unsere Freundschaft ist was Besonderes, sie bedeutet uns beiden viel. Und ich schätze es, daß wir so offen zueinander sein können.«

»Ist schon recht. Dann auf ein andermal.« Anna Stadler verließ das Doktorhaus mit einem Gefühl der Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Sie war an diesem Abend wohl ein Stück näher an die Wahrheit über Julia und Max herangekommen. Doch diese Erkenntnis, die gefiel ihr ganz und gar nicht, machte sie der jungen Apothekerin doch deutlich, wie vergeblich ihr heimliches Sehnen bleiben mußte. Bedachte man die Tiefe der Gefühle, die Innigkeit, den Gleichklang, mit der Julia und Max aneinander hingen, dann gab es da wohl wenig Platz für Anna.

*

»Walter, bist du da?« Lilli Mannstedt schaute in die Dunkelkammer, doch ihr Mann hielt sich nicht dort auf. Auch im Atelier hatte sie ihn nicht finden können. Die junge Frau seufzte unglücklich auf. Wo mochte ihr Mann sein? Er hatte ihr versprochen, den Laden nicht zu verlassen. Und wieder einmal schien er sein Wort gebrochen, oder noch schlimmer einfach vergessen zu haben. Die Fotografin, die seit einem Jahr zusammen mit ihrem Mann das kleine Atelier im Münchner Stadtteil Haidhausen betrieb, kehrte unverrichteter Dinge in die Wohnung über dem Laden zurück. Es fiel Lilli ein wenig schwer, die Treppe zu nehmen. Sie war im siebten Monat schwanger und hatte mit diversen Beschwerden zu kämpfen. Als sie am Dielenspiegel vorbeikam, erschrak sie über ihren eigenen Anblick.

Lilli Mannstedt war eine schöne junge Frau mit einem ebenmäßigen Gesicht, halblangem hellbraunem Haar und tiefblauen Augen. Doch in den vergangenen Monaten hatte der Kummer ihr sehr zugesetzt. Sie war blaß, unter ihren Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Mit der Schwangerschaft hatte sie mehr Gewicht zugelegt als nötig gewesen wäre. In dem einfachen Hängerkleid fand sie sich unförmig und häßlich. Es mochte auch daran liegen, daß Walter sie so distanziert und abschätzig behandelte, seit sie runder geworden war. Dabei hatte er sich Kinder gewünscht. Lilli dachte an die erste Zeit ihrer Ehe zurück. Damals waren sie noch glücklich miteinander gewesen. Der Plan, gemeinsam einen kleinen Laden zu eröffnen, sich selbständig zu machen, hatte Walter beflügelt. Doch auch bereits zu diesem Zeitpunkt hatten sich erste Risse in ihrem Traum vom Glück gezeigt.

Walter Mannstedt war kein treuer Mann. Er hatte Lilli mit Phantasie und Ausdauer umworben, sie eine Weile auf Händen getragen und scheinbar nur für sie gelebt. Aber irgendwann hatte er das Interesse verloren. Er hatte angefangen, sich nach anderen Frauen umzudrehen. Und Lilli vermutete, daß er kurze Affären gehabt hatte. Sie war zunächst blind gewesen für die allzu deutlichen Anzeichen. Und als sie die Wahrheit nicht mehr übersehen konnte, hatte sie dennoch die Augen davor geschlossen. Sie wollte Walter nicht verlieren, redete sich ein, ihn zu lieben. Und sie wartete sehnsüchtig darauf, daß seine Gefühle für sie wieder so wurden wie zu Beginn ihrer Ehe.

Als Lilli schwanger geworden war, hatte sie aufgeatmet. Nun würde alles gut werden, sagte sie sich mit naiver Hoffnung. Und tatsächlich hatte sich ihre Ehe wieder gebessert.

Walter war mehr zu Hause, er kümmerte sich um seine Frau und schaute eine Weile keine andere an. Allerdings dauerte dieser Zustand nicht allzu lang. Und nun war es wieder das alte Lied; ihr Mann

war auf Abwegen, das ahnte Lilli. Und sie war viel unglücklicher, fühlte sich viel hilfloser als jemals zuvor.

Als sich unten die Ladenklingel meldete, verließ die junge Frau die Wohnung. Sie dachte an einen Kunden, doch es war ihr Mann, der da kam. Er beachtete sie nicht, verschwand ohne ein Wort in der Dunkelkammer. Wenig später betrat Regina Kampe das Fotoatelier. Regina machte bei den Mannstedts eine Ausbildung zur Fotolaborantin. Lilli hatte das junge Mädchen von Anfang an nicht gemocht. Regina war sehr selbstbewußt. Und sie schien auf die Frau des Chefs, wie sie Lilli nannte, herabzublicken. Das war ein deutliches Zeichen. Lilli ahnte, was vorging. Und die Situation erschien ihr zunehmend unerträglich.

Ohne die Auszubildende zu beachten, folgte sie ihrem Mann. Walter arbeitete an einigen Abzügen, die am Morgen bestellt worden waren. Er warf Lilli einen knappen Blick zu und fragte auf die gleiche Weise: »Stimmt was nicht? Geht es dir schlecht?«

»Ja, es geht mir schlecht. Aber das hat nichts mit der Schwangerschaft zu tun«, erwiderte sie bestimmt. »Ich möchte, daß du Regina entläßt. Sie hat ihre Lehre fast beendet. Wir können uns in der momentanen Situation keine Angestellte leisten.« Sie drehte sich um und wollte gehen, als sie ihren Mann sagen hörte: »Das kommt nicht in Frage. Regina ist fleißig und anstellig. Ich habe keinen Grund, ihr zu kündigen. Und ich habe auch keine Lust, auf all deine Launen einzugehen. Du bist nicht die erste Frau, die ein Baby erwartet.«

»Sie ist also anstellig, aha.«

»Lilli, ich warne dich, fang jetzt keinen Streit an. Ich habe zu arbeiten, also laß mich bitte in Ruhe!«

»Ich will dir mal was sagen, Walter, ich lasse dich gerne in Ruhe. Und zwar total. Ich habe es nämlich satt, mich hier behandeln zu lassen wie ein Eindringling. Und das freche Grinsen dieses Mädchens mag ich mir auch nicht länger anschauen.«

»Was willst du damit sagen? Wirfst du sie selbst raus? Von mir aus, solange ich mir dir Finger nicht schmutzig machen muß...«

»Ich habe nicht vor, mich lächerlich zu machen. Außerdem würde es wenig nützen, das weiß ich mittlerweile. Ich kenne dich, leider. Deshalb werde ich zu meiner Tante nach Wildenberg fahren. Ich möchte den Rest meiner Schwangerschaft nämlich in Ruhe erleben. Dieser ständige Streit und Unfriede ist für mich unerträglich.«

»Du gehst weg und läßt mich im Stich? Wie stellst du dir das vor?« Walter Mannstedt machte eine beschwichtigende Geste. »Nun beruhige dich erst mal, dann reden wir in aller Ruhe darüber.«

»Das ist nicht nötig, ich habe mich entschieden. Wenn du weißt, was dir wichtiger ist – ich oder deine Affären – kannst du es mich wissen lassen. Aber ich brauche jetzt einfach Abstand, so kann es nicht weitergehen, hörst du?«

»Lilli, ich bitte dich, sei doch vernünftig!«

»Das bin ich, zum ersten Mal seit langer Zeit.«

»Unsinn. Du willst mich mit deinem Verhalten zu etwas zwingen, du willst, daß ich nach deiner Pfeife tanze. Aber da spiele ich nicht mit. Bilde dir nur nicht ein, daß du mit Drohungen bei mir etwas erreichen kannst!«

»Es sind keine Drohungen, ich habe dir nur meine Entscheidung mitgeteilt. Du wirst mich ganz sicher nicht vermissen.« Sie wandte sich zum Gehen, doch er hielt sie am Arm fest und herrschte sie an: »Nimm dich zusammen! Du bleibst gefälligst in München. Oder meinst du, ich will mich zum Gespött bei den Nachbarn und der Kundschaft machen?«

»Ist das alles, worauf es dir ankommt?« Sie machte sich von ihm los und musterte ihn kühl. »Wenn dir die anderen Leute so wichtig sind, hättest du auf deine Eskapaden verzichten sollen. Oder hast du dir eingebildet, ich lasse mir das immer weiter gefallen? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«

Seine Miene verschloß sich. »Ich glaube, es hat keinen Sinn, dieses Gespräch fortzusetzen. Mit dir ist ja nicht vernünftig zu reden. Aber eines solltest du wissen: Wenn du einfach wegfährst, dann werde ich dir das sehr übelnehmen!«

Lilli seufzte leise. »Ich werde es überleben.«

Walter Mannstedt schaute seiner Frau mit finsterer Miene hinterher. Er gestand zwar sich selbst alle Freiheiten zu, doch daß Lilli einfach tat, was ihr paßte, konnte er nicht hinnehmen.

Kurze Zeit später betrat Regina die Dunkelkammer und legte ihre Arme um Walters Hals. »Sie verschwindet? Aber das ist doch prima. Dann können wir es uns so richtig gutgehen lassen!«

»Rede keinen Quatsch«, fuhr der Fotograf auf und machte sich von ihr los. »Und hör gefälligst auf zu lauschen. Das kann ich nicht ausstehen.« Er bemerkte, daß sie sehr enttäuscht und auch verletzt wirkte, und fügte ein wenig versöhnlicher hinzu: »Wir reden heute abend in Ruhe über alles. Ich muß erst mal einen klaren Kopf kriegen. Daß Lilli einfach tut, was sie will, ist neu. Und ich kann nicht behaupten, daß es mir gefällt...«

*

»Das wären also insgesamt acht Wochen. Nicht sehr lang.« Dr. Christian Köhler ließ das Bewilligungsschreiben sinken und schaute seinen Vorgesetzten nachdenklich an. »Ich weiß, es grenzt an ein Wunder, daß die Gelder überhaupt bereitgestellt wurden. Mein Forschungsgebiet ist ja den meisten Menschen eher suspekt. Aber zwei Monate sind nun mal eine knappe Zeitspanne, um neue Erkenntnisse über das Wanderverhalten des Wolfes zu erlangen.«

»Es tut mir leid, Christian, ich hatte auch mit mehr gerechnet, vielleicht sogar mit einem ständigen Forschungsauftrag. Leider muß auch das Ministerium überall den Rotstift ansetzen. Mehr kann ich Ihnen also nicht bieten.«

»Ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld. Und acht Wochen sind immerhin besser als nichts. Ich werde mich umgehend auf den Weg nach Wildenberg machen.«

Wenig später verließ der junge Wildbiologe das Uniinstitut in München und machte sich auf den Heimweg. Christian Köhler war Mitte dreißig, ein gutaussehender Mann, groß gewachsen, dunkelhaarig, mit nachdenklichen und klugen grauen Augen. Nach dem Studium hatte er eine Anstellung als Assistent des Professors ergattern können und darauf seine Karriere gebaut. Er hatte bereits einige Projekte eigenverantwortlich durchgeführt, darunter die Erforschung des Rudelverhaltens sibirischer Wölfe. Der Wolf, der Urahn des Hundes, der den Menschen seit Urzeiten begleitete, faszinierte den jungen Forscher. Daß er nun für einige Wochen im Berchtesgadener Land das Wanderverhalten dieses Raubtieres studieren konnte, bedeutete einmal mehr die Gelegenheit, dem für ihn so faszinierenden Studienobjekt nah zu sein. Christian freute sich sehr auf die praktische Arbeit. Und er brannte darauf, seiner Freundin Dorothee davon zu erzählen.

Als er heimkam, war sie noch nicht da. Christian war ein begabter Hobbykoch, er zauberte ein Essen, mit dem er seine Freundin überraschen wollte. Dorothee arbeitete in einer großen Bank und mußte oft Überstunden machen. Sie war eine echte Karrierefrau, selbstbewußt und unabhängig. Das hatte ihn von Anfang an fasziniert. Nun fragte er junge Mann sich allerdings manchmal, ob es auf Dauer wirklich gut gehen konnte mit ihnen. Sie hatten sehr unterschiedliche Auffassungen vom Leben. Christian wünschte sich Kinder, eine Familie. Davon wollte Dorothee nichts wissen, sie nannte das kleinbürgerlich und spießig. Und sie hatte auch wenig Verständnis für seinen Beruf.

»Warum suchst du dir nicht einen Job, wo du Karriere machen und einen Haufen Geld verdienen kannst?« fragte sie ihn jedesmal, wenn er ihr von seiner Arbeit erzählen wollte. Er hatte es deshalb schon aufgegeben, ihr die Faszination seines Studienobjekts näherbringen zu wollen. Denn das hätte wohl wenig Sinn gehabt...

Endlich erschien Dorothee. Sie war ausgelaugt und mißlaunig. Erst als Christian sie in den Arm nahm, zärtlich küßte und ihr dann auch noch ein perfektes Dinner servierte, entspannte sie sich ein wenig.

»Du bist ein Schatz, Chris. Genau das habe ich gebraucht.«

»Wußte ich doch. Und du hast zudem Grund, mir zu gratulieren. Heute ist nämlich ein kleines Wunder geschehen.«

»So? Hast du gekündigt?« fragte sie lapidar.

»Im Gegenteil. Der Forschungsauftrag für Wildenberg ist endlich bewilligt worden. Übermorgen geht es los, und zwar für acht Wochen. Ich hatte mir zwar mehr erhofft, aber leider...«

»Acht Wochen?« Dorothee legte die Gabel hin. »Hast du vielleicht vergessen, daß wir nächsten Monat auf die Malediven fliegen wollten? Ich brauche diesen Urlaub!«

»Ja, ich weiß. Und du sollst ja auch fliegen. Aber ich kann dich nicht begleiten. Außerdem ist mir das Ganze eine Spur zu kostspielig. So einen Luxusurlaub kann ich mir nicht erlauben.«

»Das machst du doch extra!« Sie blitzte ihn ärgerlich an. »Du wolltest von Anfang an nicht mitkommen und hast nur nach einer Ausrede gesucht. Ich finde das schrecklich egoistisch von dir, Chris! Richtig gemein!«

»Nun mach aber mal halblang. So ein unwichtiger Urlaub... Du weißt, daß ich nichts davon halte, das Geld so sinnlos zu verpulvern.«

»Von welchem Geld redest du eigentlich?« stichelte sie. »Was du verdienst, das würde ja nicht mal für zwei Wochen Schwarzwald reichen. Ich hatte dich eingeladen, falls dir das entfallen sein sollte. Allerdings wäre das nicht nötig, wenn du endlich aufhören würdest, wie ein großes Kind irgendwelchen Tieren im Wald hinterher zu laufen, und dir einen normalen Job suchen würdest. Die Welt ist voller Männer, die es zu etwas bringen. Wann wirst du dich endlich in die Schlange stellen?«

»Ich bitte dich, Doro, diese Diskussion haben wir nun schon hundertmal gehabt. Das führt doch zu nichts. Du hast gewußt, daß ich Wildbiologe bin, als wir uns kennengelernt haben. Und damals hast du es auch nicht schlimm gefunden.«

»Da wußte ich ja auch noch nicht, wie dein Leben aussieht. Und wie wenig einträglich diese Arbeit ist. Ich empfinde viel für dich, Chris, du bist immer noch mein Traummann. Aber ich kann es nicht ausstehen, wenn sich jemand unter Wert verkauft. Und genau das tust du. Du kannst doch mehr, trau dich endlich!«

»Ich mache genau das, was ich will. Es macht mir Spaß, es ist sinnvoll. Und ich werde mich bestimmt nicht in teure Klamotten werfen und etwas arbeiten, das mir nichts bedeutet, nur um deinen überzogenen Ansprüchen zu genügen!«

»Aha. Endlich bist du ehrlich.« Sie erhob sich und starrte wütend auf ihn nieder. »Es ist nicht schlimm, wenn einer es noch zu nichts gebracht hat. Aber es ist sehr wohl schlimm, wenn er dieses Versagen auch noch mit einem Glorienschein der Sinnhaftigkeit umgibt. Das nehme ich dir nämlich nicht ab, hörst du? Und wenn du nicht mit mir auf die Malediven kommst, dann wäre es das wohl gewesen mit uns beiden!«

Christian starrte Dorothee ungläubig an. »Wie kalt du sein kannst, das wußte ich nicht. Ist es dir denn so wichtig, deinen Willen durchzusetzen? Kannst du dir nicht vorstellen, daß andere Menschen auch Träume haben?«

Sie lächelte abfällig. »Schon gut, ich habe verstanden. Und ich denke, unter diesen Umständen wäre es besser, wir gönnen uns mal eine Denkpause. Ruf mich an, falls du doch noch vernünftig wirst. Ich werde dein Ticket nicht zurückgeben.«

»Du solltest kein Geld verschwenden. Ich komme nicht mit. Der Forschungsauftrag ist mir wichtiger.«

»Schön, wie du willst.« Sie streckte die Hand aus. »Gib mir meinen Wohnungsschlüssel. Hier ist deiner.«

Christian zögerte kurz. Er wurde das Gefühl nicht los, nur einen schlechten Traum zu erleben. Sollte denn das wirklich das Ende sein, so kurz und prophan? »Wollen wir nicht noch mal in Ruhe über alles reden, ich meine...«

»Was gibt es da noch zu reden? Ich habe dir meinen Standpunkt klargemacht. Wenn du mitkommst...« Sie lächelte kühl, als er den Kopf schüttelte. »Schön, wie du willst. Leb wohl.«

Nachdem die Wohnungstür hinter Dorothee ins Schloß gefallen war, fühlte Christian sich zugleich befreit und bekümmert. Er hatte schon seit einer Weile geahnt, daß seine Freundin keinerlei Verständnis für seinen Beruf aufbrachte. Wie Dorothee wirklich dachte, hatte er erst jetzt erfahren. Er empfand noch immer etwas für sie, auch wenn sie ihm nicht einen Schritt entgegenkommen wollte, sondern stur auf ihrem Standpunkt beharrte. Doch ihr Verhalten hatte ihm auch deutlich gemacht, daß es für sie keine gemeinsame Zukunft geben konnte.

Der junge Mann war froh, München für eine Weile verlassen zu können. Vielleicht würde es ihm ja in Wildenberg gelingen, seinen Kummer zu vergessen...

*

Auf der Missionsstation Holy Spirit, nahe der ruandischen Hauptstadt Kigali, herrschte an diesem Tag eine angenehme Ruhe. Dr. Julia Bruckner hatte einige der Patienten als geheilt entlassen können, ein halbes Dutzend Betten war nicht belegt. Dieser Umstand gab der bildschönen Ärztin Gelegenheit, einige Dinge zu erledigen, die sonst immer liegenblieben. Nachdem sie alle Krankenblätter aktualisiert hatte, machte sie sich daran, einen langen Brief an Max Brinkmeier zu schreiben. Vor ein paar Tagen hatten sie das letzte Mal miteinander telefoniert. Meist vergaß Julia dann alles, was sie Max hatte sagen wollen, weil ihre Sehnsucht sie überwältigte. Seine Stimme zu hören, ließ ihr Herz höher schlagen und machte ihr zugleich bewußt, was sie vermißte. Nun konnte sie in Ruhe und Muße ihre Gedanken niederschreiben. Sie saß im Wohnraum der kleinen Arztwohnung, die sie früher mit Max geteilt hatte. Eine angenehme Brise strich durch die geöffneten Fenster und brachte den Duft vieler exotischer Blüten und Früchte aus dem nahen Urwald mit sich. Immer wieder schweiften Julias Gedanken ab, dann richtete sich ihr Blick nach draußen, wo die Sonne eben in gleißenden Rottönen unterging. Sie erinnerte sich an die Jahre, die sie und Max hier zusammen verbracht hatten. Julia war bemüht, nur an das Schöne zu denken, den bitteren Abschied und die ständige Sehnsucht, die ihr Herz seither erfüllte, zu verdrängen. Doch das war alles andere als einfach.

Natürlich machte sie Max keinen Vorwurf daraus, daß er fortgegangen war. Sie wußte, er hatte es als seine Pflicht angesehen. Und mehr als einmal hatte sie sich gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn zu begleiten. Schließlich hatte er sie inständig gebeten, ihn zu heiraten und sein Leben in Wildenberg zu teilen. Aber sie hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, Ruanda zu verlassen. All die Menschen, die ihr vertrauten, die nicht nur zur Station kamen, wenn sie krank waren, sondern auch, wenn ein Kummer sie quälte. Nein, Julia konnte nicht einfach fortgehen in dem Wissen, diese Menschen nie wiederzusehen.

Dr. Brinkmeier Classic 8 – Arztroman

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