Читать книгу Der lange Weg nach Däne-Mark - Sonja Reineke - Страница 4
Drei Urlauberinnen
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Dass ich mal ein Häuflein Rasierschaum durch das Badezimmer laufen sehen würde, hätte ich nie gedacht. Das war ja auch recht witzig – wie es dazu kam weniger.
Aber es sollte noch eine Weile dauern, bis ich nach Dänemark floh. Es schien eigentlich alles in Ordnung zu sein, aber wie das so ist – manchmal ist das Gefühl, dass alles in Ordnung ist, in Wirklichkeit Langeweile. Wir drei hatten eine solide Routine, was mir bis dahin nicht unangenehm aufgefallen war. Zum Glück sollte sich das ändern, denn sonst wäre bestimmt alles den Bach herunter gegangen. Dass ich Knall auf Fall nach Dänemark abhauen sollte, nahm an einem Samstag seinen Anfang.
Mark war schon halb zur Tür hinaus und fragte, ob er noch etwas mitbringen sollte aus dem Supermarkt. Ein halbes Pfund Quark vielleicht?
Ich verschlang ihn mit den Augen. Die eng sitzende Jeans und das ärmellose T-Shirt betonten seine gute Figur. Meine war zu dem Zeitpunkt schon etwas auseinandergegangen.
„Ein halbes Pfund Quark?“, rief ich entsetzt. „Viel zu viel! Zweihundertfünfzig Gramm reichen auch“, belehrte ich ihn. Mark grinste. Jetzt sah er noch besser aus, der Sack.
„Gut, ich gehe und hole nur zweihundertfünfzig Gramm. Und du überlegst in der Zwischenzeit, wie viel Gramm ein halbes Pfund sind. Bis gleich.“ Schwupp war er verschwunden und ich sah ihm verwirrt hinterher.
„Mama, zweihundertfünfzig Gramm sind doch ein halbes Pfund“, meinte mein Sohn kopfschüttelnd und ging zum Kühlschrank. Auch das noch, in Mathe eine glatte Fünf haben, aber mir erzählen wollen, was ein halbes Pfund ist!
„Geh sofort auf dein Zimmer“, brüllte ich, erntete aber nur das gleiche Grinsen wie von seinem Vater. Sack junior.
„Die im Unrecht sind, brüllen immer am lautesten“, sagte er nur, holte sich eine Schokomilch aus dem Kühlschrank, und trollte sich in sein Zimmer.
„Wo hat der diese Weisheiten nur her“, brummelte ich und widmete mich weiter der Herstellung der Quarkbällchen. Ich war nicht ohne Grund so übellaunig, versuchte aber, es zu verbergen. Als Zicke macht man sich keine Freunde.
Das Rezept für die Bällchen hatte es in sich: allein fünfhundert Gramm Mehl. Deswegen wollte ich sicherheitshalber nur die Hälfte machen. Mark aß sowieso kaum davon, wie ich ihn kannte, er war, was seine Figur betraf, sehr pingelig, und Marcel sollte eigentlich gar keine essen. Er hockte dauernd vor dem Computer und wurde langsam pummelig. Mich nervte das. Hatte fast dreihundert Freunde bei Viareddel, mit denen er chattete, ging aber nie raus zum Fußballspielen. Sogar ich hatte früher Fußball gespielt. Meine Mitstreiter versicherten mir, ich könne gut fummeln. Das hatte aber eine andere Bedeutung damals. Da waren wir acht oder neun und „Fummeln“ war für uns zwar etwas, das sich unter der Gürtellinie abspielte, aber eben nur an den Füßen.
Als Kind war ich den ganzen Tag nur draußen rumgerannt, hatte Matschkügelchen geworfen und heimlich im Gebüsch billige Zigaretten geraucht.
Einen Computer hatte ich in dem Alter noch nie gesehen und hatte auch kein Interesse daran. Auch der Fernseher gab nicht viel her. Es gab ja nur drei Programme. Marcel war immer ganz entsetzt, wenn er das hörte. Seiner Meinung nach klang das nach Steinzeit, aber wir hatten die bessere Kindheit. Wenn ich meinem Sohn sagte, er solle mal frische Luft schnappen, machte er ein Fenster auf. Wenn das so weiterging, würde sein Gesicht sich bald nicht mehr von der weiß gestrichenen Wand im Flur abheben.
Mark war ganz meiner Meinung und nahm seinen widerstrebenden Sohn häufig mit in den Innenhof zum Fußballspielen oder zum Karatetraining, aber nach spätestens zehn Minuten war unser Sprössling einem Herzanfall nahe, griff sich keuchend an die Brust, sank auf eine Bank und schrie seinen Vater vorwurfsvoll an. Nun ja, sobald er wieder etwas Puste hatte. Marcel war ein lieber und ruhiger Junge. Aber wehe, man setzte ihn körperlichen Anstrengungen aus, dann wurde er zum Berserker.
Mark und ich machten uns Sorgen deswegen. Mark hatte ohnehin viel durchzustehen. Erst musste er Marcel größere Schutzkleidung zum Motorradfahren kaufen und mit dem kleinen Mops hintendrauf nach Assen zum Moto GP fahren, dann war ich dran, ihn zu erschüttern. Weil ich einiges zugelegt habe, passte mir meine Motorradhose nicht mehr und ich ersteigerte mir heimlich eine bei eBay in Größe sechsundvierzig. Meine Jacke war mir auch etwas eng geworden und ich lieh mir eine von Justus, Marks bestem Freund.
Der gutmütige Justus schwor bei allen Heiligen, Mark nichts davon zu sagen. Dafür war der Schock dann auch umso größer, als ich – angetan mit größerer Hose und bulliger Jacke – auf Mark und sein geliebtes Vehikel zustapfte. Den Helm mit dem schwarzen Visier hatte ich mir schon schamhaft im Treppenhaus aufgesetzt, damit mich niemand erkannte.
„Marly?“, fragte er verdutzt. Ich konnte ihn verstehen. Natürlich hatte er gemerkt, dass ich zugenommen hatte, er hatte ja Augen im Kopf, aber so eine Motorradhose mit Innenfutter und Protektoren verbreiterte ungemein. Die zu weite und zu lange Jacke half mir auch nicht wirklich.
Die Kombination von beidem ließ mich aussehen, als ob ich gleich auf dem Mond spazieren gehen wollte.
Ich nickte nur und machte eine auffordernde Handbewegung.
Zögerlich stieg er auf, bemerkte aber schnell die Vorteile eines moppeligen Mitfahrers: Das höhere Gewicht verbesserte unsere Straßenlage.
Er beschwerte sich nie. Auch nahm er mich weiterhin mit auf die Touren mit seinen Kumpels. Manchmal fragte ich mich, wie grässlich mein Anblick von hinten wohl war.
Mark sah man gar nicht mehr, weil mein breites Kreuz sowie der Rhinozeroshintern ihn völlig verdeckten.
Mark war ein toller Mann und ich war sehr glücklich mit ihm. Ich kämpfte um unser Glück, weil es zurzeit sehr zerbrechlich schien. Ich machte Quarkbällchen, recherchierte online nach leckeren Rezepten und schminkte mich jeden Tag, wusch und stylte mir die Haare, zog mich nett an, brachte ihn zum Lachen. Ich wusste nicht, was nicht stimmte bei uns. Er schien zufrieden zu sein.
Da kam er wieder, zwei Becher Quark in der Hand.
„Habe doch lieber ein ganzes Pfund genommen“, verkündete er und ich gab ein leicht verzerrtes Lächeln zurück. Jetzt musste ich doch das ganze Rezept machen und Bällchen frittieren, bis der Arzt kam. Verdammt. Er stellte den Quark in den Kühlschrank und küsste mich flüchtig.
Wir hatten seit fast einem Jahr keinen Sex mehr gehabt.
Es schien einfach keine Zeit mehr dafür da zu sein. Mark machte Karate, hatte schon den zehnten Dan, oder wie das hieß, fuhr Motorrad, ging schwimmen und bastelte im Keller Modelle von Motorrädern zusammen.
Er arbeitete lange und hart und hatte sich seine Hobbys sauer verdient. Alles kein Problem für mich. Aber es blieb keine Zeit mehr für mich, geschweige denn kuschelige Stunden im Bett.
Ich versuchte, zur gleichen Zeit ins Bett zu gehen wie er, aber meistens verpasste ich den Anschluss. Entweder musste ich Marcel noch bei etwas helfen, seine Hausaufgaben machte man ja auch nicht gleich nach dem Mittagessen, das wäre ja zu einfach, zu logisch und zu richtig.
Nein, das musste um neun noch erledigt werden, und wenn Google keine Antwort wusste, dann musste eben Mama ran. Google konnte ja auch keine Strohsterne flechten für den Weihnachtsbasar oder noch „mal eben schnell“ zwei Stunden lang die Turnhose flicken, die eine Woche lang vor Schmutz und Löchern starrend in der Ecke gelegen hatte. Dann kam er zu Mama gerannt, und wenn Mama dann endlich ins Bett sinken durfte, lag Papa schon drin und schnarchte.
An den Wochenenden hatte sich der DVD-Abend durchgesetzt, und der endete nie vor Mitternacht. Meistens war ich es dann, die todmüde ins Bett ging, während meine Männer sich noch einen Actionfilm ansahen, bei dem geballert und massakriert wurde. Sie merkten meistens nicht mal, dass ich das Zimmer verließ. Durch die Luft fliegende Gliedmaße waren ihnen wichtiger.
Das alles wäre ja in Ordnung gewesen, wenn sich Mark an das gehalten hätte, was ich schon vor Jahren gesagt hatte: dass Paare sich mindestens einmal im Monat Zeit füreinander nehmen mussten. Schön essen gehen, ins Kino oder Tanzen.
Oder einfach mal früher ins Bett gehen und kuscheln.
Leider hatte er es vergessen, und wenn ich davon anfing, stimmte er mir zwar zu, aber an dem Wochenende hatte er dann Kegeln ... einen Karatewettkampf ... eine Motorradtour mit seinen Freunden ... oder mit Marcel ... einen Männerabend mit Saufgelage bei Justus ...
‚Heute Abend überrasche ich ihn einfach’, dachte ich. Ich hatte mir ein Negligé aus Netzstoff gekauft, Duftkerzen und eine schöne Rammel-CD mit romantischer Musik. Sobald er ins Bett ging, wollte ich ihn schon erwarten.
Es schien ein guter Abend dafür zu sein. Justus hatte angerufen und das gemeinsame Schrauben an den geliebten Motorrädern abgesagt, weil er eine Magen-Darm-Grippe hatte. Mark hatte nichts anderes vor und musste wohl – Wunder über Wunder! – mal einen Abend daheim verbringen.
„Mama, welchen Film sehen wir denn heute? Hast du ‚From Paris with Love’ geholt? Den mit Travolta?”
Mist, da hatte ich doch glatt den DVD-Abend im Familienkreis vergessen.
„Heute gibt es nur normales Fernsehen in deinem Zimmer“, knurrte ich.
„Aber wieso? Normales Fernsehen ist doch scheiße!“, protestierte mein Sohn. Finster sah ich ihn an. „Dann chatte mit deinen Freunden oder spiel irgendetwas. Dein Vater und ich haben etwas vor!“
„Vor? Was haben wir denn vor?“, fragte Mark, der in diesem Augenblick die Küche betrat und den Versuch seines Sohnes, sich ein Eis aus dem Gefrierschrank zu holen, mit einem freundlichen Tritt in den Hintern vereitelte.
„Wir gehen ins Kino“, erklärte ich schlicht.
„Ins Kino? Dann kann ich doch mitkommen!“ Marcel ahndete den Tritt mit einem Faustschlag in Marks Nieren.
„Nein. Heute mal nicht“, erwiderte ich bestimmt. Mark hob die Brauen und verwuschelte seinem Sprössling das Haar. „Mach dir nichts draus, mein Alter, dann hast du sturmfreie Bude. Mindestens bis elf.“
Marcels Augen wurden groß wie Fußbälle. Zweifelsohne war die Aussicht auf ungehinderten Zugang zum gut gefüllten Kühlschrank und das Familienpaket mit Eis im Gefrierfach noch verlockender als die auf den DVD-Player und die DVD-Sammlung seines Vaters, die meistens FSK sechzehn oder gar achtzehn waren und ihm wahrscheinlich ein Trauma einhandeln würden. Aber damit wollte ich mich an diesem Abend nicht belasten.
Sollte der Bengel doch Horrorfilme gucken und danach monatelang nicht mehr schlafen, ich wollte Sex!
Außerdem hatte Mark die schlimmsten Filme gut versteckt.
„Na gut“, seufzte Marcel theatralisch, während ihm schon mental der Sabber auf die Schuhe tropfte. Uns machte er damit nichts vor. Mark und ich grinsten uns an, und ich strahlte. Er schien nichts dagegen zu haben, dass er tatsächlich mal mit mir ausgehen musste.
„In welchen Film willst du denn?“, fragte er, während unser Sohn wieder an seinem PC verschwand.
„Ähm ...“
„Verstehe. Du hast noch gar nichts ausgesucht, was?“
„Nein“, gab ich zu. „Aber wir können ja einfach hinfahren und gucken, bei dem riesigen Komplex muss doch ein Film laufen, den wir beide sehen wollen. Lass uns doch spontan sein“, murmelte ich und schmiegte mich an seine Brust. Er wuschelte mir durchs Haar wie zuvor Marcel und drehte mich sanft in Richtung Fritteuse. „Einverstanden. Aber pass auf deine Quarkbällchen auf.“ Er ging ins Wohnzimmer, und ich blieb etwas verwirrt zurück.
Drei Stunden lang frittierte ich die verdammten Bällchen. Ich hatte viel zu viel Teig gemacht, eben das ganze Rezept, und man konnte nur Bällchen von der Größe eines Teelöffels ins Fett kullern lassen, weil der Teig im heißen Fett zu dreifacher Größe aufquoll, woraufhin größere Bällchen sich nicht mehr drehen ließen und nur untenherum braun wurden.
Eine große Schüssel voll blöder Quarkbällchen stand nun auf dem Tisch, ich war müde und hatte nicht mal mehr Zeit zu duschen. Marcel war schon mindestens zehnmal hereingekommen und hatte sich mit den heißen fettigen Dingern vollgestopft, und trotzdem wurde die Schüssel nicht leerer.
Ich hatte es längst aufgegeben, den Fresssack aus der Küche zu werfen. Wenn wir ins Kino gingen, hatte er ja ohnehin freie Bahn.
Lust hatte ich keine mehr, als ich mir eine andere Hose und Turnschuhe anzog.
„Wir fahren mit der Straßenbahn, oder?“ Mark stand mit einer Tasse Kaffee in der Tür und sah mir zu. Er brauchte sich nicht umzuziehen und war schon ganz fickerig, wie es schien.
„Ja, okay.“ Mein Mut sank. Jetzt auch noch durch die Kälte zur Straßenbahnhaltestelle latschen, na schönen Dank auch.
„Das Parkhaus da ist mir zu teuer“, erklärte er schlicht.
„Aber man kriegt doch Rabatt, wenn man ins Kino geht“, wandte ich ohne große Hoffnung ein.
„Nicht genug“, knurrte Mark dann auch und brachte seine Tasse weg, aber nicht, ohne mich noch einmal zur Eile anzuhalten.
„Ja, ja“, murrte ich. Hätte mich jemand dabei abgelöst, wie blöd in die Fritteuse zu starren und ab und zu die Bällchen umzudrehen, hätte ich mich duschen und umziehen können. Aber das fiel meinen Männern ja nicht ein. Die kümmerten sich nur um ihre eigenen Bällchen.
„Marceeeeeel“, brüllte ich und zuckte zusammen, als er hinter mir vor Schreck über mein Gebrüll ebenfalls heftig zusammenfuhr.
„Schleich dich doch nicht so an“, keuchte ich ärgerlich.
„Entschuldige. Was is’n?“
„Du weißt doch, wie man die Fritteuse auseinandernimmt?“
„Hm ... na ja ...“ Er sah mich misstrauisch an.
„Hör schon auf, natürlich weißt du das! Heizelement raus, Ölwanne raus, Wanne in die Spülmaschine packen, Heizelement mit etwas Spüli und heißem Wasser reinigen. Das schafft sogar ein Dreijähriger. Mach das bitte, mehr will ich ja gar nicht.“
„Und das Öl? Weggießen?“
„Nein, das gieß bitte zurück in die Flasche, die im Apothekerschrank steht. Aber durchs Teesieb.“
„Da geht ja alles daneben!“
„Nein. Weil mein Schlaukopf von Lieblingssohn den Trichter benutzen wird, der oben im Schrank liegt.“
„Boah, okaaaaay ...“
„Danke, mein Schatz.“
„Marly, komm! Sonst wird’s knapp!“ Mark stand schon im Flur.
Hastig warf ich mich in eine warme Jacke und folgte ihm. Bevor die Wohnungstür zuklappte, hörte ich noch, wie die Tür von Gefrierschrank aufgezogen wurde.
Mit der heutigen Jugend in der Straßenbahn zu sitzen, war auch kein Vergnügen mehr. Da wurde gejohlt, geschubst und statt Spitznamen wie „Tobby“, „Ralle“, oder „Tini“ zu unserer Zeit wurden heutzutage „Pisser“, Wichser“ und „Schwanzlutscher“ bevorzugt.
Wir wohnten in einem Hochhauskomplex, der von außen scheußlich anzusehen, innen aber recht gemütlich war. Mark hatte viel Arbeit und ich viel Liebe in diese Wohnung gesteckt. Wir konnten uns die Miete in einer besseren Gegend nicht leisten. Zum Glück konnte Mark Karate, und man sah es ihm auch an. Ein Blick von ihm, und die Mitfahrer ließen uns in Ruhe. Trotzdem war das nicht gerade das, was ich einen romantischen Abend nennen würde. Vielleicht wurde es ja noch einer.
Der Weg zum Kino war lang, die Stadt voller merkwürdiger Gestalten. Die kamen rausgekrochen, sobald die Sonne ihr Antlitz von unserer Welt abgewandt hatte. Wie die Kakerlaken. Sie benahmen sich auch so. Wieso waren wir nicht einfach essen gegangen? Wieso musste ich Hirni denn ausgerechnet Kino vorschlagen?
Nun standen wir im Foyer. Und mein Gesicht wurde immer länger.
Mark machte es nicht leichter. „Was möchtest du denn sehen? Die Hexe Lillifee? Die Schlümpfe? Wicki auf großer Fahrt? Contagion? Footloose?“
„Footloose?? Den habe ich in den Achtzigern gesehen! Mit Kevin Bacon“, empörte ich mich. „Fällt denen außer Remakes denn nichts mehr ein?“
„Scheinbar nicht. Also, was möchtest du sehen? Contagion? Dieser Film über diese weltweite Erkrankung?“
„Na ja ... eigentlich hatte ich eher an was Romantisches für uns beide gedacht“, gab ich zögernd zurück.
„Was Romantisches? Eine Komödie? Aber ...“
„...Aber das ist für dich nichts“, seufzte ich. „Lass uns in ‚Atemlos – Gefährliche Wahrheit’ gehen, da glänzen doch schon deine Äuglein.“ Romantik war wohl tot. Mann, dann sollte sie aber wenigstens später im Schlafzimmer zu neuem Leben erwachen!
Ich hatte auch mit den Originalversionen geliebäugelt, denn dieses Synchronisationszeug, das einem in Deutschland aufgezwungen wird, fand ich schrecklich, aber das hätte ich Mark nicht zumuten können. Deswegen hatten wir die vielen DVDs: damit ich die Filme auch mal im Original sehen konnte. Serien waren ohnehin nur im Original zu ertragen, und synchronisiert meistens auch nicht mehr lustig.
Nachdem Mark für sich eine Tüte Popcorn und für mich einen großen Becher Cola erstanden hatte, war es im Kino brechend voll und auch die letzte „Liebescouch“ ohne Armlehnen besetzt. Das fing ja gut an. Mein Plan, mich bei einem zu Herzen gehenden Film, der sogar einem ganzen Mann wie Mark ein Tränchen der Rührung entlockte, an ihn zu kuscheln, war scheinbar hinfällig.
Neidisch sah ich zu, wie die frischverliebten Pärchen sich hemmungslos durch die unerträglich lange Werbung knutschten. Mark und ich teilten Popcorn und Cola. Wir hielten nicht einmal Händchen. Waren wir etwa schon im Rentenalter, jedenfalls was die Liebe betraf?
Während des Films konnte ich mich nicht konzentrieren und lugte immer wieder zu Mark herüber. Natürlich merkte er das und lächelte, aber es war ein fragendes Lächeln.
„Mann ey, warum riecht’ n das hier wie in `ner Pommesbude“, sagte da plötzlich jemand hinter mir recht laut. „Ist ja widerlich!“
Ich wusste nicht, was er da meinte, aber rechts von mir saß ein junger Kerl, der sich so weit wie möglich weg von mir geneigt hatte und die rechte Armlehne Schutz suchend umklammerte. Scheinbar hatte er Angst, ich würde mich mitten im Film auf ihn stürzen, seinen Hosenstall mit den Zähnen aufreißen und ihn unter die Sitzbank zerren. Oder ... war es doch etwas anderes?
„Marly“, zischte da mein Mann, mein Seelengefährte, mein Leben, „Marly, die riechen das Frittierfett!“ Er neigte sich nach links, ebenfalls weg von mir.
Oh Gott, die treulose Tomate hatte Recht! Der Geruch nach Frittierfett hing in meinen Klamotten und wahrscheinlich auch in meinen Haaren! Was nun?
Ich lief puterrot an, was man im Dunkeln hoffentlich nicht sehen konnte, während um mich herum die Leute „Puh“, stöhnten und sich Luft zufächelten.
Aber Gott war mit mir an diesem Abend, denn als ich dachte, gleich würden mich die Umsitzenden mit Mistgabeln und Fackeln aus dem Kino treiben, setzte sich jemand, der zu spät gekommen war, zwei Reihen hinter mich, und die missbilligende Aufmerksamkeit wandte sich schnell ihm zu, denn der Kerl hatte Knoblauch gegessen.
Trotzdem, jetzt konnte ich mich gar nicht mehr konzentrieren. Hinter mir trieben Knoblauchschwaden auf mich zu, sobald der Kerl ausatmete, was leider relativ oft der Fall war, neben mir hatte ich auf einmal viel Armfreiheit, und mein Mann saß beinahe unerreichbar weit von mir weg. Vorher hatte der Fettgeruch ihn ja auch nicht gestört, jetzt stempelte er mich sogar für Mark zu einem Aussätzigen.
Mit Romantik hatte dieser Abend immer weniger zu tun.
Einhundert Minuten können sehr lang sein, wenn man sie nicht so verbringt, wie man möchte. Ich war mir nicht sicher, wer von uns beiden die Luft mehr verpestet hatte, der Knoblauch-Heini oder ich. Auch das Publikum hatte sich da in zwei Lager gespalten, war aber einhellig der Meinung, dass die Kombination unerträglich war.
In der Straßenbahn saß ich wie auf glühenden Kohlen. Es war schon so spät, nach elf ... und ich musste noch duschen. Wie sollte ich da mit Mark gemeinsam ins Bett kommen?
Ungeduscht ins Bett zu gehen war unmöglich. Ebenso gut konnte ich ihm einen Eimer Eiswasser in den Schritt schütten.
Zum Glück war Mark ungewohnt fit. Kein Wunder, er hatte ja nur stundenlang auf dem Hintern gesessen und nichts gemacht. Er sollte auch voller Energie stecken, das war mein Plan gewesen. Erst voller Energie, dann einen Teil von sich woanders hineinstecken ... leider steckte er zunächst einen anderen Körperteil, nämlich seinen Kopf, ins Wohnzimmer, wo unser Sohn sich bei einem Horrorfilm, der auf dem Index stand, grauste. Eine Frau war gerade in ihre Einzelteile zerlegt worden
„Ha! Erwischt!“, rief Mark, und Marcel warf vor Schreck das Eis, das ihm in der bebenden Hand schon halb geschmolzen war, auf die nagelneue Couch.
„Oh nein! Meine Couch!“ Mein Schrei vermischte sich mit dem Gekreisch aus dem Fernseher. Das war zu viel für Marcel. Er sprang auf und rannte in sein Zimmer.
„Lass mal, ich mach das schon. Geh duschen.“ Dass ich noch duschen musste, hatte ich Mark schon in der Straßenbahn vorgejammert. Er nahm mir liebevoll den Lappen aus der Hand und rieb vorsichtig den Eisfleck aus dem Stoff. Da wartete man extra, dass die kleine Kröte alt genug war, nicht mehr die Möbel mit Schokolade oder Kugelschreibermalereien zu verschmieren, kaufte sich eine neue und recht teure Couch, und er schmiss klebriges Eis darauf.
„Wo hatte er den Film eigentlich her? Ich dachte, du hättest deine geliebte Sammlung gut versteckt?“ Ich holte die DVD aus dem Player, bevor die Nachbarn bei dem Lärm noch die Polizei riefen.
„Tja, das dachte ich auch.“
„Dann stell sie doch ganz offen zu den anderen ins Regal. Er findet sie ja sowieso und ich weiß ja, wie sehr du deine Sammelboxen liebst.“
„Ja, könnte ich wohl machen. Geh duschen.“
„Ist ja schon gut“, murrte ich und trollte mich ins Bad. Die ganze Wohnung roch nach Fett, da sollte ich eigentlich nicht weiter auffallen.
Die Fritteuse stand noch immer auf dem Tisch. Ungereinigt, natürlich.
Ich schlich noch ins Schlafzimmer und holte mein Negligé . Unter der Dusche schlug mein Herz schneller und schneller. Ich wusch mich mit dem Duschgel, das zu dem Parfüm passte, das ich zum Geburtstag bekommen hatte (Marcel machte es sich leicht, so eine Geschenkpackung mit Duschgel und Parfüm war so ziemlich das Kreativste, das man erwarten konnte), rasierte mir die Beine und Achseln und rieb mich nach dem Abtrocknen mit Bodylotion ein, damit meine Haut auch so zart und schön wurde, dass man sie einfach streicheln musste. Die Haare föhnte ich über Kopf, damit sie mehr Volumen bekamen, legte Lippenstift und Puder auf und schminkte mir die Augen in diesem „Smokey Eyes“ Stil, der so dunkel und geheimnisvoll aussah und die Augen schön groß und verführerisch machte. Nicht schlecht.
Das Negligé war alles, was ich noch trug. Es saß um den Schmullebauch herum etwas eng, aber im Liegen war es sicher nicht so schlimm. Ich schlich über den Flur ins Schlafzimmer, aber leider erhaschte ich noch einen Blick auf das entsetzte Gesicht meines Sohnes, der den Kopf zur Tür rausgestreckt hatte, ihn aber so schnell wieder einzog wie eine Schildkröte, die das Hackebeil sah. Noch ein Kindheitstrauma, das er eines Tages seinem Psychiater enthüllen musste: der Abend, an dem ich meine dicke Mutter im Negligé sah.
Im Schlafzimmer holte ich die versteckten Kerzen hervor und verteilte sie sorgsam. Es waren Teelichter aus rotem Wachs in Herzform. Ich zündete sie an, legte die CD ein, startete sie, und schmiss mich hastig ins Bett, denn ich hörte Marks Schritte. Kein Wunder, der CD Player war nämlich sehr laut eingestellt gewesen, bevor ich mich verschreckt auf ihn werfen konnte.
Neugierig öffnete mein Mann die Tür. Leider hielt er auch eine Bierflasche in der Hand. Ich schluckte, als er überrascht blinzelte. Ich hatte zumindest auf ein Lächeln gehofft.
„Marly? Was ist denn hier los?“
„Ich wollte doch einen romantischen Abend.“
„Aha ...“
„Komm doch rein, Mark. Und mach die Tür zu.“
Zögernd kam er herein, und das tat mir weh. Sein Blick, mit dem er die Kerzen musterte, tat mir fast noch mehr weh. Es war offensichtlich, dass weder die Musik, die Kerzen, noch das Negligé und Make-up ihn auf irgendwelche Gedanken brachten. Er sah aus wie jemand, der sich panisch einen Fluchtweg aus einer Grube voller Schlangen überlegte.
Auch die Tür schloss er ungern. Denn nun war er allein mit der Sex-Bestie.
Er setzte sich aufs Bett und stellte die Bierflasche auf dem Nachttisch ab. Er ließ seinen Blick kurz über meinen Aufzug wandern, aber komischerweise sah sein Gesicht dabei gehetzt aus.
„Mark ... komm, ich massiere dir den Rücken.“ Ich dachte damals, ich müsste ihm die Nervosität nehmen oder diese merkwürdige Spannung, unter der er zu stehen schien. Ich hätte schon da mit ihm reden sollen, anstatt zu versuchen, ihn zu verführen. Es war ja deutlich sichtbar, dass er dafür nicht in Stimmung war.
„Du bist ja ganz verkrampft ...“ Ich küsste ihn zärtlich auf den Nacken.
„Marcel ist doch noch wach“, protestierte er. Er schien verlegen, als meine Hände unter sein Hemd fuhren.
Als mir schließlich aufging, dass er meine Zärtlichkeiten nicht erwiderte, zog ich mich verwirrt zurück. Verwirrt und entsetzt. War es tatsächlich schon so weit mit uns gekommen? Ich dachte, er wäre immer müde von der vielen Arbeit und seinen Hobbys, aber dass er im Grunde seines Herzen nicht mal mehr wollte, das war mir nicht klar gewesen.
Mark sah mich nicht an, als er aufstand und das Schlafzimmer verließ. Ich lag wie erstarrt in unserem keuschen Bett und hörte, wie er mit Marcel diskutierte, der nicht ins Bett gehen wollte. Erst nachdem unser Sohn schmollend verschwunden war, stand ich auf und ging ins Bad. Ich riss mir das lächerliche Negligé vom Leib und warf es in den kleinen Mülleimer. Dann wusch ich mir das lächerliche Make-up vom Gesicht. Es war lächerlich, ich war lächerlich. Da hatte ich doch tatsächlich gedacht, mein Mann würde mich begehren, so wie am Anfang. Er sah aber wohl keine begehrenswerte Frau mehr, wenn sein Blick auf mich fiel. Das tat weh.
Ich tat in dieser Nacht kein Auge zu und weinte. Ich hatte Zeit genug dafür, denn Mark kam erst gegen drei ins Bett. Wahrscheinlich war er da erst sicher, dass ich schlafen würde und er einer Debatte aus dem Weg gehen konnte.
Am nächsten Morgen war er vor mir aufgestanden und hatte Frühstück gemacht, Brötchen geholt, Kaffee gekocht und den Tisch liebevoll gedeckt. Er sah immer noch ganz verlegen aus, aber auch schuldbewusst. Er wusste, wie gedemütigt ich mich fühlte. Ich wusste hingegen nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Ich tat, als wäre nichts gewesen, schon wegen Marcel. Aber irgendwann ging der wieder in sein Zimmer, und ich hätte ihm am liebsten zurückgehalten. Ich wollte im Moment nicht mit Mark und seinen beinahe mitleidigen Augen alleine sein.
Mitleid hatte er also nur noch für mich übrig, war es das?
Ich wusste nicht, wie ich mit ihm darüber reden sollte, und setzte mich an unseren großen PC im Schlafzimmer. Bald hörte ich die Wohnungstür klappen. Mein Herz setzte einen Schlag aus – sagte Mark jetzt nicht mal Bescheid, wenn er ging? In der Küche klebte ein Zettel am Kühlschrank: Bin bei Justus. Na toll, sollte er sich doch da ausweinen! Sollte er doch mit Justus kuscheln! Diese Gesellschaft schien Mark ja ohnehin zu bevorzugen!
Ich nahm das Telefon, ging wieder ins Schlafzimmer, legte mich aufs Bett und rief Svenja an.
Niemand gewinnt je im Lotto. Das war immer meine Überzeugung. Wenn ich dann doch mal gespielt habe, war es mehr aus Langeweile oder weil der Jackpot so hoch war. Immer wählte ich dann die billigste Variante ohne diesen Spiel Siebenundsiebzig-Schnickschnack.
Einmal jedoch kreuzte ich irrtümlich doch Spiel Siebenundsiebzig an. An der Kasse wunderte ich mich zwar, dass die Teilnahme auf einmal so teuer war, aber trotzdem sagte ich nichts. So spielte ich dann diesen unnützen und teuren Kram und gewann eine Sofortrente. Siebentausendfünfhundert Euro.
Zuerst konnte ich es nicht glauben. Andererseits, irgendwer muss ja gewinnen. Warum also nicht ich? Es war Glück, nichts weiter.
Aber Glück im Spiel, Pech in der Liebe, so heißt es. Rainer, mit dem ich damals zusammen war, wurde auf einmal unausstehlich. Erst wollte er unbedingt ein Haus bauen, dann einen Mercedes haben. Ich sollte das alles mit Krediten finanzieren. Er meinte, ich könnte doch locker zweitausend Euro im Monat dafür abdrücken, vom Rest sollten wir dann leben. Und zwar, wie ich schnell merkte, wie die Fürsten.
Okay, ich war zuerst auch etwas ausgeflippt. Wenn man plötzlich alles kaufen kann, statt wie sonst traurig vor dem Schaufenster zu stehen, dann verfällt man etwas dem Shopping-Wahn.
Schuhe, ein ganzes Dutzend neue Schuhe habe ich mir in den Monaten danach gekauft. Teure Schuhe von Designern, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Ziemlich doof, zugegebenermaßen. Aber mit der Zeit wurde ich vernünftig. Rainer jedoch wollte auf einmal eine Kreditkarte. Nachdem er sie dann zum dritten Mal in zwei Monaten an ihr Limit gebracht hatte, und ich auf einmal sechzehntausend Euro abstottern musste, war Ende.
Ich warf ihn raus, und er wurde zum Monster. Zuerst verschickte er in meinem Namen fiese E-Mails an Freunde und Bekannte, woraufhin ich mehrere von ihnen verlor. Dann bestellte er online Bücher, Filme und Geschirr, ließ aber alles an seine neue Adresse liefern. Ich änderte mein Passwort, erstattete Anzeige und es wurde noch schlimmer. Nächtliche Anrufe von irgendwelchen Widerlingen, die in irgendeinem Bahnhofsklo an einer der Wände gekritzelt gesehen hatten, dass ich es auf jede erdenkliche Art machte (das ist die nette Form es auszudrücken), wurden zur Routine. Hundekot (hoffte ich jedenfalls) lag in meinem Postkasten. Briefe erreichten mich nicht mehr und die Nachbarn sahen mich komisch an.
Zum Glück konnte ich es mir leisten, hier wegzuziehen und war auch dabei, das zu tun. Rainers Klage auf Unterhalt wurde ebenfalls abgewiesen. Er hatte zum Glück einen Job gehabt, als ich gewann, und seine Aussage, ich hätte ihn depressiv gemacht und er könne nun nicht mehr arbeiten, nahm ihm nicht mal der eigene Anwalt ab.
Ich musste umziehen, und das schnell. Als ich gewann, machte ich gerade ein Fernstudium zum Übersetzer für Englisch. Das musste ich jetzt zwar nicht mehr zu Ende bringen, aber ich hatte schon so lange dafür bezahlt.
Das Glück kam mir damals sehr zupass, denn ich hatte einen echt langweiligen Job als Bürokauffrau in einer kleinen Gas-Wasser-Scheiße Firma, die den Bach herunter ging. Meine Kündigung war schon in der Post, und mein Boss erklärte damals mit echtem Bedauern, dass er mich nicht mehr bezahlen könne. Ich stand so gut wie auf der Straße, und nur das Studium hielt mich etwas aufrecht. Dann kam der Gewinn und rettete mich davor, zu einem von allen gehasster Hartz Vier Empfänger zu werden. Denn trotz guter Zeugnisse fand ich keinen neuen Job, und die Sachbearbeiter vom Arbeitsamt drängelten schon richtig, da ich ihnen bald auf der Tasche liegen würde. Zum Glück blieb mir das dann erspart. Genauso wie diese Bewerbungsseminare. Ich brauchte kein Bewerbungsseminar. Ich hatte vorher ja auch ohne so ein Seminar Arbeit gefunden und war auch noch keine zwanzig Jahre aus meinem Job raus. Daran hatte es nicht gelegen, dass ich nichts fand.
Jetzt, da Rainer mit mir fertig war, würde ich ohnehin nichts mehr finden. Ich war sicher, dass er mich über das Internet diffamierte. Kein Arbeitgeber hätte mich noch eingestellt. Er lebte jetzt von Hartz Vier, hatte viel Zeit und wenig Geld und versuchte ständig, mir eins auszuwischen.
In einer Nacht- und Nebelaktion würde ich heute ausziehen. Und das buchstäblich bei Nacht. Denn so konnte ich mir relativ sicher sein, dass Rainer nichts mitbekam. Er wohnte nämlich nicht weit weg. Ich wollte verschwunden sein, wenn er das nächste Mal vorbeikam und hasserfüllt in mein Küchenfenster starrte.
Die Möbel hatte ich schon in einer verlassenen Lagerhalle untergestellt. Mein Onkel war Spediteur. Er würde heute Nacht um halb zwei mit einem Lkw und zwei starken Männern vorbeikommen.
Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen. So weit war es schon gekommen mit mir.
„Ach, du bist es, Marly.“
„Du klingst so erleichtert. Wieder so schlimm?“
„Nein, heute war ein ruhiger Tag. Nur zweiundzwanzig Anrufe.“
„Mann, mit dir möchte ich aber auch nicht tauschen.“
„Heute Nacht haue ich ja endlich hier ab.“
„Soll ich dir wirklich nicht helfen?“
„Ach wo, es kommen ja insgesamt drei Mannsbilder. Und das meiste habe ich ja schon nach und nach in die Lagerhalle gebracht. Bleib du lieber bei deinen beiden Männern.“
„Glaubst du, Rainer findet dich in der neuen Wohnung?“
„Wer weiß? Stalker sind da schon erstaunlich kreativ.“
„Dass der zu so einem Arschloch mutieren würde, hätte ich nie gedacht.“
„Nein. Ich auch nicht.“
Unbequemes Schweigen.
„Und? Seid ihr am Wochenende ins Kino gegangen, wie du dir vorgenommen hattest?“
„Ja. Aber der Film war nicht gut.“
„Ich beneide dich um deinen Mark. Das ist ein wirklich lieber Kerl.“
Da wechselte ich extra das Thema, aber Marly schwieg weiterhin. Endlich, nach gefühlten zehn Minuten, brummte sie etwas Zustimmendes und wechselte ihrerseits das Thema.
„Du beneidest mich um Mark, ich dich um deine Figur. Ich wünschte, ich könnte auch essen, was ich wollte.“
„Da sagst du was. Ich habe außer Nussnugatcreme nichts mehr im Haus. Alles schon weg.“
„Und damit willst du bis heute Nacht auskommen?“, fragte Marly entsetzt. Ich grinste.
„Nein, Quatsch. Die vernichte ich jetzt gleich. Später hole ich mir ein Pita oder so.“
„Musst du da nicht an Rainers Haus vorbei?“
„Ich gehe in die andere Richtung.“
„So einen Umweg?“
„Marly, was soll ich denn machen?“
„Bestell dir lieber eine Pizza.“
„Würde ich gerne. Aber nachdem Rainer mir immer wieder in meinem Namen welche bestellt hat, habe ich meine Adresse und meinen Namen bei allen Lieferanten der Stadt sperren lassen.“
„Oh Gott! Davon hast du ja noch gar nichts erzählt!“
„Es ist ja auch schlimm genug gewesen. Lass uns das Thema wechseln.“
„Komm doch einfach zu uns. Mein gefräßiger Sohn lässt für gewöhnlich genug übrig, um auch einen Gast abzufüttern.“
Ich lachte. „Das ist lieb von dir. Eigentlich ist es sogar eine gute Idee.“
„Wieso solltest du auch da herumsitzen, und auf deinen Onkel warten? Bleib ruhig bei uns. Bis elf sind wir meistens sowieso auf.“
„Mal sehen. Ich komme erst mal so gegen sieben Uhr vorbei. Oder ist das zu spät?“
„Sieben ist super. Was soll ich denn kochen? Ich habe sowieso nur Fertigfutter im Haus, also ist es egal.“
„Mir ist es auch egal. Der Gast darf keine Ansprüche stellen, der muss essen, was auf den Tisch kommt.“ Ich stand auf und ging in die Küche. Der Gedanke an die Nugatcreme hatte mich hungrig gemacht.
„Ach, Quatsch. Im Grunde wäre ich dir dankbar. Dann können die Männer nicht meckern, weil es deine Schuld ist.“
Ich lachte und holte einen Esslöffel aus der Schublade. Mit nur einer Hand bekam ich das Glas nicht auf, deswegen legte ich Marly kurz zur Seite, schraubte das Glas auf und tunkte den Löffel tief hinein. Es war eines dieser Angebotsgläser mit mehr Inhalt. Ich war erstaunt, wie voll es noch war. Ich hatte doch schon die ganze Woche davon genascht. Aber etwas stimmte nicht. Die Masse war normalerweise zäh, jetzt kam der Löffel sehr leicht wieder zum Vorschein. Es sah irgendwie merkwürdig aus, was da auf dem Löffel klebte. Und ein Geruch entstieg dem Glas ... ein sehr widerwärtiger Geruch. Ein Gestank, um genauer zu sein. Ich roch vorsichtig an dem Löffel und ließ ihn mit einem angeekelten Schrei fallen. Fassungslos starrte ich auf das Glas. Kein Wunder, dass es schwerer und voller war als vorher.
„Svenja? Alles okay? Was ist denn?“ hörte ich die alarmierten Rufe aus dem Telefon, als ich ins Bad taumelte und mich heftig übergab.
Beinahe hatte ich die Polizei gerufen, als ich den Schrei und danach das Gewürge hörte. Ich hatte geglaubt, Rainer hätte sich unbemerkt in die Wohnung geschlichen und Svenja überfallen. Ich steckte auch schon zur Hälfte in einer Jacke, und zwar der von Mark. Mit der einen Hand hielt ich das Telefon umklammert, mit der anderen fuchtelte ich herum, um die Jacke über die Schulter zu streifen.
„Was ist denn hier los?“ Mark kam zur Tür rein, noch in Arbeitsklamotten und Sicherheitsschuhen.
„Irgendetwas stimmt bei Svenja nicht.“ Das Gute an Mark war, dass er nie Zeit auf dumme Fragen verschwendete. Er zog mir seine Jacke schnell wieder aus und hüllte mich in meine eigene. Vielleicht hatte er aber auch nur Angst, ich könnte seine mit meiner Körperfülle sprengen.
„Sollen wir grad hinfahren?“ Er hatte den Autoschlüssel ja noch in der Hand. Ich lauschte kurz Svenjas erstickter Stimme, dann schüttelte ich den Kopf. „Sie kommt her.“ Mark nickte nur und ging ins Bad, um sich umzuziehen. Ich versuchte derweil, Svenja etwas zu beruhigen.
„Ich verstehe kein Wort, Svenja. Komm her, aber bitte nimm ein Taxi. Ach, da bist du auch gesperrt ...? Dann bestell eins zu den Nachbarn. In diesem Zustand kannst du nicht fahren“, erklärte ich bestimmt.
Es dauerte eine Weile, bis Svenja auflegte. Vorher stammelte sie etwas von einem Glas und ob sie es mitbringen sollte. Ich verneinte und war später sehr, sehr, sehr froh darüber.
Eine Stunde später lag Svenja bei mir auf der Couch mit einem feuchten Lappen auf der Stirn und einem großen Cognac in Reichweite. Sie hatte sich so weit unter Kontrolle, dass sie mir alles erzählen konnte. Ich erbleichte und verschwand selbst erst einmal für längere Zeit im Bad. Danach ging ich in die Küche und warf unsere angefangene Nugatcreme zum Entsetzen meines Sohnes in den Müll.
„Marly? Was soll denn das? Wieder so eine komische Diät?“, mischte sich Mark ein. Ich zog ihn ins Arbeitszimmer, während Marcel meckernd im Mülleimer herumwühlte.
„Sei mir nicht böse, aber wenn ich in nächster Zeit so ein Glas sehe, muss ich kotzen“, erklärte ich rüde. Mark blinzelte.
„Wieso denn?“
„Svenja wollte gerade einen Löffelvoll davon naschen. Und ... nun, es sieht so aus, als ob Rainer heimlich in ihrer Wohnung war. Jedenfalls kann man das hoffen. Oder die Firma, die die Creme herstellt, hat bald ein Riesenproblem.“
„Was ist denn mit dem Zeug? Jetzt spuck es schon aus!“
„Gespuckt habe ich gerade schon genug. Ich befürchte, du und Marcel müssen heute alleine essen. Mark, ich glaube es ja selbst kaum, aber wie es aussieht, hat Rainer das Glas mit der Nussnugatcreme bei Svenja wieder aufgefüllt. Aber nicht mit Nugatcreme.“
Mark runzelte die Stirn und überlegte. Er war ein sehr heller Kopf, trotzdem konnte er sich wohl eine solche Gemeinheit nicht vorstellen und musste länger mit dem logischen Schluss kämpfen als gewöhnlich.
„Du meinst ... er hat in das Glas geschissen?!“
„Unelegant, aber treffend ausgedrückt.“
„Boah! Im Ernst?“
„Macht man mit so etwas Witze?“
„Nee! Igitt! Soll ich mal mit dem Kerl reden? Ich nehme auch die Hausordnung mit.“
Unsere Hausordnung war ein Baseballschläger mit genau diesem Wort, das Mark höchstpersönlich darin eingebrannt hatte. Dieser Baseballschläger hing gegenüber der Eingangstür und in der passenden Höhe, sodass man genau darauf schaute, wenn sich unsere Haustür öffnete. Schon viele grimmig entschlossene Vertreter wurden bei diesem Anblick ganz geschmeidig, und ein abgerissener Hausierer, der Topfschwämme verkaufen wollte und bei den Nachbarn zu pöbeln begann, da man ihm keinen abkaufen wollte, machte auf dem Hacken kehrt und suchte das Weite.
„Nein! Rainer ist gefährlich! Immerhin ist er in Svenjas Wohnung eingebrochen!“
„Ist er das? Oder hatte er noch einen Schlüssel?“
„Bestimmt nicht, Mark! Sie hat ja das Schloss ausgewechselt. Weißt du nicht mehr?“
„Doch, aber stell dir mal vor, er hat sich auf dem Einwohnermeldeamt nicht umgemeldet und in seinem Ausweis steht noch Svenjas Adresse. Damit kann man den Schlüsseldienst kommen lassen und vortäuschen, dass man dort tatsächlich wohnt. Der lässt einen dann rein. Und Svenjas Schloss ist keinen Pfifferling wert, das habe ich schon beim ersten Hinsehen festgestellt. Dürfte einen geschickten Handwerker kaum eine Minute kosten, das zu knacken.“
Ich dachte darüber eine Weile nach. Das mochte sein.
Mark musterte mich derweil unsicher. Unsicher deswegen, ging mir auf, weil ich ihn schon wieder einmal Mark genannt hatte, und nicht mehr Schatz. Seit jener Nacht nannte ich ihn immer Mark. Es war mir bisher noch gar nicht aufgefallen.
Ihm aber wohl schon. Er musterte mich jetzt immer so komisch, wenn ich ihn Mark nannte. In seinen Augen lag eine Art Trauer. Aber darüber konnten wir jetzt nicht reden. Wieder einmal war keine Zeit da, und um ehrlich zu sein, hatte ich noch viel mehr Angst als er vor diesem Gespräch. Was, wenn er mir in seiner ehrlichen Art geradeheraus sagte, dass er mich nicht mehr attraktiv fand und auch seine Gefühle für mich erkaltet waren? Nun, dass ich ihn nicht mehr antörnte, wusste ich ja. Ich schluckte und wandte mich ab.
„Nein, fahre bitte nicht zu ihm rüber. Der bringt es noch fertig und ruft die Polizei. Und dann sitzt du im Knast und er denkt sich eine neue Schweinerei aus. Die Polizei kann doch wieder nichts gegen den tun!“
„Wenn er einen Schlüsseldienst gerufen hat, schon. Dann ist es Einbruch und ... ja ... na ja ... Körperverletzung oder so. Zumindest versuchte Körperverletzung.“
Mir wurde wieder übel, wenn ich an diese versuchte Körperverletzung dachte.
„Ich frage Svenja mal.“ Ich legte die Hand auf die Klinke. Mark hob die Hand.
„Moment. Im Grunde kann Svenja ihn nicht anzeigen.“
„Was? Wieso nicht? Du hast doch gerade gesagt ...“
„Ja, aber denk mal nach: Wenn sie ihn jetzt anzeigt und heute Nacht umzieht, steht auf der Anzeige mit Sicherheit die neue Adresse. Oder aber sie wird vor Gericht angegeben, wenn es zur Verhandlung kommt. Soll sie dann wieder umziehen? Außerdem kann man ihm ja nichts nachweisen! Es sei denn, er hätte wirklich und persönlich in das Glas ge ... gekotet. Aber so viel Dummheit traue ich ihm nicht zu. Das ist bestimmt Hundekot. Liegt im Park ja zuhauf herum.“
„Doof wie der ist, hätte der ohnehin beim Scheißen das Glas nicht getroffen“, knurrte ich und ging. Mark stand im Zimmer und sah mir verwirrt hinterher. Es war nicht der letzte Satz, der ihn so betroffen machte, sondern die Art, wie ich ihn gesagt hatte. Ich klang schroff und ich redete schon seit Tagen nur noch sachlich mit ihm. Ich wollte es gar nicht, aber irgendetwas in mir nahm Abstand von ihm. Es erschreckte mich selbst noch mehr als ihn.
Beim Abendessen waren meine Männer tatsächlich allein. Ab und zu blitzte eine kleine Hungerattacke auf, aber der Gedanke an Svenjas Überraschung im Glas machte jeden Appetit sofort zunichte.
Wir saßen im Wohnzimmer und redeten leise miteinander. Svenja hatte ihr Cognacglas schon zum dritten Mal geleert und sprach etwas undeutlich.
„Ich halte das hier nicht mehr aus, weißt du? Ich muss mal raus hier! Irgendwohin wo kein Rainer ist, wo er mich auch nicht finden kann.“
„Fahr doch mal nett in Urlaub, Svenja. Rainer kann es sich nicht leisten, dir da hinterher zu kommen.“
„Und wohin?“
„Überall hin. Wo du Lust drauf hast.“
„Diana steht ja so auf Dänemark.“
„Wer? Ach, ist das die, die du aus dem Internet kennst?“
„Ja.“
„Na, hoffentlich ist die echt und nicht Rainer, der dich nur aushorcht.“
„Die ist echt! Ich habe schon oft mit ihr telefoniert!“
„Hey, flippe doch nicht gleich aus! Ich mache mir eben Sorgen um dich.“ Ich nahm ihr den Lappen von der Stirn. Es half sowieso nichts. Svenja musste wirklich mal weg von hier, ein paar Wochen raus aus dem Stress, dann hatte sie auch keine Kopfschmerzen mehr.
„Ja. Lass uns einfach nach Dänemark fahren, Marly.“ Svenjas Kopf war zur Seite gerollt, die Augen klappten langsam zu. Trinkfest war sie nicht.
„Wie, lass uns fahren?“
„Na, du. Ich. Und wenn sie will, Diana.“
Ich lachte unsicher. „Ich kann doch nicht einfach hier weg!“
„Wieso denn nicht?“ Sie hickste. Die Erschütterung machte sie wieder halbwegs munter, und sie schlug die Augen auf.
„Ich habe einen Mann und einen Sohn“, gab ich zu bedenken.
„Und? Marcel ist ein großer Junge, der kann auch zwei Wochen mittags eine Pizza in den Ofen schieben. Und Mark kann doch super kochen. Dein Junge wird nicht verhungern und nicht verwahrlosen. Mark kann auch Wäsche waschen. Das reicht doch völlig! Frische Wäsche und was zum Essen, mehr braucht Marcel doch nicht!“
Ich wollte schlicht und ergreifend ablehnen. Svenja hatte keine Kinder und konnte so etwas leichthin sagen, aber mein Sohn brauchte mich! Andererseits würde er nach einem solchen Mami-Entzug vielleicht zugänglicher sein und mich mehr zu schätzen wissen. Und Mark schien es ja egal zu sein, ob ich da war oder nicht. So, wie es zwischen uns gerade lief, wäre etwas Abstand vielleicht gut. Ich wusste ohnehin nicht, wie ich ihm noch in die Augen sehen sollte. Vielleicht war in zwei Wochen alles vergessen. Ich hoffte jedenfalls, dass er in zwei Wochen ohne mich den peinlichen Augenblick vergaß, als ich in diesem nuttigen Outfit nach ihm griff.
Svenja deutete mein Zögern falsch. „Ich zahle auch das Haus. Alleine würde ich nicht fahren, du würdest mir also einen Gefallen tun, wenn du mitkämst.“
„Und diese Diana?“
„Die müsste dringend weg! Fast noch dringender als ich.“ Svenja wälzte sich mühsam von der Couch, fiel herunter und landete zwischen Couch und Tisch. Sie fing albern an zu kichern und versuchte vergeblich, sich aus dem engen Spalt zu erheben. Ich rief nach Mark. Der machte große Augen und half mir, Svenja wieder hoch zu zerren.
„Du bist ein lieber Kerl, Mark“, lallte sie ihn an. Mark ließ sie belustigt wieder auf die Couch gleiten.
„Ich glaube, ich koche mal lieber einen Kaffee“, brummte er.
„Ja, supi! Kaffee! Mark, du hast doch nichts dagegen, dass ich deine Frau mitnehme?“
„Nö, nimm sie ruhig mit.“ Mark lachte kurz und ging zur Tür. Mir saß ein kalter Stein in der Brust. Er meinte wohl, das war witzig, aber im Moment war mir nicht zum Lachen zumute. Ich war tatsächlich überflüssig und ihm schien es einerlei, ob ich da war oder nicht. Da traf ich endgültig meine Entscheidung.
„Sie meint nach Dänemark, Mark.“ (Dänemark-Mark?) „Und ich fahre mit.“
Mark blieb stocksteif stehen, drehte sich um, und sah mich mit großen Augen verblüfft an.
„Nach Dänemark? Wieso? Und wie lange?“
„Ja, nach Dänemark. Urlaub. Zwei Wochen.“ Ich hielt seinem Blick eisern stand. Du brauchst und willst mich doch sowieso nicht, dachte ich.
„Äh ... na ja ...“ Er kratzte sich den Kopf.
„Nix na ja. Sie kommt mit. Hat sich den Urlaub sauer verdient.“ Svenja ließ nicht locker.
Mark sah Svenja an, dann mich. Er merkte, dass es mir ernst war. „Na gut, wenn du meinst ... dann muss Marcel eben einen Schlüssel mitnehmen und mittags Brot essen oder so. Abends koche ich dann für uns. Wann soll’s denn losgehen?“
„Ist Vorsaison. Diana sagt, da stehen viele tolle Häuser leer und sind günstig. Wir buchen gleich jetzt was und fahren am Wochenende los.“ Svenja war schwer zu verstehen, aber Mark verstand sie gut genug. Er riss die Augen noch weiter auf.
„Dieses Wochenende schon?“
„Ja. Gleich sofort weg hier. Alles Scheiße hier. Sogar im Glas geliefert, die Scheiße.“
Wieder sah Mark mich an. „Darüber solltet ihr vielleicht noch mal reden, wenn Svenja wieder nüchtern ist. Ich mache den Kaffee.“
„Nüchtern oder nicht, wir fahren.“ Ich erhob mich und holte unter den Protesten, dass er sich doch „noch ausloggen müsste, menno“ den Laptop meines Sohnes und googelte nach Anbietern von Ferienhäusern. Plötzlich wollte ich noch dringender hier weg als Svenja. Außerdem wollte ich lieber schnell Nägel mit Köpfen machen. Was, wenn sie wieder nüchtern wurde und das Ganze als Bierlaune abtat?
„Welche Region?“
„Nicht so weit weg von der Grenze. Aber weit genug für Rainer.“
„Wie wäre es mit Tristø? Ohne Fähre kommt man da nicht drauf. Und die kostet genug, um Rainer erst einmal den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ach ja ... bist du sicher, dass Diana mitkommen kann? So kurzfristig?“
„Bestimmt. Die ist so schlecht drauf grade, das kannst du dir nicht vorstellen. Buch was, was du willst.“
Mark kam mit zwei Tassen Kaffee herein. Er stellte eine vor Svenja ab und reichte mir die andere. Dann ging er wieder. Er wirkte noch immer recht fassungslos.
„Also, hier ist was frei, das scheint ein wenig abseits zu sein.“
„Abseits ist gut.“
„Abgeschlossene Terrasse. Umsäumt von Bäumen und Büschen.“
„Gut! Dann können wir nackt sonnenbaden!“
Mich schauderte es bei dem Gedanken, mit meiner versauten Figur nackt irgendwo herumzuliegen. Wahrscheinlich würde die Sonne den Anblick auch nicht verkraften und sich nie mehr blicken lassen.
„Drei Schlafzimmer, ein großer Fernseher, Kabelanschluss. Hell und freundlich eingerichtet. Durchweg positive Kritiken. Whirlpool.“
„Toll!“
Ja, dachte ich bei mir, toll. Für Pärchen ist ein Whirlpool eine wunderbare Sache, jedenfalls, wenn sie miteinander noch etwas anfangen können. Und nicht zusammenleben wie Bruder und Schwester.
Der eisige Klumpen in meiner Brust begann jetzt auch noch zu schmerzen.
„Buch das!“
„Na gut, es ist auch frei.“ ‚Und bezahlbar’, fügte ich im Stillen hinzu, denn wenn ich schon einen Urlaub für lau ergatterte, in den Ruin wollte ich Svenja nun doch nicht treiben. Sie musste ja noch die restlichen Schulden von Rainer abbezahlen. Und die neue Wohnung kam sie auch nicht billig.
Ich füllte online das Formular aus und wollte zunächst sicherheitshalber mich als Mieterin angeben, aber andererseits: Wie sollte Rainer das schon herausfinden?
„Marly, kommst du mal?“ Mark winkte mich zu sich heran. Mir sank das Herz. Bestimmt hatte er jetzt doch Einwände, aber fahren würde ich. Auch wenn Mark böse wurde.
Seine Augen sahen wieder traurig und irgendwie gehetzt aus.
„Das ist doch teuer, oder nicht?“, fragte er. Jetzt sank mir das Herz noch mehr. Er wollte gar nicht, dass ich hier blieb.
„Svenja zahlt das Haus. Und auch die Fähre.“
„Fähre? Wo soll’s denn hingehen?“
„Tristø. In ein Haus, das ulkigerweise Fanø heißt, wie diese Schwesterinsel, die-„
„Ja, schon gut. Aber du musst ja auch was essen. Und dir was gönnen auch. Dänemark ist nicht billig, schon gar nicht das Leben auf einer Insel. Du musst dann morgen sofort zur Bank und Kronen bestellen. Hoffentlich kommen die noch rechtzeitig an.“
„Da kann man auch in Euro bezahlen.“
„Stimmt, daran hatte ich nicht gedacht. Dann nimm das Geld vom Sparbuch.“
Ich sah ihn mit schlechtem Gewissen an. Ich sollte mir was gönnen? Mark arbeitete hart und viel.
Wir schwammen nicht im Geld, ich hatte momentan keinen Job, und die paar Kröten, die wir auf dem Sparbuch hatten, sollte ich jetzt verprassen?
Er sah es und lächelte. „Ich habe meine Hobbys, die sind auch nicht billig. Karate, das Benzin für das Motorrad, letztes Jahr brauchte ich neue Schutzkleidung, und so weiter. Und du? Du kaufst dir nur ab und zu einen Liebesroman, Mängelexemplare aus dem Supermarkt. Hau mal auf den Putz.“
Er gab mir scheu einen Kuss auf die Stirn. Ich schmolz dahin, gleichzeitig wurde der Klumpen in meiner Brust noch schwerer. Auf die Stirn? Ein väterlicher Kuss auf die Stirn? Ich begann zu überlegen, wann er mich das letzte Mal so richtig auf den Mund geküsst hatte, wie ein Liebhaber. Ich schluckte, als mir klar wurde, dass ich es nicht wusste.
Wahrscheinlich wollte er sich mit dem Geld freikaufen, sein Gewissen erleichtern. Während Svenja auf der Couch ihren leichten Rausch ausschlief, und Mark im Schlafzimmer ganze Wälder absägte, saß ich in Marks Lieblingssessel und starrte vor mich hin. Ich musste Svenja ja rechtzeitig wecken und mit ihr zu ihrer alten Wohnung fahren. Ihren Onkel hatte ich angerufen. Der kam jetzt eine halbe Stunde früher, damit wir nicht alleine auf ihn warten mussten. Er brachte noch zwei starke Männer extra mit. Gegen fünf Kraftprotze konnte sogar Rainer nichts ausrichten.
Warum nur musste unsere schöne Beziehung so den Bach heruntergehen? Ich verstand es einfach nicht. Ich war nicht Marks erste Beziehung und er nicht mein erster Mann. Beide kannten wir den Alltagstrott, die Langeweile und das Auseinanderleben. Wieso musste es sich bei uns wiederholen? Gleich am Anfang hatte ich zu Mark gesagt: Wir müssen uns immer um einander bemühen. Man darf seinen Partner nicht für selbstverständlich hinnehmen. Der Alltagstrott ist auf Dauer tödlich. Und er hatte mir zugestimmt. Aber nach dem ersten wunderbaren Jahr entdeckte ich doch ein leichtes Bröckeln in der perfekten Fassade. Zuerst rasierte sich Mark täglich für mich. Dann nicht mehr jeden Tag. Dann wochentags fast gar nicht mehr und nur noch am Wochenende. Jetzt eigentlich nur noch, wenn wir irgendwohin wollten. Aber wenn wir uns nicht mehr küssten, brauchte er sich ja auch nicht mehr rasieren. Irgendwie logisch.
Das mit dem Rasieren war natürlich nur ein Beispiel. Da waren viele Kleinigkeiten, die sich immer mehr summierten. Eigentlich wollten wir einmal im Monat einen Tag nur für uns reservieren. Egal, hatten wir geschworen, wie viel Stress wir auch hatten. Ein Tag und ein Abend gehörten nur uns allein. Aber aus den romantischen Restaurantbesuchen wurden dann Abende mit Freunden oder in der Kneipe mit Justus, und weil Justus gerade eine schwere Zeit durchmachte und sich scheiden ließ, blieb ich irgendwann fern, damit die beiden offen reden konnten. Es war ohnehin nicht sonderlich romantisch, in einer lauten Kneipe zu sitzen und Bier zu trinken. Das war dann aus unserem „egal wie stressig“ Romantiktag geworden. Und Mark kam nie mehr darauf zurück, dass das ja eigentlich anders geplant gewesen sei.
Aber ich versuchte es, immer und immer wieder. Mir lag an Mark, und ich liebte ihn wirklich von ganzem Herzen. Ich wollte dem Alltagstrott nicht die Oberhand überlassen, und kämpfte hartnäckig und vielleicht auch verbissen um unsere Verliebtheit. In der Verliebtheitsphase riss Mark sich schier ein Bein aus. Wir unternahmen viel zusammen, fuhren mit dem Motorrad in ländliche Gegenden und picknickten dort. Und meistens hatte Mark eine Gegend ausgesucht, die menschenleer war. Nach dem Picknick lagen wir knutschend auf der Decke wie zwei Teenager. Und dann wurde aus dem Picknick ein Schäferstündchen. Oder wie Svenja einmal sagte, als ich von so einem Ausflug mit roten Bäckchen zurückkam: „Oh, ein Picknick? Und danach habt ihr das ‚P’ und das ‚N’ durch ein ‚F’ ersetzt?“
Ja, so war es gewesen. Mark bekam nicht genug von mir und schmuste auch gern. Wenn wir mal einen Abend vor dem Fernseher hockten, dann aber eng umschlungen, küssend und streichelnd. Aber jetzt saß Mark immer in diesem verdammten Sessel hier, weit weg von mir. Ich hatte die Couch für mich allein. Marcel lag sowieso immer auf dem Boden unter dem Tisch, so wie der Hund meiner Großeltern früher. Es wäre also Platz genug für Mark auf der Couch gewesen neben mir, aber ...
War das normal? Dass man sich ansah, ohne den Menschen zu sehen, in den man sich verliebt hatte? Dass man sich nicht mehr freute, sich abends wiederzusehen? Nicht mehr nebeneinander einschlief? Nur noch über die Arbeit oder die Nachrichten, vielleicht noch Marcels Noten und seine Unsportlichkeit sprach? Es stimmte wohl, dass Männer Abwechslung brauchten. Anscheinend hatte sich Mark an mir sattgesehen, sattgehört, satt gefühlt und satt geliebt.
Tränen stiegen mir in die Augen, und mir war so elend zumute wie noch nie. Gleichzeitig wuchs in mir der Ärger. Er wusste doch selbst, wie so etwas war, hatte es am eigenen Leib erfahren, trotzdem ließ er einfach zu, dass es bei uns genauso ablief? Und ich, die ich immer mal wieder versuchte, den Trott zu durchbrechen, stieß auf Gleichgültigkeit. Mein Wille war langsam erlahmt, meine Negligé-Attacke war der letzte Versuch gewesen.
Vorher hatte ich ein ganzes Jahr nicht aufgemuckt, hatte artig und dumm abgewartet und gehofft, es würde sich wieder bessern. Hatte mich – zugegeben - etwas gehen lassen, aber der Frust musste irgendwie runtergespült werden. Auf Alkohol stand ich zwar nicht so, aber hier ein Pralinchen und da ein Becherchen mit Eis kamen mir da zupass, wenn ich abends auf der Couch lag. Meistens war ich wegen Marks umfangreicher Hobbys ohnehin allein. Trotzdem hatte ich immer alles versucht, um so gut wie möglich auszusehen. Jeden Nachmittag um fünf zog ich mich ins Bad zurück, zog mir etwas Hübsches an und malte mir ein Gesicht auf, wie Marcel das respektlos nannte. Denn gegen sechs kam Mark von der Arbeit.
Aber er sah mich ja kaum noch an.
Am liebsten wäre ich da ins Schlafzimmer gerannt und hätte Mark wachgerüttelt, und das im doppelten Sinn. Hätte ihm all das ins schlaftrunkene Gesicht schreien mögen. Aber ich konnte es nicht.
Mir war ziemlich übel, als ich auf Marlys Couch wieder zu mir kam. Was hatte ich mir dabei nur gedacht? Am Umzugstag Cognac zu trinken? Aber da fiel mir wieder ein, weshalb ich hier war und den Cognac gebraucht hatte. Ich unterdrückte mühsam ein saures Aufstoßen.
Marly saß zusammengekauert in dem großen Sessel und starrte auf den Boden. Sie hatte Tränen in den Augen, war blass und irgendwie leblos. Auch ihr Haar war ganz verwuschelt und ihre Bluse zerknittert. Dabei kannte ich Marly immer nur gut angezogen. Nur ihr Motorradoutfit ging überhaupt nicht. Darin sah sie immer doppelt so dick aus, wie sie war.
Trotz ihres Übergewichts war Marly eigentlich recht hübsch, nun ja, gut gepflegt. Ich war sogar eifersüchtig damals, weil ich dachte, Rainer wäre an ihr interessiert. Aber das war, bevor ich wusste, dass Rainer nur Geld interessierte.
Wie ich sie so ansah, stellte ich fest, dass Marly sich verändert hatte. Dabei hatten wir uns letzte Woche erst gesehen. Da war sie immer noch schick gewesen, fröhlich und glücklich. Erst jetzt sah ich, dass diese zerknitterte Bluse mindestens zwei Nummern zu groß war und ihr bis fast an die Knie reichte. Make-up trug sie auch keins und ihre Hose war auch ein so weit geschnittenes Ding, schlabbrig und schwarz. Marly trug nie schwarz, außer ihre Motorradhose. Sie liebte helle Farben. Was war denn da nur los?
Ich richtete mich mühsam auf und zuckte zusammen.
„Hey“, meinte Marly leise und sah mich an. Mich schauderte. Vorher, noch im Schock des Angriffs des Kotmonsters, wie Marly es treffend ausgedrückt hatte, war mir nichts aufgefallen. Aber jetzt sah ich, dass Marlys Augen bitter waren. So hatte ich sie noch nie gesehen. Irgendetwas war passiert, und es hatte aus meiner lebenslustigen, glücklichen Freundin eine traurige Frau gemacht, die viel älter aussah als vierzig.
„Hey“, gab ich krächzend zurück. Wir sahen uns nur an.
„Mein Hintern tut weh“, ächzte ich schließlich. Marly nickte.
„Kein Wunder. Du bist von der Couch gekullert und hast dir den Steiß geprellt. Weißt du nicht mehr?“
„Doch, natürlich“, log ich und rieb mir die Stelle. Einen schönen blauen Fleck würde das geben. Wieder schwiegen wir.
„Wollen wir langsam los?“, fragte Marly schließlich.
„Jetzt schon?“
„Es ist schon eins. Und dein Onkel kommt etwas früher zu deiner Wohnung. Mit Verstärkung.“
„Na, dann lass uns fahren.“
Marly stand auf, und jetzt konnte ich erst so richtig sehen, wie Bluse und Hose an ihr schlotterten. Es sah fürchterlich aus. Aber nicht so schlimm wie ihr verstörtes Gesicht.
Sie sah noch kurz bei Marcel rein, schnappte sich ihre Handtasche und wir schlichen uns aus der Wohnung. Ich beneidete sie damals heftig. Mark hatte Wunderbares geleistet und seiner Familie ein schönes Nest gebaut, gemütlich eingerichtet, und Marly hatte alles liebevoll dekoriert. Die beiden waren schon ewig zusammen und würden es auch bleiben. Immer hatte ich mir so eine harmonische Beziehung gewünscht. Ich wusste ja damals nicht, dass es zwischen den beiden nicht mehr stimmte. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt, hatte schon meine Oma immer gesagt.
Wir fuhren zu meiner Wohnung. Mein Onkel erwartete uns schon mit vier Muskelprotzen, die Rainer mit dem kleinen Finger in seine Bestandteile zerlegen hätten können. Der ließ sich aber nicht blicken. Die Vier schleppten nur zwanzig Minuten, dann war alles erledigt.
„Morgen Nachmittag kommen wir zu deiner neuen Wohnung und bringen die Möbel aus der Lagerhalle mit.“ Der liebe Onkel brüllte es quer durch den nächtlich stillen Hausflur. Ich nickte nur lächelnd, um die senkrecht im Bett stehenden Nachbarn nicht noch mehr zu erschrecken, und stieg mit in den Lkw. Zwei der Muskelprotze fuhren im Privatwagen nach Hause. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Auch Marly, die ziemlich müde aussah, kam noch mit. Sie half mir, das Bett zu beziehen und meine Koffer in die Räume zu stellen. Meine neue Wohnung war ein Schmuckstück mit vier Zimmern und einer großen Einbauküche. Kisten und Möbel standen wild durcheinander gewürfelt herum, einzig das Bett stand an seinem Platz, damit ich noch ein paar Stunden schlafen konnte.
„Willst du nicht hier bleiben? Du kannst ja auf der Couch schlafen“, schlug ich vor. Aber Marly schüttelte den Kopf und knöpfte den Kissenbezug zu.
„Nein, ich muss doch da sein, wenn Marcel aufsteht.“
„Wieso? Der ist doch kein Baby mehr!“
„Ich mache ihm aber immer Frühstück.“
„Der kann doch Cornflakes essen? Wie soll das erst werden, wenn wir wegfahren?“ Dass ich von der Couch gefallen war, wusste ich nicht mehr, aber an Tristø konnte ich mich noch erinnern.
„Er weiß aber nicht, dass ich nicht da bin. Bevor ich wegfahre, rede ich ja noch mit ihm.“
Ich zuckte mit den Schultern und behielt meine Meinung für mich. Marly rieb sich zu sehr auf, räumte hinter Marcel und Mark her, kochte, wusch und bemutterte alle beide. Vor allem las sie Mark jeden Wunsch von den Augen ab. Das, fand ich, konnte nicht ewig gut gehen.
Ich konnte damals ja nicht wissen, dass es schon lange nicht mehr gut ging. Aber Marly hatte es ja auch gerade erst bemerkt. Dass ihr Märchen vom Leben mit dem Traumprinzen schon lange aus war.
Es war einmal ein Schauspiellehrer, der die Frauen liebte. Er liebte sie so sehr, dass er sich nicht auf eine festlegen konnte und daher beschloss, sie alle haben zu wollen.
Da das schöne Geschlecht aber nicht willig war, sich harmonisch in seinen Harem einzufügen, musste er sie notgedrungen belügen. So machte er jeder Frau weis, sie sei die Einzige, die sein Herz erobert habe, und bewies es mit blumigen Gedichten und schwärmerischen Geschichten und vielen, vielen E-Mails und Anrufen.
Wenn die Frau nun betört war, und seiner stürmischen Werbung und seinen Versicherungen, dass sie beide ein wundervolles gemeinsames Leben haben würden, nicht mehr standhalten konnte, fuhr er viele Kilometer zu ihr, beschenkte sie mit Blumen und überschüttete sie mit Komplimenten. Dann vögelte er ihr das zu Mus gewordene Hirn heraus, und ließ sich nie mehr blicken.
Die verstörte Frau stellte dann meistens Nachforschungen an und bekam heraus, dass dieser Schauspiellehrer eine feste Freundin hatte, die bei ihm lebte. Er konnte sich anscheinend doch auf eine Frau festlegen, musste aber noch andere flachlegen, damit keine Langeweile aufkam im gemeinschaftlichen Bett. Feste Freundin und kurzfristige Gespielin wussten nichts voneinander und mussten voneinander ferngehalten werden. So hielt sich der Endfünfziger fit, und sein Leben gewann an Spannung.
Dass er dabei reihenweise Herzen brach, kümmerte ihn nicht weiter. Nur wenn eine der Frauen von ihm nichts wissen wollte, verletzte das den Schauspiellehrer tief und er beschwerte sich darüber, sogar anonym in den Gästebüchern dieser schrecklichen Weiber, die ihn nicht hatten haben wollen und nicht wussten, wie knapp sie diesem Schürzenjäger durch die gierigen, Titten grapschenden Finger geschlüpft und somit der Lächerlichkeit entgangen waren.
Leider gehörte ich nicht in diese glückliche Kategorie. Ich war Mick auf den Leim gegangen.
Meine Nachfolgerin hatte ihm nach ihrer gemeinsamen Nacht einen schwärmerischen Kommentar auf seinem Viareddel Profil hinterlassen. Für mich war das Auffinden dieses Eintrags ein Befreiungsschlag ins Gesicht.
Auch das sollte ich erst später erfahren.
Als Svenja mich anrief und nach Dänemark einlud, saß ich wieder einmal brütend vor meinem Laptop und starrte auf das Viareddel Profil von Mick. Dort hatte er mich auch gefunden. Einen meiner Blogeinträge, eine Kurzgeschichte über eine schwierige Mutter-Tochterbeziehung, fand er angeblich gut, und wollte ein Bühnenstück daraus machen. Da ich damals dringend Geld brauchte und er mir versicherte, dass wir beide viel davon verdienen konnten, wenn wir das Stück gemeinsam schrieben, ließ ich mich auf die Sache ein. Es konnte ja nichts schaden, ein Stück zu schreiben, fand ich. Wenn es keiner haben wollte, dann hatte ich zumindest eine interessante Erfahrung gemacht.
Eine Erfahrung machte ich dann auch, aber ich würde sie nicht als interessant bezeichnen.
Zuerst beschränkte sich Mick auf rein auf das geplante Stück bezogene E-Mails. Aber er rief mich an, als ich ihm meine Handynummer gegeben hatte („die bräuchte ich schon, telefonieren geht doch schneller, wenn man mal eine Frage hat. Du musst dir auch keine Sorgen machen, dass ich deine Nummer weitergebe. Schau, ich gebe dir meine zuerst“), und seine Stimme traf mich wie ein Blitz. Es ließ sich nur schwer beschreiben, aber es fühlte sich an, als würde ich ihn schon ewig kennen.
Er troff vor Charme, der Mick. Lange telefonierten wir, und es gab keine Gesprächspausen. Ich saß da mit roten Bäckchen auf dem kalten Fußboden, weil mein Akku fast leer und das Ladekabel nicht lang genug war, und strahlte über das ganze Gesicht. Schon bald hatte er meine Festnetznummer und rief mich täglich an. Manchmal auch dreimal am Tag.
Bat mich auch darum, ihn anzurufen, wenn ich unterwegs gewesen war und wieder nach Hause kam („es gibt jetzt jemanden, der um dich bangt“) und schickte mir per Post CDs mit seiner Lieblingsmusik. Einmal rief er mich an, und als ich abhob, erklang Klaviermusik aus dem Hörer. „Into my Arms“ von Nick Cave. So romantische kleine Gesten legten schließlich meine Antennen lahm, die in puncto Internetliebschaften sehr geschärft waren. Zwar hatte ich noch keine gehabt, aber viel Schlimmes darüber gehört.
Ich legte also mein Misstrauen ab, und mein Hirn gleich mit dazu. Es gab schon Anhaltspunkte, dass die Beziehung mit seiner Freundin, die angeblich kurz vor dem Aus stand, nicht ganz so aus war. Aber ich sah diese Anhaltspunkte nicht mehr, fand Erklärungen und Entschuldigungen, die Marly und Svenja später die Haare zu Berge stehen lassen sollten. Zum Beispiel rief er mich nie abends an, der Mick. Angeblich arbeitete seine Freundin nicht, aber vormittags ging nur er ans Telefon. Man hörte auch nichts im Hintergrund, wenn wir telefonierten.
Nachdem alles vorbei war, war ich mir ganz sicher, dass die gute Frau tagsüber arbeiten ging, und einen nicht unwesentlichen Teil der Brötchen verdiente, während ihr Partner den Tag – carpe diem! – dazu nutzte, andere Frauen anzubaggern, lange E-Mails zu schreiben, mit den CDs für die jeweilige „Liebste“ zum Postamt zu fahren, und ins Telefon zu säuseln.
Als ich schließlich völlig davon überzeugt war, dass Mick in mich verliebt war und eine feste Beziehung mit mir wollte, kam er mich besuchen.
Er wollte mich angeblich auch bei der Produktion eines von ihm geschriebenen Stücks dabei haben. Drei Wochen noch, so schrieb er, dann fahren wir zusammen nach Leipzig. Aber vorher wollte er mich endlich besuchen. Und um uns darauf einzustimmen, wurden die liebevollen Mails intimer. Nahezu schweinisch, wenn man darüber nachdachte. Aber wir schrieben uns schon so lange, telefonierten täglich, ich misstraute ihm nicht mehr. So viel Mühe für einen One-Night-Stand? Ich konnte mir das kaum vorstellen.
Über vierhundert E-Mails hatten wir schon ausgetauscht. Und er hatte mir wunderschöne Liebesgedichte geschrieben. Das schönste Gedicht, das ich zu meiner Schande ausgedruckt, eingerahmt und beinahe an meine Wand gehängt hatte, ging so:
So weit entfernt, die Liebste
will sie bald sehn.
Zum Chiropraktiker muss ich schon gehn’
Denn den Kopf hat sie mir verdreht.
Küssen werd ich sie, bis sie mir ihre Liebe gesteht.
Jeden Tag las ich mir diesen Müll durch und freute mich. Zum Glück öffneten mir Marly und Svenja im Urlaub die Augen, aber bis dahin litt ich weiter.
Zuvor kam Mick endlich zu mir. Mit einem riesigen Strauß roter Rosen. Da nahm ich ihm schon eines übel, aber ich hörte nicht auf die kleine Stimme in meinem Hinterkopf, denn das war die Stimme der Vernunft, und sie sollte lange Zeit kein Gehör finden. Was ich ihm übel nahm? Er hatte mir alte Fotos von sich geschickt. Es warf mich daher etwas um, als ein – verglichen mit den Bildern, denn für sein Alter sah er noch recht gut aus – verhutzeltes altes Männlein zur Tür hereinkam und mich in die Arme nahm.
Da war dann wieder diese Stimme im Hinterkopf. Sie sagte sehr klar und deutlich: Das wird nichts.
Warum und wieso es nichts werden würde, darüber schwieg sie sich aus. Aber ich spürte damals etwas ... etwas, das mich ihn auf einer tieferen Ebene ablehnen ließ. Nachdem alles vorbei und ich frei war, hatte ich mir geschworen, nur noch auf mein Bauchgefühl zu hören. Und das hat sich seitdem immer bewährt.
Ja, Mick kam zu mir, aber es sollten noch sechs Monate vergehen, bis auch ich wieder zu mir kam. Trotzdem etwas in mir auf Abstand ging und ihn ablehnte, zog ich die Sache durch. Er meinte es doch ernst, er hatte es doch bewiesen! Hätte er nur Sex gewollt, nun, den konnte man im Web auch so finden, auf einschlägigen Seiten.
Also schlief ich mit ihm. Es war zwar ganz gut, aber trotzdem wusste ich, dass es anders hätte sein sollen. Ich spürte, dass er es eigentlich nicht wollte, dass ich die Arme um ihn legte. Natürlich sagte er nichts, aber das in den Armen eines anderen Liegen akzeptierten manche Männer nur von den Frauen, die sie liebten. Ich spürte, dass ich nicht das Recht hatte, ihm derart nahe zu kommen.
Er schlief schnell ein, als er fertig war, er war es ja auch gewöhnt, in fremden Betten neben im Grunde fremden Frauen zu schlafen, aber ich lag die ganze Nacht wach und hörte mir sein Geschnarche an.
Ich fühlte mich nicht wohl neben ihm. Nicht so, als würde ich neben dem Mann liegen, der mich liebte und der mit mir zusammen sein wollte. Am nächsten Morgen quälten mich Kopfschmerzen und Zweifel. Mick erwachte jedoch erstaunt darüber, dass er durchgeschlafen hatte. Wie das denn käme.
Weil er mir meine ganze Energie ausgesaugt hatte, deshalb. Jetzt wusste ich das. Damals servierte ich ihm müde das Frühstück. Er hatte gute Laune, blieb noch etwas bei mir und fuhr gegen Mittag. Er umarmte und küsste mich zwar, aber ich hatte es schon bemerkt, als er aufgewacht war: Er wirkte irgendwie distanziert.
Er rief mich aber an, und das beruhigte mich. Und auch am nächsten Tag. Es dauerte mehrere Tage, bevor er sich nur noch einmal täglich meldete, und das auch nur per E-Mail. Das Stück kam in die Endphase, seine Freizeit wurde knapp, schrieb er, er war schon beinahe auf dem Weg nach Leipzig. Zwar ein paar Wochen früher als gedacht, aber besser so als anders herum, nicht wahr?
Ich fragte ihn, ob ich mit dem Zug nachkommen sollte. Ich hatte ja unbedingt dabei sein sollen. Er zögerte. Das war noch während einem unserer Telefonate. Und das war eins seiner Handicaps: Er konnte sauschlecht lügen, der Mick. Man hörte es sofort an der Stimme. Kein Wunder, dass er lieber lange E-Mails schrieb. Da konnte man seine Lügerei noch überdenken und sie nachbessern, wenn sie scheiße und durchschaubar war.
„Das ist doch so teuer“, meinte er zaghaft. Ich hätte damals auch eine meiner Nieren verkauft, um bei ihm sein zu können, so geistig weggetreten war ich. Ach, ich hätte wahrscheinlich sogar meine Leber verkauft. Nur mein Herz nicht, das hatte ich verschenkt.
Er druckste noch etwas herum und musste dann schnell packen und „noch etwas arbeiten. Aber ich melde mich.“ Das stand auch in seiner letzten E-Mail: „Ich melde mich!“ Darauf wartete ich auch noch, als mich Marly und Svenja Monate später mit nach Dänemark nahmen.
Mein Verstand funktionierte inzwischen wieder. Nur das Herz nicht, das hing noch an einem gewissenlosen Schürzenjäger, der sich einen Scheißdreck darum scherte, wie es mir mit seiner miesen Masche ging. Und es ging mir miserabel. Nicht einmal Klaus-Elvis, mein Jack-Russell-Terrier, konnte mich noch aufheitern, und das wollte schon etwas heißen. Mein Verstand wusste genau, was passiert war. Aber ich weigerte mich, es zu glauben. Und begann mich an die Dinge zu klammern, die er mir geschrieben und versichert hatte. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass er all diese Mühe in einen einfachen One-Night-Stand investiert hatte. Aber für jemanden, der Modellautos baute, war auch nicht unbedingt das fertige Auto das, was ihm am meisten Spaß machte, sondern die lange Bastelei zuvor.
Wie perfide diese Masche doch war, wie perfekt vorbereitet und knallhart durchgezogen! Man musste ihn ja beinahe dafür bewundern. Aber meine Bewunderung hielt sich in Grenzen.
Als ich so brütend vor meinem Laptop saß und Svenja mich anrief, quälte mich nicht nur das gebrochene Herz. Ich quälte mich auch täglich damit, auf sein Viareddel Profil zu sehen und zu überprüfen, ob er eingeloggt gewesen war und neue Freunde auf der Liste hatte. Und ob ich auf seiner Topliste noch die Nummer eins war.
Svenjas Anruf war wie eine Befreiung. Nach Dänemark? Endlich für ein paar Wochen hier raus? Aus den vier Wänden, die mich erdrückten? Nur zu gern!
„Dieses Wochenende schon?“, rief ich entgeistert in den Hörer.
„Ja, es ist knapp, aber ...“
„Nein, das macht mir nichts! Umso besser!“
„Das habe ich mir auch gedacht. Weißt du, was Rainer ... bei genauerer Betrachtung lass uns das Thema lieber ein anderes Mal ... kommt jetzt nicht gut.“
„Wenigstens findet der dich in Dänemark nicht. Und wenn, wir haben ja einen Beschützer.“
„Was für einen Beschützer? Sag bloß, Mick hat sich gemeldet? Will der mit oder was? Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt.“
„Nein. Hat sich nicht gemeldet. Ich habe doch Klaus-Elvis, der vergrault jeden Einbrecher!“
Es herrschte ein Augenblick lang Stille.
„Ach, deinen Köter habe ich ja ganz vergessen! Verdammt. Kannst du den nicht bei deiner Mutter lassen?“
„Nee, auf keinen Fall! Ach so ... geht das nicht? Darf man in das Haus keinen Hund mitbringen?“
„Weiß nicht ... darauf haben wir nicht so geachtet.“
„Dann guck dich bitte noch mal nach, okay? Ohne meinen Hund gehe ich nirgendwo hin.“
„Hm.“
„Ich weiß ja, dass du kein Hundenarr bist, aber Dänemark ist ein hundefreundliches Land. Ich gehe viel mit ihm spazieren. Du wirst kaum merken, dass er da ist.“
„Ich sehe noch mal nach, okay. Wenn’s sein muss ... dann muss es eben sein.“
„Wann fahren wir denn?“
„Freitagnacht. Damit wir gleich morgens ins Haus können.“
„Na gut. Dann ist es abgemacht.“
„Super!“
Wir legten auf, und ich freute mich. Zwei Wochen ohne die Sorgen wegen Mick. Zwei Wochen, in denen es mir egal sein konnte, ob ich noch auf Platz eins in seiner Liste war. Zwei Wochen ohne die nagenden Zweifel und ohne dieses Bohren in der Magengegend, wenn ich daran dachte, dass er ständig neue Frauen auf seiner Freundesliste hatte. Gut, ich stand auf Platz eins, das musste doch etwas bedeuten, oder? Zwar waren ein paar der neuen Frauen etwas höher gerückt, aber noch war ich seine Nummer eins. Mick nahm es mit dieser Topliste sehr genau. Wer da auf Platz eins stand, der bedeutet ihm auch etwas. Aber warum meldete er sich dann nicht? Nicht einmal in einer kurzen Nachricht? War er denn so dermaßen gestresst?
Sein Verhalten verwirrte mich. Einerseits machte er nicht Schluss und warf mich auch nicht aus seiner geliebten Topliste, andererseits wollte er mich offensichtlich nicht mehr. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.