Читать книгу Für Jetzt und Für Immer - Sophie Love, Софи Лав - Страница 7
KAPITEL DREI
ОглавлениеEmily musste mit verschiedenen U-Bahnen fahren, um den Langzeitparkplatz in Long Island City zu erreichen, wo ihr altes, heruntergekommenes Auto stand. Sie hatte es schon seit Jahren nicht mehr verwenden, denn Ben hatte immer darauf bestanden, selber zu fahren, damit er mit seinem kostbaren Lexus angeben konnte. Als sie über den riesigen, schattenreichen Parkplatz lief und ihren Koffer hinter sich herzog, fragte sie sich, ob sie überhaupt noch fahren könnte. Das war auch eines der Dinge, die sie im Laufe ihrer Beziehung hatte schleifen lassen.
Allein schon der Weg hierher, zu diesem Parkplatz am Rande der Stadt, hatte sich endlos angefühlt. Während sie sich ihrem Auto näherte, hallten ihre Schritte auf dem gefrorenen Parkplatz wider und sie fühlte sich fast schon zu müde und erschöpft, um weiter zu gehen.
Machte sie gerade einen Fehler?, fragte sie sich. Sollte sie umkehren?
„Da ist es ja.“
Emily drehte sich um und sah, wie der Parkplatzwächter mit einem schon fast mitleidigen Lächeln auf ihr heruntergekommenes Auto schaute. Er streckte seine Hand aus, in der er ihre Schlüssel hielt.
Der Gedanke daran, jetzt noch eine achtstündige Fahrt vor sich zu haben, kam ihr wie eine überwältigende, unmöglich zu meisternde Herausforderung vor. Sie war bereits jetzt schon so unglaublich erschöpft, sowohl physisch als auch emotional.
„Wollen Sie sie nicht nehmen?“, fragte er schließlich.
Emily blinzelte, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie mit ihren Gedanken abgeschweift war.
Sie stand dort und wusste irgendwie, dass dieser Moment entscheidend war. Würde sie zusammenbrechen und zu ihrem alten Leben zurücklaufen?
Oder wäre sie stark genug, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen?
Emily schüttelte die dunklen Gedanken ab und zwang sich dazu, stark zu sein. Zumindest für jetzt.
Sie nahm die Schlüssel und ging stolz zu ihrem Auto. Dabei versuchte sie, mutig und selbstsicher zu sein, doch insgeheim war sie nervös, dass es gar nicht mehr anspringen würde, oder dass sie sich nicht mehr daran erinnern könnte, wie man fuhr, wenn er denn doch noch funktionierte.
Sie saß in dem eiskalten Auto, schloss ihre Augen und schaltete den Motor ein. Sie beschloss, dass es ein gutes Zeichen wäre, wenn er ansprang. Wenn er kaputt wäre, könnte sie umkehren.
Sie hasste es, zugeben zu müssen, dass sie sich insgeheim wünschte, dass der Motor nicht mehr funktionierte.
Sie drehte den Schlüssel um.
Er sprang an.
*
Es war für Emily eine große Überraschung und ein Trost zugleich, dass sie immer noch wusste, was sie zu tun hatte, auch wenn die ersten Meter etwas holprig waren. Alles, was sie tun musste war, auf das Gaspedal zu treten und zu fahren.
Es war eiskalt, die Welt flog an ihr vorbei und Stück für Stück schüttelte sie ihre trübe Stimmung ab. Sie schaltete sogar das Radio an, als sie sich daran erinnerte, dass es in dem Auto eines gab.
Bei dröhnender Musik und mit heruntergelassenen Fenstern hielt Emily das Lenkrad fest in ihren Händen. In ihren Gedanken sah sie wie eine der glamourösen Damen in einem der 1940er Jahre Schwarz-Weiß-Filme aus, denen der Wind durch ihre perfekt frisierten Haare wehte. In Wirklichkeit hatte die kalte Februarluft ihre Nase so rot wie eine Beere anlaufen lassen und ihr Haar in ein ungekämmtes Nest verwandelt.
Schon bald hatte sie die Stadt hinter sich gelassen und je weiter in den Norden sie fuhr, desto dichter waren die Straßen von immergrünen Bäumen gesäumt. Sie ließ sich im Vorbeifahren Zeit, ihre Schönheit zu bewundern. Wie einfach sie sich von dem Gedränge und der Geschäftigkeit des Großstadtlebens hatte anstecken lassen. Wie viele Jahre hatte sie vorbeiziehen lassen, ohne die Schönheit der Natur zu bewundern?
Schon bald wurden die Straßen breiter, die Anzahl der Spuren nahm zu und schließlich war sie auf der Autobahn. Sie ließ den Motor aufheulen, zwang ihr heruntergekommenes Auto, immer schneller zu fahren. Durch die Geschwindigkeit fühlte sie sich lebendig und voller Energie. All die Menschen, die in ihren Autos unterwegs waren, und endlich war sie, Emily, auch einer von ihnen. Aufregung schoss durch ihren Körper, als sie immer weiter nach vorne schoss und die Geschwindigkeit so weit erhöhte, wie sie es sich traute.
Ihr Selbstvertrauen erreichte neue Höhen, während die Straße unter den Rädern ihres Wagens vorbeizog. Als sie über die Grenze des Bundesstaates Connecticut fuhr, wurde ihr erst wirklich klar, war sie eigentlich hinter sich ließ. Ihre Arbeit, Ben, sie war endlich all den Ballast losgeworden.
Je weiter sie in den Norden fuhr, desto kälter wurde es und Emily sah schließlich ein, dass es einfach zu kalt war, um das Fenster offen zu lassen. Sie ließ es hochfahren und rieb ihre Hände aneinander, wobei sie sich wünschte, etwas zu tragen, dass dem Wetter angemessener wäre. Sie hatte New York in ihrem unbequemen Arbeitsanzug verlassen und aus einem Impuls heraus ihren Blazer und ihre Stilettos aus dem Fenster geworfen. Jetzt trug sie nur eine dünne Bluse und die Zehen ihrer nackten Füße schienen sich in Eisblöcke verwandelt zu haben. Das Bild des Filmstars aus den 1940er Jahren verblasste in ihren Gedanken, als sie ihr Spiegelbild in dem Rückspiegel erblickte. Sie sah ganz schön durch den Wind aus. Doch das war ihr egal. Sie war frei, das war alles, was zählte.
Stunden vergingen und plötzlich lag Connecticut hinter ihr, es war nur noch eine ferne Erinnerung, nur ein Ort, den sie auf dem Weg in eine bessere Zukunft durchquert hatte. Die Landschaft des Bundesstaates Massachusetts war viel offener. Anstatt der dunkelgrünen Blätter der immergrünen Bäume hatten diese hier ihr Sommerkleid abgeworfen und ragten nun wie dürre Skelette auf beiden Seiten der Straße empor. Zwischen ihnen konnte man hin und wieder Schnee und Eis auf dem harten Boden sehen. Über Emily begann der Himmel, seine Farbe von einem klaren Blau zu einem matschigen Grau zu ändern, was sie daran erinnerte, dass es dunkel sein würde, wenn sie endlich in Maine ankäme.
Sie fuhr durch Worcester. Viele der Häuser dort waren groß, aus Holz gebaut und in verschiedenen Pastelltönen gestrichen. Emily musste sich unwillkürlich fragen, welche Menschen hier wohnten, was für Leben sie führten und welche Erfahrungen sie machten. Sie war nur wenige Stunden von ihrem Zuhause entfernt, doch bereits jetzt erschien ihr schon alles fremd – all die Möglichkeiten, all die verschiedenen Orte, an denen man leben und die man besuchen könnte. Wie hatte sie sieben Jahre lang nur eine Variante des Lebens sehen können, indem sie die alte, bekannte Routine verfolgte und jeden Tag die ganze Zeit auf etwas mehr gewartet und gewartet und gewartet hatte. All diese Zeit hatte sie darauf gewartet, dass Ben sich zusammenreißen würde, damit das nächste Kapitel ihres Lebens beginnen konnte. Doch die ganze Zeit lang hatte sie selbst die Macht gehabt, ihre eigene Geschichte voranzutreiben.
Als sie der Route 290 folgte, fuhr sie über eine Brücke, wo die Straße zur Route 495 wurde. Hier gab es keine Bäume mehr, die sie bewundern konnte, sie wurden von steilen Gesteinsformationen abgelöst. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie die Mittagszeit hatte verstreichen lassen, ohne etwas zu essen. Sie überlegte, ob sie an einem LKW-Rastplatz anhalten sollte, doch das Verlangen, in Maine anzukommen, war zu groß. Sie könnte etwas essen, wenn sie dort ankam.
Weitere Stunden vergingen, als sie schließlich die Grenze zu dem Bundesstaat New Hampshire überquerte. Der Himmel brach auf, die Straßen waren breit und auf beiden Seiten erstreckte sich, soweit man sehen konnte, flaches Land. Emily fragte sich unwillkürlich, wie groß die Welt wohl war, wie viele Menschen wirklich in ihr lebten.
Ihr Optimismus trug sie an Portsmouth vorbei, wo Flugzeuge über ihr herabschossen, ihre Motoren heulten laut, als sie die Landebahn anzielten. Emily gab Gas und fuhr an der nächsten Stadt vorbei, bei der auf beiden Seiten der Straße Frost auf dem Boden lag, dann ging es durch Portland, wo die Straße neben den Bahnschienen entlanglief. Sie nahm jedes Detail in sich auf und wurde von einer neuen Ehrfurcht vor der Größe der Welt erfüllt.
Sie rauschte über die Brücke, die aus Portland hinausführte, als sie plötzlich den Drang verspürte, anzuhalten und den Ausblick auf den Ozean zu genießen. Doch der Himmel wurde immer dunkler und sie wusste, dass sie sich beeilen musste, um es vor Mitternacht nach Sunset Harbor zu schaffen. Die Stadt lag noch eine dreistündige Fahrt entfernt und die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte bereits 9 Uhr abends an. Ihr Magen protestierte wieder, weil sie auch das Abendessen verpasst hatte.
Auf das, was sich Emily bei ihrer Ankunft am meisten freute, war die Aussicht, die restliche Nacht komplett durchzuschlafen, denn ihre Erschöpfung machte sich schon bemerkbar; Amys Couch war nicht besonders bequem gewesen, ganz zu schweigen von dem emotionalen Aufruhr, mit dem Emily die ganze Nacht lang gekämpft hatte. Doch in ihrem Haus in Sunset Harbor wartete ein wunderschönes, aus dunkler Eiche geschaffenes Himmelbett in dem großen Schlafzimmer auf sie, in dem ihre Eltern glücklichere Zeiten verbracht hatten. Der Gedanke, komplett alleine dort zu sein, war verlockend.
Trotz der Tatsache, dass sich am Himmel Schnee ankündigte, entschied sich Emily dagegen, die ganze Strecke nach Sunset Harbor auf der Autobahn zurückzulegen. Ihr Vater war sehr gerne die weniger genutzten Strecken gefahren – eine Reihe von Brücken erstreckten sich über eine Vielzahl an Flüssen, die in diesem Teil Maines in den Ozean flossen.
Sie fuhr von der Autobahn ab, erleichtert, zumindest die Geschwindigkeit reduzieren zu können. Die Straßen hier waren zwar gefährlicher, doch die Landschaft war umwerfend. Emily schaute hinauf zu den Sternen, die über dem klaren, glitzernden Wasser blinkten.
Sie fuhr auf der Route 1 an der Küste entlang und öffnete ihren Geist für die Schönheit um sie herum. Der Himmel veränderte sich von einem Grau zu einem Schwarz, was sich im Wasser widerspiegelte. Es fühlte sich so an, als würde sie durch das Universum fahren, bis in die Unendlichkeit.
Das Ziel der Reise war der Anfang des Rests ihres Lebens.
*
Erschöpft von der endlosen Fahrt musste sie sich zwingen, ihre Augen offen zu halten, doch sie merkte auf, als die Scheinwerfer des Autos endlich ein Schild erleuchteten, dass ihr die Ankunft in Sunset Harbor ankündigte. Vor Erleichterung und Aufregung schlug ihr Herz schneller.
Sie kam an dem kleinen Flughafen vorbei und fuhr über die Brücke, die auf die Mount Desert Insel führte. In einem Anflug von Nostalgie erinnerte sie sich an Zeiten, zu denen sie in dem Familienauto gesessen und über dieselbe Brücke gerauscht war. Sie wusste, dass das Haus jetzt nur noch zehn Meilen entfernt lag, was bedeutete, dass sie in maximal zwanzig Minuten ankommen würde. Ihr Herz fing vor Aufregung an, wild zu schlagen. Die Erschöpfung und der Hunger schienen verschwunden zu sein.
Sie sah das kleine hölzerne Schild, das sie in Sunset Harbor willkommen hieß, was ihr ein Lächeln entlockte. Große Bäume säumten beide Seiten der Straße. Emily fand es tröstlich, dass es immer noch die gleichen Bäume waren, die sie als Kind schon bewundert hatte, als ihr Vater eben diese Straße entlanggefahren war.
Ein paar Minuten später fuhr sie über eine Brücke, über die sie als Kind an einem wunderschönen Herbstabend spazieren gegangen war, wobei das rote Laub unter ihren Füßen geraschelt hatte. Die Erinnerung daran war noch so lebendig, dass sie sogar die lila Wollhandschuhe vor Augen sah, die ihre Hände bedeckten, während sie mit ihrem Vater Hand in Hand dort entlanggelaufen war. Sie konnte damals nicht älter als fünf Jahre gewesen sein, doch die Erinnerung daran war noch so frisch, als ob es erst gestern geschehen wäre.
Weitere Erinnerungen drängten sich in ihre Gedanken, als sie an anderen Orten vorbeifuhr – dem Restaurant, in dem man unglaublich leckere Pfannkuchen essen konnte, der Campingplatz, der den ganzen Sommer lang mit schottischen Gruppen gefüllt gewesen war, der einspurige Pfad, der hinab zu der Salisbury Cove, einer Bucht, führte. Als sie das Schild erreichte, das den Acadia Nationalpark ankündigte, legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, denn sie wusste, dass sie nur noch zwei Meilen von ihrem Ziel entfernt war. Es sah so aus, als ob sie das Haus gerade noch rechtzeitig erreichen würde; es hatte gerade erst angefangen zu schneien und ihr altes Auto würde es wahrscheinlich nicht durch einen Schneesturm schaffen.
Wie aufs Stichwort begann ihr Auto, irgendwo unter der Motorhaube ein seltsames schleifendes Geräusch zu machen. Emily biss sich vor Verzweiflung auf die Lippe. Ben war immer der Praktische von den beiden gewesen, der Bastler in der Beziehung. Ihre mechanischen Fähigkeiten waren bedauerlich. Sie betete, dass das Auto wenigstens noch die letzte Meile aushalten würde.
Aber das schleifende Geräusch wurde immer lauter und wurde kurz darauf von einem seltsamen Surren begleitet, dann kam noch ein nerviges Klicken und schließlich ein Pfeifen hinzu. Emily schlug mit ihren Fäusten gegen das Lenkrad und stieß einen leisen Fluch aus. Der Schnee fiel immer schneller und dicker vom Himmel, gleichzeitig begann ihr Auto, immer größere Probleme zu machen, bis es schließlich ruckelnd zum Stehen kam.
Während sie dem Zischen des Motors lauschte, saß Emily hilflos da und überlegte, was sie tun könnte. Die Uhr zeigte Mitternacht an. Sonst war auf der Straße nichts los, niemand war zu dieser Zeit unterwegs. Es war totenstill und stockdunkel, da es keine lichtspendenden Straßenlaternen gab und die Sterne und der Mond von Wolken verdeckt waren. Das alles erschuf eine gruselige Atmosphäre und Emily war der Meinung, dass es sich perfekt als Kulisse für einen Horrorfilm eignen würde.
Sie schnappte sich ihr Handy, als ob es ihre letzte Rettung wäre, doch musste feststellen, dass sie keinen Empfang hatte. Der Anblick der fünf leeren Balken ließ ihre Sorge größer werden, denn nun fühlte sie sich sogar noch isolierter und einsamer als zuvor. Zum ersten Mal, seit sie ihr altes Leben hinter sich gelassen hatte, bekam Emily das Gefühl, eine fürchterlich dumme Entscheidung getroffen zu haben.
Sie stieg aus dem Auto aus und erzitterte, als die kalte Luft zusammen mit den Schneeflocken in ihre Haut stach. Sie ging um den Wagen herum, um sich den Motor anzusehen, doch sie wusste gar nicht, wonach sie eigentlich suchen sollte.
In dem Moment hörte sie das Poltern eines LKWs. Ihr Herz fing vor Freude an, schnell zu schlagen, als sie in die Ferne schaute und kaum merkbar Scheinwerferlichter ausmachte, die auf der Straße in ihre Richtung kamen. Sie begann, mit ihren Armen zu winken, um so den sich nähernden LKW auf sich aufmerksam zu machen.
Glücklicherweise fuhr er an den Straßenrand heran und kam dicht hinter ihrem Auto zum Stehen. Dabei stieß er heiße Abgase in die kalte Nachtluft aus und seine grellen Lichter erleuchteten die fallenden Schneeflocken.
Die Fahrertür öffnete sich quietschend und zwei in schweren Stiefeln steckende Füße landeten knirschend auf dem schneebedeckten Boden. Emily konnte nur die Umrisse der Person vor ihr ausmachen, plötzlich beschlich sie eine fürchterliche Panik, dass sie gerade die Aufmerksamkeit des örtlichen Mörders auf sich gezogen haben könnte.
„Da hast du dich aber in eine ganz schön verzwickte Lage gebracht, hm?“, hörte sie die kratzende Stimme eines alten Mannes.
Emily rieb sich, in dem Versuch, ein Zittern zu unterdrücken, über die Arme, wobei sie die Gänsehaut, die sich unter ihrer Bluse gebildet hatte, spüren konnte. Sie war erleichtert, dass es ein alter Mann war.
„Ja, ich weiß nicht, wie das passiert ist“, erwiderte sie. „Es fing an, seltsame Geräusche zu machen und blieb dann einfach stehen.“
Der Mann trat näher an sie heran, sein Gesicht wurde durch die Lichter seines LKWs erleuchtet. Er war sehr alt und hatte weißes Haar in seinem faltigen Gesicht. Seine Augen waren zwar dunkel, doch sie strahlten vor Neugier, als er zuerst Emily und dann ihr Auto musterte.
„Du weißt nicht, wie das passiert ist?“, fragte er lachend. „Ich kann dir sagen, wie das passiert ist. Dieses Auto hier ist nicht viel mehr als ein Haufen Schrott. Ich bin überrascht, dass du überhaupt in der Lage warst, damit loszufahren“ Es schaut nicht so aus, als ob du dich gut darum gekümmert hättest, und dann entscheidest du dich dazu, im Schnee damit zu fahren?“
Emily war nicht in der Stimmung, aufgezogen zu werden, vor allem, weil der alte Mann Recht hatte.
„Ich bin sogar den ganzen Weg von New York hierhergefahren. Es hat ganze acht Stunden durchgehalten“, antwortete sie, wobei sie es nicht verhindern konnte, dass sich ein trockener Tonfall in ihre Stimme schlich.
Der alte Mann pfiff. „New York? Nun ja, ich hätte nie…Was bringt dich in die Gegend?“
Emily hatte keine Lust, ihre Geschichte preiszugeben, weshalb sie einfach antwortete, „Ich bin auf dem Weg nach Sunset Harbor“.
Der Mann bohrte nicht weiter nach. Emily stand dort und beobachtete ihn, ihre Finger wurden schnell taub, während sie auf irgendeine Form der Hilfe wartete. Doch er schien mehr daran interessiert zu sein, um das alte, rostige Auto herumzugehen, mit der Spitze seines Stiefels gegen die Reifen zu treten, ein bisschen Farbe mit dem Fingernagel abzukratzen, ein bisschen zu spötteln und seinen Kopf zu schütteln. Dann öffnete er die Motorhaube und untersuchte den Motor für eine ganze Weile, wobei er gelegentlich vor sich hinmurmelte.
„Also?“, erkundigte sich Emily schließlich, denn sie war von seiner Langsamkeit genervt. „Was stimmt denn nun nicht?“
Er schaute mit einem leicht überraschten Gesichtsausdruck von dem Motor auf, fast so, als ob er vergessen hätte, dass sie da war, und kratzte sich am Kopf. „Es ist kaputt.“
„Das wusste ich schon“, erwiderte Emily gereizt. „Aber kannst du es reparieren?“
„Oh nein“, antwortete der Mann mit einem Glucksen. „Kein bisschen.“
Emily wollte am liebsten schreien. Der Nahrungsmangel sowie ihre Müdigkeit durch die lange Fahrt entfalteten so langsam ihre Wirkung und brachten sie fast zum Weinen. Alles, was sie wollte, war, nach Hause zu gehen und zu schlafen.
„Was soll ich denn jetzt tun?“, fragte sie sich verzweifelt.
„Nun ja, es gibt verschiedene Optionen“, erwiderte der alte Mann. „Du könntest zur Werkstatt laufen, sie ist nur etwa eine Meile entfernt.“ Dabei deutete er mit seinen kurzen, faltigen Fingern in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Oder ich könnte dich dorthin abschleppen, wo auch immer du hinwolltest.“
„Würdest du das wirklich tun?“, fragte Emily, überrascht von seiner Freundlichkeit, etwas, an das sie durch ihre lange Zeit in New York nicht gewohnt war.
„Natürlich“, entgegnete der Mann. „Ich werde dich nicht mitten in der Nacht in einem Schneesturm hier zurücklassen. Ich habe gehört, dass es in der nächsten Stunde schlimmer werden soll. Wohin genau bist du denn unterwegs?“
Emily war von Dankbarkeit erfüllt. „West Street. Nummer Fünfzehn.“
Der Mann legte seinen Kopf neugierig auf die Seite. „West Street fünfzehn? Das alte, heruntergekommene Haus?“
„Ja“, antwortete Emily. „Es gehört meiner Familie. Ich muss einmal etwas alleine sein.“
Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich kann dich dort nicht hingehen lassen. Das Haus fällt auseinander. Ich bezweifele, dass es überhaupt wasserdicht ist. Warum kommst du nicht mit zu mir? Wir leben über dem kleinen Einkaufsladen, meine Frau Bertha und ich. Es wäre uns eine Freude, dich bei uns aufzunehmen.“
„Das ist sehr nett von dir“, erwiderte Emily. „Aber ich will im Moment einfach nur alleine sein. Wenn du mich also zur West Street abschleppen könntest, wäre ich dir sehr dankbar.“
Der alte Mann musterte sie einen Moment lang, bevor er schließlich nachgab. „Okay, junge Dame. Wenn du darauf bestehst.“
Emily war erleichtert, als er in seinen LKW stieg und damit vor ihr Auto fuhr. Sie beobachtete, wie er ein dickes Seil hervorholte und die beiden Fahrzeuge aneinanderband.
„Willst du mit mir fahren?“, fragte er. „Ich habe zumindest eine Heizung.“
Emily lächelte leicht, doch schüttelte ihren Kopf. „Ich würde lieber –“
„Alleine sein“, beendete der alte Mann gemeinsam mit ihr den Satz. „Schon verstanden. Schon verstanden.“
Emily stieg wieder in das Auto und fragte sich, welchen Eindruck sie auf den alten Mann wohl gemacht hatte. Er musste denken, dass sie ein bisschen verrückt war, weil sie unvorbereitet und mit unpassenden Kleidern mitten in der Nacht bei einem anstehenden Schneesturm unbedingt zu einem heruntergekommenen, verlassenen Haus gefahren werden wollte, damit sie komplett alleine sein konnte.
Der LKW vor ihr erwachte brummend zum Leben und sie konnte spüren, wie er das Auto vorwärts zog. Als sie so davonfuhren, lehnte sie sich zurück und schaute aus dem Fenster. Auf der einen Seite der Straße, die die letzten paar Meilen zu dem Haus führte, lag der Nationalpark und auf der anderen war das Meer. Durch die Dunkelheit und den Vorhang aus fallendem Schnee konnte Emily den Ozean und die Wellen sehen, die gegen die Felsen krachten. Dann, als sie in die Stadt fuhren, verschwand das Meer aus ihrem Blickfeld, stattdessen fuhren sie an Hotels und Motels, Bootstour-Unternehmen und Golfplätzen vorbei und durch dichter besiedelte Gebiete hindurch. Doch Emily fand, dass man es im Vergleich zu New York kaum als dicht besiedelt bezeichnen konnte.
Dann bogen sie links auf die West Street ab und Emilys Herz setzte für einen Moment aus, als sie an dem großen Eckhaus aus rotem, mit Efeu bewachsenen Eckhaus vorbeifuhren. Es sah genauso aus wie vor zwanzig Jahren, als sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie fuhren erst an dem blauen, dann dem gelben und dem weißen Haus vorbei und sie biss sich auf die Lippe, denn sie wusste genau, dass das nächste Haus, das graue Steinhaus, ihres wäre.
Als es vor ihr auftauchte, überkam Emily ein starkes Gefühl der Nostalgie. Mit fünfzehn war sie das letzte Mal hier gewesen, damals war ihr Körper bei der Aussicht auf eine mögliche Sommerromanze voller Hormone gewesen. Sie hatte zwar nie eine gehabt, doch sie erinnerte sich noch genau an den Kick des Möglichen, der sie damals wie eine Welle überrollt hatte.
Der LKW kam zum Stehen, genauso wie Emilys Auto.
Noch bevor sich die Räder vollständig aufgehört hatten zu drehen, war Emily schon aus dem Auto gesprungen und stand vor dem Haus, das einmal ihrem Vater gehört hatte. Ihre Beine zitterten, sie war sich nicht sicher, ob sie das vor Erleichterung, endlich angekommen zu sein oder vor lauter Emotionen, endlich, nach so vielen Jahren, wieder hier zu stehen, taten. Aber während die anderen Häuser in der Straße unverändert aussahen, besaß das Haus ihres Vaters nur noch einen Schatten seines früheren Glanzes. Die einst weißen Fensterläden strotzten jetzt nur so vor Dreck. Während sie früher offen gestanden hatten, waren sie jetzt jedoch alle geschlossen, wodurch das Haus sogar noch weniger einladend wirkte als vor all den Jahren. Das Gras auf dem ausladenden Rasen vor dem Haus, auf dem Emily endlose Sommertage mit dem Lesen von Romanen verbracht hatte, machte überraschenderweise einen gepflegten Eindruck und sogar die kleinen Büsche an beiden Seiten der Eingangstür waren geschnitten. Doch das Haus an sich… jetzt sie verstand die verwirrte Reaktion des alten Mannes, als sie ihm gesagt hatte, wohin sie unterwegs war. Es schaute so verwahrlost aus, so ungeliebt auf dem Weg in die Baufälligkeit. Es machte Emily traurig, zu sehen, wie viel des schönen, alten Hauses im Laufe der Jahre verfallen war.
„Nettes Haus“, bemerkte der alte Mann, als er neben ihr zum Stehen kam.
„Danke“, erwiderte Emily fast wie in Trance, ihre Augen klebten förmlich an dem alten Gebäude. Schnee wehte um sie herum. „Und danke, dass du mich in einem Stück hierhergebracht hast“, fügte sie hinzu.
„Kein Problem“, antwortete der alte Mann. „Und du bist dir sicher, dass du heute Nacht hierbleiben willst?“
„Ich bin mir sicher“, entgegnete Emily, doch in Wirklichkeit begann sie sich zu fragen, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war, hierher zu kommen.
„Lass mich dir mit deinen Taschen helfen“, sagte der Mann.
„Nein, nein“, winkte Emily ab. „Wirklich, du hast mehr als genug getan. Ich schaffe es von hier aus.“ Sie wühlte in ihrer Tasche herum und förderte einen zusammengekrümpelten Dollarschein heraus. „Hier, Benzingeld.“
Der Mann schaute zuerst auf das Geld und richtete dann seinen Blick auf sie. „Das werde ich nicht annehmen“, bemerkte er mit einem freundlichen Lächeln. „Behalte dein Geld. Wenn du mir wirklich etwas zurückgeben willst, warum kommst du dann nicht irgendwann im Laufe deines Aufenthaltes einmal zu mir und Bertha auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen?“
Emily spürte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß formte, während sie den Geldschein zurück in ihre Tasche steckte. Die Freundlichkeit dieses Mannes schockierte sie nach der ganzen Feindseligkeit in New York.
„Wie lange hast du überhaupt vor zu bleiben?“, fragte er, als er ihr ein kleines Stück Papier mit einer Telefonnummer und einer Adresse reichte.
„Nur übers Wochenende“, gab Emily zurück und nahm das Stück Papier an.
„Nun ja, wenn du irgendetwas brauchst, dann ruf mich einfach an. Oder komm zur Tankstelle, wo ich arbeite. Sie ist direkt bei dem Tante-Emma-Landen. Du kannst sie gar nicht verpassen.“
„Danke“, sagte Emily erneut und versuchte, so viel Dankbarkeit wie möglich in dieses Wort zu legen.
Sobald das Geräusch des Motors in der Entfernung verhallte, legte sich wieder Stille über sie und plötzlich wurde Emily von einem Gefühl des Friedens erfüllt. Der Schneefall hatte sogar noch zugenommen und hüllte die Welt in eine weiße Stille.
Emily ging zu ihrem Auto zurück, um ihre Sachen zu holen, dann stampfte sie mit dem schweren Koffer in den Armen den Weg entlang. Dabei baute sich immer mehr Emotionen in ihrer Brust auf. Als sie die Haustür erreichte, hielt sie kurz inne, um den altbekannten Knauf zu betrachten und sich daran zu erinnern, dass sie ihn schon hunderte Male gedreht hatte. Vielleicht war es doch eine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Seltsamerweise konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, genau dort zu sein, wo sie sein sollte.
*
Emily stand in dem Flur des alten Hauses ihres Vaters, der Staub wirbelte um sie herum auf, und sie rieb sich ihre Schultern in der Hoffnung, sich aufzuwärmen. Sie wusste nicht, was sie sich dabei gedacht hatte. Hatte sie etwa erwartet, dass dieses alte Haus, das zwanzig Jahre lang vernachlässigt worden war, auf sie wartete? Am besten noch beheizt?
Sie versuchte, den Lichtschalter zu betätigen, doch nichts passierte.
Natürlich, dachte sie. Wie konnte sie nur so dumm sein? Hatte sie wirklich geglaubt, dass der Strom noch angeschaltet wäre?
Sie hatte nicht einmal daran gedacht, eine Taschenlampe mitzubringen. Sie schimpfte sich selbst. Wie immer war sie zu voreilig gewesen und hatte nicht einen Moment damit verschwendet vorauszuplanen.
Sie stellte ihren Koffer ab und ging weiter in das Haus hinein, wobei die Bodendielen unter ihren Füßen knarzten. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Rohfasertapete, genau wie sie es als Kind auch oft getan hatte. Sie konnte sogar die Streifen erkennen, die sich im Laufe der Jahre durch die immer gleiche Bewegung auf der Tapete gebildet hatten, erkennen. Sie ging an der langen, breiten, aus dunklem Holz gemachten Treppe vorbei, bei der ein Teil des Geländers fehlte, was ihr jedoch egal war. Wieder zurück in dem Haus zu sein fühlte sich mehr als bestärkend an.
Sie versuchte ihr Glück mit einem weiteren Lichtschalter, doch erneut tat sich nichts. Dann erreichte sie die Tür am Ende des Flurs, der zur Küche führte, und schob sie auf.
Sie schnappte nach Luft, als sie von einem Schwall kalter Luft getroffen wurde. Als sie den Raum betrat, fühlte sich der Marmorboden unter ihren nackten Füßen eisig an.
Emily versuchte, die Wasserhähne in dem Spülbecken aufzudrehen, doch nichts passierte. Bestürzt kaute sie auf ihrer Lippe. Keine Heizung, kein Strom, kein Wasser. Was hatte dieses Haus denn noch für sie auf Lager?
Sie lief das ganze Haus ab, auf der Suche nach irgendwelchen Schaltern oder Hebeln, die das Wasser, das Öl und den Strom kontrollierten. In dem Schrank unter der Treppe fand sie einen Sicherungskasten, doch auch das Umklappen der Schalter nützte nichts. Sie erinnerte sich daran, dass der Boiler im Keller stand, doch fand die Vorstellung, ohne Licht hinunterzugehen, furchteinflößend. Sie brauchte eine Taschenlampe oder eine Kerze, doch sie wusste, dass nichts davon in dem verlassenen Haus zu finden war. Trotzdem schaute sie in den Schubladen in der Küche nach, für den Fall, dass sich dort noch etwas versteckte – doch das einzige, was sie fand, war altes Geschirr.
In Emilys Brust machte sich Panik breit und sie zwang sich, nachzudenken. Sie ließ ihre Gedanken zu den Zeiten zurückwandern, die sie und ihre Familie in dem Haus verbracht hatten. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater immer dafür gesorgt hatte, dass Öl geliefert wurde, um das Haus in den Wintermonaten zu heizen. Es hatte ihre Mutter verrückt gemacht, weil es so teuer war und sie es für reine Geldverschwendung hielt, ein leeres Haus zu heizen. Doch Emilys Vater hatte stets darauf bestanden, dass das Haus warmgehalten werden müsste, um die Leitungen zu schützen.
Emily erkannte, dass sie Öl bestellen musste, wenn sie das Haus aufwärmen wollte. Doch da ihr Handy keinen Empfang hatte, wusste sie nicht, wie sie das anstellen sollte.
Plötzlich ertönte ein Klopfen an der Tür. Es war ein schweres, gleichmäßiges und beherrschtes Klopfen, das durch die leeren Flure hallte.
Emily erstarrte und spürte, wie ein Stich der Erwartung durch ihre Brust zuckte. Wer könnte zu dieser Zeit und bei diesem Schnee wohl vorbeikommen?
Sie verließ die Küche und lief mit ihren nackten Füßen lautlos über den Dielenboden im Flur. Ihre Hand verharrte über dem Knauf, bevor sie sich nach kurzem Zögern zusammenriss und die Tür öffnete.
Vor ihr stand ein Mann, der Emily mit seinem dunklen, kinnlangen Haar, in dem sich Schneeflocken verfangen hatten, an einen Holzfäller oder an den Jäger von Rotkäppchen erinnerte. Er entsprach nicht ihrem gewöhnlichen Typ, doch in seinen kühlen, blauen Augen und dem Dreitagebart an seinem definierten Kinn lag durchaus eine gewisse Schönheit und Emily war geschockt, wie sehr sie sich zu dem Mann hingezogen fühlte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.
Der Mann sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, als ob er sie genau mustern würde. „Ich bin Daniel“, sagte er. Dabei streckte er ihr seine Hand entgegen. Als sie schüttelte sie, konnte die raue Haut seiner Hand spüren. „Wer bist du?“
„Emily“, antwortete sie und auf einmal wurde bewusst, wie schnell ihr Herz schlug. „Das Haus gehört meinem Vater. Ich bin für das Wochenende hierhergekommen.“
Der misstrauische Ausdruck auf Daniels Gesicht verstärkte sich. „Der Besitzer war seit zwanzig Jahren nicht mehr hier. Hast du die Erlaubnis, einfach so vorbeizuschauen?“
Sein Ton klang hart, schon fast feindlich, und Emily schreckte zurück.
„Nein“, gab sie zu, es war ihr etwas unangenehm, die schmerzhafteste Erinnerung ihres Lebens – das Verschwinden ihres Vaters – ins Gedächtnis gerufen zu bekommen, doch gleichzeitig machte sie Daniels Schroffheit sprachlos. „Aber ich habe seinen Segen, herzukommen, wann immer ich will. Was geht dich das überhaupt an?“ Sie passte ihren Tonfall an seine grobe Stimmlage an.
„Ich kümmere mich um das Anwesen“, erwiderte er. „Ich lebe im Kutschenhaus hier auf dem Grundstück.“
„Du lebst hier?“, rief Emily aus. Ihre Vorstellung eines ruhigen Wochenendes in dem alten Haus ihres Vaters zerbrach gerade vor ihren Augen. „Aber ich wollte dieses Wochenende alleine sein.“
„Ja, das wollten wir wohl beide“, entgegnete Daniel. „Ich bin es nicht gewohnt, dass Menschen unangekündigt hereinplatzen.“ Er warf einen misstrauischen Blick über ihre Schulter. „Oder, dass jemand an dem Haus zu schaffen macht.“
Emily verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Wie kommst du darauf, dass ich mich an dem Haus zu schaffen gemacht habe?“
Zur Antwort zog Daniel eine Augenbraue hoch. „Nun ja, wenn du nicht vorhattest, das ganze Wochenende im Dunkeln und in der Kälte herumzusitzen, dann würde ich erwarten, dass du etwas angestellt hast. Zum Beispiel den Boiler angeschmissen, die Rohre abgelassen, so etwas die Richtung.“
Emilys Schroffheit wandelte sich in Verlegenheit um. Sie errötete.
„Du hast es nicht geschafft, den Boiler anzuschmeißen, oder?“, fragte Daniel. Auf seinen Lippen lag ein trockenes Lächeln, an dem Emily erkannte, dass ihre Notlage ihn amüsierte.
„Ich hatte einfach noch keine Gelegenheit dazu“, erwiderte sie hochmütig in dem Versuch, den Schein zu wahren.
„Soll ich es dir zeigen?“, fragte er schon fast gemächlich, als ob es ihm nichts ausmachen würde.
„Würdest du das tun?“, fragte Emily nach, da sie von seinem Hilfsangebot zugleich etwas geschockt und verwirrt war.
Er trat auf die Willkommensmatte. Schneeflocken rieselten aus seiner Jacke und formten einen kleinen Schneesturm im Flur.
„Ich würde ihn lieber selber anschmeißen, bevor du noch etwas kaputtmachst“, gab er, begleitet von einem lässigen Schulterzucken, als Erklärung zurück.
Emily bemerkte, dass sich der fallende Schnee vor ihrer Haustür in einen Blizzard verwandelt hatte. So sehr sie es auch nicht zugeben wollte, so war sie doch mehr als dankbar, dass Daniel aufgetaucht war. Wenn nicht, dann wäre sie über Nacht wahrscheinlich erfroren.
Sie schloss die Tür und die beiden liefen den Flur entlang zum Eingang des Kellers, der sich hinter der Treppe verbarg. Daniel war vorbereitet gekommen. Er zog eine Taschenlampe heraus, mit der er den Weg die Treppe hinunter in den Keller beleuchtete. Emily folgte ihm nach unten, die Dunkelheit und die Spinnweben verängstigten sie ein wenig, während sie weiter in die Finsternis vordrangen. Als Kind hatte sie vor dem Keller riesige Angst gehabt und war nur selten hinuntergestiegen. Der Raum stand voller altmodischer Maschinen und Anlagen, die das Haus versorgten. Sie wurde von ihrem Anblick überwältigt und musste sich erneut die Frage stellen, ob es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen.
Glücklicherweise brachte Daniel den Boiler innerhalb von wenigen Sekunden zum Funktionieren, als ob es das einfachste auf der Welt wäre. Es ärgerte Emily ein wenig, dass sie die Hilfe eines Mannes brauchte, wenn sie doch eigentlich hierhergekommen war, um ihre Unabhängigkeit wieder zu erlangen. Dann erkannte sie, dass Daniel trotz seiner rauen Attraktivität und der unbestreitbaren Tatsache, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, so schnell es ging wieder gehen musste. Sie würde wohl kaum zu sich selbst finden, wenn er bei ihr im Haus war. Es war schlimm genug, dass er sich auf demselben Grundstück befand.
Als sie mit dem Boiler fertig waren, verließen sie den Keller. Emily war erleichtert, aus dem feuchten und moderigen Raum rauszukommen und wieder in den Hauptteil des Hauses zurückzukehren. Sie folgte Daniel, der den Flur entlang bis in den Haushaltsraum ging, der sich hinter der Küche befand. Dort machte er sich direkt daran, die Rohre abzulassen.
„Bist du bereit dazu, das Haus den ganzen Winter lang zu heizen?“, rief er ihr von seiner Position unter der Arbeitsplatte aus zu. „Ansonsten werden sie zufrieren.“
„Ich bleibe nur übers Wochenende“, gab Emily zurück.
Daniel kroch unter der Arbeitsfläche hervor und setzte sich auf seine Beine zurück, sein Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen ab. „Du solltest mit einem alten Haus wie diesem hier nicht so herumspielen“, sagte er kopfschüttelnd.
Doch trotzdem kümmerte er sich um das Wasser.
„Wo ist denn die Heizung?“, fragte Emily, sobald er fertig war. Es war immer noch eiskalt, obwohl der Boiler lief und die Rohre nun frei waren. Sie rieb sich in einem Versuch, ihren Blutkreislauf anzuregen, über die Arme.
Daniel lachte auf, während er seine dreckigen Hände an einem Handtuch abwischte. „Sie schaltet sich nicht von alleine, weißt du? Zuerst musst du Öl bestellen. Alles, was ich tun konnte war, alles vorzubereiten.“
Emily seufzte frustriert. Dann war Daniel wohl doch nicht der strahlende Ritter, für den sie ihn gehalten hatte.
„Hier“, sagte Daniel und reichte ihr eine Visitenkarte. „Das ist Erics Nummer. Er wird dir das Öl liefern.“
„Danke“, murmelte sie. „Aber ich scheine hier draußen keinen Empfang zu haben.“
Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Handy und den leeren Balken zurück, was sie wieder daran erinnerte, wie einsam sie wirklich war.
„Ein Stück die Straße hinauf gibt es eine Telefonzelle“, merkte Daniel an. „Aber ich würde es nicht riskieren, mitten in einem Blizzard dorthin zu gehen. Und außerdem wird der Laden jetzt sowieso geschlossen haben.“
„Natürlich“, murmelte Emily, die von der Ausweglosigkeit der Situation frustriert war.
Daniel musste erkannt haben, wie verärgert und niedergeschlagen Emily war. „Ich könnte ein Feuer für dich entzünden“, bot er mit einem Nicken in Richtung des Wohnzimmers an. Seine Augenbrauen hoben sich in Erwartung, fast schon schüchtern, was ihm plötzlich ein jungenhaftes Aussehen verlieh.
Emily wollte protestieren, ihm sagen, dass er sie in dem eiskalten Haus allein lassen sollte, weil das das Mindeste war, das sie verdiente, doch ein Teil in ihr zögerte. Vielleicht fühlte sie sich weniger einsam, wenn Daniel im Haus war, weniger von der Zivilisation abgeschnitten. Sie hatte nicht erwartet, dass sie mit dem Handy kein Empfang hatte, sie Amy nicht erreichen konnte, und dass die Realität, die erste Nacht alleine in dem kalten, dunklen Haus zu verbringen, beängstigend war.
Daniel musste den Grund ihres Zögerns erkannt haben, denn er ging aus dem Raum, noch bevor sie ihren Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen.
Sie folgte im, insgeheim dankbar dafür, dass er die Einsamkeit in ihren Augen gesehen und ihr angeboten hatte, zu bleiben, auch wenn es unter dem Vorwand des Feuermachens war. Sie fand Daniel im Wohnzimmer, wo er im Kamin einen kleinen Haufen aus Holzstückchen, Kohle und Holzscheiten errichtete. Sofort schoss ihr eine Erinnerung an ihren Vater durch den Kopf, wie er vor dem Kamin kniete und fachmännisch ein Feuer entzündete. Er war bei dieser Aufgabe so sorgfältig vorgegangen als ob er ein großes Kunstwerk anfertigen würde. Sie hatte ihm tausende Male dabei zugesehen und es immer geliebt. Sie fand das Feuer hypnotisch und hatte Stunden damit verbracht, sich vor dem Kamin auf den Teppich zu legen und zu beobachten, wie die orangen und roten Flammen tanzten. Sie hatte so lange dort gesessen, dass die Hitze auf ihrer Haut stach.
Gefühle wallten in Emily auf und drohten, sie zu ersticken. Bei dem Gedanken an ihren Vater, die Erinnerung war noch so klar in ihrem Geist, sammelten sich die lange Zeit unterdrückten Tränen in ihren Augen. Sie wollte nicht vor Daniel weinen, sie wollte nicht wie eine erbärmliche, hilflose Frau aussehen. Deshalb drängte sie alle Gefühle zurück und schritt zielstrebig in den Raum.
„Ich weiß sogar, wie man ein Feuer entfacht“, sagte sie zu Daniel.
„Oh, tust du das wirklich?“, erwiderte Daniel, der sie mit hochgezogener Augenbraue anschaute. „Dann nur zu.“ Er hielt ihr die Streichhölzer entgegen.
Emily nahm sie ihm aus der Hand und zündete eines von ihnen an, die kleine orange Flamme zuckte zwischen ihren Fingern. In Wirklichkeit hatte sie ihrem Vater lediglich beim Feuermachen zugesehen, sie selbst hatte eigentlich noch nie eines entfacht. Innerhalb von Sekunden entzündete sich das Feuer, das altbekannte Geräusch tröstete sie und ließ sie in Nostalgie schwelgen, genau wie alles andere in diesem Haus auch. Als die Flammen begannen anzusteigen, war sie sehr stolz auf sich selbst. Doch anstatt den Kamin hinaufzuziehen, breitete sich schwarzer Rauch in dem Raum aus.
„Verdammt!“, schrie Emily, als Rauchwolken sie umhüllten.
Daniel fing an zu lachen. „Hattest du nicht gesagt, du wüsstest, wie man ein Feuer macht?“, fragte er, während er den Kaminschacht öffnete. Sofort wurde die Rauchwolke in den Kamin gezogen. „Tada!“, fügte er grinsend hinzu.
Als der Rauch um sie herum immer dünner wurde, warf Emily ihm einen verärgerten Blick zu, sie war zu stolz, um ihm für seine Hilfe, die sie so offensichtlich gebraucht hatte, zu danken. Trotzdem war sie erleichtert, dass es endlich warm wurde. Sie spürte, wie ihr Kreislauf wieder in Schwung kam und die Wärme in ihre Zehen und ihre Nase zurückkehrte. Ihre steifen Finger lösten sich langsam.
Das Licht des Feuers erhellte das Wohnzimmer und tauchte es in ein sanftes, oranges Licht. Endlich konnte Emily all die antiken Möbel sehen, mit denen ihr Vater das Haus gefüllt hatte. Sie schaute sich um und warf einen Blick auf die schäbigen, vernachlässigten Gegenstände. Das große Bücherregal stand in einer Ecke, einst war es mit Büchern vollgestopft gewesen, die sie endlose Sommertage lang gelesen hatte, doch jetzt waren nur noch ein paar wenige übriggeblieben. Dann gab es noch den alten Flügel neben dem Fenster. Mit Sicherheit war er jetzt komplett verstimmt, doch vor all den Jahren hatte ihr Vater Lieder für sie gespielt, zu denen sie gesungen hatte. Ihr Vater war so stolz auf das Haus gewesen und es jetzt in dem strahlenden Licht zu sehen, das seinen ungepflegten Zustand enthüllte, machte sie traurig.
Über den zwei Sofas lagen weiße Tücher. Emily überlegte, ob sie sie entfernen sollte, doch das würde nur eine Staubwolke aufwirbeln. Nach dem Rauch, der aus dem Kamin gequollen war, glaubte sie nicht, dass ihre Lunge das aushalten würde. Und außerdem sah es ziemlich gemütlich aus, wie Daniel neben dem Kamin auf dem Boden saß, weshalb sie sich neben ihm niederließ.
„Also“, meinte Daniel, während er seine Hände am Feuer wärmte. „Wir haben es immerhin geschafft, dich aufzuwärmen. Aber im Haus gibt es keinen Strom und ich nehme nicht an, dass sich in deinem Koffer Laternen oder Kerzen befinden.“
Emily schüttelte den Kopf. Ihre Koffer waren voller unwichtiger Dinge, nichts, was man gebrauchen konnte, nichts, was sie hier wirklich weiterbrachte.
„Mein Vater hatte früher immer Kerzen und Streichhölzer“, sagte sie. „Er war immer vorbereitet. Ich nehme an, ich hatte erwartet, dass es immer noch einen Schrank mit diesen Dingen gäbe, aber nach zwanzig Jahren…“
Sie schloss ihren Mund, plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie eine Erinnerung an ihren Vater laut ausgesprochen hatte. Das tat sie nicht oft, normalerweise behielt sie ihre Gefühle für ihn tief in sich verborgen. Die Leichtigkeit, mit der sie gerade eben von ihm gesprochen hatte, überraschte sie.
„Dann können wir ja einfach hier drinnen bleiben“, erwiderte Daniel mit sanfter Stimme, als ob er erkannt hätte, dass Emily gerade eine schmerzhafte Erinnerung durchlebte. „Im Licht des Feuers kann man mehr als genug sehen. Willst du einen Tee?“
Emily runzelte die Stirn. „Tee? Wie genau willst du ihn denn ohne Strom kochen?“
Daniel lächelte, als ob er eine Art Herausforderung annehmen würde. „Schau zu und lern.“
Er stand auf und verschwand aus dem großen Wohnzimmer, nur, um wenige Minuten mit einem kleinen runden Topf zurückzukehren, der wie ein Kessel aussah.
„Was hast du da?“, fragte Emily neugierig.
„Oh, nur den besten Tee, den du jemals trinken wirst“, antwortete er und hängte den Kessel über die Flammen. „Du hast noch nie einen echten Tee getrunken, bis du nicht einen versucht hast, der über einem Feuer gekocht wurde.“
Emily beobachtete ihn, wie das Licht des Feuers über seine Gesichtszüge zuckte und sie auf eine Weise betonte, die ihn sogar noch attraktiver machte. Die Tatsache, dass er sich so auf seine Arbeit konzentrierte, verstärkte seine Anziehungskraft.
„Hier“, sagte er und hielt ihr einen Becher hin, wodurch er ihre Gedanken unterbrach sah sie abwartend an, als sie den ersten Schluck nahm.
„Oh, der ist wirklich gut“, gab Emily erleichtert zurück, endlich die Kälte aus ihren Knochen vertreiben zu können.
Daniel begann zu lachen.
„Was?“, verlange Emily zu wissen.
„Ich habe dich einfach noch nicht lachen gesehen, das ist alles“, antwortete er.
Emily wandte ihren Blick ab, auf einmal fühlte sie sich etwas verlegen. Daniel war das genaue Gegenteil von Ben und doch fühlte sie sich stark zu ihm hingezogen. Vielleicht würde sie an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit ihrer Lust nachgeben. Immerhin war sie sieben Jahre lang mit Ben zusammen gewesen und verdiente ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig Aufregung.
Doch jetzt war nicht der richtige Moment dafür. Nicht mit all dem, was gerade vor sich ging, mit ihrem Leben, das ein totales Chaos und komplett durcheinander war, und mit den Erinnerungen an ihren Vater, die ihr durch den Kopf schwirrten. Sie hatte das Gefühl, dass sie seinen Schatten sehen konnte, wo immer sie auch hinschaute: wie er mit einer jungen Emily, die sich an ihn kuschelte, auf dem Sofa saß und ihr vorlas; wie er mit einem breiten Grinsen zur Tür hereinplatzte, nachdem er auf den Flohmarkt ein paar wertvolle Antiquitäten erstanden hatte. Aber wo waren all diese Antiquitäten jetzt? All die Figürchen und Kunstwerke, Gedenkgeschirr und Geschirrstücke aus der Zeit des Bürgerkriegs? Das Haus war nicht wie es in ihrer Erinnerung in der Zeit stehen geblieben. Stattdessen hatte sie solch drastischen Auswirkungen auf das Haus gehabt, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte.
Erneut wurde Emily von einer Welle des Trauers überrollt, als sie sich in dem staubigen, ungepflegten Zimmer umsah, das einst voller Leben und Lachen gewesen war.
„Wie konnte dieser Ort nur so zerfallen?“, rief sie plötzlich aus, wobei sie den anklagenden Ton nicht aus ihrer Stimmer verdrängen konnte. Sie runzelte die Stirn. „Ich meine, deine Aufgabe ist es doch, darauf aufzupassen, oder etwa nicht?“
Daniel zuckte zurück, als ob er von ihrer plötzlichen Aggressivität überrascht wäre. Noch vor wenigen Augenblicken hatten sie einen sanften, zärtlichen Moment miteinander geteilt und nur wenige Sekunden später machte sie ihm Vorwürfe. Daniel warf ihr einen kalten Blick zu. „Ich tue mein Bestes. Ich habe schließlich auch nur zwei Hände.“
„Es tut mir leid“, sagte Emily, die sofort einen Rückzieher machte, denn sie mochte es nicht, der Grund für Daniels dunklen Gesichtsausdruck zu sein. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich meine nur…“ Sie schaute in ihren Becher und schwenkte die Teeblätter darin. „Als Kind war dieser Ort für mich wie aus einem Märchen. Er war so ehrfurchtgebietend, weißt du? So wunderschön.“ Sie schaute auf und stellte fest, dass Daniel sie intensiv musterte. „Es ist traurig, ihn so zu sehen.“
„Was genau hast du denn erwartet?“, gab Daniel zurück. „Es ist zwanzig Jahre lang vernachlässigt worden.“
Emily wandte ihren Blick traurig ab. „Ich weiß. Ich glaube, ich hatte mir immer gewünscht, dass die Zeit stehen geblieben ist.“
Stillgestandene Zeit, genau wie das Bild ihres Vaters, das sie in ihrem Kopf hatte. Darin war er immer noch vierzig Jahre alt, war keinen einzigen Tag gealtert und schaute immer noch so aus, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Emilys Entschluss, das Haus übers Wochenende wieder auf Vordermann zu bringen, wurde immer stärker. Sie wollte nichts mehr, als es zu restaurieren, um einen Teil seines früheren Glanzes wiederherzustellen. Vielleicht wäre das so, als würde sie ihren Vater wieder zurückholen. Sie könnte es für ihn tun.
Emily trank den letzten Schluck Tee aus und stellte die Tasse ab. „Ich sollte ins Bett gehen“, sagte sie. „Es war ein langer Tag.“
„Natürlich“, erwiderte Daniel, während er aufstand. Er bewegte sich schnell, schlenderte aus dem Raum und den Flur entlang zur Haustür, ohne darauf zu achten, ob Emily mitkam. „Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich einfach an, okay?“, fügte er hinzu. „Ich wohne in dem Kutschenhaus dort drüben.“
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Emily empört. „Ich komme alleine zurecht.“
Daniel riss die Haustür auf, wodurch ein starker Lufthauch voller Schnee hereinwehte. Er kauerte sich in seine Jacke, bevor er sie noch einmal über die Schulter hinweg anschaute. „Mit Stolz wirst du hier nicht weit kommen, Emily. Es ist nicht schlimm, nach Hilfe zu fragen.“
Sie wollte ihm hinterherschreien, mit ihm streiten, um seine Behauptung, sie sei stolz, zu widerlegen, doch stattdessen starrte sie auf seinen Rücken, als er inmitten des umherwirbelnden Schnees im Dunkel der Nacht verschwand. Sie brachte kein einziges Wort heraus, sie war komplett sprachlos.
Emily schloss die Tür, womit sie die Welt da draußen und die Kraft des Blizzards hinaussperrte. Jetzt war sie ganz alleine. Von dem Feuer, das im Wohnzimmer brannte, drang Licht in den Flur, doch es war nicht stark genug, um die Treppe hinauf zu leuchten. Sie schaute die lange, hölzerne Treppe hoch, die in die Dunkelheit verschwand. Wenn sie nicht vorhatte, auf einem der staubigen Sofas zu schlafen, dann musste sie sich trauen, hinauf in die Finsternis zu gehen. Sie fühlte sich wieder wie ein Kind, das vor dem schattenreichen Keller Angst hatte, und das sich alle möglichen Monster und Schauergestalten vorstellte, die dort unten auf sie warteten. Nur war sie jetzt eine erwachsene Frau von fünfunddreißig Jahren, die zu große Angst hatte, nach oben zu gehen, weil sie wusste, dass der Anblick der Vernachlässigung schlimmer war, als jede Schauergestalt, die sie sich vorstellen konnte.
Stattdessen ging Emily zurück ins Wohnzimmer, um die letzte Wärme des Feuers in aufzusaugen. Im Bücherregal standen immer noch ein paar Exemplare – Der geheime Garten, Fünf Kinder, Es – Klassiker, die ihr Vater ihr vorgelesen hatte. Aber wo war der Rest? Was war mit den Besitztümern ihres Vaters geschehen? Sie waren an jenen unbekannten Ort verschwunden, wie auch ihr Vater selbst.
Als die Glut verlosch, legte sich wieder die Dunkelheit um sie, was zu ihrer düsteren Stimmung passte. Sie konnte die Müdigkeit nicht länger vertreiben, es war an der Zeit, die Stufen hinaufzugehen.
Gerade als sie das Wohnzimmer verließ, hörte sie ein seltsames, kratzendendes Geräusch an der Haustür. Zuerst dachte sie, dass ein wildes Tier nach Essensresten suchte, doch dafür war das Geräusch zu deutlich.
Mit klopfendem Herzen ging sie auf leisen Sohlen den Flur entlang zur Haustür, an die sie ihr Ohr drückte. Was auch immer sie dachte, gehört zu haben, war jetzt weg. Alles, was sie hören konnte, war der heulende Wind. Doch etwas reizte sie, die Tür zu öffnen.
Sie zog sie auf und sah, dass auf der Stufe davor Kerzen, eine Laterne und Streichhölzer lagen. Daniel musste zurückgekommen sein und sie für sie dorthin gelegt haben.
Sie schnappte sich die Sachen und nahm widerstrebend sein Hilfsangebot an, auch wenn es ihren Stolz verletzte. Doch zur selben Zeit war sie so dankbar, dass sich jemand um sie sorgte. Sie hatte zwar ihr Leben aufgegeben und war zu diesem Ort geflohen, aber sie war nicht mehr komplett alleine hier.
Emily entzündete die Laterne und brachte endlich genug Mut auf, um in das obere Stockwerk zu gehen. Während das sanfte rote Licht der Laterne sie die Treppe hinaufführte, nahm sie den Anblick der Bilderrahmen an den Wänden in sich auf, deren Bilder im Laufe der Zeit verblasst waren und von Spinnenweben und Staub bedeckt waren. Die meisten Bilder waren Aquarelle aus der Gegend – Segelschiffe auf dem Meer, immergrüne Bäume im Nationalpark – doch nur eines davon war ein Familienportrait. Sie blieb stehen und starrte auf das Bild, sie betrachtete sich selbst als kleines Kind. Sie hatte dieses Bild komplett vergessen, hatte es in eine Ecke ihres Gedächtnisses verdrängt und zwanzig Jahre lang weggeschlossen.
Nachdem sie ihre Gefühle hinuntergeschluckt hatte, ging sie weiter die Treppe hinauf. Die alten Stufen knarzten laut unter ihren Füßen und sie stellte fest, dass einige von ihnen gesprungen waren. Sie waren durch jahrelange Nutzung abgetreten und konnte sie sich wieder daran erinnern, wie sie als Kind in ihren roten Sandalen genau diese Treppe hinauf und hinuntergerannt war.
Am oberen Ende der Treppe erleuchtete die Lampe den langen Korridor – die zahlreichen Türen aus dunklem Eichenholz sowie das Fenster am anderen Ende, das vom Boden bis zur Decke reichte und jetzt mit Brettern verschlagen war. Ihr altes Schlafzimmer befand sich hinter der letzten Tür auf der rechten Seite, gegenüber dem Badezimmer. Sie konnte es nicht ertragen, eines der beiden Zimmer zu betreten. Ihr Schlafzimmer enthielt zu viele Erinnerungen, die auf einmal freigesetzt würden. Und genauso wenig hatte sie Lust, nachzusehen, welche gruseligen Krabbeltiere sich in den letzten Jahren im Badezimmer eingenistet hatten.
Stattdessen stolperte Emily den Flur entlang, an einer antiken, verzierten Kiste vorbei, an der sie sich früher oft ihren Zeh gestoßen hatte, und betrat schließlich das Zimmer ihrer Eltern.
Im Licht der Laterne konnte Emily sehen, wie viel Staub auf dem Bett lag und wie sehr die Bettwäsche im Laufe der Jahre von den Motten zerfressen worden war. Die Erinnerung an das schöne Himmelbett ihrer Eltern zerbrach in ihrem Kopf, als sie mit der Realität konfrontiert wurde. Zwanzig Jahre Vernachlässigung hatten den Raum verwüstet. Die Vorhänge waren schmutzig und voller Spinnenweben, es sah so aus, als hätten in ihnen ganze Generationen an Spinnenfamilien gehaust. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf alles gelegt, auch auf den Schminktisch am Fenster und den kleinen Hocker, auf dem ihre Mutter vor vielen Jahren gesessen und sich ihr Gesicht vor dem Spiegel mit nach Lavendel riechender Creme eingerieben hatte.
Emily konnte das alles vor sich sehen, all die Erinnerungen, die sie die ganzen Jahre lang vergraben hatte. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. All die Emotionen der letzten Tage brachen über sie herein und wurden von den Gedanken an ihren Vater und dem plötzlichen Schock, als sie erkannte, wie sehr sie ihn vermisste, verstärkt.
Draußen wurden die Geräusche des Blizzards immer lauter. Emily stellte die Laterne auf das Nachttischkästchen, wodurch eine Staubwolke aufwirbelte, und machte sich bettfertig. Die Wärme des Feuers war nicht so weit hinaufgedrungen und als sie sich auszog, fühlte sich der Raum eisig an. In ihrem Koffer fand sie ihr seidenes Nachthemd, doch sie erkannte, dass es ihr hier nicht viel nützen würde. Unattraktive, lange Unterhosen und dicke Bettsocken würden sich besser eignen.
Emily zog die staubige, karmesinrote und goldene Patchwork-Tagesdecke zurück und schlüpfte ins Bett. Einen Moment lang starrte sie an die Zimmerdecke hinauf und dachte über all das nach, was in den letzten Tagen geschehen war. Einsam, kalt und mit einem Gefühl der Hilflosigkeit blies sie die Flamme der Laterne aus, überließ sich der Dunkelheit und weinte sich in den Schlaf.