Читать книгу Askuja - Sophie R. Nikolay - Страница 5

Flucht

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Nachdem der morgendliche Weckruf erklungen war und alle Arbeitskräfte sich aus den Betten gequält hatten, folgte die Aufstellung. Die Aufseherin schritt durch den Gang und achtete darauf, dass niemand sprach. Ihre grimmige Mimik reichte schon aus, dass sich jeder an das Sprechverbot hielt. Dafür musste sie nicht noch zusätzlich den Stab schwenken, den sie bei dem kleinsten Vergehen mit diabolischer Freude einsetzen würde. Die Stromschläge, die das Ding abgab, waren sehr schmerzhaft und niemand, der einmal das Vergnügen hatte, damit in Kontakt zu kommen, riskierte es ein zweites Mal.

In Reih und Glied verließen die Arbeitskräfte schließlich die Schlafhalle. Als die Aufseherin einen älteren Mann maßregelte, weil er es gewagt hatte zu husten, senkten alle den Blick. Keiner bemerkte, dass ganz am Ende der Reihe eine junge Frau einen Ausfallschritt machte und sich unter einem der Etagenbetten versteckte …

Die Minenarbeiterin trug die Bezeichnung AC24, was für Halle A, Reihe C und Bett 24 stand. Einen Namen hatte sie nicht, wie alle anderen innerhalb des Lagers.

Die Schritte verhallten langsam und erst, als absolute Stille herrschte, traute sie sich aus ihrem Versteck heraus. Hektisch wanderten ihre Blicke umher, doch sie war allein. So lange hatte sie darauf gewartet. Seit Wochen schwelte der Plan in ihr.

‚Jetzt oder nie!‘, sagte sie sich und huschte durch die Tür. Der karge Vorplatz war leer und keine Menschenseele zu sehen. Sie wusste, wo sich im Augenblick alle befanden. In einer großen Halle, in der das Essen gereicht wurde. Von dort aus würden alle Arbeitskräfte in die Mine getrieben werden. Die Stille ließ den Kies, über den sie lief, zu laut knirschen. Es kam ihr ohrenbetäubend vor und erst, als sie die Grasfläche erreicht hatte, erlaubte sie sich wieder zu atmen. Ihr Herz raste, als wolle es mit ihren Beinen konkurrieren, die über die einsehbare freie Fläche rannten. Dann erreichte sie das schützende Maisfeld. Die hohen Pflanzen verschluckten sie und doch gönnte sie sich nicht, eine Pause einzulegen. Sie rannte, als ob es um ihr Leben ginge. Was ja auch den Tatsachen entsprach. Jede Flucht wurde bestraft. Nur wie, das bekamen die Arbeiter nicht mit …

Die blonden Haare wehten hinter AC24 her, verfingen sich an den Pflanzen und verknoteten. Es spielte keine Rolle. Das Einzige, das zählte, war die Stadt zu erreichen. In Hope wäre sie sicher.

Während sie das Feld durchquerte, blieb sie wiederholt an den Pflanzen hängen. Ihre dünne und verschlissene Arbeitskleidung riss an einigen Stellen auf, doch es kümmerte sie nicht.

Keuchend verließ die Luft ihre Lungen und sie kämpfte sich weiter. Wie lang das Feld war, wusste AC24 nicht. Sie hoffte nur, wenn es endete, würde sie die Stadt sehen können.

Erschöpfung machte sich in ihr breit und doch gestattete sie sich nicht, auch nur für einen Moment stehen zu bleiben. Dann hörte sie den Alarm. Der Ton schallte über das Feld und Panik ergriff sie. Schon jetzt hatte man bemerkt, dass sie fehlte! Mit letzter Kraft preschte sie weiter vorwärts und stolperte schließlich aus dem Feld heraus. Vor ihr lagen die ersten Gebäude, die sie erreichen würde, wenn sie sich durch das Getreidefeld schlug. Ohne nachzudenken rannte sie weiter, trieb ihre Beine zur Höchstleistung an. Die Halme zu durchqueren, stellte sich schwieriger heraus, als Anfangs gedacht. Doch sie gab nicht auf, schaffte es schließlich hindurch. Ihre Brust brannte, die Seiten stachen und ihre Beine zitterten. Doch noch war sie nicht am Ziel, nicht in Sicherheit. Vielleicht zweihundert Meter sandiger Boden trennten sie von der erhofften Rettung, der Zuflucht. AC24 biss Zähne aufeinander und trieb ihren Körper an, nicht aufzugeben. Jeder Atemzug brannte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie um die Ecke eines Hauses bog, dem die Fenster fehlten. Der gepflasterte Weg wirkte ungepflegt. Die meisten der Häuser ebenfalls. Das nahm sie nur am Rande wahr. Ihr Blick war stur geradeaus gerichtet. Sie änderte die Richtung, hastete durch eine Gasse, die entsetzlich stank. Über ihrem Kopf hing Wäsche zum Trocknen und im Lauf riss sie etwas Gelbes von der Leine.

AC24 sprang in den nächsten Hauseingang, der im Schatten lag. Dort zerrte sie ihre Kleidung herunter, die sie eindeutig als Minenarbeiterin identifizierte. Das gelbe Etwas stellte sich als Kleid heraus, das sie rasch überzog. Anschließend riss sie einen Streifen Stoff von ihrer Hose und band damit ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Sie hätte gerne eine längere Verschnaufpause eingelegt, doch das Risiko war ihr zu groß. Sie spähte um die Ecke und konnte keinen Verfolger entdecken. Sie nahm das als gutes Omen und setzte ihren Weg fort. Es platschte, als sie in eine Pfütze trat. Ihr linker Schuh war vollkommen durchnässt, aber davon ließ sie sich nicht aufhalten. Ihre Füße trugen sie immer weiter in die Stadt hinein.

Endlich erreichte sie eine etwas breitere Straße, die belebter war. Einige Menschen waren unterwegs und AC24 glaubte sich in Sicherheit. Erst jetzt erlaubte sie sich, ihren Schritt zu bremsen und normal zu gehen. Rennend wäre sie unter den Leuten zu auffällig, zwei schiefe Blicke hatte sie schon geerntet.

Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen folgte sie der Straße. Ein Stück weiter vorne erkannte sie in Stein gehauene Stufen, die wohl in den höher gelegenen Teil der Stadt führten. Einem Bauchgefühl folgend stieg AC24 hinauf. Sie war fast oben, als hinter ihr donnernde Schritte erklangen. Erschrocken drehte sie sich um und sah einer Soldatin ins Gesicht. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie verloren hatte. Wie in Zeitlupe sah sie den Laser der Waffe aufflackern. Die Soldatin beschrieb einen Bogen mit dem Arm. AC24 stand wie erstarrt auf der vorletzten Stufe, spürte den brennenden Schmerz, der durch ihre Beine schoss, und sackte zusammen. Nur zu gerne ließ sie sich von der Dunkelheit umfangen, denn diese vertrieb die Höllenqualen, die der Laser ihr zugefügt hatte.

*

Pari und Firin liefen die Straße entlang. Ihr letztes gemeinsames Stück, ehe sich ihre Wege trennen und sie in entgegengesetzte Richtungen zur Arbeit gehen würden. Aus dem Augenwinkel heraus sah Pari eine junge Frau die Treppe heraufkommen, die sich plötzlich umdrehte und kurz darauf von einem Laser getroffen wurde. Abrupt blieb er stehen, was von Firin bemerkt wurde.

„Was ist?“, erkundigte der sich.

„Hast du das gerade gesehen?“ Pari starrte auf die Stelle, an der gerade noch die Frau im gelben Kleid stand. Verwirrt hielt er auf die Treppe zu und erkannte nach nur wenigen Schritten, dass die Blondine auf den Stufen lag. Etwas unterhalb stand eine Soldatin. Diese sah Pari kommen und versuchte ihn mit einer Handbewegung wegzuscheuchen, während sie sich mit dem Zeigefinger der anderen Hand das rechte Ohr zuhielt.

Pari sah sie entgeistert an, anschließend fiel sein Blick wieder auf die junge Frau, deren Beine abgetrennt auf den Stufen lagen. Er kam nicht dazu, die Soldatin zu fragen, weshalb sie das getan hatte, denn sie drehte sich um und hastete die Treppe herunter. Die Verwundete ließ sie einfach zurück.

„Was ist de…“, Firin blieben die Worte im Hals stecken, als er neben Pari trat.

„Verdammte Kacke! Was ist denn das?“

„Statt blöde Fragen zu stellen, solltest du mir lieber helfen“, murrte Pari und hockte sich neben die Bewusstlose. „Eine Soldatin hat sie angegriffen und ist dann abgehauen.“

„Was hast du vor?“

„Na was wohl? Wir können sie ja kaum hier liegen lassen. Schnapp dir die Beine, ich nehme das Mädel.“

Firin zog eine Grimasse, wehrte sich aber nicht gegen die Anweisung seines Freundes. Pari wuchtete die Blondine auf seine Arme, wobei wuchten der falsche Ausdruck war, die zierliche Gestalt war alles andere als schwer.

„Den Schleichweg zur Burg, schnell“, trieb er seinen Kumpel an, der die bis auf abgetretene Schuhe nackten Beine auf den Armen balancierte. Die Schnittkanten, die der Laser hinterlassen hatte, wirkten wie von einem Skalpell durchtrennt. Nur mit dem Unterschied, dass der Laser die Gefäße sofort versiegelt hatte. Pari wusste, die Mediziner in der Burg würden der jungen Frau die Beine wieder annähen können, wenn auch mit dem Verlust von zwei Zentimetern. Aber besser das, als gar keine Beine mehr zu haben …

Er wusste auch schon genau, an wen er sich zu wenden hatte. Zorigan, kurz Z, schuldete Pari noch etwas. Nun war eine Gelegenheit, den Gefallen einzufordern.

„Meinst du, die kümmern sich um sie?“ Firin klang zweifelnd.

„Einer von denen auf jeden Fall“, erwiderte Pari und bog um die nächste Ecke.

Über Gassen und Nebenstraßen nahmen sie den kürzesten Weg zur Burg, genauer gesagt, zum untersten Eingang des großen Komplexes. Die beiden jungen Männer – einer rothaarig, einer brünett und beide von kräftiger Statur – wurden mit einigen schrägen Blicken bedacht, die sicherlich ihrer Fracht galten.

Pari führte seinen Freund durch das schmiedeeiserne Tor am Fuße der Burg. Dieser Nebeneingang führte sie durch einen feuchten und dunklen Gang, der nur hin und wieder von einem Jugi-Licht erhellt wurde. Diese kleinen Lampen bestanden aus Glas, welches mit einem grünlich schimmernden Gas gefüllt war. Sobald Tageslicht darauf fiel, hörte das Jugidorum genannte Gas auf zu leuchten. Pari wusste nicht genau, von welchem Planeten es ursprünglich stammte, aber es spielte auch keine große Rolle.

Außer den Atemgeräuschen der Freunde waren nur ihre Schritte zu hören. In diesen Teil der Burg verirrten sich normalerweise nicht viele Leute, doch ausgerechnet an diesem Morgen kam ihnen jemand entgegen. Kein Wachsoldat, ein Zivilist, wie Pari kurz darauf erkennen konnte. Wortlos lief der an den Freunden und der zweigeteilten Frau vorbei.

Firin sah ihm nach. „Echt schräg“, murmelte er.

„Schräg sind eher wir …“, hielt Pari dagegen, was seinem Kumpel ein grunzendes Lachen entlockte.

*

Einige Stockwerke über den beiden lief Con eine Furche in seine Zelle. Er wartete darauf, dass der Wachdienst ausgewechselt wurde. Seit einer Woche saß er hier drin und hatte sich die Tagesabläufe eingeprägt. Er hatte es aufgegeben, sich über seinen Leichtsinn aufzuregen. Er war selbst schuld an seiner Lage. Jeder, der sich den Soldaten anschloss, hatte nach den Regeln zu leben. Con hatte eine davon missachtet und genau gewusst, was er tat. Dumm nur, dass Greston ihn mit dem Weib erwischt hatte …

Jetzt saß er in der Zelle fest, büßte für den Fehltritt, den er nicht bereute. Xini hatte ihn um den Finger gewickelt und er hatte es sich gefallen lassen. Die zierliche Schönheit mit der blauschwarzen langen Mähne und dem sinnlichen Mund brauchte nicht lange, um den Soldaten in die Fänge zu bekommen. Con ließ sich zu gerne auf den Flirt ein, spielte mit ihr, bis er von seinem Trieb überrannt wurde. Er ließ sich von ihr aus dem Lokal locken, folgte ihr in eine düstere Seitengasse und trat auf sie zu, als sie gegen die Wand gelehnt auf ihn wartete. Er kesselte sie mit seinem großen Körper ein, die Hände neben ihrem Kopf an die Wand gestützt, und beugte sich zu ihr herunter. Ihre Lippen trafen sich zu einem ersten, sanften Kuss, der binnen Sekunden in ein leidenschaftliches Intermezzo wechselte. Xini bog sich ihm entgegen und rieb sich an ihm …

Es fiel regelrecht über sie her, stemmte sie auf seine Hüften und genoss die Hitze in ihrem Schoß. Zu lange war es her gewesen und dann auch viel zu schnell wieder vorbei – und das, noch ehe es ein Ende gefunden hatte. Greston riss Con aus dem lustvollen Taumel und die Ernüchterung setzte schlagartig ein.

„Du hast absolute Abstinenz geschworen, Con. Das wird ein Nachspiel haben!“, donnerte der Befehlshaber und legte Con die elektrische Fessel an. Xini strich ihren Rock glatt und flüchtete, allerdings nicht ohne nochmals über die Schulter zu sehen und Con einen traurigen Blick zuzuwerfen.

Endlich. Der Wechsel der Wachmannschaft begann. Con trat an die Gittertür, quetschte seine große Hand durch die Stäbe und schob den kleinen Impulsgeber ins Schloss. Es sprang sofort auf. Es grenzte an ein Wunder, dass sie den nicht entdecken konnten, wo sie doch seinen gesamten Tascheninhalt ans Licht befördert und weggenommen hatten. Ob nun Zufall oder nicht, dank des Helferleins stand er kurz darauf vor dem Gitter und schloss die Tür hinter sich. Eilig und trotzdem mit kaum hörbaren Schritten lief der Soldat über den Gang, schlüpfte ins Treppenhaus und begann, sich über Umwege zum Ausgang vorzutasten. Dabei kam ihm der Umstand zugute, dass er den Bau kannte wie seine Westentasche. Während die oberen Geschosse für die Gefangenen reserviert waren, bot das Parterre eine Krankenstation für die Bürger. Im unterirdischen Teil hingegen lag die medizinische Abteilung, die den meisten Bewohnern Askujas völlig unbekannt war.

Con huschte wie ein Schatten über die Flure und achtete darauf, keine der Zellen zu passieren, die mit einem Gitter versehen waren. Diese Gänge mied er. Stattdessen nahm er den Umweg in Kauf und hastete durch den Trakt, in dem die Gefangenen hinter massiven Türen saßen. Con trug zwar weiterhin die Kleidung, die ihn eindeutig als Soldat identifizierte, sein Verhalten allerdings würde jedem Häftling verraten, dass er im Begriff war zu fliehen. Ihre schallenden Rufe, er solle sie doch mitnehmen, konnte er gar nicht gebrauchen …

Askuja

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