Читать книгу Schläferin - Sophie Reyer - Страница 6
1. EINSAMKEIT
ОглавлениеZuerst starrt sie die Glaswände an. Sie hat die Beine an den Bauchnabel gezogen. Auf der Wiese treiben es Karnickel miteinander. Von weither ist das Rauschen eines Zuges zu hören. Wie das Meer, denkt sie. Lauscht dem Summen nach und sieht sich den frischblauen Himmel an. Die Helligkeit sticht ihr in den Blick. Ihre Augen rollen herum. Immer wieder. Wollen nicht zur Ruhe kommen. Tollende Augen. Sie hockt in einem Quader aus Holz und Glas. Schaut und schaut. Ihr Spiegelbild schimmert in der Milchglasschicht der Frontseite. Ein Kuckuck ruft. Das Brausen eines Autos. Eines der Karnickel hopst von dem zweiten herunter und hoppelt davon. Sie sieht sein Plüschwollschwänzchen von hinten. Sieht weit ausholende Pfoten. Die Karnickel wuseln flink. Und weg sind sie. Kleine Fellknäuel. Sie lächelt. Ihre Augen rotieren wieder. Sie muss husten. Wartet auf die Veränderungen im Blau hinter dem Glas. Dass sich die Sonne ins vertrocknete Sommergras tunkt. Dass es Nacht wird. Nichts.
Man hat sie hierhergebracht. In dieses seltsame Glashaus. Nach dem Tod des Kindes hätte sie allem zugestimmt. Dichte Tage waren es. Schläferin, sagte Zoe. Wir bräuchten eine Schläferin. Sie hatte keine Angst mehr. Sie hatte alles verloren. Dass sie mit Licht experimentierten, hieß es. Photonenstrahlen. Sie war zu allem bereit. Ihr Herz war ein Kreisel. Ihr Kopf war ein Kreisel, der sich um alle Gedanken drehte. Schläferin.
Es ist, als ob alles mit den Glaswänden anfangen würde, denkt sie. Aber es stimmt nicht. Sie weiß von nichts, nur dass sie das Gefühl hat, die Stille würde sie auffressen. Langsam bekommt sie Sehnsucht nach dem Meer. Möchte loslaufen und sich in die Fluten stürzen. Aber was sie da hört, ist nur das Rauschen eines Zuges, der über die Schienen holpert, links vom Quader. Vielleicht sollte sie jetzt aufstehen. Irgendetwas tun gegen diese äußere Ruhe, die sie unruhig macht. Ihr gegen die Pupillen drückt, dass es schmerzt. Aber sie schaut nur. Der Koffer halb ausgepackt in der Ecke. Hin und wieder knackst das Holz. Ein Knistergeräusch. Ich sitze in einem Baum, denkt sie, und erinnert sich an die Baummaus und die Grasmaus in einem ihrer Kinderbücher. Wie sie mit spitzen Schnäuzchen aneinander nuckelten. Einander küssten. Sie muss grinsen. Ob sie dem Kind auch aus diesem Buch vorgelesen hätte?, fragt sie sich. Schiebt die Gedanken schnell wieder weg. Knackst mit den Zehen und guckt stumpf ihr Spiegelbild an. Als ob aller Anfang Glaswände wären, denkt sie und lacht sich selbst aus für diesen pseudophilosophischen Gedanken. Stille. Sie fährt sich durchs Haar. Hinter der Glasscheibe das leise Zittern vertrockneten Grases. Bäume. Ein Himmel, der langsam seine Farbe verändert. Sonst nichts.
Sie steht auf und streift in das Badezimmer. Die Kacheln sind kalt unter ihren bloßen Füßen. Die Badewanne ist ein riesiger heller Hohlraum. Das Fenster halb offen. Trotz der Sommerwärme zittert sie ein bisschen. Ein Käfer aus grüner Schale hockt im Waschbecken. Das schimmernde Kreuz einer Spinne, die sich von einer Ecke abseilt, ist zu sehen. Ihr Körper bibbert. Ihr ist, als ob der Quader atmen würde. Als ob er aus organischem Material gemeißelt wäre. Als ob sie im Inneren einer Gebärmutter hocken würde. Von einer riesigen Vagina verschluckt. What to do, denkt sie und: Nowhereland. Lässt sich vom Duschkopf Wassertropfen auf die Haut rieseln. Kurze Zeit geht es den Augen besser und sie machen keine großen Sprünge mehr. Als sie aus der Badewanne steigt, muss sie Rotz aufziehen. Dann: die Nässe aus der Haut rubbeln. Auf dem Waschbeckenrand liegt ein Föhn. Was das für einen Krach machen würde, den einstecken, denkt sie. Und dann: einschalten. Damit baden gehen. Bei dem Gedanken muss sie abrupt husten. Lenk dich ab, sagt sie sich. Steigt wieder aus der Wanne und reibt sich die Fußsohlen trocken. Läuft dann schnell ins andere Zimmer. Glaswände. Sie geht auf und ab. Nackt. Das Handtuch rutscht ihr von den Schultern, bleibt am Boden liegen. Sie weiß nicht, was sie tun soll gegen die inneren Bilder. Greift sich an die Schläfen. Drückt mit den Fingerkuppen fest dagegen. Soll sie das Rouleau zuziehen? Die Farben am Himmel beginnen, sich zu verändern. Wann kann sie den nächsten Zug hören? Sie spuckt Schleim aus. Szenen aus ihrer Kindheit steigen auf vor ihrem inneren Auge. Sie muss zur Ruhe kommen, denkt sie. Setzt sich aufs Sofa und drückt eine Pille aus der Kapsel. Dann nickt sie ein.
Ich sehe jetzt alles sehr klar. Ich bewege mich leichter und sicherer als sonst.
Meine Hände. Ich muss im Traum immer meine Hände anblicken, hat Zoe gesagt, dann kann ich ihn lenken oder verlassen. Alles kein Problem. Ich gehe durch eine Landschaft. Licht, überall. Die Helligkeit tut weh. Ich sehe Kinder, die auf der Wiese herumlaufen. Viele. Sie sind leicht bekleidet, ihr Haar weht im Wind. Das Gras kitzelt meine Füße. Ich bewege mich, als wäre ich in einer Wasserblase. Ich lächle. Da: ein Pochen. Ist es mein Herz? Nicht vergessen, ich träume nur. Oder –
Sie schreckt aus dem Schlaf. Es hat geklopft. Sie öffnet die Türe. Lächelt ein verrunzeltes Gesicht an.
Mädchen, ich bin die Milchfrau. Ich versorg die Schläfer. Hab hier Milch für dich. Und Äpfel.
Danke.
Geht’s gut?
Verdammt still ist’s hier, antwortet sie vage.
Wird schon werden. Wir haben hübsche Gärtner. Und immer wieder Künstler, Stipendiaten.
Sie tut so, als hätte sie das nicht gehört und malt mit der großen Zehe kleine Muster auf den Holzboden.
Wenn Sie was brauchen, wir sind morgens im Backsteinbau auf einen Kaffee, fügt die Frau hinzu.
Ich glaube nicht, antwortet sie. Aber danke.
Sie betrachtet den breiten Rücken der Milchfrau und deren auftoupierte helle Haare. Die Milchfrau öffnet die Türe ihres Trucks. Schiebegeräusch. Es knallt. Der Motor startet. Ein Dröhnen. Dann kommt die Ruhe zurück, und ihr ist, als würde die Luft atmen. Sie knackst mit den Zehen. Seufzt. Öffnet die Milchpackung. Pack den Koffer aus, denkt sie. Aber sie bleibt regungslos stehen und kann nur starren. Auf die pelzigen Wollkörper der Karnickel starren. Sonst nichts. Plötzlich steht sie auf, eine abrupte Bewegung. Sie setzt sich an den Holztisch. Nowwhereland. Das Fotoalbum liegt schon da. Sie greift mit zittrigen Händen danach. Das Plastik macht ein leises Geräusch zwischen ihren Fingern. Auf den Bildern das Kind. Ein kleines Bündel aus Fleisch. Hässlich und runzelig. Das Gesicht uralt. Ein Greisengesicht. Sie sieht die Züge des Kindes an, das zusammengerollt auf weißem Frottee liegt. Die winzigen Hände zu Fäusten geballt. Dass sie nicht versteht, was so besonders sein soll an diesem Häufchen aus Haut, denkt sie und schließt die Augen. Öffnet sie wieder. Als sie aus dem Fenster sieht, erblickt sie Zoe am Gartenzaun. Der große schlanke Körper mit den stehenden Brüsten, die aussehen, als wären sie geschwollen, geht auf sie zu. Sie betrachtet Zoes Mund, der sich zu einem schiefen Lächeln nach oben schiebt. Sie grinst zurück. Ein wenig asymmetrisch. Steht auf und schiebt die Holztüre zur Seite. Zoe steigt über die Treppen auf die Veranda und drückt sie in eine Umarmung. Es ist wie ein Würgen, denkt sie.
Bist du gut angekommen?
Sie nickt.
Alles klar.
Blass schaust du aus.
Sie blickt zu Boden. Zoe greift nach ihren Fingern und nestelt daran herum.
Lass uns spazieren gehen. Ich zeig dir die Raketenstation.
Ja.
Sie trippelt die Holztreppe hinunter. Gemeinsam streifen sie durchs verwilderte Gärtchen. Hand in Hand. Die Handinnenflächen beginnen ihr zu schwitzen. Du klebst an Zoes Fingern fest, denkt sie. Zoe zeigt ihr das Areal.
Wie geht es dir denn?, fragt Zoe.
Sie versucht, zu lächeln.
Ich überleb’. Und du?
Zoe lacht.
Ich freu mich, dich zu sehen.
Da kommt Zoes Kind angerannt. Die Haare lockig in alle Richtungen stehend, der kleine kompakte Körper halbnackt. Wie idyllisch es hier ist, denkt sie. Zumindest außen.
Spiel mit mir, sagt das Kind.
Sie lässt sich also vom Kind in die Garage zerren.
Zieh mir Flügel an!, ruft das Kind.
Sie nickt. Dabei denkt sie, dass das Kind einen Froschmund hat.
Dann üben wir fliegen!
In Ordnung.
Sie fädelt die kleinen Arme durch filigrane Libellenflügel aus Papier. Dann muss sie das Kind hochheben und Flugzeug spielen auf der verwilderten Gartenwiese. Das Kind rutscht aus. Wetzt sich das helle Knie auf. Verzieht den Froschmund und schleudert ein Plärren aus dem Rachenraum heraus, sodass Zoe aufzuckt. Auf es zuläuft. Es hochhebt. Mit den Handflächen über das gewellte Haar fährt.
Ist schon wieder gut, hört sie Zoe sagen und sieht, wie sie ihr Kind an den weichen Bauch drückt. Sie weiß nicht, wie dreinschauen. Das Kind wimmert. Seltsam, dieses Muttersein, denkt sie.
Ich hab einen Fernseher, den ich nicht brauche, sagt Zoe. Willst du ihn haben?
Vielleicht.
Sie macht eine kurze Pause.
Die Ruhe hier lässt sich nur schwer ertragen, oder?, fragt sie dann.
Es ist so ruhig hier, damit du nur schläfst, sagt Zoe. Das wird dir guttun. Wirst schon sehen.
Er schält sich aus seinem Sakko. Knöpft sich das Hemd auf. An den Handgelenken, am Hals. Der Bunker ist einige Meter hoch, ein einziges riesiges Zimmer, in dem alles vorhanden ist: ein Bett in der Ecke, eine kleine Kochnische, eine Badewanne mit Duschkopf, eine Toilette. Er drückt gegen den Lichtschalter. Eine winzige Glühbirne flackert kurz auf. Wird dann heller. Er seufzt. Legt das Hemd zusammen. Fein säuberlich. Platziert es auf einem der beiden Sessel, die neben dem einfachen Holztisch stehen. Zieht die schwarze Schnürlsamthose aus. Nur in Unterhose und Socken steht er da, der Bauch, prall vom Abendessen, wölbt sich ein wenig über den Hosenansatz. Er seufzt erneut. Der Koffer liegt auf dem Bett. Er greift nach den Büchern, nimmt sie heraus. Eines nach dem anderen. Schlichtet sie in die Regale hinein, die am Kopfende des Bettes stehen. Das Handy läutet. Wieder stößt er einen Seufzer aus und umarmt den eigenen Körper. Das Handy hört zu läuten auf. Er fährt sich über die dunkle, sommersprossengesprenkelte Haut. Greift dann nach dem Mobiltelefon. Tippt die Nummer ein. Drückt die grüne Taste.
Bill, bist du gut angekommen?
Ja, bin ich.
Mach’s dir bloß nicht zu gemütlich, sag ich dir.
Er zieht die Beine an den Bauch. Spielt ein bisschen mit den Zehen herum. Lustige kleine Knubbel, denkt er und grinst.
Bist du noch da?
Ja, Alex. Keine Angst.
Ich sag dir, wir haben nicht viel Zeit.
Er blickt sich im Raum um. Das fahle Licht der Glühbirne, das immer wieder aufflackert. Irgendwie romantisch, so eine Garage zum Zeichnen, denkt er.
Ich weiß schon, das ist ein gefundenes Fressen für dich. Natur und Malen und so. Aber wir müssen mit den Infos raus, vor den nächsten Wahlen noch.
Ich weiß, sagt er.
Er knackst mit den Füßen, streckt den Rücken durch. Atmet fest aus.
Wie kannst du nur so ruhig bleiben, Mann?
Hinter dem halboffenen Garagentor sieht er einen Schatten vorbeihuschen. Von weiter weg Grillengezirpe und leises Rascheln. Ob eines der Karnickel durchs Gras wuselt?, fragt er sich. Er lächelt und merkt, dass er schon beginnt, den Bunker zu mögen.
Was hilft es, das Leben ist doch zu schön, Alex.
Heiseres Lachen am anderen Ende der Leitung.
Wenn du das sagst.
Ich sag das, ja.
Nachdem er aufgelegt hat, steht er langsam auf. Leichtes Knarren. Der Betonboden fühlt sich kalt an unter seinen bloßen Füßen. Er sieht an sich herunter, betrachtet die Zehen, die kleinen platten Füße, Schuhgröße 39. Wieder der Schatten. Er geht auf das Garagentor zu, bückt sich ein wenig. Dann: leuchtende Augen, die aus der Dunkelheit heraus glühen und ihn fixieren. Eine schnelle Bewegung, wie ein Schleier aus Fell. Eine Katze, denkt er. Er lächelt, streckt sich. Streift entspannt zu seinem Koffer zurück und holt eine Holzrolle heraus, die neben einer Pistole liegt. Zippt dann den Verschluss des Koffers zu und schiebt ihn unter das Bett. Er legt die Holzrolle auf den Boden und seinen Körper darauf. Bauch nach oben. Er dreht die Rolle im Rücken ein wenig umher, die Betondecke fixierend. Schaut die Spinnennetze an, den bröckeligen Putz. Der Rücken kracht ein wenig. Wie gut das tut, so eine Massage, denkt er. Seufzt. Morgen wird er zu malen beginnen. Und danach mit der Recherche.
Noch lange kann sie nichts anderes tun, als in die Landschaft zu schauen. Ihr kommt es vor, als blicke sie in einen Abgrund. Irgendwann beginnt sie, die Geräusche zu hassen. Das Summen der Maschinen, die die Autobahn entlangfahren. Das Zirpen der Vögel, die nichts als singen und sich freuen wollen. Dann zieht sie die Rouleaus vor den Glaswänden zu, um ihr eigenes Gesicht nicht sehen zu müssen. Sie kann nichts anderes tun als dasitzen und schauen. Zoe hat recht, sie braucht einen Fernseher. Sie muss sich irgendwie ablenken. Kramt nach einem Buch. Versucht zu lesen. Die Buchstaben wandern vor ihrem Blick davon. Buchstabensalate. Weg damit. Es hilft nichts. Sie atmet und starrt in die Luft. Es hat diesen Säugling nie gegeben, sagt sie sich. Irgendwann glaubt sie daran. Irgendwann schläft sie ein.
Zauberhaft. Es schillert ein seltsam heller Horizont vor meinem Blick. Scheint so, als würde es hier keine Tage und Nächte geben. Wir bewegen uns wie unter Wasser. Nichts geschieht und alles geschieht gleichzeitig. Dennoch ist eine Wirklichkeit da: die Wiese, die Karnickel, der Wind. Die Kinder flechten einander Blüten ins Haar und tanzen. Hin und wieder ziert ein rosafarbener Schimmer den Himmel, der dann wieder verschwindet, sonst nichts. Alles gut, ich träume, was soll noch geschehen? Schläferin. Ich schließe die Augen. Versuche abzudriften. Aber es funktioniert nicht. Was mich stutzig macht, ist diese Helligkeit. Es scheint, als wäre ich betrunken. Plüschige Kaninchen, die von den Kindern in die Höhe gehoben werden. Licht. Ich kann nur schauen. Schauen und da sein. Es gibt kein Entkommen, keine Ränder. Als wäre ich ganz und gar wach. Helligkeit.
Das Morgenlicht, das durch die Spalte der Rouleaus in den Quader dringt. Beschissene Helligkeiten, denkt sie. Fummeln ihr an den Lidern rum. Sie grunzt und wälzt sich auf die andere Seite. Zieht in einer raschen Bewegung die Decke über den Kopf. Sie möchte die Fröhlichkeit des Vogelgezwitschers verdrängen. Es hört sich an, als läge sie unter freiem Himmel. Sie fühlt sich dabei wie eine der Figuren aus den Kinderbüchern, die sie gekauft hätte. Wenn das Bündel aus Fleisch noch da wäre. Sie steht auf, blickt auf die idyllische Welt hinter den Glaswänden. Wolken hängen am Himmel. Sie rollt mit den Augen. Reibt sich die Lider. Sie will nichts essen. Füllt Kaffee in den Trichter.
Gegen Mittag erstmals: rausgehen. Die Feldwege entlang. Vorbei an einer riesigen Skulptur aus Stein. Die sieht aus, als würde sie sich um sich selbst winden, denkt sie. Sie geht an Äckern vorbei. Weiter hinten Kinder, die auf Ponys reiten, aufgefädelt wie auf einer Schnur. Ärsche auf Ärschen in wippenden Bewegungen. Die doppelten Hinterteile biegen um die Kurve. Kommen ihr entgegen. Der Reitlehrer guckt sie an. Er hat riesige Augen, wie Walnüsse. Sie lächelt den Kindern zu. Dabei ist ihr, als wäre ihr Gesicht eine Schmerzfratze. Verzerrt. Die langen Haare des Reitlehrers sehen aus wie Wollfäden. Hängen seinem Kopf im Wind nach. Sie vermeidet es, ihn anzuschauen. Sie müsste sonst an Sascha denken, und an das Kind. Gut, dass es weg ist, sagt sie sich und stiert auf den Feldweg.
Später: bei Zoe läuten. Das Kind mit dem Froschmaul krebst in spastischen Bewegungen am Boden herum.
Dank dir, sagt Zoe.
Ich hab ja nichts zu tun, entgegnet sie lächelnd.
Pause.
Zoe, meint sie dann, ich muss mit dir reden.
Die Freundin sieht sie erstaunt an.
Worüber denn?
Das weißt du doch, entgegnet sie.
Zoe verdreht die Augen.
Es ist tabu, über die Arbeit als Schläferin zu sprechen.
Sie nickt.
Aber was ich träume, das ist so hell, Zoe. Du kannst dir das nicht vorstellen. Ist es durch die Photonen? Was passiert da?
Zoe nimmt sie zur Seite, spricht leiser.
Hör zu. Es war ausgemacht, dass du den Job annimmst. Du kommst einmal im Monat durch die Sonde. Wir checken die Daten. Das ist alles.
In dem Moment ist das Kind wieder aufgestanden und stößt ihr einen Faustschlag in den Bauch. Sie lächelt, sie mag den Schmerz. Als hätte sie ihn verdient, denkt sie. Das Kind greift nach ihren Händen und knickt sie nach hinten. Zoe schimpft. Hebt das Kind hoch.
Schweig darüber, meint Zoe scharf.
Klar, sagt sie.
Zoe wendet sich ab, will gehen. Dann dreht sie sich plötzlich um.
Was ich noch sagen wollte, murmelt sie.
Ja?
Neben dir wohnt ein junger Mann. Dietrich. Eben erst zurückgekommen aus der Klinik. Alkoholproblem. War früher sehr verwickelt in die Photonenexperimente. Manchmal sitz ich mit ihm zusammen. Nach zwei Stunden sieht er Gott in mir, und wenn er dann noch weitertrinkt, will er entweder mit mir schlafen oder mich verprügeln.
Sie lacht.
Gute Nacht, Zoe, sagt sie. Hau ab auf deine Party.
Warte. Vielleicht besuchst du ihn mal. Nüchtern ist er in Ordnung.
Sie zuckt mit den Schultern. Zoe schließt die Gartentüre hinter sich, während das Kind zu jammern beginnt.
Als sie in den Quader zurückkehrt, versucht sie zu schlafen. Es ist ihr aber, als läge sie in einer Öffnung der Erde. Irgendwo auf einer Wiese. Sie wartet immer wieder auf die Fahrtgeräusche der Züge. Wer wohl in den Zügen sitzt?, fragt sie sich. Sie fühlt sich leicht schwindelig. Kann nicht einschlafen. Immer wieder dreht sie den Körper zur Seite. Dann wieder auf den Rücken. Dann wieder zur Seite. Macht sich zum Ei. Ein Kuckucksruf ertönt. Es wird kühler. Gewitterwind, der am Holzquader rüttelt. Dann das Donnern. Es ist, als wäre ihr Hirn dem Himmel ausgesetzt. Sie richtet sich kerzengerade auf im Bett, fast ruckartig. Blättert nochmals in den Seiten des Fotoalbums. Ob es normal ist, dass sie keinen Schmerz fühlt, fragt sie sich. Dass der Verlustschmerz in ihr nicht spürbar wird. Egal, denkt sie. Sie schluckt die Pille. Sie hat jetzt eine Aufgabe.
Das Letzte war Licht: die Zeitlosigkeit. Sie schwappt wieder über mich. Ich bin in einer Perle geborgen. Luftleerer Raum, Blase. Alles wiegt sich um mich herum, schaukelt, schwebt, wiegt mich. Oder bin ich es, die wiegt? Auch das macht keinen Unterschied mehr. Überall singende Kinder, Kaninchen, weite Wiesen, Wind, der die Gräser zittern macht – halt! Da geht jemand spazieren. Ein Schatten, ein Schemen. Seltsam, wo doch rundherum alles in so helles Licht getaucht ist. Was soll der Fremdkörper da? Ist es ein Mann? Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, er hat mir den Rücken zugedreht. Vergiss deine Hände nicht, fixiere die Füße, du träumst! Du hast deine Handlungen unter Kontrolle. Folge ihm! Sieh genauer hin! Was hat er für ein Hemd an? Nein, es passt nicht hierher, dieses Hemd. Es ist mit Flecken übersät! Als wäre er ein Maler. Kann das sein? Die Kinder, der Himmel, alles tönt und singt. Nur er: wie hineincollagiert in diese Perfektion, bricht mit der Stimmung. Ich muss ihm folgen. Ich muss –
Als er aufwacht, fällt ihm auf, dass die Garagentüre die ganze Nacht halb offen gestanden ist. Licht dringt durch die Spalte. Fällt auf den Betonboden. Er reibt sich kleine helle Bröckchen aus den Augen. Gähnt. War das eine Frau, die er im Traum gesehen hat? Es schien, als würde sie ihm folgen wollen. Egal. Er reibt sich die Lider. Zieht dann die Beine an den Bauch. Embryohaltung. Als er in die Ecke guckt, sieht er einen gräulichen Fleck am Boden. Er strengt den Blick an, flackernde Lider, kneift die Augen zusammen. Ein Fellbündel kann er erkennen. Die Katze. Sie sitzt da, fixiert ihn bewegungslos. Auf dem Hinterteil hockend, die Tatzen vom Oberkörper weggestreckt. Er lächelt, formt die Lippen zu einem Schnabel, gibt ein Geräusch von sich, das nach Maunzen klingen soll. Die Katze dreht den Kopf zur Seite. Springt auf. Buckelt durch den offenen Spalt der Garagentüre. Ihr Schwanz baumelt hintendrein. Er lächelt. Du beginnst schon, die Gegend zu mögen, denkt er, und: Schritt für Schritt. Abwarten ist seine Strategie. Dass die Möglichkeiten zu ihm kommen werden, sagt er sich. Und die Informationen. Er rollt sich zu einem Ei zusammen, schließt die Augen. Döst, schlummert. Die Kontinuität des Rauschens der Blätter trägt ihn fort.