Читать книгу Tagebuch des Verführers - Серен Кьеркегор, Søren Kierkegaard, Chr. Hansen - Страница 1

Оглавление

KAUM kann ich der Angst Herr werden, die mich bei meinem Thun ergreift; zwar habe ich mich in meinem eigenen Interesse entschlossen, die flüchtige Kopie, die ich mir damals in aller Eile und mit grosser Unruhe im Herzen verschaffen konnte, mit Sorgfalt ins Reine zu schreiben. Alles ist heute ebenso beängstigend und ich fühle wie damals dieselben Vorwürfe. Sein Schreibpult war nicht geschlossen, und alles was darin war, stand zu meiner Verfügung. Ein Schubfach stand offen. Darin waren verschiedene lose Papiere und darauf ein mit Geschmack gebundenes Buch in Quartformat. Es lag eine Seite aufgeschlagen, auf der war aus weissem Papier eine Etiquette, worauf er mit eigner Hand geschrieben hatte: Commentarius perpetuus N. 4. – Ich versuche mir jetzt vergeblich einzureden, wäre das Buch nicht aufgeschlagen gewesen und hätte der Titel mich nicht so gereizt, ich hätte mich dem Versucher nicht so schnell ergeben.

Der Titel war seltsam, besonders durch seine Bedeutung.

Aus einem flüchtigen Blick auf die losen Papiere konnte ich sehen, dass sie Aufzeichnungen erotischer Situationen, einzelne Andeutungen über dieses und jenes Verhältnis, sowie Entwürfe zu ganz eigentümlichen Briefen enthielten.

Jetzt durchschaue ich das ränkevolle Herz dieses verdorbenen Menschen, vergegenwärtige ich mir wieder die Situation, als ich mit meinem für alle Arglist offenen Auge vor jene Schublade hintrat, so ist es mir wie einem Polizeibeamten, wenn er in das Zimmer eines Falschmünzers kommt und in einem Schubfach eine Menge loser Papiere findet, hier ein Ornament, da einen Namenszug. Er weiss wohl, er ist auf der richtigen Spur und in die Freude darüber mischt sich Bewunderung für das Studium und den Fleiss, der hier verwendet wurde. Da ich aber kein Polizeischild trage, so fand ich mich auf ungesetzlichen Wegen. Ich fühlte mich dieses Mal nicht minder arm an Gedanken als an Worten. Man lässt sich von einem Eindruck imponieren, bis die Reflexion sich wieder losreisst und wechselnd und hastig in ihren Bewegungen sich nähert und einnistet bei dem unbekannten Fremden. Je mehr die Reflexion entwickelt ist, desto schneller fasst sie sich; wie ein Schreiber, der Pässe nach dem Ausland ausfertigt, gewohnt ist, die abenteuerlichsten Gesichter zu sehen, so lässt sie sich nicht verblüffen. Aber trotzdem meine Reflexion sehr stark entwickelt ist, war ich doch im ersten Augenblick sehr erstaunt. Ich erinnere mich gut, ich wurde blass, und fiel beinahe um. Und welche Angst fühlte ich! Wenn er nach Hause gekommen wäre und hätte mich ohnmächtig vor dem geöffneten Schreibpult gefunden! Ein böses Gewissen kann doch wirklich das Leben interessant machen. Der Buchtitel frappierte mich im Grunde nicht. Ich dachte, es wäre eine Sammlung von Exzerpten, was mir ganz natürlich erschien, da er immer fleissig studierte. Aber der Inhalt war ein ganz anderer. Nichts weniger als ein sorgfältig geführtes Tagebuch; wie ich ihn von früher kannte, glaubte ich nicht, dass sein Leben Kommentare bedurfte, aber nach dem Einblick, den ich mir jetzt gestattete, kann ich nicht leugnen, dass der Titel mit viel Geschmack und viel Überlegenheit über sich und die Situation gewählt war. Der Titel steht in vollständiger Harmonie mit dem Inhalt. Poetisch zu leben war sein Lebenszweck. Er verstand mit seinen sehr entwickelten Sinnen das Interessante im Leben zu finden und das Erlebte fast dichterisch zu reproduzieren. Historisch genau ist sein Tagebuch nicht, auch nicht erzählend, nicht indikativisch aber konjunktivisch. Alles ist erst später niedergeschrieben und trotzdem wirkt es so dramatisch lebendig, als sähen wir den Augenblick.

Dass das Tagebuch keinen andern Zweck als nur persönliche Bedeutung für ihn haben sollte, ist augenfällig. Anzunehmen, dass es ein Dichtwerk sei, und vielleicht auch zum Druck bestimmt, diese Annahme verbietet sowohl die Art des Ganzen als auch die Einzelheiten. Für seine Person brauchte er doch nicht zu fürchten es herauszugeben, denn die meisten Namen sind so sonderbar gewählt, dass sie nicht historisch sein können. Einen Verdacht habe ich doch, dass die Vornamen historisch richtig sind, so dass er für seine Person immer wieder sicher war, die wirklichen Personen herauszufinden, während jeder Uneingeweihte von den Familiennamen irregeführt werden musste. So verhält es sich allenfalls mit dem jungen Mädchen, das ich kannte und um welches sich das Hauptinteresse sammelt – Cordelia. Ganz richtig, sie hiess Cordelia, aber nicht Wahl.

Woher hat das Tagebuch nun diesen dichterischen Charakter? Darauf ist nicht schwer zu antworten. Sein Verfasser hat eine dichterische Natur und wenn man so sagen will, sie ist nicht reich genug und nicht arm genug, um Poesie und Wirklichkeit von einander zu trennen. Das Poetische war das plus, das er selber dazugab. Das plus war das Poetische, das er in der poetischen Situation der Wirklichkeit genoss; und dieses nahm er in Form dichterischer Reflexion wieder zurück, dieses war der zweite Genuss und sein ganzes Leben durch rechnete er mit dem Genuss. Im ersten Fall genoss er persönlich das Ästhetische, im zweiten Fall genoss er ästhetisch seine Persönlichkeit. Im ersten Fall war die Pointe die, dass er egoistisch persönlich das genoss, was ihm das wirkliche Leben teils gab, teils das, womit er selbst die Wirklichkeit schwanger machte. Er gebrauchte im ersten Fall die Wirklichkeit als ein Moment, im zweiten Fall war die Wirklichkeit im Poetischen aufgegangen. Die Frucht des ersten Stadiums ist also die Stimmung, aus welcher das Tagebuch als die Frucht des zweiten Stadiums hervorgegangen ist. Doch dies Wort muss im letzten Fall in etwas anderer Bedeutung genommen werden als im ersten. Das Poetische hat er also immer in und durch die Doppelform gehabt, unter welcher sein Leben verlief.

Hinter der Welt, in der wir leben, fern im Hintergrund, liegt eine andere Welt, die ungefähr in demselben Verhältnis zu jener steht wie das Verhältnis der Scene im Theater zur wirklichen Scene. Man sieht durch einen dünnen Schleier wieder eine Welt von Schleiern, leichter, mehr ästhetisch, von einem anderen Wert als die wirklichen Werte. Viele Menschen, die sich körperlich in dieser Welt zeigen, gehören nicht in diese, sondern sind in der anderen Welt zu Hause. Doch dass ein Mensch oft hinschwindet, ja fast verschwindet, kann seinen Grund entweder in einer Krankheit oder in einer Gesundheit haben. Das letzte war der Fall mit diesem Menschen, den ich einmal gekannt habe, ohne ihn zu kennen. Er gehörte nicht zur Wirklichkeit und doch hatte er viel mit ihr zu thun. Er drang immer tief in sie hinein und selbst wenn er sich am tiefsten ihr hingab, war er ausserhalb. Es war aber nicht das Gute, das ihn forttrieb, auch nicht eigentlich das Schlechte, das darf ich ihm in keinem Augenblick nachsagen. Er hat an einem Exacerbatio cerebri gelitten, wofür die Wirklichkeit nicht genug Incitament hatte, höchstens nur momentweise. Er verhob sich nicht an der Wirklichkeit, er war nicht zu schwach sie zu tragen, nein, er war zu stark, aber diese Stärke war eine Krankheit. Sobald die Wirklichkeit ihre Bedeutung als Incitament verloren hatte, war er entwaffnet, darin lag das Schlechte bei ihm. Dies war er sich selbst im Augenblick des Incitament bewusst, und in diesem Bewusstsein lag das Böse. Das Mädchen, dessen Geschichte den Hauptinhalt des Tagebuches ausmacht, habe ich gekannt. Ob er mehrere verführt hat, weiss ich nicht; doch scheint es aus seinen Papieren hervorzugehen. Es scheint auch, er hat noch eine andere Art von Praxis getrieben, welche ihn ganz charakterisiert. Denn er war geistig zu gross veranlagt, um ein gewöhnlicher Verführer gewesen zu sein. Aus dem Tagebuch sieht man zuweilen, dass er oft etwas Willkürliches haben wollte. Einen Gruss zum Beispiel, und um keinen Preis etwas mehr, weil das gerade das Schönste bei der betreffenden Dame war. Mit Hilfe seiner grossen geistigen Begabung hat er ausgezeichnet verstanden, ein Mädchen in Versuchung zu bringen, an sich zu fesseln, ohne sie im strengsten Sinn zu nehmen, besitzen zu wollen. Ich kann mir vorstellen, er konnte ein Mädchen auf den Punkt bringen, dass er sicher war, sie würde Alles für ihn opfern. Wenn es dann so weit gekommen war, so brach er ab. Ohne dass von seiner Seite die mindeste Annäherung geschehen war, ohne dass ein Wort über Liebe gefallen war, oder gar eine Erklärung, ein Gelübde. Und doch war es geschehen. Und die Unglückliche behielt das Bewusstsein darüber doppelt bitter. Weil sie sich nicht auf das Mindeste berufen konnte, weil sie immerfort von den verschiedensten Stimmungen in einem schrecklichen Hexentanz herumgejagt wurde. Denn bald machte sie sich Vorwürfe und verzieh ihm, bald ihm Vorwürfe und da das Ganze in Wirklichkeit nicht existierte, musste sie sich selbst fragen, ob das Alles nicht eine Einbildung gewesen sei. Niemandem konnte sie sich anvertrauen, denn sie hatte eigentlich nichts anzuvertrauen. Wenn man geträumt hat, kann man andern seinen Traum erzählen, aber das, was sie zu erzählen hatte, war ja kein Traum, es war Wirklichkeit. Und doch, sobald sie ihrem bekümmerten Herz Luft machen wollte, so war es nichts. Das fühlte sie sehr gut. Kein Mensch, kaum sie selbst konnte es fassen, und doch ruhte es als ängstlicher Druck auf ihr. Solche Opfer waren daher von ganz eigentümlicher Natur. Es waren keine unglücklichen Mädchen, die sich von der Gesellschaft ausgestossen glaubten, sich gesund und stark grämten und wo es ab und zu, wenn das Herz zu voll war, Hass und Verzeihung gab. Keine sichtbaren Veränderungen gingen mit ihnen vor; sie lebten in den alten gewohnten Verhältnissen, geachtet wie immer und doch waren sie verändert, fast unerklärlich vor sich selbst, unbegreiflich für Andere. Ihr Leben war nicht, wie das der Verführten, zerknickt und gebrochen, es war in ihnen selbst gebrochen; für andere verloren, suchten sie sich selbst zu finden. Im selben Grad wie man sagen konnte, dass sein Weg ohne Spur durch das Leben ging, so hinterliess er kein Opfer, er lebte zu viel geistig, um ein Verführer im gewöhnlichen Sinne zu sein. Zuweilen nahm er doch einen parastatischen Leib an und war da nur Sinnlichkeit. Selbst seine Geschichte mit Cordelia ist so verwickelt, dass es ihm möglich war, als der Verführte auftreten zu können. Selbst Cordelia konnte zuweilen zweifeln, auch hier sind seine Fusspuren so undeutlich, dass jeder Beweis unmöglich ist. Die Menschen waren für ihn nur ein lncitament; er warf sie von sich weg, wie die Bäume die Blätter abschütteln– er verjüngte sich, das Laub verwelkte.

Aber in seinem eigenen Kopf, wie mag es da aussehen? Andere hat er irregeführt, er wird auch einmal selbst irrelaufen. Die andern hat er innerlich irregeführt, nicht äusserlich. Wenn ein Wanderer einen Menschen nach dem Weg fragt, so ist es empörend, ihm einen falschen Weg zu weisen. Das ist aber noch gar nichts gegen das, dass man einen Menschen an sich selbst irremacht. Beim verirrten Wanderer wechselt wenigstens zum Trost immer die Landschaft um ihn, und er hat an jeder Wegbiegung die Hoffnung, doch noch den rechten Weg zu finden, der aber, der an sich selbst irre wurde, hat kein so grosses Territorium, er merkt bald, dass er in einem Kreislauf ist, aus dem er sich nicht herausfindet. So, denke ich, muss es ihm einmal gehen, in noch viel schrecklicherem Masse. Ich kann mir nichts qualvolleres vorstellen, als einen intriganten Kopf, der den Faden verliert und dessen Scharfsinn sich gegen ihn selbst wendet, besonders im Augenblick, wo ihm das Gewissen erwacht. Vergebens hat er in seiner Fuchshöhle viele Ausgänge, schon glaubt er das Tageslicht zu erreichen, aber er merkt, dass es nur ein neuer Eingang ist, wie ein verzweifeltes Wild sucht er immer einen Ausgang und findet stets einen Eingang, der zu ihm selbst zurückführt. Ein solcher Mensch ist nicht gerade ein Verbrecher, er wird oft von seinen eigenen Intriguen selbst getäuscht, und doch bekommt er eine schrecklichere Strafe als ein wirklicher Verbrecher; denn was ist der Schmerz der Reue im Vergleich mit diesem bewussten Wahnsinn? Seine Strafe hat einen rein ästhetischen Charakter. Denn schon dass das Gewissen erwacht, ist für ihn zu ethisch. Das Gewissen gestaltet sich für ihn als ein höheres Bewusstsein, das sich als Unruhe äussert, und ihn auch im tiefsten Sinn nicht anklagt, aber ihn wachhält und ihm in seiner Friedlosigkeit keine Ruhe giebt. Wahnsinnig ist er auch nicht; denn die Mannigfaltigkeit seiner Gedanken ist nicht in der Ewigkeit des Wahnsinns versteinert.

Der armen Cordelia wird es auch schwer werden, Ruhe zu finden. Sie verzeiht ihm zwar von ganzem Herzen, aber findet keinen Frieden, denn da erwacht der Zweifel; sie hat ja die Verlobung aufgelöst, sie hat das Unglück heraufbeschworen, ihr Stolz begehrte das Ungewöhnliche. Dann bereut sie, aber Ruhe findet sie keine; denn nun sprechen die verklagenden Gedanken sie frei; er war's, er hatte mit Arglist diesen Plan in ihre Seele gelegt. Dann hasst sie, ihr Herz fühlt sich leichter, wenn sie ihn verflucht, aber sie findet keine Ruhe; sie macht sich wieder Vorwürfe, Vorwürfe, weil sie ihn hasst, sie, die selbst eine Sünderin ist, Vorwürfe, weil sie immer schuldig bleibt, wenn er auch arglistig war. Schwer ist es, dass er sie betrogen hat, noch schwerer könnte man beinahe sagen, dass er so viel Nachdenken in ihr erweckt hat, dass er sie so ästhetisch entwickelt hat, dass sie nun nicht länger mehr einer Stimme demütig lauscht, sondern viele Reden gleichzeitig hören kann. In ihrer Seele wird da die Erinnerung wach, sie vergisst ihre Sünde und Schuld, sie erinnert sich der schönen Augenblicke, sie lässt sich von einer unnatürlichen Exaltation betäuben.

In solchen Augenblicken erinnert sie sich seiner nicht bloss, sie fasst ihn hellsehend auf, das zeigt, wie stark er sie entwickelt hat. Sie sieht nichts Verbrecherisches in ihm, aber auch nicht den edlen Menschen, sie fühlt ihn nur ästhetisch. Einmal hat sie mir ein Billet geschrieben, wo sie folgendes sagt: »Zuweilen war er so geistig, dass ich mich als Weib vernichtet fühlte und dann wieder so wild und leidenschaftlich, dass ich fast für ihn zitterte. Zuweilen war ich ihm fremd, zuweilen gab ersieh mir ganz hin; schlang ich dann meinen Arm um ihn, so war plötzlich alles verschwunden und ich umarmte die ›Wolken‹. Diese Bezeichnung kannte ich, ehe ich ihn kannte, aber er lehrte sie mich zu begreifen; wenn ich diesen Vergleich benutze, denke ich immer an ihn, wie ich sonst auch alle meine Gedanken nur durch ihn denke. Ich habe immer Musik geliebt, er war ein wunderbares Instrument, immer gestimmt, er hatte eine Tonleiter wie kein Instrument sonst, er hatte Fühlung und Stimmungen, kein Gedanke war ihm zu gross, keiner zu verzweifelt, er konnte wie ein Herbststurm brausen, er konnte flüstern. Kein Wort von mir war ohne Wirkung und doch kann ich nicht sagen, ob meine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten, denn die Wirkung auf ihn konnte ich unmöglich voraussehen. Mit einer unbeschreiblichen, geheimnisvollen, seligen, unfassbaren Angst horchte ich auf diese Musik, die ich selbst hervorrief und doch nicht hervorrief, immer war sie voll Harmonie, immer riss er mich hin.«

Für sie ist es schrecklich, für ihn wird es noch schrecklicher; das schliesse ich auch daraus, dass ich selbst Angst bekomme, wenn ich an alles dieses denke. Auch ich bin in dieses Nebelreich, in diese Traumwelt mit hineingezogen, in der man jeden Augenblick vor seinem eigenen Schatten erschrickt. Vergebens suche ich mich loszureissen, ich folge mit wie. eine drohende Gestalt, wie ein stummer Ankläger. Wie sonderbar! Er hatte das tiefste Geheimnis über alles gebreitet und doch giebt es ein noch tieferes Geheimnis, das ist, dass ich auch eingeweiht bin, und ich selbst bin auf eine ungesetzliche Weise eingeweiht worden. Das Ganze zu vergessen gelingt mir nie. Ich habe zuweilen daran gedacht, mit ihm darüber zu sprechen. Doch was hilft das? Er würde entweder alles leugnen, behaupten, das Tagebuch sei ein dichterischer Versuch oder würde mich bitten zu schweigen, was ich ihm nicht wehren könnte, wegen der Art und Weise, durch die ich eingeweiht wurde. Es giebt nichts, wofür es soviel Verderb und Verdammnis giebt, als für ein Geheimnis.

Von Cordelia habe ich eine Sammlung von Briefen bekommen. Ob es alle sind, weiss ich nicht. Doch glaube ich, sie sagte einmal, dass sie einige konfisziert hat. Ich habe sie kopiert und will sie jetzt in die Reinschrift einschieben. Sie haben zwar kein Datum, aber wären sie auch mit Datum versehen, es hätte mir nicht viel geholfen, da das Tagebuch, je weiter es fortschreitet, immer sparsamer und sparsamer wird und zuletzt mit einigen Ausnahmen jedes Datieren aufgiebt. Als ob in diesem Stadium die Geschichte qualitativ so bedeutungsvoll wird, und sich trotz der historischen Wirklichkeit in solchem Grade der Idee nähert, dass dabei alle Zeitbestimmungen gleichgültig werden. Dagegen hat mir geholfen, dass an verschiedenen Stellen im Tagebuch ein paar Worte existieren, deren Bedeutung ich am Anfang nicht verstand. Ich habe, indem ich diese Worte mit den Briefen zusammenstellte, herausgefunden, dass sie Motive zu den Briefen abgeben. Daher ist es mir eine leichte Sache, sie an den richtigen Stellen einzuflechten, indem ich immer den Brief an der Stelle einschiebe, wo das Motiv zu demselben sich befindet. Hätte ich nicht diesen Hinweis gefunden, so würde ich mich eines Missverständnisses schuldig gemacht haben. Denn sicher wäre es mir nie eingefallen – was jetzt aus dem Tagebuch mit Wahrscheinlichkeit hervorgeht, nämlich, dass die Briefe hie und da sich so dicht aufeinander gefolgt sind, dass sie ab und zu mehrere an einem Tag empfangen zu haben scheint.

Kurz nachdem er Cordelia verlassen, schrieb sie ihm einige Briefe, er sandte sie ungeöffnet zurück. Auch diese erhielt ich von ihr. Sie selbst hatte die Siegel bereits aufgebrochen, deshalb darf ich mir wohl erlauben, sie zu kopieren. Über die Briefe hat sie nie zu mir gesprochen, dagegen pflegte sie, wenn sie von ihrer Beziehung zu Johannes sprach, oft eine kleine Strophe, ich glaube von Goethe, zu recitieren. Dieser Vers hatte je nach ihrer Stimmung immer etwas Verschiedenes zu bedeuten:


Verschmähe

Die Treue,

Die Reue

Kommt nach.«


Folgendermassen lauten ihre Briefe:

Johannes!

Mein, nenne ich Dich nicht. Ich sehe es ein, Du bist niemals mein gewesen, dafür bin ich hart genug bestraft, dass ich einmal diesen Gedanken als meine Freude und Wonne festhielt; und doch ich nenne Dich: mein; mein Verführer, mein Betrüger, mein Feind, mein Mörder, meines Unglücks Quell, Grab meiner Freude, Abgrund meiner Unseligkeit. Ich nenne Dich: mein, und nenne mich Dein, und wie es einst Deinen Sinnen schmeichelte, die sich in Anbetung vor mir beugten, so töne es nun wie ein Fluch über Dich, in alle Ewigkeit als Fluch.

Dessen sollst Du Dich nicht freuen und nicht meinen, ich würde Dich unausgesetzt verfolgen, um Deinen Spott aufzureizen! Fliehe, wohin Du willst, Dein bin ich doch; ziehe an die Grenzen der Welt, Dein bin ich, liebe andere, hundert andere, ich bin die Deine, Dein bis zur Todesstunde. Die Sprache selbst, die ich gegen Dich führe, sie zeugt, dass ich Dein bin. Vermessen hast Du Dich, einen armen Menschen zu verführen, so dass Du mir alles wurdest, und es war mir meine höchste Freude, Dir Sklavin zu werden. Ja, ich bin Dein, Dein, Dein, Dein Fluch.

Deine Cordelia.


Johannes!

Ein reicher Mann hatte sehr viel Schafe und Rinder; und ein armes kleines Mädchen hatte nur ein einziges kleines Schäfchen; das ass von ihrem Bissen und trank aus ihrer Schale. Du, der reiche Mann, reich an allen Schätzen der «Welt, und ich die Arme, hatte nichts als meine Liebe. Du hast sie hingenommen, sie freute Dich, aber als Dir eine neue Lust winkte, opfertest Du das Bischen, das ich hatte; Du wolltest nichts von Dir opfern. Ein reicher Mann hatte sehr viele Schafe und Rinder; und ein armes kleines Mädchen, das hatte nichts als seine Liebe.

Deine Cordelia.


Johannes!

Ist alle Hoffnung vergebens? Erwacht Deine Liebe niemals wieder? Ich weiss ja, dass Du mich geliebt hast, wenn ich auch nicht weiss, woher mir diese Gewissheit kommt. Warten will ich, wenn mir auch die Zeit lang scheint, warten, warten, bis Du niemand anders mehr lieben magst. Steht mir Deine Liebe dann wieder aus dem Grab auf, dann werde ich Dich wie immer lieben, wie ehemals, o Johannes, wie ehemals! Johannes! Kann Dein wahres Wesen gegen mich diese herzlose Kälte sein? Könnte Deine Liebe, Dein reiches Herz eine innere Lüge sein? O werde bald wieder Du selbst! Sei geduldig gegen meine Liebe, verzeih, ich kann nicht aufhören, Dich zu lieben; wenn auch meine Liebe Dir eine Last ist, einmal kommt doch die Zeit, wo Du zu Deiner Cordelia zurückkommst Deine Cordelia! höre doch, – das flehende Wort – Deine Cordelia, Deine Cordelia?

Deine Cordelia.

Man bemerkt, Cordelia verstand ihre Rede zu modulieren, wenn ihre Stimme auch nicht diese Bedeutung hatte, welche Johannes zur Bewunderung zwang. Wenn sie sich auch nicht so klar und sicher auszudrücken versteht, ihre Briefe geben doch jede Stimmung wieder. Besonders fällt dies beim letzten Brief auf; freilich kann man in demselben nur ahnen, was sie will, aber dieser Mangel giebt ihm für mich etwas Rührendes.


4. April. Vorsicht, meine schöne Unbekannte! Vorsicht! Es ist nicht so leicht, aus einem Wagen herauszutreten, manchmal ist das ein Schritt von Bedeutung. Wagentritte sind oft so verkehrt eingerichtet, man muss alle Grazie verlieren, um glücklich herauszukommen. Oft kann man sich nicht anders retten als durch einen halsbrecherischen Sprung in den Arm des Kutschers oder des Lakaien. Kutscher und Lakai, ja, die haben es gut. Ich glaube, ich hätte wirklich grosse Lust, in einem Hause, wo junge Damen sind, eine Dienerstelle anzunehmen. Wie leicht kommt ein Diener hinter die Geheimnisse eines kleinen Fräuleins. – Aber um Gotteswillen, springen Sie doch nicht so heraus, ich bitte Sie, es ist ja dunkel; ich werde nicht stören, ich stehe hinter der Strassenlaterne, dann können Sie mich unmöglich bemerken, und man kommt doch nur in Verlegenheit, wenn man weiss, es wird einem nachgeschaut – also bitte, steigen Sie jetzt aus! Lassen Sie Ihren reizenden zierlichen Fuss, den ich schon bewunderte, sich in die Welt wagen! Mut! Trauen Sie ihm, er wird schon festen Grund fassen und wenn Ihnen auch einen Augenblick bang wird, Sie finden ihn, und wird Ihnen dann auch noch bang sein? O ziehen Sie nur schnell den andern Fuss auch nach, – könnte jemand so grausam sein, Sie in solch gefährlicher Situation zu lassen, wer wäre so ohne Sinn für das Schöne, dass er gegen die Offenbarung einer Schönheit blind wäre? Oder ist Ihnen noch vor einem Unberufenen bang – doch nicht vor dem Lakai, doch nicht vor mir –, ich habe Ihren kleinen Fuss bereits gesehen, und habe als Naturforscher von Cuvier gelernt, daraus meine sicheren Schlüsse zu ziehen. Also flink! Wie dieses Bangen Ihre Schönheit hebt. Aber nein, Angst an und für sich ist nichts Schönes, nur wenn man zugleich die Anstrengung zur Überwindung dabei bemerkt. Endlich! Ah! Schau, wie sicher der kleine Fuss steht! – Nicht ein Mensch hat es bemerkt. Nur im Augenblick, wo Sie in das Hausthor treten, geht eine dunkle Gestalt an Ihnen vorbei. Sie werden rot? Sie sehen sich etwas aufgeregt, etwas stolz verächtlich um? Ein flehender Bück, und eine Thräne in Ihrem Auge? Beides ist schön für mich, und von beidem ergreife ich mit gleichem Recht Besitz. Aber ich bin boshaft, – wie ist die Hausnummer? Und sehe ich recht, es ist ein Galanterie Warengeschäft. Meine schöne Fremde, ist es auch empörend, ich folge Ihnen Sie vergass es, ach ja; ist man siebzehn Sommer alt und macht in solchem Alter Einkäufe und betrachtet alles, was man in die Hand nimmt, mit unbeschreiblichem Vergnügen, ja dann kann man leicht alles vergessen.

Sie hat mich noch nicht gesehen, ich stehe am andern Ende des Ladentisches; gegenüber an der Wand hängt ein Spiegel. Sie weiss es noch nicht, aber der Spiegel weiss es. O unglücklicher Spiegel, nur ihr Bild kann er festhalten, aber nicht sie selbst. O unglücklicher Spiegel, er kann ihr Bild nicht auffangen und vor der Welt verstecken, er muss es auch andern verraten, wie jetzt mir. Welche Folter, wenn der Mensch so beschaffen wäre! Und doch, es giebt so viele Menschen, die erst fühlen, was sie besitzen, wenn sie es anderen zeigen, die nur das Äusserliche festhalten, nicht das Wesen, die alles verlieren, wenn das innere Wesen sich zeigt, wie dieser Spiegel ihr Bild verlöre, wenn sie durch einen einzigen Atemzug ihr Herz vor ihm verraten würde. . . . Wie schön ist sie doch! Armer Spiegel, welche Qual! Gut, dass du ohne Eifersucht sein kannst. Ihr Haupt ist von einem vollkommenen Oval. Sie beugt es ein wenig vor, dadurch wird die Stirn höher, die Stirn, die sich rein und stolz ohne jedes Abzeichen wölbt. Ihr Haar ist dunkel, ihre Haut durchsichtig und fasst sich wie Sammet an, das fühle ich mit meinen Augen. Ihre Augen – nein, die konnte ich noch nicht sehen, da sie von langen Wimpern verdeckt sind, welche sich wie Nadeln biegen und für den gefährlich werden, der ihren Blick sucht. Ihr Gesicht ist wie eine Frucht. Jeder Übergang ist rund und voll. Ihr Kopf ist ein reiner, unschuldiger Madonnenkopf. Sie zieht einen Handschuh aus und zeigt dem Spiegel – und aber auch mir die Hand so blendend und wohlgeformt, als wäre es die einer Antike, ohne Schmuck und besonders ohne den glatten Ring am vierten Finger. – Bravo! – Jetzt schlägt sie das Auge gross auf, das verändert alles und doch ist sie dieselbe: Die Stirn ist jetzt weniger hoch, vorher schien das Gesicht ovaler, aber jetzt ist es lebendiger. Sie redet zu dem Kommis, sie ist munter und redet gern. Zwei, drei Waren hat sie bereits gewählt, sie nimmt eine vierte in die Hand, betrachtet sie, fragt nach dem Preis und legt sie auf die Seite unter ihren Handschuh. Ist es etwas für den Geliebten – aber verlobt ist sie ja nicht. Ach, es giebt viele, die nicht verlobt sind und doch einen Geliebten haben, und viele sind verlobt und haben keinen Geliebten. Soll ich sie aufgeben? Soll ich sie ungestört ihrer Harmlosigkeit überlassen. . . . Jetzt möchte sie bezahlen, aber sie hat ihr Geldtäschchen vergessen… wahrscheinlich giebt sie jetzt ihre Adresse an; ich mag sie nicht hören, ich will mich nicht einer Überraschung berauben, wir treffen uns wohl noch einmal im Leben und – – ich werde sie gewiss wiedererkennen, sie mich vielleicht auch. Meinen Blick von der Seite vergisst man nicht so leicht. Wenn ich einmal überrascht werde, sie in einer Umgebung zu finden, die sie nicht erwartete, dann kommt an sie die Reihe. Erkennt sie mich aber nicht wieder, so überzeugt mich sofort ihr Gesichtsausdruck und ich bekomme gewiss Gelegenheit, sie von der Seite zu betrachten. Beim Himmel, dann wird sie sich erinnern, dass das schon einmal geschehen ist. Nur nicht ungeduldig, keine Gier, sie ist auserlesen und ich werde sie bekommen.


5. April. Ich liebe das: allein am Abend in der Östergade. Ja, ich habe bereits den Diener gesehen, der Ihnen folgt; wie könnte ich so schlecht denken, zu glauben, Sie würden ganz allein gehen. Glauben Sie ja nicht, dass ich mit meinem Blick für jede Situation so unerfahren bin, dass ich nicht sofort diese ernstzunehmende Gestalt des Bedienten bemerkt hätte. Warum aber gehen Sie so rasch? Nicht wahr, etwas Angst und Herzklopfen hat man doch, nicht weil man sich so sehr nach Hause zu kommen sehnt, sondern aus unbestimmbarer Furcht, die mit süssem Bangen einem durch und durch geht, deshalb diese schnelle Art zu gehen. Herrlich, unbezahlbar ist es aber doch, ganz allein so zu gehen – den Bedienten natürlich hinter sich . . Man ist sechzehn Jahre alt, man hat ein bischen gelesen, das heisst nur Romane, man hat, wenn man durch das Zimmer der Brüder ging, einige Worte von einem Gespräch zwischen ihnen und ihren Freunden aufgefangen, einige Worte von der Östergade. Später ist man wiederholt durch jenes Zimmer gesprungen, um womöglich noch etwas mehr zu erfahren. Doch umsonst. Ein grosses junges Mädchen dürfte doch wirklich ein bischen Bescheid von der Welt haben. Ob man so ohne weiteres mit dem Bedienten hinter sich ausgehen kann. Na, ich danke. Vater und Mutter würden verblüfft aussehen, und welchen Grund wollte man denn angeben? Wenn man eingeladen ist, so passt die Zeit noch nicht, da ist es zu früh; zwischen Neun und Zehn, das wäre die richtige Zeit, hörte ich August sagen; wenn man nach Hause geht, ist es wieder zu spät und da sollte man auch meistens einen Kavalier mit sich haben. Donnerstag Abend, wenn wir vom Theater kommen, das wäre im Grunde eine wunderbare Gelegenheit, aber da soll man in der Karrete fahren und Frau Thomsen und ihre liebenswürdigen Cousinen mit sich im Wagen haben. Wenn man wenigstens allein führe, so könnte man das Fenster herunterlassen und ein bischen Umschau halten. Doch unverhofft kommt oft. Heute sagte mir Mutter: Du wirst gewiss nicht mit dem fertig, was Du zum Geburtstag Deines Täters zu sticken hast, um ganz ungestört zu sein, gehe zu Tante Jette und bleibe bis zum Thee dort, Jens wird Dich später holen. Diese Mitteilung der Mutter war zwar nicht sehr amüsant, denn bei Tante Jette ist es schrecklich langweilig, doch dafür kann ich allein mit dem Bedienten um neun Uhr nach Hause gehen. Wenn Jens jetzt kommt, so lass ich ihn bis drei Viertel Zehn Uhr warten, und – dann gehen wir. Wenn ich ausserdem meinen Bruder und Herrn August treffen würde – aber das ist vielleicht nicht gut, sonst würden wir alle zusammen denselben Weg gehen. – Nein, ich danke, am liebsten will ich freie Hand haben, die Freiheit, – aber wenn ich sie entdecken könnte, ohne dass sie mich sahen . . . Na kleines Fräuleinchen, was würden Sie denn entdecken und was glauben Sie, das ich bei Ihnen entdecke? Erstens die kleine Mütze, die Ihnen ausgezeichnet steht, und mit Ihrer in aller Eile ausgedachten Expedition vollständig zusammenpasst. Es ist kein Hut, keine Mütze, eher eine Art Haube. Aber die können Sie unmöglich heute Morgen, als Sie von zu Hause fortgingen, aufgesetzt haben. Sollte der Diener sie mitgebracht haben, oder ist sie von Tante Jette geliehen? – Vielleicht haben Sie sich incognito kleiden wollen? – Den Schleier darf man auch nicht ganz herunterlassen, wenn man beobachten will. Vielleicht ist es kein Schleier, nur eine breite Blonde. Das kann man im Finstern unmöglich bestimmen. Das Kinn ist ganz schön, ein wenig zu spitzig. Der Mund klein und etwas offen, das kommt davon, dass Sie so schnell gehen. Die Zähne weiss wie Schnee. So soll es sein. Von den Zähnen hängt Vieles ab. Sie sind eine Leibwache, die sich hinter der verführerischen Weichheit der Lippen versteckt. Die Wangen sind rosig von Gesundheit. Böge man den Kopf etwas zur Seite, so wäre es vielleicht möglich, sich unter diesem Schleier oder der Blonde hineinzudrängen. Nehmen Sie sich in acht, ein solcher Blick von unten ist viel gefährlicher als einer gradeaus. Es ist wie beim Fechten. – Und welche Waffe ist so stark, so durchdringlich, so blitzend in ihrer Bewegung und dadurch so verräterisch wie ein Auge? . . . Unerschüttert geht sie vorwärts. Nehmen Sie sich in acht; ein Mensch kommt, lassen Sie den Schleier herunter, sonst beleidigt Sie sein profaner Blick, Sie machen sich keine Vorstellung davon, es könnte vielleicht lange dauern, ehe Sie diese widrige Angst los würden, die er Ihnen beibrachte. – Sie bemerken es nicht, aber ich bemerke es, er überschaut die Situation. – Ja, da sehen Sie selbst, es kann Folgen haben, wenn man allein mit einem Diener ausgeht. Der Diener ist hingefallen. Im Grunde ist es ja nur lächerlich, aber was ist jetzt zu thun? Zurückgehen, ihm beim Aufstehen helfen, sein Rock wurde ganz schmutzig? Das ist unangenehm. Und allein weitergehen? Das ist gewagt. Nehmen Sie sich in acht, der Scheussliche kommt näher . . . Sie antworten mir nicht, schauen mich nur an. Lässt mein Äusseres Sie etwas fürchten? Ich mache gar keinen Eindruck auf Sie, ich sehe gutmütig aus, wie ein Mensch aus einer anderen Welt. In meiner Rede ist nichts Beunruhigendes. Nichts was an die Situation erinnern könnte. Kein ungeziemendes Betragen. Sie sind noch ein bischen ängstlich. Sie haben noch nicht die Dreistigkeit, jene widerliche Figur zu vergessen. Sie fangen an gegen mich freundlich gestimmt zu werden, meine Verlegenheit, die mir verbietet, Sie anzusehen, giebt Ihnen die Übermacht. Das freut Sie und macht Sie sicher. Sie könnten fast in Versuchung kommen, mich zum Besten zu halten. Ich wette, dass Sie in diesem Augenblick die Courage hätten, mich unter den Arm zu nehmen, wenn Sie diesen Einfall bekämen. . . . Also in der Stormgade wohnen Sie. Sie verbeugen sich kalt und flüchtig vor mir. Habe ich das verdient, dass ich Sie aus der unangenehmen Geschichte gezogen habe? Sie bereuen es? Sie kehren zurück, danken mir für meine Artigkeit, reichen mir die Hand – warum erbleichen Sie? Ist meine Stimme nicht unverändert, meine Haltung dieselbe, mein Auge still und ruhig? Dieser Handdruck? Kann denn ein Handdruck etwas zu bedeuten haben. Ja, viel, sehr viel, mein kleines Fräulein, sehr viel, binnen vierzehn Tagen werde ich Ihnen alles erklären; bis da muss dieser Widerspruch ungelöst für Sie bleiben. Ich bin ein gutmütiger Mensch, der als Ritter einem jungen Mädchen zu Hilfe kommt und ich kann auch Ihre Hand in einer anderen als nur gutmütigen Weise drücken.


7. April. »Also Montag um ein Uhr auf der Ausstellung«. Sehr gut, ich werde die Ehre haben mich drei Viertel Eins einzufinden. Ein kleines Rendezvous. Sonnabend beschloss ich schnell und lustig eine Visite bei meinem verreisten Freund Adolf Braun zu machen. Um sieben Uhr Abends begab ich mich in die Westergade, wo man mir gesagt hat, dass er wohnen sollte. Er war nicht zu finden, nicht einmal in der dritten Etage, wo ich ganz atemlos hinaufkam. Als ich wieder die Treppe hinuntergehe, wird mein Ohr von einer weiblichen melodischen Stimme berührt, die halblaut sagt: »Also Montag um ein Uhr auf der Ausstellung; da sind die andern aus, aber Du weisst, ich darf Dich nie hier zu Hause sehen«. Die Einladung galt nicht mir, aber einem jungen Menschen, der mit eins, zwei, drei zur Thür hinauslief, so schnell, dass nicht einmal mein Auge, noch minder meine Beine ihn erreichen konnten. Warum hat man nicht Gas auf den Treppen, dann könnte ich mich doch wenigstens überzeugen, ob es sich lohnte, so pünktlich zu sein. Doch wäre Gas dagewesen, so hätte ich vielleicht nichts zu hören bekommen. Das Bestehende ist doch das Vernünftigste, ich bin und bleibe ein Optimist . . . Wer ist sie jetzt? Auf der Ausstellung wimmelt es ja von jungen Mädchen, um die Worte von Donna Anna im Don Juan anzuwenden. Es ist präcis drei Viertel Eins! Meine schöne Unbekannte! Möchte doch Ihr Zukünftiger in jedem Fall so pünktlich sein wie ich, oder wünschen Sie vielleicht, dass er nie ein Viertel zu früh käme? Wie Sie wünschen, ich bin zu jedem Dienst bereit. . . »Reizende Zauberin, Fee oder Hexe, lass Deine Nebel verschwinden«, offenbare Dich, Du bist gewiss schon da, aber unsichtbar für mich, verrate Dich, denn sonst darf ich wohl keine Offenbarung erwarten. Sollte es vielleicht mehrere hier geben, mit derselben Absicht wie Sie? Wohl möglich. Wer kennt des Menschen Wege, selbst wenn er auf Ausstellungen geht. – – Da kommt ein junges Mädchen in das Vorzimmer, schneller laufend als das böse Gewissen nach dem Sünder. Sie vergisst ihr Billet abzugeben, der rote Portier hält sie an. Gott behüte, welche Eile! Sie muss es sein. Warum so heftig, es ist noch nicht ein Uhr. Erinnern Sie sich doch, Sie wollten Ihren Geliebten treffen; bei einer solchen Gelegenheit kann es doch nicht gleichgültig sein, wie man aussieht. Wenn solch junges unschuldiges Blut zu einem Rendez-vous geht, so stürzt sie hinzu wie ein Rasender. Sie ist ganz ausser Fassung gekommen. Ich dagegen sitze hier ganz bequem in meinem Stuhl und betrachte ein schönes Landschaftsbild. . . . Zum Teufel, was für ein Mädchen, sie stürmt durch alle Zimmer. Sie sollten allenfalls Ihre Begierde etwas verstecken. Erinnern Sie sich, was man zu Jungfrau Lisbeth in Erasmus Montanus sagt: Es passt sich nicht, dass ein junges Mädchen derart lüstern nach dem Beischlaf ist Selbstverständlich, Ihr Rendez-vous ist eines von den unschuldigen. – – – Ein Rendez-vous zwischen Geliebten wird gewöhnlich als das Schönste angesehen. Ich selbst erinnere noch so deutlich als wäre es gestern, das erste Mal, da ich zum verabredeten Platz eilte, mit einem Herzen so reich und doch so unbekannt mit der Freude, die mich erwartete, das erste Mal, da ich dreimal in die Hände klatschte, das erste Mal, da sich ein Fenster öffnete, das erste Mal, da eine kleine Gartenpforte von einem Mädchen unsichtbar geöffnet wurde – das erste Mal, dass ich ein Mädchen in der hellen Sommernacht unter meinem Mantel verbarg. Doch in ein Urteil darüber mischt sich viel Illusion. Der ruhige Beobachter findet nicht immer, dass die Geliebten in diesem Augenblick am schönsten sind. Ich bin Zeuge gewesen, wo der Totaleindruck, trotzdem das Mädchen reizend und der Mann schön war, fast widrig berührte. Wenn man erfahrener wird, gewinnt man gewissermassen; wohl verliert man die süsse Unruhe der ungeduldigen Sehnsucht, aber man bekommt genug Beherrschung, um den Augenblick wirklich schön zu gestalten. Ich ärgere mich, wenn ich einen Mann bei solcher Gelegenheit so verwirrt sehe, dass er vor lauter Liebe ein delirium tremens bekommt. Was verstehen denn Bauern von Gurkensalat? Statt ruhig ihre Unruhe zu gemessen, sie ihre Schönheit aufflammen zu lassen, und sie erglühen zu lassen, schafft ein solcher Liebhaber eine unschöne Konfusion, und kehrt froh heim und bildet sich ein, es war herrlich. – – – Aber zum Teufel, wo bleibt der Mensch, es ist bald zwei Uhr. Ja, sie sind eine sonderbare Menschengattung, die Verliebten. So ein Schlingel lässt ein junges Mädchen auf sich warten. Nein, da bin ich ein anderer zuverlässiger Mensch! Das Beste ist, ich rede sie an, wenn sie jetzt zum fünften Mal an mir vorbeikommt. »Verzeihen Sie meine Dreistigkeit, schönes Fräulein, Sie suchen gewiss Ihre Familie hier? Sie sind mehrmals an mir vorbeigegangen, und indem mein Auge Ihnen folgte, bemerkte ich, Sie blieben immer im vorletzten Zimmer stehen. Vielleicht wissen Sie nicht, dass noch ein Zimmer drinnen ist, vielleicht treffen Sie dort die, welche Sie suchen.« Sie verbeugt sich vor mir, es steht ihr sehr gut. Die Gelegenheit ist günstig, es freut mich, dass der Mensch nicht kommt, man angelt am besten im unruhigen Wasser. Wenn ein junges Mädchen aufgeregt ist, kann man vieles wagen, was sonst misslich wird. Ich habe mich vor ihr so fremd als möglich verbeugt, ich sitze wieder auf meinem Stuhl und betrachte die Landschaft und halte mein Auge auf sie gerichtet. Sie sofort zu begleiten war zu viel gewagt, man könnte glauben, ich wäre aufdringlich; und dann ist sie auf der Hut; jetzt meint sie, ich hätte sie aus Teilnahme angeredet und ich bin gut bei ihr angeschrieben.

Ich weiss, dass keine Seele in dem letzten Zimmer ist. Die Einsamkeit wird günstig auf sie wirken; so lange sie viele Leute um sich sieht, ist sie unruhig, wenn sie etwas allein ist, wird sie still. Ganz richtig, sie bleibt drinnen. Nach einer Weile komme ich nach, so ganz en passant. Ich habe noch zu einer Anrede Recht. Sie ist mir beinahe einen Gruss schuldig. Sie hat sich gesetzt. Armes Mädchen, sie sieht so wehmütig aus. Sie hat geweint, glaube ich, oder wenigstens Thränen im Auge gehabt. Es ist empörend, – ein solches Mädchen zu Thränen zu bringen. Aber sei ruhig, Du sollst gerächt werden, ich werde Dich rächen. Er soll zu wissen bekommen, was es heisst, zu warten. – Wie schön sie ist, jetzt wo die Windstösse sich gelegt haben, und sie ruht in einer einzigen Stimmung aus. Ihr Wesen ist Wehmut und Harmonie der Schmerzen. Sie ist wirklich hinreisend. Sie sitzt da in ihrem Reisekleid, und doch sitzt sie nicht da, als ob sie wegreisen will. Sie zog es nur an, um in die Freude hinauszuziehen, jetzt ist es ein Symbol für ihren Schmerz. Sie ähnelt der, von der die Freude fortzieht. Sie sieht aus, als nehme sie für immer vom Geliebten Abschied. Lass ihn laufen! – Die Situation ist günstig, der Augenblick winkt. Jetzt gilt es, mich so auszudrücken, dass es aussieht, als wäre ich der Meinung, sie suche ihre Familie oder eine Gesellschaft hier, und doch muss ich es auch so warm sagen, dass jedes Wort mit ihren Gefühlen sich deckt. Dabei bekomme ich Gelegenheit, mich in ihre Gedanken einzuschleichen. – – Der Teufel hole den Schlingel. Kommt da nicht jetzt ein Individuum angestiegen, welches ohne Zweifel er selbst ist. Hat man je solch einen Esel gesehen. Jetzt, wo eben die Situation so ist, wie ich sie mir wünschte. Ja, ja, etwas wird wohl doch noch dabei herauskommen. Ich muss ihr Verhältnis tangieren, eine Rolle in der Situation mitspielen. Wenn sie mich wiedersieht, wird sie unwillkürlich über mich lachen, mich, der glaubte, sie suche ihre Familie hier, während sie etwas ganz anderes suchte. Dieses Lächeln macht mich zu ihrem Vertrauten, das ist doch etwas. . . . . Tausend Dank, mein Kind, dies Lächeln ist mir viel mehr wert, als Du glaubst, das ist der Anfang, und der Anfang ist immer das Schwerste. Jetzt sind wir Bekannte, und unsere Bekanntschaft ist auf einer pikanten Situation gegründet. Für mich ist das allenfalls im Augenblick genug. Mehr als eine Stunde bleibt Ihr nicht hier. In zwei Stunden weiss ich, wer Sie sind. Warum, glauben Sie sonst, hielte die Polizei Volkszählung?


9. April. Bin ich blind? Verlor das innerste Seelenauge seine Sehkraft? Ich habe sie gesehen, einen Augenblick nur, aber wie eine Offenbarung des Himmels, und jetzt ist mir ihr Bild wieder ganz verloren gegangen. Vergeblich suche ich es mir zurückzurufen. Und doch würde ich sie unter Hunderten wiedererkennen. Sie ist fort, vergeblich sucht meine Sehnsucht sie mit dem Auge der Seele. – Ich promenierte auf der »Langen Linie« scheinbar ohne auf meine Umgebung zu achten, doch zugleich blieb meinem spähenden Blick nichts unbemerkt – plötzlich sah ich sie. Ohne länger dem Willen seines Herrn zu folgen, blieb mein Blick auf ihr haften. Es war mir unmöglich, eine einzige Bewegung zu machen, ich sah nicht, ich starrte. Wie ein Fechter, der am Platz bleibt, so blieb mein Auge unverändert, versteinert, in der einmal angenommenen Richtung. Es war mir unmöglich es niederzuschlagen, es war mir unmöglich meinen Blick in mir zu verbergen, unmöglich etwas zu sehen, weil ich zu viel sah! Das einzige was ich bemerkt, habe, war ein grüner Mantel, den sie trug. Das ist das Ganze. Man muss sagen, das heisst nur die Wolke sehen anstatt Juno. Eine ältere Dame begleitete sie, ihre Mutter glaube ich. Diese kann ich ganz deutlich beschreiben, obgleich ich sie kaum angeschaut habe, höchstens en passant. So kann es einem ergehen. Das Mädchen, das Eindruck auf mich machte, habe ich vergessen. Sie ist von mir geflohen wie Joseph von der Frau des Potiphar, nur ihr Mantel blieb mir.


14. April. Meine Seele ist noch in denselben Widersprüchen eingeschnürt. Ich weiss, dass ich sie gesehen habe, aber ich weiss auch, dass ich sie wieder vergessen habe, und so vergessen, dass der Rest von Erinnerung, der blieb, nicht sehr erquicklich ist. Mit einer Unruhe und einer Heftigkeit, als ob mein ganzes Wohl auf dem Spiel stünde, fordert meine Seele dieses Bild. Und doch zeigt es sich nicht mehr, ich möchte mein Auge herausreissen und es strafen, dass es so leicht vergessen kann. Wenn meine Ungeduld ausgetobt hat, wenn es in mir still wird, da ist es, als ob Ahnung und Erinnerung ein Bild webten, das ich aber doch nicht zu voller Gestaltung und in ruhige Umrisse bringen kann. Es ist wie ein Muster von feinstem Gewebe, das Muster aber ist heller als der Grund und kann nicht allein gesehen werden, weil es zu hell ist. Ich befinde mich in einem sonderbaren Zustand. Doch ist er an und für sich etwas Angenehmes. Das Angenehme ist ausserdem noch das, dass er mich überzeugt, ich bin noch jung. Und noch eine andere Beobachtung an mir überzeugt mich von meiner Jugend, nämlich, dass ich meine Beute unter jungen Mädchen suche und nicht unter jungen verheirateten Frauen. Eine verheiratete Frau hat weniger Natur und mehr Koketterie, ein Verhältnis zu einer solchen ist nie schön, noch interessant, es ist pikant und das Pikante ist immer das Letzte. – Ich hatte nicht erwartet, noch einmal den Rahm erster Verliebtheit abzuschöpfen. Ich bin aber noch einmal in Verliebtheit geraten, also kein Wunder wenn ich ein bischen verwirrt bin. Um so besser, desto mehr verspreche ich mir aus dem Verhältnis. Ich kenne mich selbst kaum wieder. Mein Herz stürmt wie ein aufgewühltes Meer in leidenschaftlichem Sturm. Wenn mich ein anderer sehen könnte, würde er meinen, ein Schiff schneide mit der Spitze die hohe Mut und müsse auf dieser schrecklichen Fahrt in die Tiefe stürzen. Er sieht nicht den Matrosen, der oben im Mast sitzt und Ausschau hält. Stürmt zu, ihr wilden Elemente, wenn auch die Leidenschaftswogen Schaum in die Wolken werfen, ihr schlagt nicht über mir zusammen, ich sitze ruhig, ich bin ein Felsenkönig. Aber ich kann nur schwer Fuss fassen, wie die Wasservögel suche ich mich vergebens im wilden Meer meines Gemütes niederzulassen, und doch, solcher Aufruhr ist mein Element, ich baue darauf, wie der Eisvogel, der sein Nest auf das Meer baut. Die Truthähne brausen auf, wenn sie Rot sehen, mir geht es ebenso, wenn ich Grün sehe, jedesmal, wenn ich einem grünen Mantel begegne; und wie mein Auge mich oft betrügt, wie oft standen alle meine Erwartungen bei den grünen Trägern von Frederlis Krankenhaus.


20. April. Sich beherrschen können, ist für jeden Genuss sehr wichtig. Mir scheint fast, ich sehe und höre nie wieder etwas von dem Mädchen, das mir Seele und Gedanken gefangen hält. Doch ich will mich ganz ruhig verhalten; diese dunkle und unklare Gemütsstimmung hat auch ihren starken Zauber. Ich liebte von jeher während einer Mondnacht auf einem oder dem andern unserer wunderbaren Seen in einem Boot zu liegen. Ich raffe die Segel, ziehe die Ruder ein, lege mich in ganzer Länge ins Boot und betrachte den Himmel über mir. Wenn die Wellen das Boot an ihrer Brust wiegen, wenn die Wolken vor dem Nachtwind hintreiben, so dass der Mond für Augenblicke kommt und geht, so giebt mir diese Unruhe Ruhe. Die Wellen schläfern mich ein, ihre Musik ist ein einförmiges Wiegenlied; das eilende Ziehen der Wolken, das Fliehen von Licht und Schatten berauscht mich und ich träume im Wachen. So liege ich auch jetzt da mit gerafften Segeln, die Ruder eingezogen, und ich lasse mich von Sehnen und ungeduldigem Erwarten hin und her treiben. Sehnsucht und Erwartung werden stiller und stiller, seliger und seliger, sie liebkosen mich wie ein Kind. Aber die Hoffnung wölbt ihren Himmel über mir, ein Bild, ihr Bild, schwebt unbestimmt wie der Mond an mir vorüber, bald mich mit seinem Licht blendend, bald mich beschattend, welch ein Genuss, sich so auf dem zitternden Wasser zu wiegen, – welch ein Genuss, bewegt zu werden!


21. April. Die Tage vergehen und immer bin ich noch in demselben Zustand. Mehr als jemals finde ich an den jungen Mädchen Freude und habe doch zum Genuss keine Lust. Das verstimmt mich oft, umschleiert mein Auge und stört mich. Bald kommt jetzt die schöne Zeit, wo man im öffentlichen Strassenleben das aufkaufen darf, was man im Laufe des Winters im Gesellschaftsleben teuer genug bezahlt hat; denn alles kann ein junges Mädchen vergessen, aber nie eine Situation. Das Gesellschaftsleben bringt einen wohl in die Nähe des schönen Geschlechtes, aber es hat nicht Schwung genug, um dort eine wirkliche Geschichte anzufangen. Im Salon ist das junge Mädchen gewappnet, die Situation ist toujours le même, sie bekommen niemals ein wollüstiges Zittern. Auf der Strasse aber sind sie auf hoher See, da wirkt alles viel eingehender, weil alles viel rätselhafter ist. Für das Lächeln eines jungen Mädchens auf der Strasse gebe ich 100 Thaler, dagegen nicht zehn für einen Händedruck im Salon. Erst wenn die Geschichte angefangen hat, sucht man sich seine Beute im Salon. Man ist in seinem Verhältnis zu ihr in eine geheimnisvolle und verführerische Kommunikation getreten – das ist das wirksamste Insitament, welches ich kenne. Sie wagt nicht, davon zu reden und doch denkt sie daran. Sie weiss nicht, ob man es vergessen hat oder nicht; bald täuscht man sie auf die eine, bald auf die andere Weise. Dieses Jahr aber verschaffe ich mir gewiss keinen grossen Vorrat; dieses junge Mädchen beschäftigt mich zu viel. Mein Vorrat wird gewiss auf diese Weise mager, aber dadurch habe ich Aussicht, das grosse Los zu gewinnen.


5. Mai. Verfluchter Zufall! Ich habe Dich nie verflucht, wenn Du Dich zeigtest, aber jetzt verfluche ich Dich, weil Du Dich nicht zeigen willst. Oder soll es vielleicht von Dir eine neue Erfindung sein, unbegreifliches Wesen, unfruchtbare Mutter von allem, der einzige Rest, der noch von jener Zeit blieb, da die Notwendigkeit die Freiheit gebar, da die Freiheit sich wieder in den Mutterleib zurücknarren liess? Verdammter Zufall! Du mein einziger vertrauter Freund, einziges Wesen, das ich für würdig halte, mein Verbündeter und mein Feind zu sein, immer wechselnd und immer Dir selbst ähnlich, immer unbegreiflich, immer ein Rätsel! Du, den ich mit ganzer Hingabe meiner Seele liebe, in dessen Bild ich mich selbst schaffe, warum zeigst Du Dich nicht? Ich bettle nicht, ich rufe Dich nicht demütig an, dass Du Dich so oder so zeigen solltest, eine solche Gottesanbetung wäre ja Abgötterei und Dir nicht behaglich – ich fordere Dich zum Streit auf, – warum zeigst Du Dich nicht? Oder hat die Unruhe des Weltalls sich gelegt, ist ein Rätsel gelöst, dass auch Du Dich in das Meer der Ewigkeit gestürzt hast? Furchtbarer Gedanke, so ist ja die Welt vor Langeweile stehen geblieben. Verdammter Zufall, ich erwarte Dich. Ich will Dich nicht durch Prinzipien, oder was die Narren Charakter nennen, besiegen. Nein, ich will Dich dichten. Ich will nicht ein Dichter für andere sein, zeige Dich, ich dichte Dich, ich zehre mein eigenes Gedicht auf, und das ist meine Nahrung. Oder findest Du mich nicht würdig? Wie eine Bajadere zur Ehre Gottes tanzt, so habe ich mich Deinem Dienst geweiht. Leicht, dünn gekleidet, geschmeidig, unbewaffnet, entsage ich allem. Ich besitze nichts, ich will nichts besitzen, ich liebe nichts, ich habe nichts zu verlieren, aber bin ich dadurch Deiner würdiger geworden, Du, der wohl vor langer Zeit müde geworden ist, den Menschen das zu entreissen, was ihnen lieb ist, müde von ihren feigen Seufzern und Gebeten. Überrasche mich, ich bin bereit, kein Einsatz, lass uns nicht um die Ehre streiten. Zeige sie mir, zeige mir eine Möglichkeit, die eine Unmöglichkeit scheint, zeige sie mir in dem Schatten der Unterwelt; ich hole sie herauf, lass sie mich hassen, mich verachten, gegen mich gleichgültig sein, einen anderen lieben, ich fürchte mich nicht; aber bewege das Wasser, brich die Stille ab, so in dieser Weise mich auszuhungern, ist elend von Dir, der sich einbildet, stärker als ich zu sein.


6. Mai. Der Frühling ist da. Alles schlägt aus, auch die jungen Mädchen. Die Mäntel werden fortgelegt, vermutlich wird mein grüner auch fortgelegt. Das kommt davon, wenn man ein Mädchen auf der Strasse kennen lernt und nicht im Salon, wo man sofort Bescheid bekommt, aus welcher Familie sie ist, wo sie wohnt, ob sie verlobt ist. – Das letzte ist eine sehr wichtige Auskunft für alle ruhigen und ernsthaften Freier, denen es nie einfällt, in ein verlobtes Mädchen verliebt zu werden. So ein Passgänger würde in tödlicher Angst sein, wenn er an meiner Stelle wäre, er wäre ganz zerstört, wenn seine Bestrebungen, sich Aufklärung zu verschaffen, vom Glück gekrönt würden, und wenn er noch dazu erführe, dass sie verlobt wäre. Mich kümmert das nicht viel. Ein Verlobter ist nur eine komische Schwierigkeit. Ich fürchte weder komische noch tragische Schwierigkeiten. Was ich fürchte, ist nur die Langeweile. Noch habe ich keine einzige Auskunft erlangt, trotzdem ich gewiss nichts versäumte und oft fühlte ich die Wahrheit des Dichterwortes: nox et hiems longaeque viae saevique dolores mollibus his castris, et labor omnis inest.

Vielleicht wohnt sie gar nicht hier in der Stadt, vielleicht ist sie vom Lande, vielleicht, vielleicht, ich kann wahnsinnig über alle diese »vielleicht« werden, und je rasender ich werde, desto mehr »vielleicht«! Immer habe ich Geld liegen, um eine Reise zu machen. Vergebens suche ich sie im Theater, auf Konzerten, Bällen, Promenaden. In einem gewissen Grad freut es mich, denn ein junges Mädchen, das an vielen Vergnügen teilnimmt, ist gewöhnlich nicht wert, erobert zu werden; ihr fehlt meistens Ursprünglichkeit, welches für mich ein conditio sine qua non ist und bleibt. Es ist nicht so unmöglich, unter Zigeunern eine Preciosa zu finden, als in den Ballsälen, wo junge Mädchen sich zum Verkauf bieten – in aller Unschuld natürlich, Gott behüte, wer sagt etwas anderes!


12. Mai. Ja, mein Kind, warum blieben Sie nicht ruhig unter dem Thor stehen. Es ist gar nichts Auffallendes, wenn junge Mädchen beim Regenwetter sich unter ein Thor stellen. Das thue ich auch, wenn ich kein Parapluie habe, zuweilen auch, wenn ich es habe, wie jetzt zum Beispiel. Übrigens weiss ich mehrere geachtete Damen, die es ohne Bedenken thun. Man bleibt ganz ruhig stehen, kehrt den Rücken gegen die Strasse, so dass die Vorübergehenden nicht einmal wissen, ob man da steht oder ob man im Begriff ist, zu jemanden ins Haus zu gehen. Dagegen unvorsichtig ist es, sich hinter das Thor zu verbergen, wenn dieses noch dazu halb offen steht, das ist unvorsichtig wegen der Folgen; denn je mehr man sich versteckt, desto unangenehmer ist es, überrascht zu werden. Hat man sich indessen versteckt, so muss man ganz ruhig stehen bleiben, sich seinem guten Genius und Schutzengel empfehlen, besonders muss man nicht immer hinausgucken, – um zu sehen, ob der Regen vorbei ist. Will man das nämlich wissen, so macht man entschlössen einen Schritt vorwärts und schaut den Himmel ernst an. Wenn man dagegen ein bischen neugierig, verlegen, ängstlich, unsicher den Kopf vorsteckt und zurückzieht, – so versteht jedes Kind diese Bewegung, man nennt dieses »Verstecken spielen«. Und ich, der immer gern mitspielt, ich würde nicht antworten, wenn ich gefragt würde. . . . Glauben Sie jedoch nicht, dass ich einem beleidigenden Gedanken über Sie Raum gebe. Sie hatten nicht die fernste Absicht, den Kopf herauszustrecken, das war die unschuldigste Sache von der Welt. Als Gegenleistung dürfen Sie mich nicht in Ihren Gedanken beleidigen, mein guter Name und mein Ruf erträgt das nicht. Ich rate Ihnen, nie einem Menschen von dieser Begebenheit zu sprechen. Auf Ihrer Seite wäre das Unrecht. Ich habe nichts anderes zu thun gedacht, als was jeder Kavalier thun würde, Ihnen mein Parapluie anzubieten. . . . – –Wo ist sie hin verschwunden? Brillant, sie hat sich in der Thür des Hausmeisters versteckt – Es ist ein wundervolles kleines Mädchen, so munter und zufrieden. – »Vielleicht könnten Sie mir über eine junge Dame Aufklärung geben, die in diesem heiligen Moment den Kopf aus dem Thor heraussteckte, die sicher wegen eines Parapluies in Verlegenheit ist, ich und mein Parapluie suchen sie.« – »Sie lachen, erlauben Sie vielleicht, dass ich morgen meinen Diener schicke und es abholen lasse, oder wünschen Sie, dass ich einen Wagen für Sie holen soll?« – Keinen Dank, es ist nur schuldige Höflichkeit. – Sie ist eine von den fröhlichsten Mädchen, die ich seit langem gesehen, ihr Blick ist so kindlich und zugleich so herausfordernd, ihr Wesen entzückend sittsam und doch ist sie neugierig. Ziehe in Frieden, mein Kind, wenn nicht ein grüner Mantel wäre, hätte ich wohl gern die nähere Bekanntschaft mit Dir gewünscht. – Sie geht die grosse Strasse hinunter, wie unschuldig, wie vertrauensvoll war sie, keine Spur von Prüderie. Wie leicht sie geht, wie keck sie den Nacken wirft, – der grüne Mantel fordert Selbstüberwindung. –


15. Mai. Danke, guter Zufall, nimm meinen Dank. Schlank war sie und stolz, geheimnisvoll und gedankenreich war sie wie eine Tanne, wie ein Sprössling, wie ein Gedanke, der tief aus dem Innern der Erde nach dem Himmel emporstrebt. Unerklärlich, sich selbst unerklärlich, ein Ganzes, das keine Teile hat. Die Buche hat eine Krone, ihre Blätter erzählen, was unter ihr vorgegangen ist, die Tanne hat keine Krone, keine Geschichte, und ist sich selbst ein Rätsel – so war auch sie. Sie war sie selbst, in sich selbst verborgen. Selbst stieg sie aus sich selbst heraus, ein ruhiger Stolz war in ihr, wie die dreiste Biegsamkeit der Tanne, trotzdem sie an die Erde gefesselt ist. Eine Wehmut war über sie gebreitet, wie das Gurren der Waldtaube. Eine tiefe Sehnsucht, die nichts wünschte, ein Rätsel war sie, ein Rätsel, das selbst seine eigene Auflösung besass, ein Geheimnis. Und was sind die Geheimnisse aller Diplomaten gegen dieses, ein Rätsel. Und was ist in der Welt so schön als das Wort, das das Rätsel löst. Wo ist doch die Sprache so bezeichnend, so prägnant, wie in diesem Wort »lösen«! Welcher Doppelsinn liegt nicht darin, wie schön und wie stark geht es nicht durch alle Kombinationen, in denen dies Wort vorkommt. Wie der Reichtum der Seele ein Rätsel ist, so lange das Zungenband nicht gelöst ist, und dadurch das Rätsel löst, so ist auch ein junges Mädchen ein Rätsel. – – – – Danke, guter Zufall, nimm meinen Dank. Wenn ich sie in der Winterzeit zu sehen bekommen hätte, da wäre sie wohl in ihren grünen Mantel eingewickelt gewesen, vielleicht ganz erfroren und die Bitterkeit der Natur hätte ihr die Schönheit vermindert. Aber jetzt, welches Glück! Ich bekam sie zum ersten Mal im Frühling, in der schönsten Zeit des Jahres, zu sehen, bei Nachmittagsbeleuchtung. Der Winter hat natürlich auch seine Vorteile. Ein brillant erleuchteter Ballsaal kann gut ein schöner Rahmen für ein zum Ball gekleidetes junges Mädchen sein; aber teils zeigt sie sich hier selten ganz zu ihrem Vorteil, eben weil alles sie dazu auffordert und ob sie dieser Aufforderung nachgiebt oder Widerstand leistet, beides wirkt störend; teils erinnert alles an Eitelkeit und Vergänglichkeit, und ruft eine Ungeduld hervor, die den Genuss minder erfrischend macht. Zu gewissen Zeiten möchte ich zwar einen Ballsaal entbehren, aber ich möchte nicht seinen kostbaren Luxus vermissen, seinen reichen Überfluss an Jugend und Schönheit, sein wechselndes Spiel von Elementen, ich geniesse dort jedoch nicht so viel, weil ich nur in Möglichkeiten wühle. Es ist nicht eine einzige Schönheit, die dort fesselt, aber das Ganze. Ein Traumbild schwebt an einem vorbei; worin alle diese weiblichen Wesen sich zusammenmischen, und alle diese Bewegungen suchen etwas, suchen Ruhe in einem Bild, das nicht geschehen wird.

Es war auf dem Wege zwischen dem Nord- und Ostthor. Es mochte ungefähr halb Sieben sein. Die Sonne hatte ihre Kraft verloren, nur die Erinnerung an den Tag leuchtete noch aus dem sanften Abendrot, und die Landschaft war purpurn gefärbt. Die Natur atmete freier. Die See war klar wie ein Glas, die hübschen Gebäude des Bleydammen spiegelten sich im Wasser, das Wasser war in langen Streifen wie Metall dunkel. Der Pfad und die Gebäude des anderen Ufers wurden von schwachen Sonnenstrahlen gezeichnet. Nur hie und da eine leichte Wolke am reinen Himmel, und ihre Bilder glitten hin und verschwanden auf der blanken Stirn der See. Kein Blatt bewegte sich an den Ufern. – Sie war es. Mein Auge betrog mich nicht, doch trotzdem ich mich lange auf diese Stunde vorbereitet hatte, konnte ich meine Unruhe nicht beherrschen. In mir war ein Steigen und Fallen, wie das der Lerche, die über den nahen Feldern mit ihrem Liede stieg und fiel. Sie war allein, wie sie gekleidet war, habe ich vergessen und doch habe ich ein Bild von ihr. Sie war allein, und schien nicht mit sich, sondern mit ihren Gedanken allein zu sein. Sie dachte nicht, aber die Gedanken hatten ein ersehntes Bild vor ihrer Seele auftauchen lassen, ahnungsvoll und unerklärlich, wie die Seufzer eines jungen Mädchens. Sie stand in ihrer schönsten Zeit. Ein junges Mädchen entwickelt sich in mancher Hinsicht nicht wie ein Knabe, sie wächst nicht, sie wird geboren. Ein Knabe fängt sofort an, sich zu entwickeln und braucht dazu lange Zeit, ein junges Mädchen wird lange geboren und wird erwachsen geboren. Darin liegt ihr unendlicher Reichtum; im Augenblick, wo sie geboren wird, ist sie erwachsen, aber dieser Geburtsaugenblick kommt spät. Daher wird sie zweimal geboren, das zweite Mal ist dann, wenn sie sich verheiratet, oder besser: in diesem Augenblick hört sie auf, geboren zu werden, erst in diesem Augenblick ist sie geboren. So geht es nicht nur der Minerva, die vollendet aus Jupiters Stirn springt, nicht bloss der Juno, die in vollem Reiz aus dem Meere auftaucht, so geht es jedem jungen Mädchen, deren Weiblichkeit nicht durch das, was man Entwicklung nennt, verdorben wurde. Sie erwacht nicht allmählich, sondern mit einem Mal. Dagegen träumt sie um so länger, wenn die Menschen nicht so unvernünftig sind, sie zu früh zu wecken. Dieses Träumen ist ein unendliches Reichsein.

Sie war beschäftigt, aber nicht mit sich selbst, sondern in sich selber, und dies innere Arbeiten ihrer Seele war ein unendlicher Friede, eine tiefe Ruhe in sich selber. Das ist eines jungen Mädchens Reichtum, nimmt man diesen Reichtum auf, wird man selbst reich davon. Sie ist reich, ohne zu wissen, was sie besitzt, sie ist reich und ist ein Schatz. Ein stiller Friede war über ihr, und ein zarter Schatten von Wehmut verklärte sie.

Sie schien mir so leicht, als könnte man sie mit einem Blick aufheben, leicht wie Psyche, von der man sagt, Genien können sie forttragen, ja sie war noch leichter, denn sie trug sich selbst fort. Mögen die Kirchenväter über die Himmelfahrt der Madonna streiten, mir ist es nicht unbegreiflich, aber die Leichtigkeit eines jungen Mädchens ist mir unbegreiflich, und spottet allen Gesetzen der Schwere.

Sie bemerkte nichts und glaubte sich deshalb auch unbemerkt. Ich ging von weitem und verschlang ihr Bild. Sie ging langsam, keine Hast störte ihren Frieden oder die Umgebung. Ein Knabe sass am See und angelte, sie blieb stehen, betrachtete den Wasserspiegel und den Kork der Angelschnur. Sie war nicht rasch gegangen, aber sie schien doch warm geworden zu sein, und knüpfte ein kleines Tuch am Hals unter ihrem Shawl auf. Dem Knaben gefiel es wahrscheinlich nicht, dass er beobachtet wurde und schaute sich mit einem gelangweilten Ausdruck nach ihr um. Der kleine Kerl sah dabei so komisch aus, so dass sie über ihn lachen musste. Und wie jugendlich sie lachte! Ihr Auge war gross und leuchtend, mit einem tief dunkeln Spiegel, in dem man Tiefes ahnen konnte, aber er liess sich nicht durchdringen, das Auge war rein und voll Unschuld, sanft und ruhig, und schelmisch, wenn sie lächelte. Ihre Nase war fein gebogen, von der Seite betrachtet, wurde sie etwas kürzer und kecker. Sie ging weiter gegen das Ostthor. Ich ging ihr nach, glücklicherweise waren mehrere Spaziergänger auf dem Weg, ich sprach bald mit dem einen und dem andern, und liess sie dadurch einen kleinen Vorsprung gewinnen, ich holte sie dann bald wieder ein, und brauchte auf diese Weise nicht immer gleichen Abstand mit ihr zu halten. Gern hätte ich sie, ohne selbst gesehen zu werden, näher gesehen. Von einem Hause einer mir bekannten Familie aus, das am Wege liegt, wäre das leicht möglich gewesen. Ich musste derselben also nur einen kurzen Besuch machen. Mit schnellen Schritten, als ob ich .sie gar nicht bemerkte, eilte ich an ihr vorüber. Ich überholte sie eine gute Strecke, begrüsste die Familie und stellte mich am Fenster, das nach der Strasse zu ging, scheinbar absichtslos, auf. Sie kam, ich sah sie an, betrachtete sie wieder und noch einmal, zugleich unterhielt ich mich mit der in der Wohnstube am Theetisch sitzenden Gesellschaft. Ihr Gang überzeugte mich, sie hatte noch keinen Tanzunterricht genommen, denn sie ging mit Stolz und natürlichem Adel und ohne Aufmerksamkeit auf sich selbst. Ich konnte von dem Fenster nicht die ganze Strasse sehen, nur eine kurze Strecke davon, und eine zum See führende Brücke. Zu meiner Überraschung entdeckte ich sie bald dort. Wohnte sie vielleicht draussen auf dem Lande ? Vielleicht wohnte ihre Familie dort für den Sommer. Da ich sie am äussersten Brückenende sah, schien mir wie ein Zeichen, als müsse sie jetzt wieder für mich verschwinden.

Siehe, da zeigt sie sich wieder ganz nahe. Sie war an dem Haus vorbeigegangen und ich greife rasch nach Hut und Stock, um ihr zu folgen, zu erfahren, wo sie wohne – als ich in meiner Hast gegen die Dame, die den Thee reicht, anrenne. Ich höre einen fürchterlichen Schrei, habe aber nur den einen Gedanken, wie ich glücklich hinauskomme; um einen Rückzug zu entschuldigen, sage ich pathetisch: »wie Kain will ich den Ort fliehen, an welchem dieses Theewasser verschüttet wurde.« Aber wie wenn alles gegen mich sich verschworen hätte, kommt der Wirt auf die verzweifelte Idee, sich an meine Bemerkung zu hängen und erklärt feierlich, er würde mir das Haus zu verlassen nicht eher erlauben, als bis ich eine Tasse Thee getrunken und den Damen selber den Thee gereicht habe, nur dadurch könne ich alles gut machen. Ich war davon überzeugt, man werde es als Pflicht der Höflichkeit betrachten, Gewalt anzuwenden, wenn ich nicht willig folgte, und so musste ich bleiben. – Sie war verschwunden.


16. Mai. Wie schön ist es, verliebt zu sein, wie sonderbar, zu wissen, dass man es ist! Das ist der Unterschied. Mich kann der Gedanke verrückt machen, dass sie mir zum zweitenmal verloren gegangen und doch machte es mir auch wieder Freude. Ihr Bild schwebt unbestimmt vor meiner Seele; und dass dieses traumhaft vage Bild doch in Wirklichkeiten ruht, dies gerade hat etwas Zauberhaftes. Ich bin nicht ungeduldig, denn sie muss ja in der Stadt wohnen, und das ist mir für den Augenblick genug. Ihr wirkliches Bild muss sich ja zeigen. Alles will in langsamen Zügen genossen sein. Und sollte ich anders als ruhig sein? Sicher, die Götter müssen mich lieben. Denn mir ist das seltene Glück geschenkt, dass ich noch einmal verliebt bin. Nicht Kunst, nicht Lernen kann das hervorbringen, es ist ein seliges Geschenk. Nun will ich sehen, wie lange die Liebe sich erhalten lässt. Ich liebkose diese Liebe, wie ich es nicht bei der ersten gethan habe. Die Gelegenheit zeigt sich so selten, dann aber muss man sie auch festhalten; denn dieses ist das Verzweifelte: es ist keine Kunst, ein Mädchen zu verführen, wohl aber eine zu finden, die es wert wäre, dass man sie verführe.

Die Liebe hat viele Mysterien und auch dieses erste Verliebtsein ist ein Mysterium, wenn auch nicht das grösste. Die meisten Menschen rasen den Liebesweg, sie verloben sich oder machen andere Dummheiten, und im Handwenden ist alles zu Ende; sie wissen weder, was sie erbeutet, noch was sie verloren haben. Zweimal hat sie sich mir nun gezeigt und ist wieder verschwunden: sie wird sich bald öfter zeigen. Als Joseph Pharaos Traum deutete, fügte er hinzu: »da aber dem Pharao zum andern Mal geträumt hat, bedeutet, dass solches Gott gewisslich und eilend erfüllen wird.«

Es müsste interessant sein, die Kräfte, die das Menschenleben bewegen, etwas vorauszuerkennen. Sie lebt nun in stillem Frieden hin, ahnt nichts von meinem Dasein, nichts von dem, was in mir vorgeht und nichts von der Sicherheit, mit der ich in ihre Zukunft hineinblicke; denn meine Seele verlangt mehr und mehr Wirklichkeiten; dieser Wunsch wird immer stärker. Wenn ein Mädchen nicht gleich das erste Mal so tiefen Eindruck auf einen macht, dass sie das Traumbild weckt, so ist die Wirklichkeit im allgemeinen nicht sonderlich wünschenswert; thut sie es aber, dann ist man bei aller Erfahrung doch etwas überwältigt. Wer nun seiner Hand, seines Auges und seines Sieges nicht ganz sicher ist, dem rate ich, seinen Angriff in dem ersten Zustand zu wagen, indem er, weil er überwältigt ist, auch übernatürliche Kräfte besitzt; denn dieses Überwältigtsein ist eine sonderbare Mischung von Mitgefühl und Eigenliebe. Ein Genuss aber wird ihm entgehen: er geniesst die Situation nicht, da er selber von ihr ergriffen, in ihr verborgen ist. Das Schönste ist immer schwierig, das Interessanteste leicht abzumachen. Aber es ist immer gut, der Sache so nahe wie möglich zu kommen. Das ist der wahre Genuss, und was andere gemessen, verstehe ich nicht. Der Besitz allein ist etwas geringes, und auch die Mittel, welche solche Verliebte gebrauchen, sind meist erbärmlich genug; sie verschmähen nicht einmal Geld, Macht, Fremdeneinfluss, selbst nicht ein Obiat. Aber welchen Genuss gewährt eine Liebe, wenn sie nicht die absolute Hingebung in sich schliesst, ich meine von der einen Seite! Aber dazu gehört in der Regel Geist und der fehlt jenen Liebhabern gewöhnlich.


19. Mai. Cordelia heisst sie also, Cordelia! Das ist ein schöner Name und auch dies ist wichtig, denn es kann oft sehr störend sein, wenn man bei den zärtlichsten Prädikaten einen hässlichen Namen nennen muss. Ich erkannte sie schon von weitem. Sie ging mit zwei anderen Mädchen auf dem linken Trottoir. Man sah es ihnen an, dass sie bald stehen bleiben würden. Ich stand an der Strassenecke und studierte ein Plakat, während ich unausgesetzt meine schöne Unbekannte im Auge behielt. Sie nahmen voneinander Abschied. Die beiden schlugen den entgegengesetzten Weg ein. Nachdem sie einige Schritte weit gegangen waren, lief die eine von ihnen noch einmal zurück, hinter ihr her und rief so laut, dass ich es hören konnte: Cordelia, Cordelia! Dann kam auch noch die dritte wieder, und sie flüsterten leise miteinander, als wären sie zu einem geheimen Rat versammelt. Ich spitzte vergebens die Ohren, um etwas zu hören. Nun lachten alle drei und eilten in etwas rascherem Tempo den Weg, den die beiden schon vorher eingeschlagen hatten. Ich folgte. Sie gingen in ein Haus am Strande. Ich wartete eine Weile, da ja aller Wahrscheinlichkeit nach Cordelia allein bald zurückkehren musste. Das geschah jedoch nicht.

Cordelia! Wirklich ein vortrefflicher Name! So hiess ja auch König Lears dritte Tochter, jene ausgezeichnete Jungfrau, deren Herz nicht auf ihren Lippen wohnte, deren Lippen stumm waren, obgleich ihr Herz so warm schlug. So auch mit meiner Cordelia. Sie gleicht ihr, davon bin ich fest überzeugt; dagegen wohnt ihr Herz doch auf ihren Lippen, im Worte nicht, aber im Kuss. Wie schwellte Gesundheit nicht ihre Lippen! Nie sah ich schönere. Dass ich wirklich verliebt bin, sehe ich unter anderem auch daran, dass ich diese Sache vor mir selber so geheimnisvoll behandle. Alle Liebe, selbst die treulose, ist geheimnisvoll, wenn sie nur das erforderliche ästhetische Moment in sich hat. Nie fiel es mir ein, Vertrauten meine. Abenteuer portionsweise auszuteilen. So war es mir fast eine Freude, dass ich nicht erfuhr, wo sie wohnte, aber einen kannte, wo sie öfters aus und ein gehen konnte. Vielleicht bin ich auch dadurch meinem Ziel etwas näher gekommen. Ich kann, ohne dass sie es merkt, meine Beobachtungen machen und von diesem sicheren Punkt aus wird es nicht schwer werden, bei ihrer Familie Eingang zu finden. Sollte aber auch dies seine Schwierigkeiten haben – eh bien! ich nehme auch die Schwierigkeiten auf mich. Alles, was ich thue, thue ich con amore; und so liebe ich auch con amore.

Tagebuch des Verführers

Подняться наверх