Читать книгу Der Schnupfen - Stanislaw Lem - Страница 3
ОглавлениеNEAPEL – ROM
Der letzte Tag zog sich unheimlich in die Länge. Nicht weil ich Lampenfieber hatte oder Angst. Dafür gab es ja auch keinen Grund. Immer fühlte ich mich einsam in der vielsprachigen Menge. Niemand beachtete mich. Meine Beschützer hielten sich unauffällig in der Entfernung, ich kannte sie übrigens gar nicht. Und da ich nicht an einen Fluch glaubte, den ich auf mich ziehen könnte, nur weil ich in Adams’ Pyjama schlief, mich mit seinem Apparat rasierte und auf seinen Spuren an der Bucht entlangging, hätte ich mich erleichtert fühlen müssen, weil ich am nächsten Tag die falsche Haut abstreifen würde. Auch für unterwegs rechnete ich mit keiner unangenehmen Überraschung. Ihm war ja auf der Autostrada kein Haar gekrümmt worden. Und die einzige Nacht in Rom sollte ich unter besonderem Schutz verbringen. Ich redete mir ein, das sei nur der Wunsch, die Aktion zu beenden, weil sie sich als verfehlt erwiesen hatte. Ich redete mir viele vernünftige Dinge ein und verletzte doch ständig die Tageseinteilung.
Nach dem Baden sollte ich um drei Uhr ins ›Vesuvio‹ zurückkehren, aber ich befand mich schon zwanzig Minuten nach zwei in der Nähe des Hotels, als hätte mich etwas dorthin getrieben. Im Zimmer konnte bestimmt nichts passiert sein, also lief ich die Straße auf und ab. Die Umgebung kannte ich auswendig. An der Ecke ein Friseurbetrieb, dann ein Tabakladen, ein Reisebüro, dort fing der Hotelparkplatz an, der sich in eine Häuserlücke schob. Ging man am Hotel vorbei bergan, kam man zu dem Sattler, bei dem sich Adams den abgerissenen Griff seines Koffers hatte annähen lassen, sowie zu einem kleinen Nonstop-Kino. Fast wäre ich dort am ersten Abend hineingegangen, weil ich die rosa Kugeln auf dem Plakat für Planeten gehalten hatte. Erst unmittelbar vor der Kasse bemerkte ich meinen Fehler. Es war ein riesengroßer Hintern. Jetzt ging ich in der stehenden Hitze bis zur Ecke und kehrte bei dem Straßenhändler um, der gebrannte Mandeln feilbot. Die Kastanien vom vorigen Jahr waren schon aufgebraucht. Nachdem ich mir die Pfeifen angeschaut hatte, betrat ich den Tabaksladen und kaufte ein Päckchen Kool, obwohl ich gewöhnlich keine Mentholzigaretten rauche. Trotz des Straßenlärms klang vom Kinolautsprecher das Stöhnen und Röcheln wie aus einem Schlachthof zu mir herüber. Der Mandelverkäufer schob seinen Karren in den Schatten des überdachten Eingangs zum ›Vesuvio‹. Vielleicht war das einst ein vornehmes Hotel gewesen, doch die Nachbarschaft zeugte von seinem langsamen Verfall. Das Foyer stand fast leer. Der Fahrstuhl war kühler als mein Zimmer. In solcher Glut die Koffer zu packen, bedeutete einen Schweißausbruch, und dann würden die Elektroden nicht mehr halten. Ich verlegte das Packen in das Badezimmer, das in diesem alten Hotel fast so groß war wie das Zimmer selbst. Auch dort war es stickig, aber es gab einen Marmorfußboden. Ich duschte mich in der mit Löwenfüßen verzierten Badewanne, trocknete mich absichtlich nicht ab und begann, die Sachen in den Koffer zu legen, barfuß, um wenigstens ein bisschen Kühle zu genießen. Im Necessaire stieß ich auf ein hartes Bündel. Der Revolver. Ich hatte ihn ganz vergessen. Am liebsten hätte ich ihn unter die Wanne geworfen. Ich legte ihn auf den Boden des größeren Koffers unter die Hemden, wischte mir sorgfältig die Brust und trat vor den Spiegel, um die Elektroden anzulegen. Früher hatte ich an diesen Stellen Male am Körper, doch sie waren verschwunden. Ich ertastete den Herzspitzenstoß zwischen den Rippen für die erste Elektrode. Die zweite, in der Schlüsselbeingrube, wollte nicht halten. Ich trocknete mich noch einmal ab und drückte das Pflaster von beiden Seiten an, damit die Elektrode nicht über dem Schlüsselbein hervortrat. Ich hatte keine Übung, weil ich das früher nicht selbst gemacht hatte. Nun das Hemd, die Hosen, die Hosenträger. Ich trug sie seit der Rückkehr auf die Erde. Das ist bequem. Man greift sich nicht ständig an die Hosen, weil man den Eindruck hat, sie fielen herunter. Im Weltraum hat der Anzug kein Gewicht, und wenn man zurückkommt, entsteht dieser ›Hosenreflex‹, deshalb die Hosenträger.
Ich war fertig. Den Plan hatte ich vollständig im Kopf. Drei Viertelstunden für das Mittagessen, das Bezahlen der Rechnung und Abholen der Schlüssel, wegen des Hauptverkehrs, eine halbe Stunde zur Autostrada, zehn Minuten Reserve. Ich sah in die Schränke, stellte die Koffer an die Tür, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, überprüfte im Spiegel, ob man die Elektroden auch nicht sah, und fuhr hinunter. Das Restaurant war bereits überfüllt. Der schweißtriefende Kellner stellte einen Chianti vor mich hin, ich bat um Pasta mit Basilikum und Kaffee für die Thermosflasche. Ich war schon mit dem Essen fertig und schaute nach der Uhr, als der Lautsprecher murmelte: »Herr Adams, bitte ans Telefon!« Ich sah, wie sich die Härchen auf meinem Handrücken aufrichteten. Gehen oder nicht gehen? An einem Tisch neben dem Fenster erhob sich ein Dickwanst mit pfauenbuntem Hemd und ging zur Kabine. Ein anderer Adams. Es gibt viele Adams. Ich merkte bereits, nichts passierte, aber ich war böse auf mich. Meine Ruhe war oberflächlich. Ich wischte mir das Speiseöl vom Mund, nahm eine bittere grüne Pille, trank den Rest Wein aus und ging zur Rezeption. Das Hotel hielt sich noch etwas zugute auf Plüsch, Samt und Stuck, doch aus den Seitenflügeln roch es nach Küchendunst. Als käme einem Aristokraten der Sauerkohl hoch. Das war der ganze Abschied. Hinter dem Portier, der meine Koffer auf einer Karre rollte, ging ich hinaus in die harte Hitze. Der Mietwagen von Hertz stand mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig. Ein Hornet, schwarz wie ein Leichenauto. Ich erlaubte dem Portier nicht, das Gepäck in den Kofferraum zu legen, weil dort der Sender sein konnte, schickte ihn mit einem Geldschein fort und stieg in den Wagen wie in einen Ofen. Augenblicklich in Schweiß gebadet, griff ich in die Tasche nach den Handschuhen. Nicht nötig, das Steuer war mit Leder überzogen. Der Kofferraum war leer – wo ist der Verstärker? Auf dem Fußboden vor dem Beifahrersitz, bedeckt mit dem Umschlag eines Magazins, von dem mich eine nackte Blondine mit herausgestreckter, speichelglänzender Zunge kalt anblickte. Eigentlich gab ich keinen Ton von mir, aber irgendetwas seufzte leise in mir, als ich mich in den laufenden Verkehr einfädelte. Eine einzige Kolonne von Verkehrsampel zu Verkehrsampel. Ich war zwar ausgeruht und locker, aber auch ein bisschen verdrossen, ein bisschen albern lachlustig, vielleicht weil ich einen großen Teller Makkaroni gegessen hatte, die ich nicht mag. Bis jetzt hatte die bedrohliche Lage nur dazu geführt, dass ich zunahm. Hinter der nächsten Kreuzung schaltete ich das Gebläse an. Kochende Abgase wehten herein. Ich schaltete das Gebläse wieder aus. Die Autos drängten sich auf italienische Weise. Umleitung. In den Spiegeln nur Kühler und Dächer. La potente benzina italiana roch nach Kohlenoxyd. Ich hielt hinter einem Autobus, in seinem stinkenden Auspuff. Kinder in gleichartigen grünen Mützen starrten mich durch die Rückscheibe an. Im Magen spürte ich einen Kloß, im Kopf Glut, am Herzen die Elektrode, die durch das Hemd hindurch bei jeder Lenkraddrehung hinter den Hosenträger hakte. Ich riss ein Päckchen Kleenex auf und legte die Taschentücher auf den Mitteltunnel, denn es kribbelte mir in der Nase wie vor einem Gewitter. Ich nieste einmal und noch einmal und war so mit Niesen beschäftigt, dass ich gar nicht merkte, wie Neapel zurückblieb und im Küstenblau verschwand. Ich rollte bereits über die Strada del Sol. Für die Hauptverkehrszeit war sie relativ frei. Merkwürdig, als hätte ich überhaupt kein Plimasin eingenommen. Es kitzelte in den Augen, die Nase lief, dafür war der Mund trocken. Ein Kaffee täte gut, obwohl ich im Hotel zwei Cappuccini getrunken hatte, aber Kaffeezeit ist erst bei Maddalena. Wegen irgendeines Streiks hatte es am Kiosk wieder keinen ›Herald‹ gegeben. Zwischen dampfenden kleinen Fiats und einem Mercedes schaltete ich das Radio ein. Nachrichten. Ich verstand sie nur ungenau. Demonstranten hatten etwas angezündet. Der Sprecher einer Privatpolizei hatte eine Erklärung abgegeben. Die feministische Untergrundbewegung kündigte eine neue Aktion an. Mit tiefem Alt las die Sprecherin die Deklaration der Terroristinnen, die Verdammung des Papstes, eins nach dem anderen, dann Pressestimmen. Weiblicher Untergrund. Man wundert sich über gar nichts mehr. Man hat uns die Fähigkeit genommen, uns zu wundern. Wogegen kämpfen sie eigentlich, gegen die Tyrannei der Männer? Ich fühlte mich nicht als Tyrann. Niemand fühlt sich so. Wehe den Playboys! Was werden sie mit ihnen tun? Werden sie auch Kleriker entführen? Ich schaltete das Radio aus, wie man einen Müllschlucker zuklappt.
In Neapel sein und den Vesuv nicht sehen – ich habe ihn nicht gesehen. Mein Verhältnis zu Vulkanen ist voller Freundlichkeit. Mein Vater hat mir von ihnen vor dem Einschlafen erzählt, das ist fast ein halbes Jahrhundert her. Bald werde ich ein alter Mann sein, dachte ich, und das überraschte mich, als hätte ich gesagt, ich würde in Kürze eine Kuh sein. Vulkane, das war etwas Solides, Vertrauenerweckendes. Die Erde platzt, die Lava fließt, die Häuser stürzen ein. Alles ist klar und wundervoll, wenn man fünf Jahre alt ist. Ich hatte erwartet, durch den Krater könne man in die Mitte der Erde hinuntersteigen. Mein Vater bestritt das. Schade, dass er nicht länger gelebt hat, er hätte sich über mich gefreut. Man denkt nicht an die entsetzliche Stille dieser unendlichen Räume, wenn man den herrlichen Laut beim Einrasten der Kupplung hört, die den Träger an der Raumstation festmacht. Allerdings, meine Karriere dauerte nicht lange. Ich habe mich des Mars nicht würdig erwiesen. Für meinen Vater wäre das wohl schlimmer gewesen, als es für mich war. Nun ja, hätte er nach meinem ersten Flug sterben sollen? Zu wünschen, dass er die Augen schließt, während er an mich glaubt, ist das zynisch oder nur dumm? Übrigens, würden Sie so freundlich sein, ein wenig auf den Verkehr zu achten? Beim Einscheren in die Lücke hinter einem psychedelischen Lancia blickte ich in den Rückspiegel. Von einem Hertz’schen Chrysler keine Spur. Weit hinten bei Marianelli blitzte kurz etwas auf, aber ich war nicht sicher, ob sie das waren, der Wagen verschwand sofort wieder. Die banale, gar nicht lange Strecke, voll von einer geschäftigen Menge auf Rädern, verlieh mir allein das Privileg eines lauernden Geheimnisses, das sämtliche Polizeien der Alten und Neuen Welt nicht begriffen, ich allein hatte Luftmatratze, Surfbrett, Federballschläger nicht deshalb im Kofferraum, um mich zu erholen, sondern um einen Schlag aus dem Ungewissen auf mich zu ziehen. So versuchte ich, mich anzuregen, doch der Zauber dieser Eskapade war schon längst verweht, ich dachte nicht mehr über das Rätsel der todbringenden Verschwörung nach, sondern darüber, ob ich nicht ein zweites Plimasin nehmen sollte, weil mir die Nase ständig lief. Egal, wo der Chrysler ist. Der Sender hat eine begrenzte Reichweite. Und meine Großmutter hatte auf dem Dachboden Schlüpfer in der Farbe dieses Lancia hängen. Um sechs Uhr zwanzig fing ich an zu rasen. Eine Zeit lang hing ich hinter einem Volkswagen, er hatte hinten große Schafsaugen aufgemalt, die mich mit zärtlichem Vorwurf anschauten. Das Auto als Persönlichkeitsverstärker. Dann gelangte ich in die Lücke hinter einem Landsmann aus Arizona mit dem Aufkleber HAVE A NICE DAY auf der Stoßstange. Hinter und vor mir türmten sich auf den Dächern Motorboote, Wasserskier, Säcke, Angelzeug, Schwimmbretter, himbeerrote und orangegelbe Bündel, Europa presste seine Gedärme heraus, um a nice day zu haben. Sechs Uhr fünfundzwanzig. Ich hob wie schon hundert Mal die rechte, dann die linke Hand und musterte meine ausgestreckten Finger. Sie zitterten nicht. Das sollte das erste Anzeichen sein. Aber war das sicher? Niemand weiß es ja. Und wenn ich nun für eine Minute den Atem anhielte – wie sehr würde Randy erschrecken. Was für ein idiotischer Einfall!
Ein Viadukt. Der Fahrtwind rappelte an den Betonpfeilern. Ich warf einen verstohlenen Blick in die Landschaft. Die grüne Leere bis zu den Bergen am Horizont wirkte wundervoll. Ein Ferrari, flach wie eine Wanze, vertrieb mich von der Überholspur. Wieder nieste ich in Salven, als ob ich fluchte. Fliegenreste punktierten meine Windschutzscheibe, die Hosenbeine klebten mir an den Waden, die Wischer reflektierten mir Sonnenstrahlen in die Augen. Ich putzte mir die Nase, das Kleenex-Päckchen fiel zwischen die Sitze und raschelte im Durchzug. Wer beschreibt das Stillleben auf der Erdumlaufbahn? Wenn der Mensch meint, er habe nun alles angebunden, magnetisiert, befestigt, mit Tesafilm festgeklebt, beginnt ein wahrer Geistertanz, das Ausschwärmen der Filzstifte und Brillen, lockere Kabelenden winden sich wie Eidechsen, und das Schlimmste sind die Krümel. Die Jagd mit dem Staubsauger auf Zwieback … Und die Haarschuppen? Das wird verschwiegen, diese Kulissen der kosmischen Schritte der Menschheit. Nur Kinder fragen als Erstes, wie man auf dem Mond pinkelt …
Die Berge wuchsen, braun, ruhig, schwer und gewissermaßen vertraut. Eine der besseren Gegenden der Erde. Die Straße änderte ihre Richtung, die Sonne schob sich in Quadraten durch das Wageninnere, und auch das ließ mich an den stummen, majestätischen Umlauf der Lichter in der Kabine denken. Der Tag inmitten der Nacht, eines zusammen mit dem anderen, wie vor der Erschaffung der Welt, und der Traum vom Fliegen, der Wirklichkeit wird, und die Verwirrung, die Verblüffung des Körpers, dass es so ist, wie es nicht sein kann. Ich habe Vorträge über die See und Luftkrankheit gehört, mir aber mein Teil dabei gedacht. Das waren keine gewöhnlichen Übelkeiten, das war eine Panik des Gedärms und der Milz, die gewöhnlich nicht spürbaren Eingeweide gerieten durcheinander und meldeten Protest an. Sie taten mir geradezu leid. Während wir uns am Kosmos erfreuten, wurde unseren Körpern von ihm unwohl. Sie konnten ihn nicht vertragen. Wir schleppten sie dorthin, und sie bäumten sich auf. Gewiss, Training schafft eine Menge. Man kann ja auch einem Bären das Radfahren beibringen, aber ist der Bär dazu bestimmt? Es ist doch nur zum Lachen. Wir gaben nicht auf, der Blutandrang zum Kopf und das Erstarren der Därme vergingen, aber es war nur ein Vertagen der Abrechnung, denn schließlich mussten wir zurückkehren. Die Erde begrüßte uns mit einer mörderischen Presse, das Strecken der Knie, des Rückens wurde zu einer verzweifelten Anstrengung, der Kopf rollte nach allen Seiten wie eine Bleikugel. Ich wusste, dass es so kommen würde, ich hatte gesehen, wie athletische Männer sich schämten, weil sie keinen Schritt gehen konnten, ich hatte sie selbst in Wannen gelegt, das Wasser befreite sie vorübergehend vom Körpergewicht, aber weiß der Teufel, warum ich geglaubt hatte, mir würde es nicht so ergehen.
Der Psychologe mit dem Bart sagte, so ergehe es jedem. Und später, als man sich wieder an die Schwerkraft gewöhnt hatte, kehrte die Gewichtslosigkeit in der Umlaufbahn als Sehnsucht im Traum wieder. Wir eignen uns nicht für den Kosmos, und gerade deshalb verzichten wir nicht auf ihn. Ein rotes Aufleuchten floss mir ins Bein, ohne das Bewusstsein zu berühren. Eine Sekunde verging, ehe ich begriff, dass ich bremste. Die Reifen knirschten auf verstreutem Reis, die Körner wurden immer größer wie Hagel. Nein, Glas. Die Kolonne bremste ab. Auf der rechten Seite Warnkegel. Ich versuchte, einen Blick aus dem Autogedränge heraus zu erhaschen. Wo denn? Auf dem Feld ließ sich langsam ein gelber Hubschrauber herab, unter seinem Leib ballte sich Staub, wie Mehl. Zwei ineinander verkeilte Kästen mit aufgerissenen Motorhauben. Wie weit von der Straße? Und die Menschen? Wieder knirschten die Reifen auf Glas, wir fuhren im Schritttempo an Polizisten vorbei, die mit den Händen winkten: »Schneller! Schneller!« Polizeihelme, Krankenwagen, Bahren, die Räder eines umgestürzten Autos drehten sich, der Blinker funktionierte noch. Rauch auf der Fahrbahn. Der Asphalt? Nein, vermutlich Benzin. Die Kolonne kehrte auf die rechte Fahrbahn zurück, wegen der Schnelligkeit konnte man leichter atmen. Der Voraussage nach erwartete man vierzig Tote. Ein Brückenrestaurant tauchte auf, nebenan sprühten aus dem Dämmer der Hallen einer großen Area di Servicio wütende Schweißfunken. Ich blickte auf den Kilometerzähler. Bald kommt Cassino. In der ersten Kurve hörte plötzlich das Kitzeln in der Nase auf, als wäre das Plimasin erst jetzt durch die Makkaroni gedrungen.
Die zweite Kurve. Ich fuhr zusammen, denn ich spürte jemandes Blick, der auf unmögliche Weise von unten her kam, als läge dieser Jemand auf dem Rücken und schaute unter dem Sitz hervor mich beobachtend an. Die Sonne war auf den Magazinumschlag mit der Blondine gefallen, die ihre Zunge herausstreckte. Ohne hinzusehen, beugte ich mich vor und drehte das glatte Heft auf die andere Seite. Sie haben ein zu reiches Innenleben für einen Astronauten, hatte der Psychologe nach dem Rorschachtest zu mir gesagt. Ich verwickelte ihn in ein Gespräch. Aber vielleicht verwickelte er mich. Er meinte, es gäbe zwei Sorten Angst, eine hohe, von der Fantasie her, und eine tiefe, direkt aus den Därmen. Vielleicht wollte er mich auf diese Weise trösten und mir beibringen, ich sei zu gut?
Der Himmel presste Wolken aus sich heraus, die zu einer weißen Fläche verliefen. Die Tankstelle näherte sich. Ich bremste. Dabei überholte mich ein jugendlicher Alter, sein langes graues Haar flatterte im Wind, er hetzte voran mit einer heiseren Fanfare, ein greiser Wotan. Ich bog zu den Zapfsäulen ab. Während des Tankens trank ich die ganze Thermosflasche mit dem braun gewordenen Zucker am Boden leer. Niemand wischte mir die fett- und blutbespritzte Windschutzscheibe. Ich fuhr weiter bis zu einer Baustelle, stieg aus und vertrat mir die Beine. Hier stand ein großer, verglaster Verkaufspavillon. Adams hatte dort ein Kartenspiel gekauft, die Nachahmung italienischer Barockkarten aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Die Tankstelle befand sich im Ausbau, rund um die Grube für den neuen Geschäftsraum lag weißer, noch nicht ausgewalzter Kies. Glasscheiben glitten vor mir zur Seite. Ich trat ein. Niemand war da. Siesta? Die Zeit ist schon vorbei. Ich ging zwischen Stapeln von bunten Schachteln und künstlichen Früchten hindurch. Die weiße Rolltreppe zum ersten Stock setzte sich in Bewegung, als ich mich näherte, und blieb stehen, als ich sie umging. Ich sah mich in einem Monitor neben den Vitrinen, das schwarzweiße Bild bebte in den Sonnenreflexen, ich sah mich im Profil. In Wirklichkeit war ich wohl nicht dermaßen blass. Kein einziger Verkäufer. Auf den Tischen türmte sich der Andenkenschund, Stöße von Postkarten, vermutlich von einer Sorte. Ich suchte in der Tasche nach Kleingeld und blickte mich nach einem Verkäufer um, als draußen der Kies unter Autorädern knirschte. Aus einem weißen Opel, der mit Schwung anhielt, stieg ein Mädchen in Jeans, umging die Grube und betrat den Pavillon. Ich stand mit dem Rücken zu ihr und sah sie im Monitor. Ohne sich zu rühren, verharrte sie ein Dutzend Schritte von mir entfernt. Ich nahm die Nachahmung eines alten Holzschnittes vom Tisch, ein rauchender Vesuv über dem Golf, es gab dort auch Ansichtskarten mit Reproduktionen pompejanischer Fresken, wie sie bei unseren Vätern Anstoß erregten. Das Mädchen ging ein paar Schritte auf mich zu, unsicher, ob ich ein Verkäufer sei. Die Rolltreppe lief an. Sie bewegte sich leise, das Mädchen aber blieb stehen, eine schmale Figur in Hosen. Ich machte kehrt, um hinauszugehen. Daran war nichts Besonderes. Sie hatte ein kindliches, unausgeprägtes Gesicht, einen kleinen Mund, und nur dass sie mit runden Augen durch mich hindurchsah und dabei mit dem Finger am Kragen ihrer weißen Bluse kratzte, bewirkte, dass ich im Vorbeigehen den Schritt verlangsamte; da fiel sie lautlos mit unbewegtem Gesicht nach hinten. Ich war so unvorbereitet, dass sie wie ein Klotz zu Boden stürzte, bevor ich zuspringen konnte. Es gelang mir nicht, sie aufzufangen, sondern nur ihren Fall zu mildern und sie bei den Armen zu fassen, als legte ich sie mit ihrem Einverständnis auf den Rücken. Da lag sie wie eine Puppe. Wer von außen hereinsah, hätte meinen können, ich kniete vor einer umgefallenen Schaufensterpuppe, denn zu beiden Seiten der Fenster standen Puppen in neapolitanischer Tracht, und ich kniete mitten dazwischen, über die eine gebeugt. Ich fasste nach ihrem Handgelenk. Der Puls ging schwach, aber regelmäßig. Sie lag mit leicht geöffnetem Mund, man sah das Weiße in ihrem Auge, als schliefe sie mit halb geschlossenen Lidern. Hundert Meter weiter fuhren die Autos bei der Tankstelle vor, drehten dann sofort ab und kehrten in weißen Staubwolken zurück zum dröhnenden Strom der Strada del Sol. Nur zwei Wagen standen vor dem Pavillon, meiner und der des Mädchens. Langsam richtete ich mich auf. Noch einmal musterte ich die Liegende. Der Unterarm mit dem schmalen Handrücken, den ich losgelassen hatte, schwang langsam zur Seite. Als er den Oberarm nach sich zog und die hellen Härchen der entblößten Achselhöhle enthüllte, bemerkte ich dicht unter ihnen zwei Zeichen, kleine Kratzer oder winzige Tätowierungen. Ich hatte einmal Ähnliches bei gefangenen SS-Leuten gesehen, ihre Blutgruppe. Hier aber war es wohl ein gewöhnliches Muttermal. Meine Beine bebten in dem Wunsch, erneut hinzuknien, doch ich zügelte diesen Reflex und ging zur Tür. Wie um zu unterstreichen, dass die Szene beendet sei, blieb die lautlos gleitende Rolltreppe stehen. An der Schwelle blickte ich mich um. Ein Haufen bunter Luftballons verdeckte die Liegende, aber ich sah sie im fernen Monitor. Das Bild zitterte. Mir schien, als zitterte sie. Ich wartete zwei oder drei Sekunden. Nichts. Die Glastür ließ mich diensteifrig durch. Ich sprang über die Grube, stieg in den Hornet und setzte zurück, um das Kennzeichen des Opels zu sehen. Es war ein deutsches. Aus einem bunten Durcheinander von Dingen ragte ein Golfstock. Ich hatte nun an etwas anderes zu denken, während ich mich in den Verkehr einfädelte. Es sah nach einem stillen epileptischen Anfall aus, un petit mal. Es gibt solche, ganz ohne Krämpfe. Sie konnte die Vorzeichen bemerkt und deshalb angehalten haben, und als sie den Pavillon betrat, verlor sie das Bewusstsein. Daher der nichts sehende Blick und die insektenhafte Kratzbewegung am Kragen. Aber es konnte auch eine Vortäuschung gewesen sein. Ich hatte ihren Opel unterwegs nicht bemerkt. Allerdings, allzu aufmerksam war ich nicht gewesen, und derartige Autos – weiß mit kantigen Linien – hatte ich viele getroffen. Wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtete ich jede Einzelheit, die mir im Gedächtnis haftengeblieben war. In dem Pavillon musste es mindestens zwei, vielleicht auch drei Verkäufer geben. Und die waren alle gleichzeitig zu einem Drink gegangen? Seltsam. Obwohl – heute ist auch das möglich. Sie waren ins Café gegangen, weil sie wussten, dass zu dieser Tageszeit niemand den Pavillon aufsucht, und das Mädchen war vorgefahren, weil sie es für besser hielt, wenn es dort über sie kam und nicht in der Tankstelle. Sie wollte den Burschen in den Overalls von Supercortemaggiore keine Vorstellung geben. Wie natürlich sich das alles fügte. Nicht wahr? Oder etwa allzu natürlich? Sie war allein. Wer fährt in solcher Lage allein? Na und? Wäre sie wieder aufgewacht, hätte ich sie nicht zu ihrem Wagen geleitet. Ich hätte versucht, ihr das Weiterfahren auszureden. Also? Ich hätte ihr geraten, den Opel stehenzulassen und bei mir einzusteigen. So hätte jeder gehandelt. Und ich hätte es bestimmt getan, wäre ich als Tourist hier gewesen. Mir wurde heiß. Ich hätte doch dableiben und mich mit der Sache abgeben müssen, falls es da eine Sache gab. Dazu war ich doch da! Zum Teufel! Ich redete mir immer eifriger ein, sie hätte wirklich das Bewusstsein verloren, und ich war immer weniger davon überzeugt. Nicht nur davon. Man lässt doch einen Verkaufspavillon nicht so stehen, das ist doch beinahe ein Kaufhaus. Wenigstens die Kassiererin hätte an ihrem Platz sein müssen. Aber an der Kasse war niemand. Man konnte jedoch das ganze Innere vom Café über die Grube hinweg überblicken. Wer aber konnte wissen, dass ich hier halten würde? Niemand. So oder so, das zielte nicht auf mich ab. Sollte ich ein anonymes Opfer werden? Wessen Opfer eigentlich? Wie denn, die Verkäufer, die Kassiererin, das Mädchen – alle unter einer Decke? Das ist mir zu fantastisch. Also ein gewöhnlicher Zufall. Und so immer wieder von vorn. Adams war heil nach Rom gekommen. Und allein. Aber die anderen? Plötzlich erinnerte ich mich an den Golfstock im Opel. Großer Gott, solche Stöcke waren doch …
Ich beschloss, mich zusammenzunehmen, auch wenn ich schon völlig verrückt geworden war. Wie ein schlechter, aber hartnäckiger Schauspieler kehrte ich zurück zu der geschmissenen Rolle. An der nächsten Tankstelle bat ich, ohne auszusteigen, um einen Schlauch. Ein gut aussehender Brünetter im Overall musterte meine Reifen: »Sie haben schlauchlose.« Aber ich brauchte einen Schlauch. Ich zahlte mit dem Blick zur Autobahn, um den Chrysler nicht zu übersehen, doch er kam nicht. Neun Meilen weiter tauschte ich ein gutes Rad gegen das Reserverad aus. Ich tat es, weil Adams das getan hatte. Als ich mich am Wagenheber hinhockte, schlug mir die Hitze tüchtig entgegen. Der Wagenheber war nicht geschmiert und quietschte, unsichtbare Düsenjäger schlitzten über meinem Kopf den Himmel auf, und ihr Donnergetöse erinnerte mich an die Schiffsartillerie, die den Brückenkopf in der Normandie deckte. Woher kommt diese Erinnerung? Ich war auch später noch in Europa gewesen, aber als offizielles Ausstellungsstück, zweiter Klasse zwar, weil zur Reserve gehörig oder beinahe fiktiv, ein Mitglied des Marsprojekts. Europa hatte mir seine Schokoladenseite präsentiert, erst jetzt lernte ich es, wenn nicht besser, so doch ohne Gala kennen, die nach Urin stinkenden Gassen Neapels, ihre grässlichen Prostituierten, das Hotel, das sich noch mit Sternen aufspielte, vermorschte bereits, die Hökerinnen krochen heran, das Pornokino wäre früher neben einer solchen Stätte undenkbar gewesen. Doch vielleicht war es anders, vielleicht hatten die recht, die sagten, Europa zerfalle vom Kopf, von oben her? Das Blech und das Werkzeug waren glühend heiß. Ich reinigte mir die Hände mit Krem, wischte sie mit einem Kleenextuch ab und stieg ein. Es dauerte eine Weile, bis ich die an der Tankstelle gekaufte Schweppesflasche aufgemacht hatte, weil mir das Taschenmesser mit dem Öffner abhanden gekommen war, endlich schluckte ich die bittere Flüssigkeit und dachte dabei an Randy, der irgendwo auf der Strecke hörte, wie ich trank. Die Kopfstütze hatte sich in der Sonne erhitzt und glühte. Meine Haut im Genick war verbrannt. Auf dem Asphalt am Horizont schwamm ein metallisches Gleißen, als gäbe es dort Wasser. Ein Donner? Ja, es donnerte. Wahrscheinlich hatte es schon früher gedonnert, nachdem die Düsenjäger fortgeflogen waren, doch die Autobahn hatte alle schwächeren Laute mit ihrem Grollen übertönt. Jetzt übertönte der Donner ihr Dröhnen und brach in den Himmel mit den goldgelben Wolken ein; über den Bergen verwandelte sich das Gold bereits in ein stechendes Gelb.
Tafeln kündigten Frosinone an. Der Schweiß lief mir den Rücken hinunter, als striche mir jemand mit einer Feder zwischen den Schulterblättern entlang, und das Gewitter, theatralisch wie die Italiener, drohte, statt sich zu entladen, nur mit dumpfem Rollen ohne einen Tropfen Regen vorüberzuziehen. Doch wehten graue Mähnen wie Herbstrauch durch die Landschaft, und einmal, als ich in eine langgezogene Kurve einbog, sah ich sogar eine Stelle, wo ein schräg herabhängender Wirbel eine Wolke zur Autobahn schleppte. Erleichtert begrüßte ich das Zerspritzen der ersten dicken Tropfen auf der Windschutzscheibe. Plötzlich goss es wie aus Zubern.
Die Scheibe war ein wahres Schlachtfeld, ich schaltete also die Wischer nicht sofort ein; dann kratzten sie den Insektenkot ab, ich schaltete sie aus und fuhr auf den Seitenstreifen. Eine geschlagene Stunde sollte ich halten. Der Regen kam in Wellen, er trommelte auf das Dach, die vorbeifahrenden Autos zogen trübe Streifen funkelnder Wassertropfen hinter sich her und wirbelten den Regen hoch, ich aber atmete tief. Durch das geöffnete Fenster goss es mir in Strömen auf das Knie. Ich zündete mir eine Zigarette an und hielt sie in der hohlen Hand, damit sie nicht nass wurde; sie schmeckte mir nicht, Mentol. Ein Chrysler in Metallic fuhr vorbei, doch lief so viel Wasser an der Seite herab, dass ich nicht sicher war, ob es der Richtige sei. Es wurde immer dunkler. Blitze, Krachen wie reißendes Blech, aus Langeweile zählte ich die Sekunden zwischen Aufleuchten und Knall, die Autobahn grollte und dröhnte, und nichts war imstande, sie lahmzulegen. Der Zeiger überschritt die Sieben – es war Zeit. Mit einem Seufzer stieg ich aus. Die kalte Dusche war zunächst nicht angenehm, doch bald fühlte ich mich frischer. Ich manipulierte an den Scheibenwischern, als müsste ich sie reparieren, und beobachtete dabei die Fahrbahn, aber niemand kümmerte sich um mich, auch von der Polizei war nichts zu sehen. Nass bis auf die Haut, stieg ich ein und fuhr los. Das Gewitter ließ nach, doch wurde es immer dunkler, hinter Frosinone tröpfelte es nicht einmal, der Asphalt war getrocknet, von den Pfützen an der Seite stieg ein niedriger, weißer Dampf auf, in den die Scheinwerfer eintauchten, bis die Sonne hinter den Wolken hervorkam, als wollte sich die Landschaft vor der Nacht noch einen Augenblick lang in neuem Licht zeigen. Unter einem unirdischen rosa Glanz bog ich ab auf den Parkplatz von Pavesis Brückenrestaurant, löste das an meinem Körper klebende Hemd, damit man die Elektroden nicht sah, und ging nach oben. Den Chrysler hatte ich auf dem Platz nicht bemerkt. Oben plapperte die Menge in zehn Sprachen und aß, ohne auf die Autos zu achten, die unten wie die Kegelkugeln vorbeisausten. In mir war, ich weiß nicht wann, eine Veränderung vorgegangen, ich hatte mich beruhigt, eigentlich war mir alles gleichgültig geworden, an das Mädchen dachte ich, als wäre das vor Jahren passiert, ich trank zwei Tassen Kaffee, einen Schweppes mit Zitrone, vielleicht hätte ich in diesem Anfall von Faulheit noch länger dort gesessen, doch fiel mir ein, dass das Gebäude aus Eisenbeton war, also keine Funkwellen durchließ, sie konnten deshalb nicht erfahren, wie es meinem Herzen ging. Zwischen Houston und dem Mond gibt es derartige Probleme nicht. Beim Hinausgehen wusch ich mir in der Toilette Hände und Gesicht. Vor dem Spiegel strich ich mir das Haar glatt, schaute mich selbst nicht eben freundlich an und machte mich auf den Weg.
Jetzt sollte ich wieder bummeln. Ich fuhr also, als ließe ich die Zügel schleifen, weil das Pferd den Weg kennt.
Meine Gedanken eilten nirgendwohin, ich versank nicht in Wachträume, ich schaltete mich nur aus, als gäbe es mich nicht. So etwas hatte ich einst ›Kohlleben‹ genannt. Immerhin, die Aufmerksamkeit glomm, denn ich machte halt laut Plan. Es war ein guter Halteplatz. Ich stand unterhalb der Höhe eines sanften Hügels, dort wo die Autobahn als geometrische Ausschachtung in seinen Rücken einschnitt. Durch diese Kerbe reichte der Blick wie durch ein großes Tor bis zum Horizont, wo der Betonstreifen mit entschiedenem Schwung den nächsten sanften Buckel durchtrennte. Es sah aus, als wäre hier die Kimme und dort das Korn. Ich wischte die Scheibe, und weil ich dazu den Kofferraum öffnen musste – die Kleenextücher waren mir ausgegangen –, berührte ich den weichen Boden des Koffers; dort ruhte mit ihrem Gewicht die Waffe. Wie in unbewusster Verabredung schalteten alle Fahrer fast gleichzeitig die Scheinwerfer ein. Mein Blick umfasste einen beträchtlichen Raum. In Richtung Neapel leuchteten weiße Streifen, in Richtung Rom glühte es, als rollten rote Kohlestückchen die Straße entlang. Am Grunde des Kessels bremsten die Wagen, und dieses Bremsen mit seinem flimmernden Rot bebte stets auf demselben Streckenabschnitt, ein hübsches Beispiel für eine stehende Welle. Wäre die Straße dreimal so breit gewesen, hätte es in Texas oder Montana sein können. Wenige Schritte von der Straße entfernt war ich so allein, dass mich heitere Ruhe umfing.
Die Menschen brauchen Gras wie die Ziegen, sie wissen es nur nicht so gut wie jene. Als am unsichtbaren Himmel ein Hubschrauber vorbeidröhnte, warf ich die Zigarette fort und stieg in den Wagen. Das Innere hatte einen Rest der Tageshitze bewahrt.
Hinter den nächsten Hügeln kündigten schattenlose Leuchtröhren die Nähe Roms an. Doch hatte ich einen weiteren Weg, da ich die Stadt umfahren musste. Die Dämmerung machte die Menschen in den Autos unsichtbar und verlieh den Gepäckstücken auf den Dächern rätselhafte Formen. Alles wurde wichtig und anonym, voll von Unausgesprochenem, als stünden am Ende des Weges unendlich bedeutsame Angelegenheiten. Ein Reserveastronaut muss wenigsten zu einem kleinen Teil schofel sein, denn irgendetwas in ihm wartet auf das Stolpern der richtigen Astronauten, und wenn es nicht wartet, so ist er ein Esel. Ich musste später noch einmal halten, der Kaffee, das Plimasin, der Schweppes, das Eiswasser wirkten, ich verließ den Bereich der Straße, und die Umgebung überraschte mich – nicht nur der Verkehr schien verschwunden, sondern mit ihm auch die Zeit. Abgewandt roch ich durch den Dunst der Abgase hindurch in der schwach bewegten Luft den Duft der Blumen. Was hätte ich getan, wäre ich dreißig Jahre alt gewesen? Statt eine Antwort auf diese Frage zu suchen, war es besser, den Schlitz zuzuknöpfen und weiterzufahren. Der Schlüssel fiel mir im Dunklen zwischen die Pedale, ich suchte ihn tastend, weil ich keine Lust hatte, die Innenbeleuchtung anzuknipsen. Ich fuhr weiter, weder schläfrig noch wach, weder böse noch ruhig – nur fremd, irgendwie weich und ein wenig verwundert. Die Lampen auf den Masten überfluteten die Frontscheibe, bleichten mir die Hände am Steuerrad und glitten nach hinten, die Schilder mit den Namen schoben sich wie Gespenster aufleuchtend vorbei, und die Betonfugen machten sich durch weiches Trommeln bemerkbar. Jetzt nach rechts, auf die Stadtumgehung Roms, um von Norden her einzufahren wie er. Ich dachte gar nicht an ihn, er war einer von elfen, der Zufall hatte es gefügt, dass ich gerade von ihm alle Sachen übernommen hatte. Randy hatte darauf bestanden, und gewiss zu Recht. Wenn man etwas Derartiges tut, dann so genau wie irgend möglich. Für mich war das Bewusstsein, die Hemden und Koffer eines Toten zu benutzen, recht unwesentlich, wenn es mir zu Anfang schwergefallen war, dann nur, weil es sich um die Sachen eines Fremden handelte, nicht aber, weil er tot war. Es kamen lange, fast leere Strecken, und ich hatte das Gefühl, als ob irgendetwas fehlte, durch die heruntergelassenen Fenster wehte die Luft voller Blütenduft herein, nur gut, dass die Gräser sich schon zur nächtlichen Ruhe begeben hatten. Ich zog nicht einmal die Nase hoch. Psychologie hin, Psychologie her, entschieden hatte doch der Schnupfen. Dessen war ich sicher, obwohl man mir eingeredet hatte, dem sei nicht so. Rational genommen stimmt es ja auch, denn wächst auf dem Mars etwa Gras? Also ist Überempfindlichkeit gegen Sporen kein Fehler. Ja, aber irgendwo an den Rubriken meiner Personalakten, in einer Spalte ›Bemerkungen‹ muss das Wort ›Allergiker‹ gestanden haben, also ein nicht Vollwertiger. Deswegen also ein Reservemann, d. h. ein Bleistift, den man mit dem besten Werkzeug anspitzt, um schließlich keinen einzigen Punkt mit ihm zu setzen. Ein Reserve-Kolumbus, wie klingt das?
Auf der Gegenfahrbahn fuhr eine lange Kolonne, jeder Wagen blendete mich, ich schloss abwechselnd das rechte und das linke Auge. Ob ich mich verirrt hatte? Ich entdeckte keine Abfahrt von der Autostrada. Gleichgültigkeit überkam mich; was kann ich mehr tun, in die Nacht hineinfahren und fertig. Hoch oben, schräg angeleuchtet huschte eine Tafel ROMA, TIBERINA vorbei. Also doch. Das nächtliche Rom füllte sich mit Lichtern und Verkehr, je mehr ich mich dem Zentrum näherte. Nur gut, dass die Hotels, die ich der Reihe nach abklappern sollte, nahe beieinanderlagen. In jedem breitete man bedauernd die Hände aus – Saison, alles belegt –, also zwängte ich mich wieder hinter das Steuer. Im letzten Hotel gab es ein freies Zimmer, ich forderte aber ein ruhiges im Seitenflügel, der Portier starrte mich an, ich schüttelte bedauernd den Kopf und kehrte zurück zum Auto.
Der leere Bürgersteig vor dem ›Hilton‹ war in reichhaltiges Licht getaucht. Beim Aussteigen konnte ich den Chrysler nicht entdecken, und der Gedanke durchfuhr mich, sie könnten einen Unfall gehabt haben, deswegen hätte ich sie auch unterwegs nicht gesehen. Mechanisch schlug ich die Tür zu und sah in der Spiegelung, die die Scheibe hinunterfloss, hinter mir die gleißende Schnauze des Chrysler. Er stand hinter dem Parkplatz im Halbschatten, zwischen Ketten und einem Verbotsschild. Ich wandte mich dem Hotel zu. Im Gehen sah ich das dunkle Innere des Wagens, es schien leer, aber die Scheibe war zur Hälfte heruntergedreht. Als ich fünf Schritte entfernt war, glühte dort das Pünktchen einer Zigarette auf. Ich wollte ihm zuwinken, hielt mich aber zurück, meine Hand bebte nur, ich steckte sie in die Tasche und betrat das Foyer.
Es war ein kleiner Zwischenfall, vergrößert dadurch, dass ein Kapitel schloss und das nächste begann, in der kühlen Nachtluft wurde alles übernatürlich deutlich: die Autorümpfe auf dem Parkplatz, mein Schritt, die Zeichnung des Pflasters, deshalb ärgerte es mich, dass ich ihnen nicht zuwinken konnte. Bisher hatte ich den Zeitplan eingehalten wie ein Musterschüler den Stundenplan, ich hatte nicht einmal an den Menschen gedacht, der vor mir denselben Weg gefahren und genauso aufgestanden war, der Kaffee getrunken hatte und von Hotel zu Hotel durch das nächtliche Rom gezogen war, um nicht nur diesen Weg im ›Hilton‹ zu beenden, denn er hatte es lebendig nicht mehr verlassen. Jetzt erschien mir die übernommene Rolle wie Hohn, als forderte ich das Schicksal heraus.
Ein junger Boy, der sich bis zur Steifheit wichtig nahm, vielleicht aber nur seine Müdigkeit verdeckte, folgte mir hinaus zum Auto und nahm mit behandschuhten Händen die eingestaubten Koffer, ich lächelte gedankenlos seinen blitzenden Knöpfen zu. Das Foyer war leer, ein zweiter Bengel stellte mein Gepäck in den Aufzug, der sich mit den Klängen einer Spieluhr hob. In mir war noch der Rhythmus der Fahrt. Wie eine aufdringliche Melodie konnte ich ihn nicht loswerden. Der Boy hielt an, öffnete eine Doppeltür, schaltete Wand- und Deckenleuchten ein, Wohnzimmer, Schlafzimmer, er stellte meine Koffer ab, ich blieb allein. Von Neapel nach Rom kann man sozusagen mit der Hand hinüberreichen, dennoch spürte ich Müdigkeit, eine andere als gewöhnlich, eine gespannte Müdigkeit, und das war die nächste Überraschung. Als hätte ich teelöffelweise eine Dose Bier getrunken – eine etwas betäubende Nüchternheit. Ich ging die Zimmer ab, das Bett reichte bis zum Fußboden, das Spiel mit dem Druntergucken war nicht nötig, ich öffnete alle Schränke und wusste sehr gut, dass ich in keinem einen Meuchelmörder finden würde, wenn es doch so einfach wäre, aber ich tat alles, was ich tun sollte. Ich hob die Laken, die doppelte Matratze, die Höhenregelung des Kopfteils, irgendwie glaubte ich nicht, dass ich von diesem Bett nicht mehr aufstehen würde. Wie bitte? Der Mensch ist undemokratisch konstruiert, Stimmen von links, von rechts – das ist nur ein vorgetäuschtes Parlament, denn es gibt die Katakomben, die ihn schütteln. Das Evangelium nach Freud. Ich untersuchte die Klimaanlage, hob die Jalousien und ließ sie herunter, die Zimmerdecken waren glatt und hell. Nicht wie im Gasthaus ›Zu den Drei Hexen‹. Wie klar, wie redlich makaber ist dort die Gefahr, ein Baldachin, der auf den Schlafenden herabfällt und ihn erstickt, hier aber gab es weder einen Baldachin noch sonstige eingedickte Romantik. Sessel, Schreibtisch, Teppich, alles gut angeordnet, die übliche Komfortausstattung. Habe ich das Licht am Wagen ausgeschaltet? Die Fenster führten zur anderen Seite, deshalb konnte ich ihn nicht sehen. Vermutlich habe ich es ausgeschaltet, und wenn ich es vergessen habe, mag sich Hertz darum kümmern. Ich zog die Vorhänge zusammen, kleidete mich aus und warf dabei Hose und Hemd achtlos umher, als ich nackt war, löste ich vorsichtig die Elektroden. Nach dem Duschen würde ich sie wieder anlegen müssen. Ich öffnete den größeren Koffer, die Schachtel mit den Pflastern lag oben, aber ich fand die Schere nicht. Mitten im Zimmer stehend, spürte ich einen leichten Druck auf dem Kopf, unter den Füßen den flauschigen Teppich, ach ja, ich hatte sie in die Aktentasche getan. Ungeduldig zerrte ich am Schnappschloss, mit der Schere fiel eine Reliquie heraus – eine in Plexiglas eingegossene, saharagelbe Fotografie, der Sinus Aurorae, mein nicht realisierter Landeplatz Nummer eins. Sie lag auf dem Teppich neben meinen nackten Füßen, es war unangenehm, töricht und bedeutsam. Ich hob sie auf und betrachtete sie im weißen Licht der Deckenlampen, zehn Grad nördliche Breite und zweiundfünfzig Grad östliche Länge, oben der Fleck des Bosporus Gemmatus, weiter unten eine äquatoriale Formation. Die Stellen, die ich hätte betreten können. Ich stand da mit dem Foto in der Hand, statt es wieder in die Tasche zu schieben, legte ich es schließlich neben das Telefon auf den Nachttisch und ging ins Bad.
Die Dusche war herrlich, das Wasser ergoss sich in hundert heißen Bächen. Die Zivilisation beginnt mit dem fließenden Wasser. König Minos’ Klosetts auf Kreta. Irgendein Pharao ließ aus dem Schmutz, der sein Leben lang von seinem Körper abgekratzt wurde, einen Stein für die Kopfstütze seines Grabes formen. Waschungen sind immer auch etwas Symbolisches.
Als junger Mensch wusch ich mein Auto nicht, wenn es den kleinsten Defekt hatte, erst nach der Reparatur ließ ich ihm wieder Ehre angedeihen und wachste und polierte es. Und was konnte ich damals von der Reinheits- und Unreinheitssymbolik wissen, die zu allen Religionen gehört? In Appartements für zweihundert Dollar achte ich nur die Baderäume. Der Mensch fühlt sich so wie seine Haut. Im wandgroßen Spiegel sah ich meinen eingeseiften Körper mit dem Abdruck der Elektrode, als wäre ich wieder in Houston, die Hüften weißlich von der Badehose, ich verstärkte den Wasserzufluss, die Röhren heulten jämmerlich auf. Die Berechnung von Durchflusskurven, die keine Resonanz wecken, ist wohl eine fast unlösbare Aufgabe der Hydraulik. Was gibt es für unnötiges Wissen. Ich trocknete mich ab, ohne auf die Handtücher zu achten, und ging, nasse Spuren hinterlassend, ins Schlafzimmer. Dort klebte ich die Herzelektrode an und setzte mich auf das Bett, statt mich hinzulegen. Eine schnelle Berechnung ergab: Einschließlich des Inhalts der Thermosflasche mindestens sieben Tassen Kaffee. Früher wäre ich eingeschlafen wie ein Murmeltier, inzwischen aber kenne ich bereits das Wälzen von einer Seite auf die andere. Im Koffer hatte ich, vor Randy versteckt, Seconal, ein Mittel, das den Astronauten empfohlen wird. Adams besaß das nicht. Anscheinend schlief er vorzüglich. Jetzt etwas zu nehmen, wäre nicht loyal. Ich hatte vergessen, das Licht im Bad auszuschalten. Ich erhob mich, meine Knochen wollten nicht recht. Im Halbdunkel wurde das Appartement größer. Nackt, das Bett im Rücken, stand ich unentschlossen herum. Ach ja, ich muss die Tür schließen, der Schlüssel soll stecken bleiben. 303 – dieselbe Nummer. Darauf haben sie geachtet. Und was folgt daraus? Ich suchte die Angst in mir. Etwas Unbestimmtes, etwas Scham, doch was hilft’s, ich wusste nicht, woher die Unruhe kam, von der Aussicht auf eine schlaflose Nacht oder gar auf die Agonie? Alle sind abergläubisch, obwohl nicht alle es wissen. Noch einmal musterte ich im Licht der Nachttischlampe mit nun schon unverhohlenem Misstrauen die ganze Umgebung. Die Koffer standen halb offen, die Sachen lagen verstreut auf den Sesseln. Eine echte Generalprobe. Der Revolver? Unsinn. Genug. Ich schüttelte über mich selbst mitleidig den Kopf, legte mich hin, löschte das Licht, lockerte die Muskeln und begann, gleichmäßig zu atmen.
Die Fähigkeit, zu einer bestimmten Stunde einzuschlafen, war ein wesentlicher Teil des Drills. Und saßen schließlich nicht unten im Auto zwei Menschen und schauten auf das Oszilloskop, auf dem meine Lunge und mein Herz in leuchtender Linie jede Bewegung aufzeichneten? Die Tür von innen verschlossen, hermetisch abgedichtete Fenster, was geht es mich an, dass er sich zur gleichen Stunde in dasselbe Bett gelegt hatte?
Der Unterschied zwischen dem ›Hilton‹ und dem Gasthaus ›Zu den Drei Hexen‹ war unbestreitbar. Ich stellte mir meine Heimkehr vor. Unangemeldet halte ich vor dem Haus oder besser nur vor der Apotheke, ich gehe zu Fuß, als käme ich von einem Spaziergang, die Jungen sind schon aus der Schule zurück und sehen mich von oben, die Treppen dröhnen unter ihren Füßen – da fiel mir ein, dass ich noch etwas Gin trinken musste. Eine Weile lag ich auf die Ellbogen gestützt und zögerte, die Flasche war im Koffer geblieben, ich wälzte mich aus dem Bett, ging im Dunkeln zum Tisch, ertastete unter den Hemden die flache Form, goss etwas in den Verschluss, es lief mir über die Finger. Ich leerte den kleinen Metallbecher bis zur Neige – mit dem dummen Gefühl des Schauspielers in einem Amateurtheater. Ich tue, was ich kann, rechtfertigte ich mich vor mir selbst. Ich kehrte zurück ins Bett, unsichtbar, Körper, Arme, Beine verschwanden, die Sonnenbräune verfloss mit der Dunkelheit, nur die Hüften schimmerten als weißlicher Gürtel. Ich legte mich hin, der Alkohol wärmte den Magen, ich schlug mit der Faust auf das Kissen: Dorthin bist du gekommen, du Reservemann. Die Decke hochgezogen und wieder geatmet. Es kam der Halbschlaf, in dem nur Passivität die Reste des Wachseins fortblasen kann. Irgendwelche Phantome erschienen mir bereits. Ich flog durch die Luft. Interessant, von solchem Segeln träumte ich genauso wie vor dem Aufenthalt auf der Orbitalstation. Als ob die hartnäckigen Katakomben meines Gehirns Korrekturen durch die Erfahrung nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Das Fliegen im Traum ist unwahr, denn der Körper behält seine normale Lage bei, und die Arm- und Beinbewegungen sind ebenso einfach wie im Wachen, nur flüssiger und leichter. In Wirklichkeit ist es ganz anders. Die Muskeln geraten völlig durcheinander. Du willst etwas fortschieben, stattdessen fliegst du selbst rückwärts, du willst dich setzen und ziehst stattdessen die Knie unter das Kinn, bei einer unvorsichtigen Bewegung kann man sich selbst mit den Knien k. o. schlagen. Der Körper benimmt sich wie besessen und ist nur enthemmt, befreit von dem segensreichen Widerstand, den ihm die Erde stets leistet.
Ich erwachte halb erstickt. Etwas Weiches, aber Unnachgiebiges machte mir das Einziehen der Luft unmöglich. Ich sprang mit vorgestreckten Armen auf, als wollte ich den packen, der mich würgte. Im Sitzen kam ich mühsam zu mir, als zöge ich eine ekelhafte klebrige Hülle von meinem Gehirn. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fiel von der Straße her ein Quecksilberreflex ins Zimmer. In seinem Flimmern bemerkte ich, dass ich allein war. Ich konnte weiterhin nicht atmen, die Nase war wie zubetoniert, der Mund ausgedörrt, die Zunge eingetrocknet. Ich musste fürchterlich geschnarcht haben. Ich glaubte, dieses Schnarchen sei gegen Ende des Schlafs zu mir gedrungen, als ich bereits erwachte.
Ich erhob mich leicht taumelnd, denn obgleich ich meine Sinne schon beisammen hatte, erfüllte mich der Traum dennoch wie ein unbewegliches Gewicht. Ich beugte mich vorsichtig über den Koffer, um blindlings in die Seitentasche nach dem Gummi zu greifen, der das Röhrchen mit Pyribenzamin festhielt. Auch in Rom mussten bereits die Gräser blühen. Im Süden werden die Sporenkapseln immer zuerst rötlich, das setzt sich dann wellenartig fort in die höheren Breiten, jeder weiß davon, der lebenslänglich mit Heufieber geschlagen ist. Es war zwei Uhr. Ich war etwas beunruhigt; ob meine Beschützer nicht womöglich aus dem Auto sprängen, wenn mein Herz im Oszilloskop solche Mätzchen machte, legte mich also wieder hin, und zwar mit dem Gesicht seitlich auf das Kissen, weil die inwendige Nasenschwellung so am schnellsten vergeht. Ich lag da und lauschte mit einem Ohr auf das, was jenseits der Tür vor sich ging, um mich zu vergewissern, dass keine ungebetene Hilfe nahte. Es herrschte Stille, und mein Herz kehrte zum üblichen Rhythmus zurück.
Ich rief mir das Bild jenes Hauses nicht mehr vor Augen, weil ich es nicht wollte und weil ich meinte, man solle die Kleinen in diese Sache nicht mit hineinziehen. Nicht ohne die Hilfe der Kinder einzuschlafen, das ist tatsächlich schlimm! Da muss Yoga genügen, wie ihn Dr. Sharp und seine Helfer für den Gebrauch der Astronauten adaptiert haben. Ich kannte das auswendig wie das Vaterunser und wandte es so erfolgreich an, dass meine Nase besänftigt pfiff, während sie ein bisschen Luft durchließ, das Pyribenzamin aber sickerte mir, seines wachhaltenden Bestandteils beraubt, ins Gehirn und verbreitete die ihm eigentümliche, ein bisschen unsaubere, trübe Schläfrigkeit, sodass ich, ohne es zu merken, fest einschlief.