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Erster Aufzug: Lear

1Seine Zeit war abgelaufen. Alle wussten es. Nur er nicht. Er hatte seinen Beruf aufgegeben und seine Immobilien verschenkt. Von einer Pflegeversicherung hatte er wohl noch nie gehört. Nicht mal den Nießbrauch für seine diversen Immobilien hatte er sich im Grundbuch eintragen lassen. Wie dumm von ihm. Nun vertraute der alte Narr darauf, dass seine Kinder ihn aufnehmen und pflegen würden. Dabei hatte er ihnen als Vater immer vorgelebt, worauf es im Leben wirklich ankommt: Macht und noch mehr Macht. Und nun wunderte er sich, dass seine Töchter keine aufopferungsvollen Krankenschwestern geworden waren, dass sie Karrieristen an ihrer Seite hatten, die einen lästigen Schwiegervater lieber früher als später loswerden wollten. Zumal der Alte ständig herumnörgelte.

Justus Beck schaute auf die Uhr. Er ertrug diesen Griesgramgreis nur sehr schwer. Der alte Mann mit dem Holzschwert in der schlaffen Hand und dem riesigen Schnuller an der gelbbraun verfärbten Windel sollte endlich sterben. Das war zwar erst der dritte Akt von „König Lear“, aber das Elend dauerte schon zu lange. Deutlich über eine Stunde! Der gebrechliche Herrscher hatte sein Reich an die undankbaren, aber instinktiv kniefälligen Töchter Goneril und Regan vermacht. Schwester Cordelia, die um ihre Vaterliebe kein Aufhebens getrieben hatte, ging leer aus, wurde enterbt und verstoßen. Dabei hätte sie sich doch um ihn gekümmert. Bei Goneril und Regan aber waren Papa Lear und sein Gefolge bald nicht mehr willkommen. Shakespeare kannte eben auch bei Senilität keine Gnade. Und Schauspieldirektor Bernd Huber, der Regie führte, hatte auch kein Mitleid mit König Lear: Der alte Mann war an diesem Abend im Stadttheater ein klarer Fall für die Demenz-WG, hielt sich für einen mächtigen Patriarchen, dabei bestand sein Gefolge aus Spielzeugrittern, die ihm Regan und Goneril nach und nach alle wegnahmen. Sein Gehstock war ein Infusionsständer auf Rollen, dessen Schlauch in seine linke Armbeuge mündete. Sein Schlachtross war ein Schaukelpferd, und die beiden Burgen seiner Töchter sahen aus, als hätte sie ein Riesenbaby mit enormen Legosteinen gebaut.

Der Alte war also auf dem Weg zurück in die infantile Verblödung. Und seine herzlosen Töchter, die als viel beschäftigte Geschäftsfrauen Hosenanzüge trugen, waren drauf und dran, den alten Wirrkopf entmündigen zu lassen. Abgedankt und abgeschoben: „König Lear“, ein gerontologisches Drama zum demografischen Wandel. So hatte die Dramaturgie Shakespeares Seniorentheater angekündigt. Was nicht im Programmheft stand: Regisseur Huber inszenierte aus eigener Erfahrung. Nachdem seine Mutter drei polnische Pflegerinnen vergrault und mit der Schwiegertochter Streit angefangen hatte, war „König Lear“ nun Therapie, Absolution und Rache zugleich. Der Schauspieldirektor hatte die widerspenstige Alte entnervt ins Pflegeheim abgeschoben und zeigte seinem Publikum jetzt, was für eine unerträgliche Last die Eltern doch sein konnten. Nicht dass er damit hausieren gegangen wäre, aber es war Kantinengespräch, und die stellvertretende Vorsitzende der Theaterfreunde sorgte dafür, dass es auch Stadtgespräch wurde. Prompt wurde ihr im Theater Hausverbot erteilt, wovon sie Politiker und Presse in ausführlichen Telefonaten in Kenntnis gesetzt hatte. Auch Beck kannte jetzt alle hässlichen Details. Leider machte dieses Wissen den Theaterabend nicht vergnüglicher.

Im Grunde sei Hubers Mutter dement, ihren Sohn habe sie als Versager beschimpft, die Pflegerinnen als seine Nutten, enterben habe sie ihn wollen und halbnackt zum Fenster heraus gekeift, er wolle sie entmündigen und würde sie verhungern lassen, dabei sei die Pflegschaft die ganze Zeit beim Vormundschaftsgericht verhandelt worden, wo Huber gegen einen amtlichen Betreuer prozessierte. Beck fragte sich, warum der Schauspieldirektor nicht gleich sein eigenes Familiendrama auf die Bühne brachte und den armen alten Lear dafür in Ruhe ließ.

Doch nichts da. Im dritten Akt war Lear nun endgültig zurück im Spielzimmer seiner Kindertage. Der König mit der vollen Windel stand im Sturm von Papierschnipseln zusammen mit dem Narren und einem verbannten Grafen unter einer Plexiglaskuppel. Nur noch eine Spielzeugfigur in einer Schneekugel war der größte Greis des Welttheaters.

Jaja, Beck hatte verstanden. Aber das ging ihm schon zu lange und war ihm auch zu grob, wie der alte Mann da debil und inkontinent vorgeführt wurde. Beck erwischte sich bei dem Gedanken, dass er sich über seine eigene Zimperlichkeit wunderte. Sonst war er doch nicht so dünnhäutig im Theater. Seit bald vierzig Jahren schrieb er Kritiken für die „Neue Post“, aber an diesem Abend tat ihm das Theater tief im Herzen weh. Zum ersten Mal.

War es jetzt soweit? Erkannte er sich schon selbst in König Lear? Oder was sollte der plötzliche Anfall von Empfindsamkeit? Irgendwas war verkehrt mit dieser Inszenierung. Sie schmeckte stumpf, sie sah unscharf aus, die Farben stimmten nicht, bisweilen schien ihm das Theater schwarz und weiß. Dann gingen die Lichter aus, es blitzte, die Szene erschien wieder, aber es sah aus wie ein Filmnegativ. Dann war auch noch der Ton weg. Seltsame Effekte dachte Beck und hatte das Gefühl, als würde er wachend schlafen, das Theater als Traum sehen. Verwirrt schaute er zur Seite, wo Paula saß, die er ja deshalb immer mitnahm ins Theater, weil sie ihn weckte, wenn er mal wieder schlummerte und – schlimmer – schnarchte. Doch sie hatte ihn nicht angestoßen. Oder doch? Paula schaute ihn mit großen Augen an, wischte mit ihren Händen vor seinem Gesicht und bewegte die Lippen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Was war nun wieder los?

Schon bei ihm daheim, als er fertig war, mit ihr zur Premiere zu gehen, hatte sie an ihm herumgenörgelt. Die Wohnung sehe schlimm, er sehe noch schlimmer aus, solle doch endlich Sport machen, gesünder essen, weniger trinken, zum Arzt gehen oder gleich daheim bleiben. Und alles möglichst sofort und gleichzeitig. Paula war zwar nur seine Haushälterin und dabei auch eine gute Freundin, aber das schon so lange, dass sie manchmal klang, als wäre sie seine Frau. Er nahm es ihr nicht krumm. Was wäre er ohne sie? Das Theater kriegte er ja noch hin, aber der Alltag war ihm längst zu viel. Normalerweise erwuchs ihm aus Paulas Klagen eine gereizte Laune, die ihm die Kraft gab, all ihre Einwände wegzuwischen. Das war heute anders gewesen. Sie hatte ihn aus seinem gar nicht so alten, aber mit Schuppen beflockten Hemd herausgeknöpft, ihm den Kamm durch die verklebten grauen Strähnen gezogen, dass es wehtat, Wasser ins Gesicht gespritzt, Deodorant über sein Unterhemd gestäubt und ihn in ein vermeintlich frischeres Hemd und ein Jackett gestülpt. Als wäre er ein kleines Kind. Ja, er kam sich da immer etwas entmündigt vor.

Wahrscheinlich war es dieses Gefühl, das ihm jetzt beim alten Lear so sehr aufstieß, dass er Magensäure in der Gurgel spürte. An Prosecco, Espresso und Schmerztabletten, die er sonst vor jeder Premiere nahm, konnte es nicht liegen, denn Paula hatte ihm, als sie endlich im Foyer angekommen waren, verboten, sein Theatermenü zu sich zu nehmen. Dabei hatte er mittags sogar noch Vitamin-Dragees geschluckt. Oder irgendwas anderes. Die Grünen und die Langen, Hauptsache gesund. Er musste die Schublade mit den herumfliegenden Tabletten mal wieder aufräumen. Und dann sollte er vor der Premiere auch noch einen Orangensaft trinken. Und ein Käsebaguette essen. Beck fand das übergriffig, hatte aber nicht die Kraft gefunden, sich einen Wein zu bestellen und verweigerte trotzig den Saft, den Paula ihm schließlich hinhielt. „Du benimmst Dich wie ein kleines Kind“, hatte sie gesagt. „Schlimmer: wie ein altes Kind. Meine Enkeltochter ist vernünftiger, und die ist jetzt zwei. Bist Du in der Trotzphase?“ Beck hatte nicht geantwortet, sondern nur die Arme verschränkt und grimmig unter sich geschaut. Er und in der Trotzphase. Das war ja wohl das Letzte. Er würde jetzt gar nichts mehr sagen. Stattdessen wollte er bis zur Pause ein ernstes Gesicht machen und strafend schweigen. So hatte er es auch bis jetzt gehalten, sich still über Paula und Lear, den Regisseur und irgendwie auch über sich selbst geärgert. Nun aber merkte er, dass etwas nicht stimmte. War es seine angestammte Dosis aus Alkohol, Koffein und Ibuprofen, die ihm fehlte? Aber dann hätte er doch eher müde werden müssen. Ihm hätte der Steiß und sein linkes Bein wehtun können. Doch er fühlte nichts. Und er hörte nichts. Warum war das Theater denn so still?

Beck merkte, dass er Mühe hatte, den Kopf gerade zu halten. Sein Blick heftete sich auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihm. Warum schaute er nicht mehr auf die Bühne? War doch schon Pause? Oder war das Stück schon vorbei? Waren Regan und Goneril, Cordelia und Lear bereits tot? Hatte er doch geschlafen? Und wie sollte er jetzt über den Abend schreiben? Beck fühlte eine namenslose Sorge in sich aufsteigen. Da sah er, dass ihn eine Hand schüttelte. Sein Blick fiel zur Seite, und das Theater um ihn herum taumelte. Die Menschen vor ihm waren aufgestanden. Also war doch Pause? Mitten im dritten Akt? Vielleicht ein Feueralarm? Beck verstand das alles nicht, aber es war ihm auch seltsam egal. Es kam ihm vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Das konnte doch nicht das wirkliche Leben sein. Das musste Theater sein, Theater in seinem Kopf.

Beck blinzelte, denn er sah plötzlich seinen alten Feuilletonchef Buchmann neben sich, wie er eine Zigarre und ein Glas Rotwein in Händen hielt. Ja, so hatte er ihn gekannt, doch das war merkwürdig, denn Buchmann war schon vor vielen Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Was machte der denn jetzt im Theater? Beck wollte ihn fragen: „Mensch, Lutz, Du bist ja gar nicht tot! Wie geht’s Dir denn?“ Doch er konnte den Mund nicht bewegen. Dafür hörte er Buchmann: „Vorwärts Bursch, wie geht’s, mein Junge? Frierst Du, ich frier auch.“ Beck verstand nicht. Das sagt doch Lear, und nun redete Buchmann, als wäre er eine Shakespearefigur. Becks Blick fiel am Körper seines alten Kollegen herab. Er war nackt, grau und eingefallen, die Haut fleckig, Rippen und Hüftknochen schauten heraus, nur der Bauch wölbte sich kugelrund über einer Windel mit gelben Flecken. Kein Zweifel, Buchmann spielte Theater. Er beugte sich zu Beck herunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Kein, kein Leben! Du wirst nun nie mehr wiederkommen, nie. Oh, nie, nie, nie! Ich bitt euch macht den Knopf auf. Oh, seht ihr das? Seht an? Seht doch seht…“

Beck lief der kalte Schweiß vom Hals ins Hemd. Dieser Geist, der aussah wie Buchmann und sprach wie Lear, würgte ihn, dass es in der Gurgel brannte und im linken Arm zog. Endlich löste sich Buchmann von seinem Hals. Beck sah ihn erst nur als verschwommenen Schatten. Dann schaute er direkt in Paulas Gesicht. Sie hielt ihn an der Schulter, hatte Tränen in den Augen und sprach offenbar mit zwei Männern, die Beck noch nie gesehen hatte. Sein Kopf klappte nun zur anderen Seite, und er wunderte sich, dass das ganze Theater um neunzig Grad gedreht war. Wieso fielen die Schauspieler da vorne auf der Bühne denn nicht um, wenn sie so schief standen, fragte er sich noch. Und wieso spielten sie nicht mehr? Langsam, aber mächtig senkte sich eine unsichtbare Macht auf seine Brust. Beck wollte atmen, aber es ging nicht. Da erst sah er die Panik kommen. Und im nächsten Moment hatte sie ihn schon erfasst, würgte und schüttelte ihn, während irgendjemand im Theater den Ton langsam wieder nach oben geregelt haben musste. Beck erkannte Paulas Stimme, und er hörte sich selbst. Aber es war kein Satz, es war ein scheußliches blubberndes Würgegeräusch. Ein Mann rief von weit, weit weg: „Wo bleibt denn der Theaterarzt?“ Da schloss sich der Vorhang, und es wurde ganz dunkel und totenstill.

2Der schwarze Tod hatte seine Schwingen ausgebreitet und stieß von oben herab auf sein geschwächtes Opfer. Beck hatte es kommen sehen, doch er konnte nichts machen, lag nur da und ließ den Horror über sich ergehen. Immer und immer wieder hackten sie auf das wehrlose Bündel ein. Noch zuckte es unter ihren Hieben, doch bald rührte sich nichts mehr. Überall lagen Blut und Federn. Die drei Krähen begutachteten ihr Werk, wendeten die Köpfe und flatterten davon. Beck war schon auf sie aufmerksam geworden, als sie den Vogel in einen Baum getrieben hatten, dass die Äste wackelten. Dann hatte sich der Todeskampf auf ein Flachdach verlagert, das er von seinem Bett aus sehen konnte. Und jetzt, da die Angreifer verschwunden waren, erkannte er auch, dass dort eine Elster lag – oder das, was noch von ihr übrig war.

Sowas konnte er jetzt ja gerade noch gebrauchen. Horror mit spitzem Schnabel wie bei Hitchcock. Sein Gemüt war schon ramponiert genug. Den Sonntag über hatte er in der Intensivstation des Klinikums am EKG verbracht. Verdacht auf Herzinfarkt. Aber gesprochen hatte noch niemand mit ihm. Kein Personal in Sicht. Nur überall Kabel und ein Apparat, der neben ihm blinkte. Die Stadt wollte das Krankenhaus längst loswerden, der Verkauf an eine Klinik-Kette zog sich hin, Schwestern und Ärzte protestierten, und langsam blätterte der Putz ab. An diesem Morgen hatten sie ihn in ein Vier-Bett-Zimmer geschoben. Fast schon Luxus, es gab auch noch Sechs-Bett-Zimmer, wo es immer zuging wie im Landschulheim. Ruhe war aber auch in der kleineren Gemeinschaftsunterkunft nicht zu finden. Es sei denn, man war der dicke Herr Schabacker, der direkt an der Tür lag, die ganze Zeit schlief und dabei leise blubbernd röchelte. Daneben befand sich die Außenstelle von Kasimpasa-Kebab. Herr Özbak, der mit seinem Schnäuzer aussah wie der untersetzte Zwilling von PKK-Chef Öcalan, aber treu-türkisch einen Wimpel mit Halbmond und Stern auf seinem Beistelltischchen gehisst hatte, hielt zwei Mobiltelefone in den Händen, in die er abwechselnd hineinsprach, mit einem offenbar die Geschäfte seiner Dönerbude regelte, über das andere Fußballergebnisse diskutierte. Es klang für Beck zumindest so, denn Özbak sprach Türkisch mit deutschen Spurenelementen. Eine Delegation seiner Sippe umlagerte sein Bett. Eine ältere Frau mit Kopftuch redete auf zwei jüngere ein, die nichts sagten, aber die Gesichter einander zuwandten, so dass ihre langen schwarzen Haare einen Vorhang vor der meckernden Alten bildeten. Zwei Buben, die gerade mal bis zur Matratze reichten, lieferten sich darauf mit weißen und roten Spielzeugautos ein Rennen, bis Özbak sie anblaffte, weil ein junger Kerl mit einem Stapel Joghurtdrinks reinkam und die Ladung auf dem Bett deponierte. Es ging zu wie in der Großmarkthalle. Und Beck wartete die ganze Zeit darauf, dass eine Lieferung Krautsalat im Eimer und ein Dönerspieß in Plastikfolie zur Tür hereinkämen. Dafür dass Özbak offenbar irgendwo am Bauch operiert worden war, wirkte er geradezu erschreckend munter. Wie mochte der Mann wohl drauf sein, wenn er nicht bettlägerig war?

Wer sich so gar nicht vom türkischen Trubel stören ließ, war Justin im Bett nebenan. Der vielleicht sechzehnjährige Bub, der vom Mofa gefallen war, nun den linken Arm in einer Schlinge trug und das rechte Bein in einem Gips stecken hatte, hielt selbst Hof. Nachdem er und Beck sich kurz bekannt gemacht hatten und der Junge sich ausgiebig darüber gefreut hatte, dass Justin und Justus ja fast die gleichen Namen seien, waren die ersten Mädchen aufgekreuzt. Zeitweise umringten sie zu siebt sein Bett, malten rosa Herzchen auf seinen Gips, beschenkten ihn mit Schokolade, Cola und anderen Liebesgaben. Eine hatte Justin Notizen aus der Schule mitgebracht und versprach, für ihn mitzuschreiben, eine Andere zeigte stolz ihr frisches Nabelpiercing, das Beck bedenklich entzündet vorkam, eine Dritte schwärmte ihren Freundinnen von einer Liste mit Songs vor, die sie dem Jungen zusammenstellen wollte, eine Vierte wuschelte dem Patienten ständig durch die Haare, die an der Seite kurz waren, während über der Stirn ein hochgeföhnter Pony in einer kessen Welle offenbar mit Haarlack der Schwerkraft trotzte. Wie es aussah, schwänzte der komplette weibliche Teil der Klasse gerade den Unterricht, um dem Schwarm des Schulhofs zu gefallen. Je länger er zusah, wie der junge Hahn im Korb umgickelt und umgackert wurde, desto sicherer war Beck, dass Justin sich mit Absicht vom Mofa gestürzt haben musste.

Er fand das auch eine Zeitlang ganz amüsant, bis zwei Mädchen beschlossen, sich auf sein Bett zu setzen, was natürlich gar nicht ging, denn dort hatte er seine Tageslektüre ausgebreitet, die Paula ihm gebracht hatte, zusammen mit einem Pyjama, der an ihm schlotterte, und Äpfeln, die er nicht mochte. Beck verscheuchte die beiden jungen Damen und war dann eine Weile damit beschäftigt, die zerknitterte „Neue Post“ wieder zu glätten. Dabei war das, was er dort lesen musste, ohnehin nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben. Im Kulturteil stand an der Stelle, wo seine Kritik über „König Lear“ hätte sein müssen, nur ein großes Szenenbild mit Lear in seiner Riesenwindel. Darunter: „Großer Erfolg im Schauspielhaus: Langen Beifall gab es am Samstagabend nach der Premiere von König Lear im Schauspielhaus. Shakespeares Stück wird in der Fassung von Regisseur Bernd Huber zu einem Drama im Pflegeheim. Die Vorstellung musste vor der Pause kurz unterbrochen werden, weil ein Zuschauer gesundheitliche Probleme hatte. Dem künstlerischen Erfolg tat das keinen Abbruch.“

Becks Laune tat dies wiederum einen gewaltigen Abbruch. Kein Wort davon, dass der Kritiker der „Neuen Post“ gerade so dem sicheren Tode entronnen war. Keine Entschuldigung beim Leser dafür, dass er zum Frühstück nicht wie gewohnt die Kritik von Justus Beck lesen konnte. Matt war er nach dem Anfall und dem vielen Liegen ohnehin, aber als er das gelesen hatte, senkte sich eine graue Last auf ihn, die sich klamm anfühlte wie Nebel im Herbst. Dabei ließ der junge Sommer draußen keinen Zweifel daran, dass er in erfreulicher Frühform war. Hatten Sie bei der „Post“ nur darauf gewartet, ihn endlich loszuwerden? War er schon längst abserviert, ohne dass es ihm einer ins Gesicht hätte sagen wollen? Zwar war er immer noch da, aber die schnöde Bildunterschrift fühlte sich an wie eine Beerdigung dritter Klasse.

Das Massaker an der Elster, das er ansonsten als spektakuläre Kuriosität aus dem Tierleben willkommen geheißen hätte, traf ihn in dieser Stimmung völlig schutzlos. Beck starrte auf das weiß-schwarze Knäuel aus Federn mit einem abgeknickten Flügel und einem roten Fleck, wo der Kopf hätte sein müssen. Er konnte sich von dem Anblick lange nicht losreißen, bis er eine Unruhe im Raum spürte, die neu war, nicht von Justins Fanclub oder aus dem ausgelagerten Büro von Kasimpasa-Kebab stammte.

Drei weiße Gestalten waren zur Tür hereingekommen. Er wusste, was das bedeutete, sah aus dem Augenwinkel, wie Özbaks Familienbetriebsversammlung sich auflöste und Justins Fanclub aufgeregt tuschelnd den Rückzug antrat. Beck schloss die Augen. Vielleicht würde die Visite einfach an ihm vorübergehen. An Ärzten war Beck stets weiträumig vorbeigegangen, selbst als das mit den Rückschmerzen, dem tauben Bein, der Müdigkeit am Tage, dem Schlaf ohne Ruhe, der Atemnot, den dicken Füßen immer unangenehmer geworden war. Als ihn die Ärzte ins Schlaflabor und zur Rücken-OP schicken wollten, hatte er den Kontakt zu ihnen eingestellt. Einmal war er noch beim Zahnarzt gewesen, als die Schmerztabletten nicht mehr geholfen hatten, und natürlich hatte sich der Arzt als Metzger erwiesen, der fluchend über ihn gebeugt zwei Backenzähne bröckchenweise aus seinem gefühllosen Kiefer gehebelt hatte. So einem Feldscher und seinen Adjutanten jetzt ausgeliefert zu sein, fand er gruselig. Am liebsten wäre er aufgestanden und einfach zur Tür rausspaziert, aber er musste sich eingestehen, dass er sich fühlte, als wäre eine Dampfwalze über ihn drüber gefahren. Also stellte er sich schlafend, hörte aber, wie sich die weißen Gestalten von Bett zu Bett vorarbeiteten.

Sie ließen sich Zeit, so viel Zeit, dass Beck tief in sich drin einen leichten Krampf zu spüren begann. Er dachte schon, sein Herz wolle ihm einen erneuten Streich spielen, da merkte er, dass es Hunger war. Am Sonntag in der Intensivstation hatte er keine Lust auf Essen gehabt, man hatte ihm Kochsalz und Traubenzucker durch die Vene verabreicht. Mehr nicht. Und an diesem Morgen war ihm der Appetit umgehend vergangen, als er das Tablett sah mit dem weichen Graubrot, einer Scheibe Hirnwurst, der eingeschweißten Portion roter Marmelade und dem Kamillentee, in dem er nicht mal seine Füße hätte baden wollen. Graues Brot, graue Wurst, selbst der Tee sah im schmutzig weißen Plastikbecher fahlgrau aus. Es war grauenhaft. Auf seine Frage nach einem doppelten Espresso hatte die Schwester nur gelächelt. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht verstanden hatte oder ob sie sein Anliegen für medizinisch absurd hielt. Dass er nicht nach einem Brandy fragen musste, wusste er selbst. Deshalb hatte er auch Paula nicht gebeten, ihm eine Flasche von dem Syrah-Merlot-Cuvée aus dem Languedoc ins Krankenhaus zu schmuggeln, die er in seinem Weinladen gerade ohnehin kistenweise herumstehen hatte. Das Zeug verkaufte sich nicht, der Laden lief nicht mehr. Sein Franchise-Vertrag würde auslaufen, und dann wäre Schluss. Aber heute müsste noch mal jemand aufsperren. Wieso fiel ihm das jetzt erst ein? Er musste Paula anrufen, damit sie ein Schild an die Tür hängt. Das ging in diesem Moment natürlich nicht, denn er schlief ja tief und fest. Wie lange brauchten diese Ärzte denn noch? Er hörte sie tuscheln und dann ein Räuspern direkt über sich: „Herr Beck, können Sie mich hören?“

Mist. Musste das sein? Jetzt bloß keine Schwäche zeigen, dachte er, blinzelte und reckte sich, als würde er gerade aus einem erholsamen Mittagsschläfchen aufwachen: „Oh, Herr Doktor, ich hab Sie gar nicht gehört. Ich muss wohl eingeschlafen sein.“

„Das ist ganz normal. Ihr Körper braucht Ruhe. Sie hatten einen Hinterwandinfarkt“, sagte der Mann mit den gegelten braunen Locken, der aussah, als hätte er gerade sein Medizinstudium begonnen, würde aber die Seminarstunden im Solarium verbringen. „Reinheimer“ stand auf seinem Namensschild, und nur der Umstand, dass hinter ihm zwei noch jüngere Menschen die Hälse reckten, ließ Beck hoffen, dass es sich bei dem jungen Herrn, der mit ihm redete, tatsächlich um einen Arzt und nicht um den Stationspraktikanten handelte.

Hinter Reinheimer schauten ein junges Mädchen mit zerzausten weißblonden Haaren und ein etwas jüngere Kerl mit fusseligem Braunbart rechts und links über die Schultern ihres Chefs. Das Mädchen mit dem Struwwelkopf und einem silbernen Stecker im rechten Nasenflügel hieß ausweislich ihres Namensschildes Ellenbruch, der zauselige Hipster Darrmann. Beide hatten sie Klemmbretter vor den Bauch gedrückt, auf die sie, sobald Reinheimer zu sprechen begann, verdruckst Notizen kritzelten, indem sie das Brett unten auf Höhe des Hosenbundes fixierten und es dann nur wenige Zentimeter nach vorne kippen ließen. All das wirkte auf Beck nicht gerade vertrauenerweckend. Und dann das noch: Hinterwandinfarkt! Hätte es nicht auch ein Schwächeanfall sein können? Oder wenigstens Angina Pectoris? Reinheimer hatte den Schrecken in Becks Augen offenbar erkannt. Er sah das wohl täglich: „Machen Sie sich keine Sorge. Das kriegen wir hin. Aber Sie müssen gut mithelfen.“

Na, danke, dachte sich Beck.

„Ihr EKG ist eindeutig“, sagte Reinheimer und wedelte mit einem Zettel voller Zacken vor Darrmanns Nase: „Was sehen Sie?“

Braunbart zögerte kurz, aber lang genug, dass Struwwelköpfchen ihm die Schau stehlen konnte: „ST-Strecken Hebung!“

„Und was sehen Sie nicht“, fragte Reinheimer mit Blick auf Darrmann, der jetzt so verständnislos dreinschaute, dass Beck nur hoffen konnte, dass dieser junge Mann nie auf einen Kranken losgelassen werde.

„Q-Zacken“, antwortete schließlich Ellenbruch zögernd, und es klang eher wie eine Frage.

Reinheimer hob die Hände wie ein Dirigent und ließ den Satz unvollendet: „Das heißt also…“

Wieder verpatzte Darrmann seinen Einsatz, wieder antwortete Ellenbruch, diesmal forscher: „kein Diaphragmalinfarkt!“

Reinheimer nickte zufrieden, schaute im nächsten Moment aber Darrmann strafend an: „Pathologie?!“

„Ja, äh, Verschluss der Koronararterien.“

Das war Reinheimer offenbar nicht genug, er ließ den Kopf ermattet sinken und gab Ellenbruch mit dem linken Handrücken ein Winkzeichen für ihren Einsatz.

Wie aus der Pistole geschossen, spuckte sie Buchstabenfolgen aus: „RCA RCX RIVP!“

Reinheimer lächelte sie mit zusammengepressten Lippen an und murmelte dann: „Und hier haben wir RCX.“ Dann zu Beck gewandt, der dem Schauspiel zunehmend verständnislos beigewohnt hatte: „Ramus circumflexus!“ Reinheimer hob die linke Augenbraue, Beck blickte ihn mit gequälter Ungeduld an.

„Ein Ast Ihrer linken Koronararterie war zu. Wir geben Ihnen einen Gerinnungshemmer. Dazu Betablocker. Das müssen Sie strikt einnehmen. Ihr Herzmuskel ist schon geschädigt.“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Schon vor Jahren war er beim Arzt gewesen, der ihm das Zeug auch schon verschrieben hatte und ihn den ganzen Tag hatte verkabeln wollen. Aber wenn es um seine Gesundheit ging, dann war sich Beck noch stets selbst der beste Apotheker gewesen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, wechselte Reinheimer Haltung und Tonfall, rückte nah an Beck heran und sprach nun von oben herab wie ein Oberstudienrat zum Sextaner, der das ABC nicht drauf hat: „Sie waren ja bei der Erstversorgung nicht recht ansprechbar, aber Ihre Frau Berlepp war so lieb, bei Ihnen daheim nachzuschauen, welche Medikamente Sie nehmen. Sie hat eine Schublade voll mit Schmerztabletten und Vitaminpräparaten, aber auch Blutverdünner und Betablocker gefunden. Keine Packungen, keine Beipackzettel. Und das meiste war längst abgelaufen. Sie wissen, dass das keine Bonbons sind?“

Auf solche Debatten hatte Beck nun gerade gar keine Lust. „Ich hab das mal verschrieben gekriegt, aber dann hab ich gegoogelt…“

Reinheimer unterbrach ihn: „Hören Sie bloß nicht auf Dr. Internet. Morbus Wikipedia, das ist die schlimmste Seuche, die wir hier behandeln. Ich fasse zusammen: Sie waren also schon mal beim Kardiologen, aber Sie nehmen nichts regelmäßig.“

„Naja.“ Beck eierte. „Wie ich mich halt fühle.“

„Das wird so nichts“, tadelte Reinheimer, trat wieder einen Schritt zurück, machte einen Kunstpause und sprach dann das Urteil mit der Höchststrafe aus: „Und vor allem bewegen Sie sich und lassen Sie die Finger vom Alkohol. Frau Berlepp hat mir erzählt, dass Sie zu viel trinken, keinen Sport treiben und kein Interesse an gesunder Ernährung haben. So werden Sie nicht alt.“

Das konnte doch nicht wahr sein. Paula, die blöde Petze! Was musste Sie ihn vor diesem Affen im Weißkittel bloßstellen?

„Ihr Herz pumpt ja ohnehin sehr schwach, deshalb sind Sie auch so oft müde. Und man sieht es auch an Ihren Schwellungen.“ Reinheimer zog Becks Decke von den Beinen, über die sich Netzstrümpfe spannten. „Sie sehen: Lymphödeme. Ihr Körper kriegt das Wasser nicht aus den Füßen. Es langt nicht, Sie wieder auf die Beine zu kriegen, Sie müssen auch laufen. Wir behalten Sie noch bis Ende der Woche hier. Danach Anschlussheilbehandlung. Das können wir ambulant machen. Ich empfehle aber drei Wochen in einer Kurklinik, schön mit Physiotherapie. Das müssen Sie dann noch mit der Kasse abklären. Es ist wichtig, dass Sie Ihre Medikamente wie vorgeschrieben nehmen, aber es ist genauso wichtig, dass Sie ihre Lebensweise umstellen.“

Reinheimer sah unvermittelt Darrmann an, drückte ihm den linken Zeigefinger auf die Brust, dass er aufschreckte und stotternd loslegte: „Übergewicht reduzieren, Blutfettwerte senken…“

Reinheimer winkte ab: „Das brauchen wir hier jetzt gerade nicht, oder sieht der Patient übergewichtig aus?“

Er wendete sich Ellenbruch zu, und ihre Antwort gefiel ihm offenkundig viel besser: „Der Patient sollte leichten Ausdauersport in seinen Alltag einbauen“, sagte sie, drückte dabei den Rücken durch und streckte den rechten Zeigefinger mahnend in die Luft. „Er sollte Blutdruck und Blutzucker regelmäßig überprüfen und lernen, wie man sich gesund und ballaststoffreich ernährt. Gerade ältere alleinstehende Männer sind hier oft sehr unbeholfen und brauchen Anleitung und Ermunterung. Anders als bei gleichaltrigen Frauen ist die Compliance in dieser Gruppe oft unbefriedigend.“

Jetzt hatte der ältere alleinstehende Mann aber genug davon, dass ihm Fräulein Rotznase erzählte, wie er sich schnäuzen sollte.

„Gerade bei Männern ist die Unsicherheit nach einem Infarkt groß, ob der Liebesakt noch ausgeführt werden kann und ob das mit gesundheitlichen Gefahren verbunden ist.“ Ellenbruch musste sich räuspern und ruckelte ihren Kittel fest.

Reinheimer grinste fett: „Sie sehen, die junge Kollegin kennt sich aus. Sobald Sie zwei Etagen ohne zu schnaufen schaffen, können Sie wieder ran.“

Hatte dieser Arzt völlig den Verstand verloren? Beck war immer schon nach einer Treppe außer Atem. Und mit wem hätte er den Liebesakt denn ausführen sollen? Genug jetzt! Schluss mit Compliance. Der Patient war bereit, seine Ärzte in die Flucht zu schlagen. Er spähte zur Sicherheit noch einmal nach links. Justin hatte Kopfhörer aufgezogen, man hörte leises Bassbrummeln. Özbak tippte auf einem seiner beiden Mobiltelefone herum. Schabacker lag mit offenem Mund auf dem Rücken und rasselte vor sich hin. Es konnte losgehen.

„Ich persönlich halte es bei medizinischen Fragen ja mit Jean-Baptiste Poquelin“, sagte Beck zu Ellenbruch und machte eine bedeutungsvolle Pause, die ihren Chef offensichtlich irritierte.

„Wie, bitte?“ Reinheimer räusperte sich. „Den Kollegen kenne ich nicht. Ein Kardiologe? Haben Sie ihn konsultiert?“

„Hab viel von ihm gelesen. War aber auch schon oft bei ihm. Sie müssten ihn eigentlich auch kennen. Ist ziemlich berühmt. Vor allem natürlich in Frankreich, aber auch hier.“

„Tut mir leid, ich muss passen. Aber was sagt der Kollege denn?“

„Poquelin ist kein Arzt, er schreibt über Ärzte. Naja, jetzt nicht mehr. Kennen Sie den eingebildet Kranken?“

„Der eingebildete Kranke?“

„Nein, der Kranke ist nicht eingebildet, die Ärzte sind eingebildet, der Kranke bildet sich nur ein, krank zu sein.“

„Was? Ich verstehe nicht. Sie reden doch von diesem Theaterstück. Ist doch Molière. Oder nicht?“

„Sie kennen ihn ja doch.“ Beck blinzelte den Doktor milde verständnisvoll an wie einen hoffnungslos doofen Gymnasiasten, der gerade das kleine Einmaleins aufgesagt hatte. „Ja, und der Mann hieß eigentlich Poquelin, er war gelernter Tapezierer, studierter Jurist und das Gegenteil von einem Hypochonder. Er hatte am Ende seines Lebens Lungentuberkulose, Schwellungen, hustete andauernd und machte sich einen Spaß daraus, über Ärzte zu schreiben, die gesunde Leute mit Einlauf, Aderlass und Schröpfkur gegen unreine Säfte quälten.“

„Ja, ich denke, ich hab das Stück mal gesehen“, erwiderte Reinheimer, ohne zu bemerken, dass Fusselbart und Struwwelkopf hinter ihm angefangen hatten, sich Notizen zu machen. „Da war Robert Koch auch noch nicht geboren, es gab kein Penicillin, und die Medizin war keine Wissenschaft, sondern ein experimenteller Aberglaube für Scharlatane und Quacksalber. Ich kann Sie also beruhigen, wir behandeln nicht nach der Lehre von den Körpersäften, wir wollen keine Schröpfkur an ihnen vornehmen.“

Netter Versuch, dachte Beck, nahm sich seinen Molière zu Herzen und erwiderte: „Lieber Herr Doktor, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen. Aber wenn ich Schnupfen habe, kriege ich heute Antibiotika, juckt mich der Rücken, verschreibt mir der Hautarzt Cortison, knackt mein Knie, spritzt der Orthopäde Hyaluronsäure, und wenn die Pumpe schlappmacht, empfiehlt der Kardiologe Betablocker. Wo ist da der Unterschied?“

„Ich muss doch sehr bitten.“ Mehr fiel Reinheimer nicht ein. So eine Widerrede hatte er noch nie gehört.

„Mein Freund Poquelin jedenfalls ist nicht zum Arzt gegangen, weil er der Meinung war, Ärzte sollten nur die Gesunden behandeln, am besten Hypochonder, die stark genug sind, ihre Kuren zu überleben. Deshalb hat er den Eingebildet Kranken nicht nur geschrieben, sondern auch gespielt, als er selbst schon schwer krank war. Das war seine beste Pointe.“

Ellenbruch und Darrmann schrieben eifrig mit. Reinheimer suchte noch nach seiner Fassung: „Was machen Sie noch mal beruflich?“

„Ich bin der Theaterkritiker der Neuen Post.“

Der Arzt blätterte in Becks Krankenakte. „Sehe schon. Sie sind ja auch direkt aus dem Theater zu uns gekommen. Das erklärt einiges.“

„Auch da halte ich es mit Molière. Bis zur vierten Vorstellung hat er die Hauptrolle im Eingebildet Kranken gespielt. Am Ende des dritten Aktes soll der Kranke selbst zum Doktor promoviert werden, weil ihn das endgültig heilen wird. Sein Bruder ermuntert ihn: Man muss nur in Robe und Barett reden, dann wird alles Geschwätz zu Weisheit und jede Dummheit zu Vernunft.“ Beck war ein bisschen stolz drauf, dass er das auswendig wusste.

Reinheimer hatte für diese erstaunliche Gedächtnisleistung aber so gar keinen Sinn: „Sie wollen mich nicht zufällig gerade beleidigen?“

„Aber nein, Herr Doktor, ich rede nicht von Ihnen, ich rede von mir – und von Molière. In der vierten Vorstellung des Stücks, kurz vor dem Schluss, genau an der Stelle hat er einen schlimmen Schwächeanfall gekriegt, aber er hat es so hinbekommen, als würde es zur Rolle gehören. Dann haben sie ihn nach Hause geschafft, ihm ein Hopfenkissen unter den Kopf gelegt, er hat noch einmal Blut gespuckt und war tot. Verstehen Sie diese Ironie: Ein Todkranker macht sich über die Ärzteschaft lustig, ein Sterbender spielt einen kerngesunden Kranken.“

Während dieses Exkurses hatte Reinheimer endlich bemerkt, dass Becks theatermedizinische Ausführungen in seinem Rücken eifrig notiert wurden. Mit einem unwirschen Schlag durch die Luft und einem blitzenden Blick bereitete Reinheimer diesem Treiben ein jähes Ende. Seine solariengegerbte Gesichtshaut sah mit einem Mal fahl und grünlich aus. Beck konnte sich gerade noch den Vorschlag verkneifen, der Arzt solle doch mal seinen Blutdruck messen, weil er blass sei. Doch er musste in sich hinein schmunzeln, und Reinheimer sah das.

„Ich weiß immer noch nicht, was Sie mir sagen wollen, und ich muss jetzt auch wirklich weiter. Aber soviel ist klar: Ihr Molière hatte Tuberkulose, Sie hatten einen Infarkt, und für Symptome der Theaterpest sind wir hier nicht zuständig. Eine Schwester wird Ihnen Unterlagen für die weitere Behandlung geben. Auf Wiedersehen.“

Das klang ziemlich eisig. Reinheimer, dessen Gesichtsfarbe während seiner kurzen Rede von grünweißlich zu gelbrötlich gewechselt hatte, drehte sich um. Ellenbruch und Darrmann schauten irritiert auf ihren Chef, Struwwelköpfchen spickte noch einmal kurz auf ihre verbotenen Molière-Notizen, Fusselbart hingegen hatte sein Klemmbrett sinken lassen, eilte sich beim Rausgehen, spähte in der Tür aber doch noch mal verstohlen zurück zu Becks Bett. Ob Darrmann jetzt wohl vorhatte, demnächst Molière im Theater den Puls zu fühlen? Wohl nicht. Wahrscheinlich dachte er eher, dieser renitente Herzpatient sei ein Fall für die psychiatrische Abteilung.

Gut so. Die war er los. Beck fixierte die geschlossene Zimmertür und atmete tief durch. Schabacker lag jetzt auf der Seite, sein Atem blubberte. Özbak hatte wieder beide Telefone in der Hand und sprach abwechselnd in sie hinein. Justin hatte keine Kopfhörer mehr im Ohr, dafür war er jetzt versunken in ein Videospiel auf seinem Computerbrettchen. Offenbar hatte keiner davon Notiz genommen, wie Beck das Trio in Weiß in die Flucht geschlagen hatte. Besser so. Er wendete den Kopf zum Fenster. Am vorhin noch blauen Himmel war eine dicke blauschwarze Wolke aufgezogen. Wind zauste die Äste gegenüber, fegte auch über das Flachdach, das er von seinem Platz aus sehen konnte. Eine Böe ergriff den Kadaver, der dort noch immer lag. Die eben noch schlappe Schwinge der Elster hob sich leicht, flatterte, als wollte ihm der tote Vogel zuwinken. Beck spürte, wie Molières komödiantische Kraftreserve, die er für die kleine Kontroverse mobilisiert hatte, aus seinem Körper entwich. Er fühlte sich wieder sehr schwach, schob die rechte Hand unter der Decke hervor, hob die Finger, winkte der Elster zurück. Dann schloss Beck seine Augen.

3„Kommst Du?“ Sie spritzte Wasser aus ihrer Sprudelflasche in seine Richtung, und er suchte Schutz unter seiner Zeitung. „Nun mach schon!“ Beck freute sich über ihr Kleid: weiß mit roten Punkten. Es stand ihr so gut, gerade jetzt, da der Frühsommer ihre Beine leicht gebräunt hatte. So sah er sie am liebsten. Und wie jung sie war! Juliane sprang auf: „Komm, wir gehen Eis essen.“ Ja, dachte er, Eis essen, wie damals. Sein Blick schweifte über den See. Er war menschenleer, und auch am Ufer zeigte sich außer einem Entenpaar und ihnen niemand, obwohl die Sonne so schön schien.

Aus der Ferne drang ein Geräusch. Klang wie ein leiser Bohrer. Und dann wehte ein Duft heran, der so vertraut roch. Das war doch … Kaffee? Ja, ganz intensiv, aber auf ihrer Picknickdecke lagen Würstchen und ein Baguette, eine Salami und die Flasche Wasser, die Juliane abgestellt hatte. Und dann dieses Sirren, der einzige Ton, der überhaupt zu hören war, obwohl auch die Enten direkt vor ihnen ihre Schnäbel bewegten. Während das seltsame Geräusch über dem See lauter wurde, wunderte Beck sich, wie es überhaupt sein konnte, dass er hier mit ihr war. Sie war doch tot, lange schon tot.

Ein Schreck durchfuhr ihn, er öffnete die Augen und erkannte, wo er war: eingeschlafen auf dem Sofa, nebenan werkelte Franz, in der Küche machte sich Paula zu schaffen. Und am Ende des Sofas saß eine Frau im weißen Kleid mit roten Punkten und drehte ihm den Rücken zu, als würde sie schmollen. Beck nahm die Hände vor die Augen. Er fühlte sich benommen, war noch schwach, konnte das Trugbild nicht wegdrücken. Wieder schaute er hoch, rieb sich die Augen, immer noch saß Juliane da. Wie er sie von den alten Fotos aus den Siebzigern kannte, für immer die Studentin, in die er sich verliebt hatte. Er hatte die gelbrotstichigen Aufnahmen so oft angesehen, dass die Bilder der kranken Juliane vor seinem inneren Auge bis zur Unkenntlichkeit verblasst waren. Jung und gesund, so hatte er sie in Erinnerung behalten wollen, und das war ihm auch gelungen. Nichts mehr da von der ausgezehrten Erscheinung, von den eingefallen Wangen, den Knochen, die sich aus der fahlen Haut drückten. Er hatte sich Juliane erhalten, ewig Anfang zwanzig, und sie war ihm geblieben, erschien ihm immer mal wieder in Tagträumen. Konnte sein, dass sie sich monatelang nicht blicken ließ, und dann saß sie wieder jeden Abend bei ihm, begrüßte ihn morgens im Bad, sah ihm zu, wenn er an seinen Artikeln schrieb.

Beck hatte nie jemandem etwas davon erzählt. Er galt ohnehin schon als schrullig. Paula kannte fast alle seine Zipperlein und Macken, da musste er ihr nicht noch mit dem guten Geist seiner vor über zwölf Jahren gestorbenen Frau kommen. Doch jetzt sollte sich etwas ändern. Das hatte Beck beschlossen, als er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Der Infarkt war ein Zeichen gewesen. Es ging so nicht weiter, dass er allein mit seinen Erinnerungen lebte. Also hatte er Franz gebeten, Julianes Zimmer auszuräumen. Vor all ihren Schulbüchern stapelten sich Weinkisten, die er in seinem Kontor im Erdgeschoss nicht lagern konnte. Der Laden ging schlecht, sein Franchise-Vertrag, der ihm einmal gnadenhalber verlängert worden war, lief aus. Für die Kette i.vive war der Verkaufsraum ohnehin viel zu klein, im Grunde betrieb er vor allem eine Abholstation für Pakete, die im Internet bestellt worden waren und nicht direkt zugestellt werden konnten. Das passte längst nicht mehr ins Kontorkonzept, und es funktionierte auch nicht mehr, seit auch noch die Discounter Vinotheken sein wollten. I.vive stand für „In vino veritas“, und die Wahrheit des Weines war: Es ging nicht mehr. Schluss mit dem Laden, Schluss auch mit dem Andachtsraum für seine Frau. Beck hielt den Kopf gesenkt, er hörte aus dem Nebenraum, wie Franz mit dem Akkuschrauber hantierte, in der Küche bollerte die Kaffeemaschine, und als er wieder aufblickte, war die Erscheinung im weißen Kleid mit den roten Punkten verschwunden.

Beck zog die Decke von den Füßen und schob mühsam den Oberkörper empor. Mal schauen, wie weit Franz war. Guter Junge. Er hatte ihn vor einigen Jahren als Praktikant der „Neuen Post“ kennen gelernt, und der Kontakt war auch nicht abgerissen, als Franz ein Biologiestudium begonnen hatte. Schon mehrfach hatte er den Weinladen auf Vordermann gebracht, wenn Beck Buch- und Lagerhaltung entglitten, was immer häufiger der Fall war. Deshalb hatte er schon immer gesagt, Franz würde einen guten Logistiker abgeben. Und da dieser gerade sein Studium geschmissen hatte, weil ihm die Freundin weggelaufen war – oder war es umgekehrt? – hegte Beck nun die Hoffnung, Franz könne seinen Laden bis zur Geschäftsaufgabe führen. Er hatte sich schon so seine Gedanken für die Zukunft gemacht, aber gesagt hatte Beck es noch niemandem. Denn seit seinem Infarkt waren alle um ihn herum sehr aufgeregt und kamen ihm ständig mit guten Ratschlägen für seine Gesundheit. Leider hatten all die freundlichen Hinweise nichts mit dem zu tun, was er selbst sich vorgenommen hatte. Beck sah Ärger auf sich zukommen.

Bevor er den Gedanken vertiefen konnte, tat es einen heftigen Knall, der von einem leiseren Rumpeln, einem erschreckten Schrei und einer Serie von Flüchen begleitet wurde. Aus Julianes Arbeitszimmer quoll eine graue Staubwolke, aus der Küche kam Paula mit Schürze und Kochlöffel in der Hand ins Wohnzimmer und rief: „Um Himmelswillen, was ist los?“

„Alles gut, alles gut“, stöhnte Franz von nebenan, und es polterte dazu. Was hatte der Junge bloß angestellt? Beck stand schwerfällig auf, stopfte das an ihm herumflatternde Hemd in die ausgebeulte Hose, schleppte sich zum Arbeitszimmer und schaute Paula über die Schulter. Links, wo Franz die Bibliothek schon abgebaut hatte, stapelten sich Bücher und Bretter säuberlich an der Wand. Rechts lagen sie kreuz und quer – und mittendrin hockte sein junger Helfer. Eigentlich sah man nur seine halblangen blonden Haare, von denen eine Strähne mit einem gelben Gummi zusammengehalten war und auf dem Hinterkopf aufragte wie ein Blümchen mit hängendem Kopf. Paula griff planlos zu Büchern, die bis vor ihre Füße gerutscht waren: „Was ist denn passiert? Hast Du Dir wehgetan?“

Franz kniff die Augen zusammen, sah Paula an, befühlte seine Stirn, auf der sich eine Schramme rötlich abzeichnete.

„Blutest Du?“ Paula lief ins Badezimmer, kramte im Wandschrank und holte Verbandszeug.

„Nix passiert“, rief Franz ihr nach und griff dann zu einem von mehreren weinroten Lederbänden. „Die sind auf einmal runtergekommen.“

„Encyclopaedia Britannica“, murmelte Beck, der immer noch im Türrahmen stand. Er hatte die zwei Dutzend Bände mal einem Antiquar angeboten, aber der hatte abgewinkt, und sie wegzuschmeißen, das hatte Beck nicht hingekriegt. „Hat Juliane gehört.“ Es klang nachdenklich. „Hab ich noch nie reingeschaut, wenn ich ehrlich bin.“

„Wie auch, die waren ja quasi unter die Zimmerdecke geklemmt. Hätte ich mir auch denken können, dass es kippen kann. Und dann hat mich der hier erwischt.“ Franz hielt einen grünen Band, groß und schwer wie ein Mauerstein, in der Hand.

„Oh, Stanley Kubricks Napoleon-Projekt. Hab ich mal rezensiert. Kannst Du gerne haben.“

„Den Film kenn ich nicht.“

„Ist auch nie gedreht worden.“

„Aha“, erwiderte Franz, wollte grinsen, was sich aber nicht mit Stanley Kubricks Beule an seinem Kopf zu vertragen schien. „Schwerer Stoff.“

Bevor Beck dem Jungen weitere Bücher schmackhaft machen konnte, ging Paula mit Alkohol, Pflaster und Tupfer dazwischen.

„So, Schluss jetzt. Komm mal her, Franz, ich versorg das jetzt.“ Sie kniete sich vor ihn hin, während sich Beck hinter ihrem Rücken zu einer Rechtfertigung genötigt sah: „Das ist alles nur die Schuld von dem grünen Napoleon.“

„Was redest Du“, fauchte Paula.

„Schon gut“, sagte Franz, der als Scheidungskind beim Vater aufgewachsen war und das Bemuttertwerden nicht gut abkonnte. „Meine Schuld. Ich hab ein paar Weinkisten vor dem Regal weggeschoben, und dann ist es eingestürzt. Dachte, es wäre oben in der Wand verankert wie auf der anderen Seite, war es aber nicht.“

Tja, das hätte er dem Jungen sagen können. Die Weinkisten standen ja am Fuße des Regals, um die auf dieser Seite höchst wacklige Konstruktion zu stabilisieren. Weil er sich nicht mehr bücken wollte, hatte Beck die unteren Bretter freigeräumt und alles, was er von Julianes Nachschlagewerken noch brauchen konnte, ab Brusthöhe einsortiert. Wenn schon der Wein bei ihm in der Wohnung rumstand, weil im Laden kein Platz war, dann sollte er doch für irgendwas gut sein. Und die „Encyclopaedia Britannica“ hatte er schon vor Jahren ‒ mit damals noch mehr Kraft in den Armen ‒ als festgeklemmten Abschlussstein ganz oben in seine Bücherwand gestemmt. Er hatte das bislang für eine sehr gute Idee gehalten. War aber vielleicht doch nicht so geschickt gewesen, dachte sich Beck nun mit schlechtem Gewissen.

Aber heute war nicht der Tag für Schuldeingeständnisse, heute wollte er sich keine Blöße geben, damit ihm nachher keiner in die Parade fahren konnte, wenn er seinen Plan vorstellte. Also versuchte er es mit einem verständnisvollen Vorwurf: „Ach, Paula, der Junge kann ja noch nicht alles wissen. Aber Franz, Du musst auch aufpassen, dass Du nicht alles kaputtmachst, wenn Du so kräftig anpackst.“

Paula schaute ihn schief an: „Sei froh, dass er Dir hilft und ihm nichts passiert ist.“

Die Türklingel verhinderte, dass Beck sich auf der Suche nach Ausflüchten noch verplappern konnte. Das mussten Bernd und Gitta sein. Der Polizeipräsident und seine Frau, beide Theater-Abonnenten und treue Kunden seines Weinladens, hatten sich zum Kaffee angekündigt. Er witterte eine Verschwörung. Seine Freunde wollten ihn in die Mangel nehmen, aber er war vorbereitet.

„Ich mach auf“, sagte Beck und schlappte zur Wohnungstür, während Paula hinter ihm Franz aufhalf. Im Treppenhaus hörte er schon die Rudolfs, und als Gitta das letzte Stück Treppe emporkam, winkte sie bereits mit einem Gemüsekorb: „Hallo Justus, wie geht’s? Schau mal, was wir mitgebracht haben.“ Sah aus wie Balkonpflanzen, dachte Beck. Gitta jubelte: „Brokkoli, Artischocken, Lauch, Fenchel, Süßkartoffeln, Tomaten. Da kann Paula Dir Auflauf machen, Du musst ja jetzt ganz viel, ganz gesund essen, dass Du nicht vom Fleisch fällst. Früchtetee haben wir Dir auch mitgebracht.“ Gitta stand mittlerweile vor ihm, warf mit einer Umarmung den Gemüsekorb um ihn herum.

„Lass uns doch erst Mal ankommen“, rief Bernd und zog mit seinen zwei Metern gewohnheitsmäßig den Kopf ein, als er über die Schwelle trat. Doch noch im Flur fing auch er an: „Hier, schau mal, drei Wanderführer. Lauter Touren, die Du mit Bus und Bahn erreichen kannst. Gitta meinte, Du sollst unbedingt Deine Ausdauer stärken.“

„Ja! Oder Du fährst mal für ein paar Tage mit dem Zug weg. Natur-Genuss-Route durch die Lüneburger Heide.“ Gitta blätterte in einem der Bändchen. „Oder hier: Bodensee.“ Schon griff sie zum nächsten: „Hier, auch schön: Fischland und Darß.“

Bei so viel Enthusiasmus wollte Bernd sich nicht lumpen lassen: „Man kann auch Paddeln und Radfahren kombinieren. Haben wir auch schon mal im Werratal gemacht.“

„Schön, danke“, seufzte Beck. Das hatte er befürchtet. „Kommt doch erst mal rein. Franz hat gerade das Arbeitszimmer in Schutt und Asche gelegt.“

Die Begrüßung der Anderen verlief herzlich. Gitta und Paula tauschten vegetarische Rezepte aus, Bernd und Franz fachsimpelten über Bohrmaschinen, Akkuscharuber, Dübelsysteme und alte Kriegsverletzungen im Hobbykeller. Bald schon war die Tafel für Fünf gedeckt und Paulas Obstkuchen ohne Sahne mit Früchtetee aufgetischt. Es gab auch Blümchenkaffee ohne Koffein. Bloß nichts, was den Blutdruck steigen ließ. Beck hatte sich sein drittbestes graues Jackett angezogen, das Paula schon hatte aussortieren wollen. Dazu legte er sich eine blaue Fliege um den Hals. Das tat er sonst nie, und er fing sich auch prompt einen belustigten Blick von Paula ein. Schnell erhob sich ein Gespräch über gesunde Ernährung, frische Luft und die schädliche Wirkung des Alkohols.

Beck erkannte, was da auf ihn zukam. Seit er aus der Klinik zurück war, hatte Paula heimlich dafür gesorgt, dass keine Weinflaschen mehr in Becks Griffweite waren. Aber das hatte er durchschaut und ein Depot angelegt: vier Flaschen blauer Portugieser aus Rheinhessen unter seinen langen Unterhosen. Da würde Paula nicht rumkramen, jetzt, wo der Sommer vor der Tür stand. Und zur Sicherheit noch je zwei Literflaschen Dornfelder und Lemberger im Kleiderschrank unten, hinter den Stiefeln. Alles nur für den Ernstfall. Ein bisschen weniger musste er ja trinken, aber wegnehmen lassen wollte er sich auch nichts. Und dann ging’s los: Gitta fing an, über Kurkliniken zu referieren und einen Kollegen von Bernd, der dort nach einer Bandscheiben-OP doch wieder so schön auf die Füße gekommen war. Beck wusste, es war höchste Zeit, dazwischen zugehen, sonst würden sie ihn fürsorglich überrollen. Er räusperte sich, hob seine Tasse und klopfte mit dem Löffel dagegen.

„Ihr Lieben, schön dass Ihr da seid. Ich weiß, Ihr macht Euch ganz viele Sorgen um meine Gesundheit. Und Paula, Du hast im Theater einen großen Schreck gekriegt. Aber keine Angst, Mir geht es schon wieder sehr gut, und ich bin auch fest entschlossen, einige Sachen in meinem Leben zu ändern.“

„So ist’s recht“, sagte Gitta, fast gleichzeitig entfuhr Paula: „Gottseidank!“ Und Bernd klatschte in die Hände: „Lass mich raten: Klinikum Dahlienhof! Das sind die Besten, da war auch mein Vorgänger nach seinem zweiten Infarkt.“

„Das war doch nach seinem Schlaganfall“, fuhr Gitta dazwischen.

„Nein, davor! Ist aber auch egal.“

Der multimorbide Polizeipräsident a.D. kam Beck jedoch sehr gelegen: „Sehe schon, im Dahlienhof wird man erst so richtig krank. Deshalb ist die gute Nachricht: Da gehe ich nicht hin.“ Kunstpause. Erwartungsfrohe Verwunderung blickte ihm schweigend entgegen. „Ich gehe ins Kurhotel Nehoda Imperial.“ Die Verwunderung verwandelte sich in stilles Staunen, bis Gitta als Erste die Sprache wiederfand. „In Weinfurt? Aber das ist keine Klinik.“

„Nein, aber vier Sterne Superior mit Wellnessbereich und zu Fuß durch den Park gar nicht weit zu den Festspielen.“

Ausgerechnet Franz, der die ganze Zeit nur Obstkuchen gemampft hatte, blickte am schnellsten durch: „Du fährst nach Bad Weinfurt, um Theater zu gucken?“

„Richtig. Es gibt nichts, was mir besser täte. Und außerdem lass ich mich dann im Hotel von Kopf bis Fuß verwöhnen.“

„Aber Du hast doch gehört, was Doktor Reinheimer gesagt hat.“ Paula war konsterniert, und wenn Beck es richtig sah, bildete sich gerade eine winzige Wasserlache am unteren Lid ihres linken Auges.

„Hör mir auf mit diesem Reinheimer“, erwiderte Beck patziger, als er vorgehabt hatte. „Ich sag Dir: Doktor Hofmannsthal und Professor Zuckmayer behandeln mich an der frischen Luft. Das ist für mich die beste Medizin.“ Und dann erklärte er seinen Freunden, dass das Hotel in der Kurstadt bereits gebucht sei. Mit seiner Redaktion hatte er abgesprochen, dass er über die vier Premieren der Festspiele berichten werde. Die hatten im Kulturteil zwar bislang nie interessiert, weil in Weinfurt über 24 Jahre hinweg ein Theaterverein mit engagierten Laien-Aufführungen zwar respektable, jedoch kaum erwähnenswerte Arbeit geleistet hatte. Nun aber war zum Jubiläum ein neues Team am Start. Ein auch nicht mehr ganz junger Regisseur, dem das Prädikat angehängt worden war, allzeit radikal wild zu sein, hatte die Intendanz übernommen. Neue Sponsoren hatten dafür gesorgt, dass etliche Schauspieler aus dem Nachmittagsfernsehen auf der Kurstadtbühne ihre künstlerische Sommerfrische genießen konnten. Bei aller wilden Radikalität sollte es doch vor allem ein Publicity-Spektakel mit vielen Galas werden. Und weil Beck nun schon mal dort kuren wollte und ‒ was Spesen und Honorare betraf ‒ strenge Diät hielt, hatte die Chefredaktion grünes Licht für seinen Einsatz gegeben.

Für das wenige Geld, das sie ihm überweisen wollten, würde er in der Zeit vielleicht dreimal gut essen gehen können. Aber das war ihm egal, und dem Chefredakteur war es auch deshalb recht, weil die „Neue Post“ in der Kurstadt sonst nicht viel zu melden hatte. Dort saß nur ein strafversetzter Ressortleiter, dem die Redaktion weggespart worden war und der seine Artikel meist bei der größeren Kurstadtzeitung abschrieb. Da konnte ein wenig zugereiste Kulturkompetenz nicht schaden.

Beck war von seinem eigenen Vortrag über feuilletonistische Perspektiven der Provinzpublizistik selbst ganz hingerissen, dabei hörte vor allem Paula gar nicht richtig zu. Gitta schüttelte den Kopf und Bernd nuschelte „Ich weiß ja nicht“ in sich hinein. Nur Franz, der sich bereits dem vierten Stück Obstkuchen zugewendet hatte, schien zufrieden, vor allem, als Beck ankündigte, ihn als kommissarischen Geschäftsführer im Weinkontor einsetzen zu wollen. „Cool, geht klar“, krümelte es aus ihm heraus, die Gabel noch im Mund. Zwischen Massage, Fango und Premieren wollte Beck auch die Winzer der Kurstadt besuchen und schauen, ob er nach dem Auslaufen der i.vive-Lizenz seinen Laden nicht als Direktvermarkter regionaler Tropfen weiterführen könnte. Vor allem Hermann Castus, den größten Winzer am Ort, der zugleich die Festspiele unterstützte, hatte er dabei im Auge

Noch einmal raffte sich Paula zu einem Einspruch auf: „Aber, Dein Herz…“ Weiter kam sie nicht.

„Ja, Paula, genau an den Sachen hängt mein Herz, deshalb mache ich meine Theaterkur mit Weinproben.“

Auch Gitta versuchte es noch mal: „Du sollst aber doch keinen Wein…“

„Ich muss ihn nur schmecken, nicht trinken. Wenn das Eure größte Sorge ist: Ich spuck alles aus, versprochen!“ Sie schienen es glauben zu wollen, dabei musste Beck schon innere Widerstände überwinden, wenn er korkenden Wein wegkippte. Aber das fiel jetzt gerade keinem ein, weshalb die Sache buchstäblich gegessen war, als Franz auch das letzte Stück Obstkuchen auf seinen Teller schob.

Paula und ihre Mitstreiter hatten resigniert. Gitta versprach noch, Wander- und Radführer für die Weinberge rund um Weinfurt zu besorgen, Paula räumte still ab, Franz kaute zufrieden, und Bernd war drauf und dran, sich in der Festspielzeit zu einer Weinprobe mit Beck zu verabreden. Aber nur, wenn er dann nicht mitkommen müsse ins Theater.

Mit den letzten Tellern war das ganze Thema abgeräumt. Franz, auf dessen Stirn sich unter dem Pflaster mittlerweile deutlich eine Beule abzeichnete, wollte seinen leichten Kopfschmerz auskurieren und versprach, anderntags wiederzukommen. Gitta und Paula beratschlagten noch, was mit dem vielen Gemüse anzustellen war, während Bernd anfing, Beck von Elektrofahrrädern vorzuschwärmen. Das wäre doch was für ihn! Beck nickte halbherzig, dabei dachte er aber nur daran, wie er seinen alten Saab noch bis in die Kurstadt und über den TÜV kriegen sollte. Er ließ es sich aber nicht anmerken. „Elektro! Ganz schön schnell, was? Ich denk drüber nach.“ Damit war Bernd zufrieden, und im nächsten Moment standen seine Gäste im Treppenhaus und verabschiedeten sich.

Puh, dachte sich Beck, als die Haustür zufiel und er wieder allein war. Das war geschafft. Er atmete tief durch, griff sich mit der rechten Hand an die linke Brust und spürte, dass sein Herz leicht war. Langsam streifte er durch seine Wohnung, im Schlafzimmer zog er an der Schublade mit den langen Unterhosen, fingerte ganz nach hinten und zog eine Flasche Portugieser raus. Gedankenverloren ging er in die Küche, griff wie ferngesteuert zum Korkenzieher, füllte sich ein Glas randvoll, nippte daran und lief dann weiter in Julianes Arbeitszimmer, vorbei am Trümmerhaufen aus Brettern und Büchern.

Die Sonne schien, wärmte schon kräftig durch die Scheibe. Es würde ein guter Theatersommer werden. Das spürte er. Unten auf der Straße sah er Paula, Franz, Bernd und Gitta. Sie redeten, die Frauen wirkten aufgeregt, die Männer standen regungslos daneben und schienen nur darauf zu warten, endlich wegzukommen. Dann ging jeder seiner Wege, und als Paula nach rechts um die Ecke abgebogen war, schien es Beck, als wäre ihr eine junge Frau in einem weißen Kleid mit roten Punkten entgegengekommen. Aber als Beck das Fenster geöffnet hatte, um besser rausschauen zu können, war die Straße menschenleer.

4„Du siehst so anders aus.“ Paula musterte ihn von unten nach oben und wieder nach unten. Es kam ihr vor, als habe er sich verkleidet, als wolle er bei den Festspielen nicht nur zuschauen, sondern auch selbst auftreten. „Also, ich weiß nicht.“

„Natürlich. Es muss ja auch anders werden. Das hab ich auch verstanden“, sagte Beck und zuppelte an seiner Weste.

„Ja, aber der Arzt hat das nicht modisch gemeint, sondern medizinisch.“

„Das hängt alles zusammen“, erwiderte Beck und knöpfte seine Weste zusammen.

„Ich weiß auch nicht, ob Dir das steht.“ Vor ihr stand ein altes mageres Hähnchen, das sich Pfauenfedern aufgesteckt hatte. „Kannst mich doch mitnehmen beim Einkaufen.“

„Was meinst Du denn, ist doch klassisch englisch.“ Beck blickte an sich herab: Weste mit graubraunem Karo, hellbraune Stoffhose und eine Baumwollfliege mit blauen Streifen, die zugegebenermaßen auch ein gefaltetes Taschentuch hätte sein können. Aber irgendwie passte es doch, dachte sich Beck, setzte sich die Tweed-Kappe auf und schlang den roten Schal um den Hals.

„Was machst Du denn jetzt?“ Paula griff zur Fliege, Beck wich zurück. „Zieh das doch aus. Ist doch alles viel zu warm. Du schnürst Dir ja die Luft ab. Und diese Frisur.“ Sie lüftete seine Kappe, wuschelte durch sein Haar und strich es dann wieder glatt. Seine Haare widersetzten sich. Paula tat einen Schritt zurück, stemmte die Hände in die Hüften. „Was ist denn das? Hast Du Dir eine Welle reinmachen lassen. Soll das ein Minipli sein?“

Da hatte sie sich jahrelang darüber beschwert, dass seine letzten grauen Strähnen wie Sauerkraut an ihm herunterhingen, und jetzt war es auch wieder nicht recht.

„Der Friseur hat gesagt: Ich mach Ihnen was Schickes.“ Beck war jetzt doch ein wenig verunsichert. „Ist doch flott.“

„Na, immerhin hat er Dir keine hellblaue Dauerwelle reingemacht, sonst könntest Du als Deine eigene Oma gehen. Aber irgendwie siehst Du jetzt aus wie der Opa von Toni Schumacher.“

„Wer?“ Beck hatte es nicht mit Fußballern.

„Dann halt wie der Opa von Atze Schröder.“

„Was?“ Beck hatte es auch nicht mit Quatschköpfen.

„Ist ja auch egal“, motzte Paula. „Ich versteh den ganzen Aufzug nicht.“

„Ich wollte Dir zeigen, was ich Neues gekauft habe. Du sagst doch immer: Kauf Dir mal was Anständiges.“ Ein bisschen Enthusiasmus hatte er sich schon von ihr erwartet.

„Aber, Du musst doch nicht sooo losfahren. Da zieht man doch was Bequemes an.“

Beck fand das jetzt bequem, er wollte das bequem finden. Hinter ihm stand ein kleiner alter Koffer mit braunen Lederriemen. Der kam noch auf die Rückbank. Da waren seine Bücher drin. Im Wagen verstaut waren schon vier Koffer, zumeist mit den Kleidern, die Paula seit Jahren hatte ausrangieren wollen. Aber eine Garnitur für die Festspiele hatte sich Beck geleistet, die wollte er jetzt präsentieren, und er erwartete angemessenen Jubel. Kriegte er aber nicht. Das Jackett mit dem grünblauen Einstecktuch brauchte er ihr jetzt gar nicht mehr zu zeigen. Paula hob eine Tragetasche vor Becks Nase.

„Da ist Kartoffel-Brokkoli-Auflauf drin, Gemüseschnitze mit drei Dips, Multivitaminsaft und…“ Paula zog eine Packung heraus: „Ginsengtee mit Zitronengras, Pfefferminze, Hagebutte, Orangenschalen, Süßholz, Kardamom, Zimt, Ingwer, Zitronenöl, Brennnessel, Luzerne, schwarzem Pfeffer, Selleriesamen , Nelken…“

„Gut, gut!“ Beck musste sie jetzt dringend unterbrechen: „Ich hab Vollpension, weißt Du doch.“

„Ja, und ich weiß, was Du immer so isst.“

„Ach, Paula, Du kommst mich ja sicher mal besuchen. Ist ja nicht so weit.“

„Ja, aber Du hättest trotzdem den Zug nehmen können. Wer weiß, ob nicht wieder an dem Wagen was ist. Dann stehst Du da.“

Gewiss, Beck hing mehr an seinem Saab, als der Wagen an ihm. Der altersschwache 900er wollte immer wieder auseinanderfallen. War keine gute Baureihe. Das Blech dünner als sonst bei den alten Schweden. Dieser hier sah zwar trotz einiger Rostblasen noch ganz robust aus, knarzte und ächzte aber seit einiger Zeit erschreckend altersschwach. Fünf Monate bis zum TÜV. Ob er da noch mal drüber kam, wusste Beck nicht. Aber zu seiner Festival-Kur wollte er mit Weste und Fliege im eigenen Automobil vorfahren. Ja, er wollte auto mobil sein: selbst beweglich! Da konnte Paula jetzt sagen, was sie wollte.

Beck blickte noch einmal hinauf zu seiner Wohnung, zum Fenster ohne Vorhänge, hinter dem Julianes altes Geisterzimmer lag, jetzt leer und weiß getüncht. Keine Ahnung, was er eines Tages in diesem Raum verstauen sollte, aber die Leere dort oben machte ihn leicht. Was für ein Ballast dieser Raum auf seinem Gemüt gewesen war, wusste er erst jetzt, da der Druck verschwunden war. Mit einem guten Gefühl räumte er die letzten Stücke ein, packte Taschen, Koffer, Pakete und einen roten Beutel für den Notfall so, dass er kaum noch was sah durch die Heckscheibe, drückte Paula – „Dank Dir. Bis bald!“ – ließ sich in die Rückenkissen auf den ausgeleierten Fahrersitz fallen. Beck startete, der Saab stotterte, wolkte grauschwarz, hustete und machte einen großen Sprung nach vorne. Paula tat einen kleinen Satz zur Seite, Beck winkte noch, und schon war er um die Ecke.

Der Saab stöhnte. Doch das Geräusch wurde an jeder Ecke leiser, und Beck hörte zunächst nicht diesen anderen hohen Ton. Je mehr er sich von der Innenstadt entfernte, desto mehr hellte sich seine Laune auf. Und als er die Felder am Stadtrand sah, war er bereit zur großen Expedition. Es sollte zwar nur 60 Kilometer durch Wälder und Hügel gehen, aber für ihn und seinen alten Schweden war das schon eine Fernreise. Selten war Beck zuletzt weiter als bis ins Parkhaus des Stadttheaters oder zum Verlagshaus im Gewerbegebiet gerollt. Nun aber lag für einige Zeit die letzte Ampel hinter ihnen. Beck hatte die Kappe wieder aufgezogen, die Fenster geöffnet, schaltete hoch und fühlte sich ein wenig verwegen. Dazu passte es, dass der Saab mittlerweile kämpferisch schnaubte. Ja, so klang der Aufbruch! Beck drückte noch ein wenig mehr auf die Tube. Der Wagen fauchte. Was für ein Spaß! Warum war er nicht früher mal einfach so rausgefahren? Den Kopf lüften, den Motor hochjubeln. Viel zu lange hatte er in seiner stickigen Bude gehockt, zugeschaut, wie Julianes Andenken einstaubten und er selbst Spinnenweben ansetzte. Der Saab jubelte jetzt zweistimmig. Hinter dem Bassbrüllen war immer deutlicher dieser hohe Ton zu hören, ein fast außerirdisches Sirren, als würde er in einer fliegenden Untertasse aus den Fünfzigern sitzen. Am Ende einer langgezogenen Kurve trat Beck noch stärker aufs Gas, wollte auf die Gerade herauspreschen, da verlor der Wagen alle Spannung, die Leistung sackte spürbar ab, und im selben Moment sah Beck die Fahrbahn nicht mehr. Er fuhr durch Nebel, was ja nicht sein konnte an diesem trockenen sonnigen Tag. Im Rückspiegel war der Nebel schon verweht, an den Seiten zischte er vorbei, vorne aber war er fast undurchdringlich und wurde immer dicker, je langsamer der Wagen rollte. Da erst verstand Beck, dass der weiße Nebel unter der Motorhaube hervorquoll und heißer Dampf war. Im selben Moment, als ihn dieser Gedanke durchzuckte, schüttelte ihn der Wagen durch. Es tat einen Knall, der Saab hob sich leicht an. Beck sah sich panisch um. Hatte er etwas überrollt? Nein, da lag nichts. Das konnte er im Rückspiegel erkennen, während er an den Fahrbahnrand lenkte, wo Knirschen und Jaulen erklangen, als würde sich Metall in Metall verbeißen. Nur wenige Meter mehr, dann hielt der Wagen ächzend an. Mit einem schweren Seufzen entwich noch einmal eine große Wolke, dann blubberte es nur noch leise.

Beck hielt das Lenkrad umklammert. Nicht weil es noch etwas zum Lenken gegeben hätte, sondern weil er innerlich Halt suchte. Das gab’s doch jetzt nicht. Endlich hatte er den Aufbruch geschafft, und schon steckte er mitten im Wald fest. Als sich der Krampf in seinen Fingern gelöst hatte, Beck das Mobiltelefon im Handschuhfach gefunden und den Abschleppdienst angerufen hatte, sollte es noch fast eine Stunde dauern, bis Hilfe zu erwarten war. Beck stieg aus, zwängte sich zwischen Koffer und Taschen, fingerte nach dem roten Beutel und zog. Sein Notfallbesteck leistete Widerstand, klemmte, hakte so sehr, dass Beck unruhig wurde und so lange zerrte, bis ihm der Beutel fast entgegensprang. Um ein Haar wäre ihm die Flasche entglitten. Das kleine dickwandige Gläschen klirrte bedenklich, doch alles blieb heil. Beck atmete tief durch, bohrte hastig in den Korken und zog heftig. Ein Pfützchen ins Glas. Beck schnüffelte: Er hatte nicht geglaubt, dass er den Sangiovese-Verschnitt so schnell brauchen würde. Eigentlich hatte er den toskanischen Montepulciano nur deshalb mitgenommen, weil er fürchtete, die vielen Weißen aus der Kurstadt könnten ihm irgendwann zu den Ohren herauskommen. Aber jetzt kam ihm dieser Rote genau recht. Er tat einen großen Schluck. Das war gut! Noch einen und noch einen und noch einen. Als habe er Durst. Hatte er Durst? Beim dritten Glas hörte er auf, darüber nachzudenken. Nach dem vierten wurde er schläfrig, und als er schließlich wie betäubt hinter dem Lenkrad in sich zusammensackte, war nur noch so wenig in der Flasche, dass sie nicht einmal auslief, als Beck sie in seinem unruhigen Nickerchen mit der Wade im Fußraum seines Wagens umstürzte.

So schnell der Schlaf gekommen war, so bleiern zog er ihn in die Tiefe, aus der er nur langsam wieder emporstieg, um einem seltsamen Ton zu folgen. War es eine Sirene? Nein, ein Hupen! Wo war er? Während er noch blinzend nachdachte, klopfte es an die Windschutzscheibe. Beck schreckte auf. Vor der Motorhaube ragte ein gelber Abschleppwagen mit Kran auf, ein dicker Glatzkopf stand neben ihm, redete gegen die Scheibe und gestikulierte. Wie lang stand der schon da? Beck war immer noch benommen, kurbelte das Fenster runter, und ein Schwall streng riechender Worte schwappte zu ihm herein. Beck verstand nichts von Motoren, stammelte etwas von Rauch und Geräuschen, kriegte mit Mühe die Haube entriegelt und hörte dann den Mechaniker in seinem Motorraum rumoren.

Zwischen das Geklapper seines Werkzeugs mischten sich Flüche. Beck verstand nur Satzfetzen. „Eijeijei“ und „Was für ein Dreck“, aber auch „Du lieber Gott“ oder „Das gibt’s doch gar nicht.“ Beck traute sich nicht aus dem Auto heraus. Er konnte ohnehin nur mit Mühe Scheibenwaschwasser und Öl unterscheiden. Mit dem dicken Schrauber würde er kein vernünftiges Gespräch zustande bringen. Mit einem Schraubenschlüssel in der Hand baute er sich neben Beck auf. Sah martialisch aus wie eine Polizeikontrolle in diesen amerikanischen Krimis. Beck blickte verunsichert auf den Bauch des Mannes neben seiner Fahrertür. „Sie müssen raus“, blaffte die grüne Latzhose. „Ich nehm den Wagen hoch. Aber das sag ich Ihnen gleich: Ich weiß nicht, ob das noch was wird.“

Die Koffer konnte Beck im Auto lassen. Er selbst musste auf dem Beifahrersitz des Abschleppwagens Platz nehmen. Auf der Fahrt in die Kurstadt sprach der Mann am Lenkrad nicht viel und das wenige in einer Mechatronikersprache, die Beck nicht verstand. Irgendwas mit dem Motor, Getriebe, Achse, Rost und Öl. Es ergab für Beck keinen konkreten Sinn, aber es klang nicht gut.

Beck hing im Gurt. So hatte er sich die Fahrt in sein neues Leben nicht vorgestellt. Draußen zogen die letzten Bäume vorüber und es öffnete sich das Tal mit dem kleinen Fluss, an dessen Ufern die Weinberge der Kurstadt bisweilen steil aufstiegen. Eine Burg-Ruine aus rotem Sandstein schmiegte sich, von Wald gekrönt, an die obersten Weinlagen. Auf den Zinnen flatterten die Fahnen des Festivals, das dort seine größte und grünste Bühne besaß – mit einem Parkett, das von einer gewaltigen Linde beschirmt wurde und einer Bühne, die direkt in den Wald überzugehen schien. Die Postkarten-Aussicht des Kurorts hellte Becks Stimmung wieder auf, und je näher der Ort kam, desto besser wusste er wieder, warum er sich so auf diese Auszeit gefreut hatte. Neben dem Ortsschild „Bad Weinfurt“ prangte ein gigantisches gelbes Transparent. Schon von weitem sah man den schwarzen Schriftzug „Festspielstadt“. Ja, sie hatten sich hier einiges vorgenommen. Schluss mit dem betulichen Sommertheater. Zwar waren ganz klassisch Hofmannstahl, Molière, Kleist und Zuckmayer angekündigt, aber mit Regietheater und Sponsorenspektakel. Darauf waren die Weinfurter ganz stolz, hatte er im Programmheft gelesen. Erst als sie fast schon vorbei waren, erkannte Beck, dass über dem Wort „Festspielstadt“ etwas kleiner und in rot wie mit der Sprühpistole geschrieben „Bankrott einer“ stand.

Der Abschleppwagen umkurvte zwei Verkehrsinseln. Auf der einen stand ein enorm großes Weinfass, auf der anderen eine alte Kelter. Dahinter tauchten schon die ersten schiefen Fachwerkhäuser auf. Was für ein erfreulicher Anblick. Beck wunderte sich schon gar nicht mehr über die Antiwerbung am Ortseingang, da erblickte er auch schon das Plakat für „Jedermann“, und auch hier hatte ein Sprayer die Botschaft verändert, durchgestrichen und dazugekritzelt, so dass da nun stand: „Jedermann muss sterben“. Kaum zweihundert Meter weiter grüßte „Der eingebildet Kranke – ein Gesundheitsprogramm“, doch das war kaum noch zu erkennen, dafür prangte hier nun fett und schwarz: „Total krank“. So ging es weiter: Vom „Zerbrochnen Krug“ blieb nur „Krieg“. Und „Weinberg, die fröhliche Gastroshow“, ein Event frei nach Zuckmayer, war übermalt mit der Krakel-Drohung „Tod dem Weinberg“.

Beck fragte sich, ob das nun Marketing oder Vandalismus war. Die Frage an den Fahrer, was es mit den Plakaten auf sich habe, hätte er sich sparen können. Die grüne Latzhose klärte Beck darüber auf, dass „Jedermann muss sterben“ und „Tod dem Weinberg“ wohl Theaterstücke seien. Und als Beck einwandte, dass Hofmannsthal und Zuckmayer andere Titel gewählt hatten, murrte der Fahrer: „Schade, ich wollt mir das schon angucken. Na, das wird dann ja eine schöne Kunst-Kacke sein.“

Der Diskurs über Aufführungsästhetik war damit nur wenig länger ausgefallen als zuvor das Fachgespräch über Karosserie und Hydraulik. Die beiden Männer hatten sich nichts mehr zu sagen, bis Beck endlich mit seinen Koffern auf dem Bordstein vor dem „Nehoda Imperial“ stand. Er war verblüfft. Im Katalog hatte es besser ausgesehen. Die glänzenden Steinfliesen der Achtziger-Jahre-Fassade waren mit Efeu überwachsen, der aus dem angrenzenden Kurpark zu kommen schien und offenbar dabei war, das Hotel langsam zu verschlingen. Ein wenig enttäuscht streifte sein Blick ins Grüne, doch bevor ihn der prächtige Park hätte aufmuntern können, rief der Mechaniker aus dem Führerhaus noch: „Ich melde mich. Aber machen Sie sich keine Hoffnung.“ Dann sah Beck, wie sein alter Schwede huckepack um die nächste Ecke verschwand. Da stand er nun mit all seinen Koffern und Taschen. Bis zur Lobby waren es noch einige Meter. Kein Kofferwagen zu sehen. Er wollte sich gerade auf den Weg, die Auffahrt hinauf zum Empfang machen, da kam ihm auch schon ein Portier in Sakko und Mütze entgegen. Wie aufmerksam, dachte sich Beck und hob dem Mann einen Koffer entgegen. Und der junge Herr eilte sich. Ja, er rannte. Das wäre nun auch nicht nötig. Und wieso hatte er einen Besen in der Hand? Beck blieb verwundert stehen und merkte, dass der Portier zwar in seine Richtung rannte, ihn aber offenbar gar nicht wahrnahm. Schon war er an ihm vorbei. Beck schaute ihm nach und sah, wie der Mann auf einen Grünstreifen auf der anderen Straßenseite zurannte. Dort standen drei Flaggenmasten, an denen Banner des Festivals flatterten – und eines stand in Flammen. Der Portier schlug von unten gegen den qualmenden Stoff. Als wenn da noch etwas zu retten gewesen wäre. Glühende Fetzen fielen auf ihn herab. Beck stand da, immer noch mit seinem Koffer in der Hand, und staunte: Was für ein Empfang!

Theaterherz

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