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Einleitung

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„Keine geschichtliche Kategorie ohne ihre naturale Substanz, keine naturale ohne ihre geschichtliche Filterung.“1

Man findet nicht leicht einen Gegenstand, über den so konträre Urteile im Umlauf sind, wie den Problemkomplex, der mit der Entstehung des Staates zusammenhängt. Vertreter des Öffentlichen Rechts verkünden in apodiktischem Ton, „daß der Staat als Name und als Wirklichkeit etwas geschichtlich durchaus Einzigartiges ist und in dieser seiner neuzeitlichen Individualität nicht in frühere Zeiten hineingeschmuggelt werden darf“ (Hermann Heller). Sie wenden sich dagegen, den Staat „zu einem auf alle Zeiten und Völker übertragenen Allgemeinbegriff“ zu machen (Carl Schmitt), und erklären es für unzulässig, „vom Staat der Ptolemäer, der Ägypter, Azteken, Griechen und Römer zu sprechen“ (Ernst Forsthoff). Es gehöre, so Böckenförde, „zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewußtseins, daß der Begriff Staat kein Allgemeinbegriff ist, sondern zur Bezeichnung und Beschreibung einer politischen Organisationsform dient“, die erst im neuzeitlichen Europa entstand.2 Auch ein so stark von der Jurisprudenz geprägter Soziologe wie Max Weber empfahl, den „Staatsbegriff […], da er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend […] zu definieren“.3 Staat, folgerte Carl Schmitt deshalb nicht zu Unrecht, sei für Max Weber „eine spezifische Leistung und ein Bestandteil des occidentalen Rationalismus“ und dürfe „schon deshalb nicht mit Herrschaftsorganisationen anderer Kulturen und Epochen gleich benannt werden“.4

Zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewusstseins gehören solche Ansichten jedoch mitnichten. Max Weber selbst hat sich an seine Empfehlung keineswegs gehalten und ganz selbstverständlich vom „autoritären Leiturgiestaat“ Altmesopotamiens und vom China der „Teilstaatenzeit“ gesprochen, vom „Fronstaat“ des pharaonischen Ägypten, vom „Inkastaat“, vom japanischen „Geschlechterstaat“ und vom römischen „Stadtstaat“, um nur einige Beispiele zu nennen. Davon abgesehen, belehrt ein Blick auf jene Disziplinen, die schon aus professionellen Gründen eine besondere Zuständigkeit für diesen Problemkomplex beanspruchen können – die Ethnologie bzw. Anthropologie, die Archäologie und die Prähistorie –, darüber, wie selbstverständlich der Staatsbegriff hier gebraucht und für ein offenbar unverzichtbares Instrument gehalten wird. Da ist nicht nur von den Staaten der Azteken, Griechen und Römer die Rede, sondern auch von solchen, die diesen zeitlich vorausliegen: von den Staaten der Olmeken und Zapoteken, der Maya und der Tarasken, der minoischen und mykenischen Palaststaaten der Bronzezeit und vielen anderen mehr.5 Auch wenn in diesen Wissenschaften unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, wo genau die Grenze zwischen den „Gesellschaften ohne Staat“ und den „Gesellschaften mit Staat“ zu ziehen ist, ob es intermediäre Formen wie das Häuptlingstum, den „Proto-Staat“ oder die „archaische Zivilisation“ gibt, ist man hier doch nicht im Zweifel, dass der Staat zeitlich lange vor der Neuzeit existiert und auch räumlich nicht auf Europa zu beschränken ist. Das dokumentieren nicht zuletzt die Forschungscluster, die sich um Konzepte wie den „frühen“ oder „archaischen Staat“ organisiert haben.6

Nach den Ursachen für dieses Auseinanderklaffen der Diskurse muss man nicht lange suchen. Juristen verfügen zwar über eine beneidenswert klare Begrifflichkeit, nehmen sich aber nur selten die Zeit, die Ergebnisse anderer Disziplinen gründlicher zur Kenntnis zu nehmen – und das selbst dann nicht, wenn sie sich mit deren Gegenstand befassen.7 Anthropologen und Archäologen andererseits sind oft vom Anschauungsreichtum überwältigt und begnügen sich gern, um diesen nur ja nicht zu beschädigen, mit eher schlichten Kategorien, wenn sie nicht gar Idiosynkrasien gegen die „Jumbo-Historians“ entwickeln. So weiß etwa Julian H. Steward, der das Wort von der multilinearen Evolution geprägt hat, über den Staat wenig mehr zu sagen, als dass er ein „breites Level der soziokulturellen Organisation“ repräsentiere, das mehr sei als die Summe der Familien und Gemeinschaften, aus denen er bestehe.8 Nicht viel präziser ist der Verweis Leslie Whites auf die spezifische Funktion des Staates, das soziokulturelle System zu bewahren, von dem er ein Teil sei (White 1959, S. 313). Nach Marshall D. Sahlins ist der Staat für den gesellschaftlichen Organismus das, was das Zentralnervensystem für den biologischen Organismus ist; nach Morton H. Fried die Garantieinstanz für eine stratifizierte Ordnung9 – Auskünfte, die allesamt nicht über das hinausgelangen, was man schon bei Durkheim, Morgan oder Engels lesen kann. Auch die zum „archaischen Staat“ vorgetragenen Definitionen erscheinen wenig geeignet, diesem ein spezifisches Profil zu verleihen. Das gilt für den Vorschlag, archaische Staaten seien „Gesellschaften mit (wenigstens) zwei endogamen Klassen […] und einer Regierung, die sowohl hochgradig zentralisiert als auch intern spezialisiert“ sei,10 wie für die Version Kent Flannerys, der zufolge es sich um „zentralisierte Systeme mit einer administrativen Hierarchie“ handele, „in welcher Befehle nach unten und Informationen über den Output nach oben“ gingen.11 Es gilt aber auch für einen Kritiker dieser Sichtweise wie Richard Blanton, der den Staat lieber als „die größere soziale Arena“ sehen möchte, „innerhalb derer der gesellschaftliche Kampf um Macht ausgetragen wird“ (Blanton 1998, S. 140). Das ist eine Bestimmung, die auf Verbände aller Art zutrifft, und es ist nicht zu sehen, was dadurch gewonnen wird, wenn man sie, wie Blanton vorschlägt, um die Unterscheidung von verschiedenen Machtstrategien ergänzt.

Dieses Buch unternimmt den Versuch, die Ignoranzschwelle nach beiden Seiten zu senken. Nach der Seite der empirischen Forschung wird dies in den einzelnen Fallstudien geschehen, die der Entstehung des Staates anhand von verschiedenen Beispielen nachgehen. Für die Begriffsbildung dagegen ist diese Einleitung der geeignete Ort. Als Ausgangspunkt und Grundlage soll dabei nicht die berühmte Drei-Elemente-Lehre der Allgemeinen Staatslehre dienen, die nicht weniger abstrakt ist als die von manchen Archäologen bevorzugte Systemtheorie, sondern die Umschmelzung, die diese Lehre in der juristisch inspirierten Soziologie Max Webers erfahren hat. Weber hat wohl, wie erwähnt, seinen Staatsbegriff am modernen Staat gebildet, ihn jedoch zugleich so komplex angelegt, dass er durch eine methodische Reduktion und Spezifizierung der Merkmale auch für nicht- bzw. vormoderne Staatsformen nutzbar gemacht werden kann. Im Rahmen der „Soziologischen Grundbegriffe“ ist der nächstliegende Oberbegriff die Kategorie des „Verbandes“, worunter „eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung“ mit einer bestimmten Ordnung zu verstehen sei, deren Einhaltung garantiert werde „durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat“ (Weber 1976, S. 26). Sofern die Leitung für ihre Anordnungen mit Fügsamkeit rechnen kann, handelt es sich um einen „Herrschaftsverband“; soweit die Ordnungen für ein angebbares Gebiet geltend gemacht werden, um einen „politischen Verband“; soweit dies für jeden innerhalb des Gebietes gilt, „auf den bestimmte Merkmale (Gebürtigkeit, Aufenthalt, Inanspruchnahme bestimmter Einrichtungen) zutreffen, einerlei ob der Betreffende persönlich – wie beim Verein – beigetreten ist und vollends: ob er bei den Satzungen mitgewirkt hat“, um einen „Anstaltsverband“ (ebd., S. 28). Hieran schließt die oft zitierte Definition an: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ (ebd., S. 29).

Da diese Definition erklärtermaßen von der „Vollentwicklung“ des Staatsbegriffs in der Moderne her gewonnen ist, ist zu fragen, wie viele Abstriche von ihr gemacht werden können, ohne damit die Sphäre zu verlassen, innerhalb derer noch von Staat die Rede sein kann. Was auf keinen Fall unterschritten werden kann, sind die Merkmale des politischen Verbandes, insbesondere der Gebietsbezug, durch den sich der politische Verband von anderen Herrschaftsverbänden, etwa Parteien oder Krankenhäusern, unterscheidet. Gewiss stehen die Markierung und Kontrolle eines Territoriums nicht immer im Vordergrund des Alltagshandelns eines politischen Verbandes. In außeralltäglichen Situationen jedoch, speziell im Fall von Konflikten, zeigt sich die Eigenart des politischen Handelns in der Fähigkeit, ‚„ein Gebiet‘ (nicht notwendig: ein absolut konstantes und fest begrenztes, aber doch ein jeweils irgendwie begrenzbares Gebiet) und das Handeln der darauf dauernd oder auch zeitweilig befindlichen Menschen durch Bereitschaft zu physischer Gewalt, und zwar normalerweise auch Waffengewalt, der geordneten Beherrschung durch die Beteiligten vorzubehalten (und eventuell weitere Gebiete für diese zu erwerben)“.12 Und diese Bereitschaft pflegt in dem Maße zu wachsen und auf das Alltagshandeln durchzuschlagen, in dem bestimmte, für die Reproduktion des Verbandes und seine Ordnungen als notwendig erachtete Ressourcen als knapp perzipiert werden.13 Es versteht sich, dass dabei unter „Gebiet“ nicht einfach eine res extensa zu verstehen ist, sondern ein qualitativ bestimmtes, durch geo- und topografische Eigenheiten ausgezeichnetes Territorium, dem Weber in seinen kultur- und wirtschaftssoziologischen Studien, darin den „spatial turn“ der neueren Archäologie vorwegnehmend, stets beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet hat.14

Schwieriger steht es um den Anstaltscharakter, weil Weber hier neben dem Merkmal der „Zurechnung auf Grund rein objektiver Tatbestände“ (Weber 1973, S. 466) noch ein weiteres Kriterium ins Spiel gebracht hat: den Umstand, dass es sich um einen Verband mit „rational (planvoll) gesatzten Ordnungen“ handelt (Weber 1976, S. 28). Wäre dies eine conditio sine qua non, fiele der Staatsbegriff mit solchen politischen Verbänden zusammen, die durch „rationale Herrschaft“ bestimmt sind – eine Einschränkung, an die Weber sich selbst am wenigsten gehalten hat. In der Hinduismusstudie etwa definiert er Anstalt denn auch durch das Minimum „Zurechnung ohne eigenes Zutun“ qua Geburt (Weber 1996, S. 56). Nicht die Ordnung als solche, die zum Begriff des Anstaltsverbandes gehört, wohl aber ihre Spezifizierung im Sinne von rationaler Satzung, wäre also ein verzichtbares Merkmal, was dann freilich die Frage nach alternativen Begründungen der Ordnung aufwirft. Darauf wird zurückzukommen sein.

Für verzichtbar halten manche auch das Merkmal Gewaltmonopol. In der Staatsdefinition Henry T. Wrights, die von zahlreichen Autoren übernommen wurde, kommt nicht einmal das Wort Gewalt vor, geschweige denn deren Monopolisierung.15 Michael Mann vertritt die Auffassung, mit der von Weber angesprochenen physischen Gewalt sei in erster Linie militärische Gewalt gemeint, für die es in den meisten Staaten der Vergangenheit kein Monopol gegeben habe. Als Kern des Staates komme deshalb das „Monopol der verbindlichen und immerwährenden Regelsetzung“ infrage, für dessen Durchsetzung ein mehr oder minder großes Maß an physischer Gewalt in Anspruch genommen werde (Mann 1990, S. 29, 71). Ähnlich sieht es Robert Carneiro, für den ein Staat auch ohne Gewaltmonopol existieren kann, solange er drei essenzielle Fähigkeiten besitzt: „the power to draft, the power to tax, and the power to enforce law“.16

Bei der Erörterung dieser Frage kommt es darauf an, Extrempositionen zu vermeiden. Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass bei den meisten geschichtlich bekannten politischen Verbänden die legitime Verfügung über Gewaltmittel breit gestreut war. Der aztekische Dreibund setzte sich aus halbautonomen Stadtstaaten zusammen, die über eigene militärische Aufgebote verfügten und manchmal sogar Kriege gegeneinander führten. Die Mauryas in Indien kontrollierten nur ihr Kerngebiet und mussten sich im Übrigen damit begnügen, militärisch besiegte Fürsten wieder in ihre Rechte einzusetzen. In der römischen Republik übte der pater familias über die Angehörigen seines Hauses das ius vitae necisque aus, und auch die Kriegführung war lange von privaten Initiativen geprägt. Hier von Monopol im Sinne eines Zustands, eines festen Besitztums zu sprechen, wäre daher irreführend.17 Ebenso wenig lässt sich jedoch leugnen, dass es sich bei all diesen Verbänden nicht um einfache „Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe“ gehandelt hat.18 Offensichtlich gab es in ihnen Instanzen, die anderen Regeln oktroyierten, und die dies konnten, nicht weil sie über physische Gewaltmittel schlechthin verfügten, sondern weil sie ein größeres Maß davon besaßen, womit nicht nur die pure Quantität, sondern auch die Qualität gemeint sein soll. Zwischen den „Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe“ und den Ordnungen mit einem Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit erstreckt sich ein Zwischenreich, in dem sich immer wieder Kräfte geltend machen, die mehr oder weniger erfolgreich die Entmachtung, „die Ausschaltung konkurrierender Mächte“ betreiben und darin zumindest der Tendenz nach eher in die Richtung des Monopols als des Oligopols weisen.19 Politischen Verbänden, in denen diese Tendenz klar erkennbar ist, sollte die Bezeichnung „Staat“ nicht verwehrt werden.

Aus diesem Zwischenreich ragen vor allem die großen Imperien hervor, die sich im Vorderen Orient seit den Akkadern, in Indien seit den Mauryas, in China seit der Reichseinigung durch die Qin und in der antiken Mittelmeerwelt mit dem Imperium Romanum gebildet haben – Staaten, die bei allen Unterschieden über eine Reihe von Gemeinsamkeiten verfügten: über stehende Heere beträchtlichen Umfangs, patrimonialbürokratische Verwaltungen und Formen der staatlichen Bedarfsdeckung, welche zwar z.T. auf „oikenmäßiger“ Eigenwirtschaft und Leistungen der Bürger bzw. Untertanen („Leiturgien“) beruhten, daneben aber bereits in erheblichem Maße Abgaben in Geldform bezogen, was auf eine fortgeschrittene Kommerzialisierung und soziale Stratifikation verweist. Auf diesen Typus bezieht sich eine breite Literatur, die allerdings oft mit wenig trennscharfen Kategorien arbeitet und nur selten der Gefahr entgeht, jedes politische Gebilde von einiger Ausdehnung darunter zu subsumieren.20

Was in diesem Buch dagegen interessiert, sind jene Staaten, die zu ihrer Bedarfsdeckung nicht auf „frei flottierende Ressourcen“ (Eisenstadt 19672, S. 27, 111) zurückgreifen konnten. Das Fehlen solcher Ressourcen bedeutete, dass der Leiter des Verbandes, der „Herrscher“, nur über die Erträge seiner eigenen Domäne sowie auf Naturalabgaben und Dienstleistungen zählen konnte; dass er zur Erfüllung seiner Aufgabe – der Garantie der Ordnungen – nur über einen rudimentären Erzwingungsstab verfügte, der sich aus Verwandten und persönlichen Gefolgsleuten rekrutierte; und dass entsprechend die physische Gewalt hinter anderen Formen des Zwangs zurücktrat, etwa der Durchführung bzw. Verweigerung von Ritualen, die dem allgemeinen Bewusstsein als unerlässlich für das Wohlergehen des Verbandes galten. Hier kommt der von Weber angeführte „psychische Zwang“ ins Spiel, der über die Spendung und Versagung von Heilsgütern ausgeübt wird; wobei Weber Wert auf die Feststellung legt, daß das entscheidende Merkmal nicht „die Art der in Aussicht gestellten Heilsgüter [ist] – diesseitig, jenseitig, äußerlich, innerlich – […], sondern die Tatsache, dass ihre Spendung die Grundlage geistlicher Herrschaft über Menschen bilden kann“ (Weber 1976, S. 30). Verbände, in denen solche Herrschaft ausgeübt wird, heißen „hierokratische Verbände“. Wird diese Herrschaft in monopolistischer Weise ausgeübt, handelt es sich um „Kirchen“ (ebd., S. 29).

Kirchen im vollen Sinne des Begriffs sind natürlich nicht weniger voraussetzungsvolle Gebilde als Staaten. Im Kapitel über „Staat und Hierokratie“ in den nachgelassenen Manuskripten zu Wirtschaft und Gesellschaft nennt Weber gleich ein ganzes Bündel von Merkmalen, das von einer ausdifferenzierten Berufspriesterschaft über die Abkoppelung von Haus, Sippe, Stamm und Nation sowie die Kanonbildung bis zur anstaltlichen Organisation mit Trennung von Person und Amt reicht (Weber 2005, S. 590f.). Gleichwohl kann auch in diesem Fall einiges abgezogen werden. So hat Weber mit Blick auf das Judentum, auf den Buddhismus und den Taoismus von einer Kirche gesprochen und selbst die Kastenordnung des Hinduismus als ‚kirchenständische‘ Rangordnung interpretiert, auch wenn ihm der Kirchenbegriff auf den Hinduismus nicht anwendbar erschien (ebd., S. 662; 1989, S. 435, 448f.; 1996, S. 103). Die Struktur der alten hinduistischen Königreiche galt ihm als „patrimonial-kirchenstaatlich“, und vom imperialen China heißt es, es sei ein „Kirchenstaat“ mit „Anstaltscharisma“ gewesen, eine „patrimoniale Gnadenanstalt“ (Weber 1996, 103, 191; 1989, 438, 434, 372).

Kirchen sind also keineswegs ein Spezifikum der Moderne, in der sie als mehr oder minder eigengesetzliche Institutionen neben dem Staat existieren. Es gibt sie auch dort, wo kein universalistischer Anspruch vorliegt, ja nicht einmal eine Erlösungsreligion und ein für sie spezifisches ‚religiöses Charisma‘ (Weber). Das Charisma kann vielmehr auch ‚magischer‘ Natur sein, wie im Fall des Taoismus oder – von einer gewissen Entwicklungsstufe an – des Buddhismus, der ursprünglich eine Erlösungsreligion ist, später aber eine Abwandlung ins Magische erfährt.21 Magie wird zwar von Weber nicht völlig scharf von Religion im weiteren Sinne getrennt, insofern beide für Beziehungen zu den „übersinnlichen Gewalten“ stehen, doch bezeichnet sie eine besondere Ausprägung dieser Beziehungen, die sich von Religion in einem engeren Sinne abgrenzen lässt: als „der zwingende Zauber gegen die über und in den Naturkräften waltenden Geister“ (Weber 1989, S. 105). „Man kann diejenigen Formen der Beziehungen zu den übersinnlichen Gewalten, die sich als Bitte, Opfer, Verehrung äußern, als ‚Religion‘ und ‚Kultus‘ von der ‚Zauberei‘ als dem magischen Zwange scheiden und dementsprechend als ‚Götter‘ diejenigen Wesen bezeichnen, welche religiös verehrt und gebeten, als ‚Dämonen‘ diejenigen, welche magisch gezwungen und gebannt werden.“22

Die so verstandene Magie entspringt zwar auch bei Weber wie bei Robertson Smith oder Durkheim individuellen Interessen, besitzt aber nichtsdestoweniger dieselbe Wirkung, die nach Durkheim nur der Religion zukommen soll: „die Menschen […] untereinander zu verbinden und sie in einer gemeinsamen Gruppe, die das gleiche Leben lebt, zu vereinen“.23 Die hieran anschließende Zuspitzung, es gebe keine magische Kirche, hätte sich Weber deshalb nicht zu eigen gemacht, wenn er sie denn gekannt hätte. Solange das begriffliche Minimum gegeben ist: die Existenz eines hierokratischen Verbandes mit Anstaltscharakter – eines Verbandes, in den man hineingeboren wird und in dem die Leitung über ein hinreichendes Maß an psychischen Zwangsmitteln zur Garantie der Ordnung verfügt –, solange ist auch auf der Grundlage einer ‚,magische[n] und Funktionsgötter-Religiosität“ (Weber 1989, S. 490) Kirche denkbar. Und je mehr wiederum die Religiosität in diese Richtung gravitiert, desto mehr tendiert kirchliche Herrschaft dazu, Gebietsherrschaft zu sein und damit koextensiv mit dem politischen Verband: eine Konstellation, die Leslie White mit dem treffenden Ausdruck „state-church“ belegt hat.24

Auch für ein solches Gebilde ist allerdings zu beachten, dass Herrschaft nicht nur auf der „Chance der Anwendung von physischem oder psychischem Zwang irgendwelcher Art“ beruht. Vielmehr gilt nach Weber auch hier, dass ein an der Erwartung solchen Zwangs orientiertes Handeln nur den „relativ labilen Grenzfall“ bildet. Die Chance der empirischen Geltung eines Herrschaftsverhältnisses wird ceteris paribus umso höher zu veranschlagen sein, je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden kann, „daß die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschaftsbeziehung als für sich ‚verbindlich‘ auch subjektiv ansehen. Soweit dies durchschnittlich oder annähernd der Fall ist, soweit ruht ‚Herrschaft‘ auf dem ‚Legitimitäts’-Einverständnis“ (Weber 1973, S. 470).

Weber unterscheidet bekanntlich drei Hauptformen, in denen dieses Legitimitäts-Einverständnis auftreten kann: zwei, die alltäglicher Natur sind und mit gewöhnlichen Mitteln operieren – die legale und die traditionale Herrschaft –, und eine dritte, die auf dem Glauben an die Wirksamkeit außeralltäglicher oder mindestens außergewöhnlicher Kräfte beruht – die charismatische Herrschaft. Historisch gesehen treten diese Typen keineswegs in einer eindeutigen Reihenfolge auf, wie sie sich auch sachlich-empirisch in mannigfacher Weise verbinden können. Dennoch gilt, dass das Charisma mit fortschreitender Rationalisierung der Ordnungen an Bedeutung verliert, während umgekehrt „in den uns zugänglichen Anfängen von Gemeinschaftsverhältnissen […] jede Gemeinschaftsaktion, welche über den Bereich der traditionellen Bedarfsdeckung in der Hauswirtschaft hinausgeht, in charismatischer Struktur auf[tritt]“ (Weber 2005, S. 513). Charisma ist in diesem Sinne „typische Anfangserscheinung religiöser (prophetischer) oder politischer (Eroberungs-)Herrschaften“ (Weber 1976, S. 147), womit freilich nicht gesagt ist, dass es dies auch bleiben muss. Darüber später.

Der für charismatische Herrschaft grundlegende Glaube ist ein transepochales Phänomen, gebunden an anthropologische Konstanten, die gegenüber der sozialen wie der natürlichen Umwelt relativ resistent sind. Erklärungsansätze dafür kann man sowohl in „biokulturellen“ Deutungen als auch in der Kognitionspsychologie Piagets finden, auf die hier nur pauschal verwiesen sei.25 Andererseits liegt auf der Hand, dass die außeralltäglichen Kräfte sehr unterschiedlich konzipiert sein können, und dass diese Unterschiede in engem Zusammenhang mit der Entwicklung magischer und/oder religiöser Weltbilder und sozialer Beziehungen stehen. Das Charisma kann, wie z.B. im Christentum, als Gnadengabe eines einzigen, überweltlichen, persönlichen Gottes gedacht werden. Es kann, im Rahmen eines polytheistischen Weltbildes, bestimmten Göttern zugeordnet werden (und anderen nicht). Und es kann als Wirksamkeit von sich verbergenden Wesenheiten, „Geistern“, vorgestellt werden, die zu den Personen oder auch Objekten, auf die sie einwirken, in unterschiedlichen Beziehungen stehen können: Beziehungen eher „naturalistischer“ bzw. „präanimistischer“ Art, bei denen sie „bei einem oder innerhalb eines konkreten Objekts oder Vorgangs mehr oder minder dauernd und exklusiv ‚hausen‘“; Beziehungen „animistischer“ Art, bei denen sie „bestimmte Vorgänge und bestimmte Dinge oder Kategorien solcher irgendwie ‚haben‘ und also über deren Verhalten und Wirksamkeit maßgebend verfügen“; oder Beziehungen „symbolischer“ Art, bei denen sie durch Dinge – Pflanzen, Tiere oder Menschen – nur symbolisiert werden, „selbst aber als irgendwie nach eigenen Gesetzen lebende, aber normalerweise unsichtbare Wesen gedacht“ sind, deren Verhalten man sich nach den Regeln der Analogie denkt (Weber 2001, S. 125). Präanimismus, Animismus, Symbolismus: diese drei ‚,Stufe[n] der Abstraktion“ liegen dem zugrunde, was Weber als „magisches Charisma“ bezeichnet und von anderen Erscheinungsformen des Charisma, etwa dem religiösen oder prophetischen Charisma, abgrenzt.

Die von Weber genannten Begriffe entstammen, wie nicht umständlich begründet werden muss, dem religionswissenschaftlichen Diskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Heute wird hier vieles anders gesehen. In dem beeindruckenden Entwurf einer „monistischen Anthropologie“ von Philippe Descola beispielsweise steht die Bezeichnung Naturalismus für ein idealtypisches Identifikationsmuster, das eine Diskontinuität der „Interioritäten“ (das sind Annahmen über die geistige, seelische und bewusstseinsmäßige Verfassung) mit einer Kontinuität der „Physikalitäten“ (der äußeren Gestalt der Körper, der physiologischen, perzeptiven und sensomotorischen Prozesse) verbindet und zugleich davon ausgeht, dass die Materie und das Leben universellen Gesetzen gehorchen (Descola 2013, S. 181f., 259). Der von Marett eingeführte und vor allem von der Durkheim-Schule zu religionssoziologischer Prominenz erhobene Präanimismus taucht in diesem Entwurf nicht mehr auf. Die mit ihm gemeinte Vorstellung einer Kontinuität der Interioritäten im Sinne einer unpersönlichen, geistig-seelischen Substanz, die Menschen und Nichtmenschen gemeinsam ist, wird dem neu gedeuteten Animismus als einem mixtum compositum zugeschrieben, welches Ähnlichkeit der Interioritäten mit einer Differenzierung der Physikalitäten verbindet und zugleich die Möglichkeit einer Austauschbarkeit bzw. Transzendierung der äußeren Formen durch Individuen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten eröffnet, wie z.B. Schamanen, Zauberer und rituelle Spezialisten.26 Webers Symbolismus deckt sich mit Descolas „Analogismus“, der Unterschiede sowohl der Interioritäten als auch der Physikalitäten kennt (ebd., S. 301ff.), wohingegen der von Weber in anderen Zusammenhängen erwähnte, zeitweilig in Misskredit geratene „Totemismus“ für beide Ebenen Ähnlichkeiten postuliert (ebd., S. 219ff.). Typisch für den Analogismus, dem sich „die Gesamtheit der Existierenden in eine Vielzahl von Wesenheiten, Formen und Substanzen aufsplittert“, die per analogiam wieder zusammengefügt werden, sind Phänomene wie Besessenheit, Seelenwanderung und Reinkarnation (ebd., S. 318); typisch für den Totemismus Konzepte wie die „Traumzeit“ der australischen Aborigines, die die Welt als Produkt von Mischwesen aus Menschen und Nichtmenschen auffassen (ebd., S. 222ff.). Obwohl Descola bisweilen die Auffassung äußert, dass sich die Identifikationsmuster und die auf ihnen beruhenden „ontologischen Schemata über die ganze Erde verteilen, je nach der Vorliebe der Völker für diese oder jene Weise, ihr Verhältnis zur Welt und zu den anderen zu organisieren“, zeigen seine näheren Ausführungen doch, dass sie in Korrelation – Weber würde sagen: Wahlverwandtschaft –zu bestimmten Formen sozialer Beziehungen stehen: der Totemismus zum (verallgemeinerten) Tausch, wie er für die Heiratsallianzen der australischen Aborigines typisch ist; der Animismus neben Beziehungen des Tauschs auch zu solchen der Gabe und des Raubes; der Analogismus insbesondere zum Schutz, „häufig in Kombination mit der segmentären Logik der Anzestralität“, die sich wiederum aus dem Beziehungsmodus der Übermittlung ergibt; der Naturalismus durch (Handels-)Austausch und durch Schutz (der Bürger durch den Staat) (ebd., S. 567ff.). In der gröberen Schematik der differenzierungstheoretischen Soziologie ließen sich Totemismus und Animismus der segmentären Differenzierung, der Analogismus der stratifikatorischen Differenzierung und der Naturalismus der funktionalen Differenzierung zuordnen, wofür auch die von Descola gewählten Beispiele sprechen.27 Für die in diesem Buch verfolgte Fragestellung sind die animistischen und analogischen Verbände von besonderem Interesse, da der totemistische Verband allen Gliedern den gleichen Status zuweist und damit politischen und hierokratischen Zwang ausschließt, während der Naturalismus beide kennt, aber scharf voneinander trennt. Auch Descola verortet die Anfänge des Staates zwischen diesen beiden Extrempolen, lenkt die Aufmerksamkeit aber stärker, als ich es tun werde, auf die analogischen Verbände, die aufgrund ihrer relativ hohen Mitgliederzahlen einer politischen Zwangsgewalt bedürften, um „von Tag zu Tag den Zusammenschluß der Singularitäten in einer wirklichen Hierarchie zu gewährleisten“ (ebd., S. 441). Das ist gewiss ein plausibler Gesichtspunkt, wird in diesem Buch aber als Fluchtpunkt verstanden, zu dem hin auch bereits in der animistischen Welt starke Kräfte gravitieren.

Relevant für die Ursprünge und Frühformen des Staates ist das (magische) Charisma freilich nicht so sehr in seiner genuinen, d.h. persönlichen und außeralltäglichen Gestalt. Wichtiger sind die Formen, die es im Wege der „Veralltäglichung“ anzunehmen vermag. Dieser Begriff ist bei Weber sehr weit gefasst, da er auch jene Prozesse der „Traditionalisierung“ und der „Legalisierung“ einschließt, bei denen das Charisma ersetzt oder zerstört wird (Weber 1976, S. 143). Für die hier verfolgten Zwecke ist jedoch vor allem jene Transformation von Interesse, bei welcher das Charisma zwar wesentliche Merkmale einbüßt, jedoch so, „daß stets der Charakter des Außergewöhnlichen, nicht jedermann Zugänglichen, den Qualitäten der charismatisch Beherrschten gegenüber prinzipiell Präeminenten erhalten bleibt“ (Weber 2005, S. 517). Das kann etwa dadurch ermöglicht werden, dass sich die Vorstellung durchsetzt, die spezifische charismatische Qualifikation, sei sie magischer, religiöser, politischer oder sonstiger Natur, liege „im Blute“ und könne in Gestalt eines „Erbcharisma“ oder „Gentilcharisma“ gewissermaßen ohne Verdienst und Ansehen der Person von Generation zu Generation weitergegeben und dadurch zur Grundlage einer „Art von ständischer Gliederung gemäß den charismatischen Qualifikationsunterschieden“ werden (ebd., S. 517ff., 740f.). Erhalten bleibt das Charisma aber auch dann, wenn sich die Vorstellung verfestigt, dass es eine „durch eine bestimmte Art von Hierurgie, Salbung, Händeauflegung oder andere sakramentale Akte übertragbare oder erzeugbare magische Qualität“ sei, die „an den Inhaber eines Amts oder an ein bestimmtes institutionelles Gebilde“ geknüpft sei (ebd., S. 741, 517). Ist dies der Fall, hat man es mit „jener eigentümlichen institutionellen Wendung des Charisma“ zu tun, welche „seine Anhaftung an ein soziales Gebilde als solches [bewirke], als Folge der an die Stelle des charismatischen persönlichen Offenbarungs- und Heldenglaubens tretenden Herrschaft der Dauergebilde und Traditionen“ (ebd., S. 526).

Max Weber hat mit diesen Begriffen ein Instrumentarium geschaffen, das noch immer relevant ist. Seine Herleitung ständischer Ordnungen etwa hat weit über die Soziologie hinaus gewirkt und nicht zuletzt in der Anthropologie Widerhall gefunden, etwa bei Morton H. Fried mit dem Konzept der rank society oder bei Mary W. Helms, die, ohne den Begriff des Charisma zu verwenden, die Ursprünge von „qualitativer Hierarchie“ und Aristokratie mit dem Glauben an übermenschliche bzw. übernatürliche Kräfte und Qualitäten in Verbindung bringt und diese wiederum an kosmologische Vorstellungen, den Zugang zu Ahnen, himmlischen Geistern und Göttern koppelt.28 Dennoch finden sich auch bei Weber Übertreibungen, die der Sache nicht förderlich sind. Dazu gehört insbesondere seine Neigung, die Veralltäglichung des Charisma als „Versachlichung“ zu verstehen und diese nicht als Objektivierung, sondern als Entpersönlichung zu deuten. Bezieht man das magische Charisma auf die Ontologien des Animismus und des Analogismus, dann muss man davon Abstand nehmen. Solange der Animismus dominiert, ist vielmehr mit einer Kombination von persönlichen und unpersönlichen Momenten zu rechnen, während der Analogismus sogar eine „Flut von Singularitäten“ erzeugt (Descola 2013, S. 339), zugleich aber auch die Möglichkeit eröffnet, institutionelle Gebilde in Analogie zu persönlichen Wesen zu denken. Die katholische Kirche etwa wird in einem häufig verwendeten Bild als Person bzw. als Teil einer Person gedacht, nämlich als „Leib in Christo“ (Römer 12, 5).

Übertrieben erscheint auch, wie Weber das Veralltäglichungskonzept auf die Entstehung des Staates bezog. Obwohl ihm dafür mit der Unterscheidung von magischem und politischem Charisma sowie der entsprechenden Rollen von Zauberer/Schamane und Kriegshäuptling ein breites Spektrum von Deutungsmöglichkeiten zur Verfügung stand, entschied er sich meist dafür, vor allem die zweite Seite dieses Duals zu akzentuieren. „Der typische Keim derjenigen Vergesellschaftung, welche wir heute ‚Staat‘ nennen, liegt in freien Gelegenheitsvergesellschaftungen von Beutelustigen zu einem Kriegszug unter selbstgewähltem Führer einerseits, in der Gelegenheitsvergesellschaftung der Bedrohten zur Abwehr anderseits. Es fehlt völlig das Zweckvermögen und die Dauer. Ist der Beutezug oder die Abwehr gelungen (oder: mißlungen) und die Beute verteilt, so hört die Vergesellschaftung zu bestehen auf. Von da bis zur Dauervergesellschaftung der Kriegerschaft mit systematischer Besteuerung der Frauen, Waffenlosen, Unterworfenen und weiter zur Usurpierung richterlichen und verwaltenden Gesellschaftshandelns führt in lückenlosen Uebergängen ein weiter Weg“ (Weber 1973, S. 451).

Das historische Anschauungsmaterial hierfür entnahm Weber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der mediterranen und germanischen Frühgeschichte, mit der er über seine agrarhistorischen Arbeiten bestens vertraut war. Mykenische Burgenkönigtümer, römische Adelspolis, germanische principes oder feudaler Flächenstaat des Mittelalters – in all diesen Fällen sah Weber Abwandlungen des in Kriegs-, Raub- und Eroberungszügen sich bewährenden charismatischen Gefolgschaftswesens, das sich je nach den Machtverhältnissen zum monokratischen Kriegsfürstentum oder Königtum entwickeln oder eine mehr aristokratisch-oligarchische Form annehmen konnte.29 Auch wenn sich dies auf den ersten Blick wie eine Bestätigung der These einer ‚kriegszentrierten‘ Betrachtungsweise Max Webers lesen mag:30 Für Weber war nicht der Krieg als solcher oder die Unterwerfung eines Stammes unter einen anderen „der entscheidende[n] Schritt, an welchen man zweckmäßiger Weise den Begriff Königtum und Staat anknüpft“, sondern die Manifestation des ‚militärischen Charisma‘, das auf diese Weise zur Grundlage eines „weltlichen […] Führertums“ wurde (Weber 2005, S. 515, 535, 736, Hervorhebung d. Verf.).

Auch diese Gedankenkette ist jedoch nur begrenzt tragfähig. Was ihren Ausgangspunkt angeht: die Unterscheidung zwischen ‚magischem‘ und ‚politischem Charisma‘, so hat die Forschung seither vielfältige Belege für die Relevanz dualer Muster und die von Weber postulierte Asymmetrie beider erbracht. Die neoevolutionistische wie die strukturale Anthropologie haben nachgewiesen, dass egalitäre wie transegalitäre Verbände nicht nur durch verwandtschaftliche Beziehungen reguliert wurden, sondern auch durch „nonkinship moieties“ (White 1959, S. 159), die vielerorts höchst unterschiedliche Aufgaben wie die Regelung der Heiraten oder des wirtschaftlichen und rituellen Austauschs erfüllten und zuweilen auch mit einer Zweiteilung der Macht zwischen einem zivilen und einem militärischen Leiter verbunden waren.31 In Teotihuacan, bei den Maya und bei den Azteken verwandelten sich die Hälften in „political moieties“, in Verbände, in denen der „external leader“ politisch die Vorherrschaft gewann und seine Position erblich wurde, was zugleich mit einem Übergang zu staatlichen Organisationsformen verbunden war.32 Noch einen Schritt weiter in dieser Richtung hat das bronzezeitliche Europa getan, von dem es heißt, „dass Kriegertum die einzige Form der Herrschaftslegitimation der Elite ist, für die der archäologische Befund […] deutliche Hinweise bietet“ (Ruppenstein 2012, S. 52). Im Spanien der El Argar-Kultur, im Sardinien der Nuraghen-Kultur und auf dem griechischen Festland der frühmykenischen Kultur hat man es mit aristokratischen Eliten zu tun, die wenig Bereitschaft zeigten, in die architektonische Gestaltung heiliger Bezirke zu investieren, und sich stattdessen in permanenten kriegerischen Auseinandersetzungen und Fehden ergingen.33

Weber hat hier also Zusammenhänge gesehen, die sich nicht bestreiten lassen. Dessen ungeachtet ist jedoch festzuhalten, dass er es versäumt hat, mit gleicher Aufmerksamkeit dem anderen Strang nachzugehen, der sich aus seinen Überlegungen ergibt: der Institutionalisierung bzw. Veralltäglichung des magischen Charisma. Um dieses Manko auszugleichen, habe ich mich in früheren Arbeiten auf weite Strecken mit den Deutungsangeboten beholfen, die die in den 70er-Jahren von Jonathan Friedman und anderen entwickelte „epigenetische Theorie der Zivilisation“ bereitstellte:34 eine Konzeption, an der ich auch heute noch bewundere, wie dicht in ihr anthropologische und archäologische Fakten mit langfristig angelegten Prozessanalysen verwoben sind, an der mich inzwischen aber auch manches stärker stört als bei der ersten Rezeption. Das betrifft nicht so sehr die von der Kritik monierte unzureichende Berücksichtigung von Weltbildfaktoren bzw., genau umgekehrt, deren Überschätzung zulasten des Zwangs,35 als vielmehr die aus dem Marxismus übernommene Fixierung auf Produktionsverhältnisse; das funktionalistische Weber-Verständnis; die Annahme, „daß die Welt niemals mit Teilen beginnt, die sich irgendwie zu größeren Gesamtheiten fügen“, vielmehr im Gegenteil „die Gesamtheiten oder Strukturen bereits den Teilen inhärent sind und die Teile keine autonome Existenz haben können“ (Ekholm Friedman/Friedman 2008, S. 10); den damit verbundenen holistischen Anspruch, “,total‘ systems of social reproduction“ erfassen zu wollen, und die entsprechende Überschätzung der Kohäsion des „Ganzen“ und der Interdependenz seiner Teile; schließlich die Tendenz, das von Wallerstein und anderen entwickelte Konzept des „Weltsystems“ mit seiner Gliederung in Zentrum und Peripherie historisch immer weiter zurückzuverlagern, bis in die Frühdynastische Periode in Mesopotamien und das Alte Reich in Ägypten.36 Dies alles sind Hypotheken, mit denen sich ein an Max Weber orientierter Analyserahmen besser nicht belasten sollte.

Davon unberührt bleibt freilich die Auflösungs- und Trennschärfe der von der epigenetischen Zivilisationstheorie bereitgestellten Entwicklungskonstruktion, die zahlreichen Untersuchungen zur Grundlage gedient hat.37 Grundlegend hierfür war zunächst Friedmans Re-Interpretation von Edmund Leachs klassischer Studie über die politischen Systeme im Hochland von Burma, die am Beispiel der Kachin demonstrierte, wie aus egalitär strukturierten Gemeinschaften eine „Rang-Gesellschaft“ werden kann.38 Als entscheidend erschien dabei der Umstand, dass unter den Bedingungen eines, mit Descola zu reden, animistischen Weltbildes, das die segmentäre Struktur in die Welt der Ahnen-Geister verlängerte, jeder Erfolg in der Produktion und insbesondere jede Steigerung des Mehrprodukts als Indiz für die besondere Nähe des betreffenden Haushalts bzw. einer Lineage zu den ältesten und eo ipso höchsten Ahnen-Geistern gedeutet und dadurch zur Quelle von Prestige bzw. Charisma wurde. Die Bewährung dieses Charisma erfolgte in der Regel durch „feasting“, d.h. durch Distribution des Mehrprodukts unter die übrigen Lineages.39 Darüber hinaus manifestierte es sich in einer Steigerung des Brautpreises für die Töchter der dominanten Lineage, was zu einer weiteren Verstärkung der Rangdifferenzierung führte. Am Ende dieses Prozesses stand die Identifikation der dominanten Lineage und ihres Oberhauptes mit den höchsten Ahnen-Geistern/Göttern und eine Umdeutung der bis dahin relativen Rangordnung in eine absolute, in der alle kollateralen Filiationslinien, aber auch alle Individuen, nach der Reihenfolge der Geburt des jeweiligen Familiengründers und nach der segmentären Distanz zur Hauptabstammungslinie abgestuft waren: der aus der Anthropologie seit Kirchhoff wohlbekannte „konische Klan“.40 Die älteste Lineage stellte fortan nicht nur den Häuptling, sie wurde zugleich zur Vermittlungsinstanz zwischen den Göttern und den übrigen Lineages, wodurch sie zum Empfänger von Tributen und Arbeitsleistungen wurde, die zuvor den Ahnen und Göttern der einzelnen Lineages geopfert worden waren. „Durch diese Monopolisierung der imaginären Produktionsbedingungen wird der Häuptling in die Lage versetzt, einen beträchtlichen Teil der Gesamtarbeit der Gemeinschaft zu kontrollieren. Dies ist ein neues vertikales Produktionsverhältnis zwischen einer Lineage und der Gemeinschaft als Ganzer, das sich direkt aus der vorangegangenen Struktur ergibt. Der konische Klan kann daher nicht als eine besondere Institution angesehen werden, er ist vielmehr die Form einer im Entstehen begriffenen Stammesgesellschaft“ (Friedman 1975, S. 211).

Damit war eine Dynamik in Gang gesetzt, deren weiterer Ausgang freilich maßgeblich durch Umweltbedingungen beeinflusst wurde. Dort wo, wie etwa bei den Chin und Naga, der territorialen Expansion teils wegen der ungünstigeren Produktionsbedingungen, teils wegen der Existenz der benachbarten Shan-Staaten, enge Grenzen gesetzt waren, schlug die Dynamik des Tribalsystems in eine Devolution um, die unter Umständen bis zu völliger Fragmentierung führen konnte (Friedman 1998, S. 242ff.; ders. 1975, S. 192f.). Wo dagegen die ökologischen Bedingungen eine Steigerung der Surplusproduktion erlaubten, wie bei denjenigen Gruppen, die die gebirgigen Regionen von Oberburma verließen und sich in Assam ansiedelten, konnte die Zentralinstanz ihre Stellung ausbauen, indem sie ihren Stab und ihr Territorium vergrößerte, vor allem aber die potentiellen Träger der gumlao-Revolten, die adligen Lineages, durch verwandtschaftliche Bindungen und Zuweisung von Herrschaftspositionen im Zentrum domestizierte. Resultat dieser Entwicklung war der sogenannte „asiatische Staat“ bzw. „konische Klanstaat“, in dem der Häuptling zum König wurde und nach und nach alle Rituale der Gemeinschaft an sich zog, bis er am Ende allein den Zugang zur Welt des Übernatürlichen kontrollierte, sodass nur über ihn eine Kommunikation mit den unsichtbaren Kräften möglich war, die als Garanten der Fruchtbarkeit und des Wohlergehens fungierten. Nach Ansicht Friedmans ist dies der Weg, der für die Staatsbildung nicht nur in Südostasien, sondern auch in China sowie anderen Teilen der Welt bestimmend geworden ist (Friedman 1998, S. 274ff.).

Zur Charakterisierung der Herrschaftsstruktur des konischen Klanstaates verwendet Friedman gelegentlich den ebenso altehrwürdigen wie vieldeutigen Begriff der „Theokratie“ (ebd., S. 347f.; Friedman und Rowlands 1977, S. 227). Da dieser auch bei Max Weber vorkommt, dort allerdings in einem deutlich engeren Sinne, sind zur Vermeidung von Missverständnissen einige Erläuterungen erforderlich. Für Weber verkörpert die Theokratie eine gesteigerte Form der Hierokratie – diese Letztere nicht nur verstanden im Sinne des hierokratischen Verbandes, sondern in dem der Herrschaft einer besonderen Personengruppe, die „auf den regelmäßigen, an bestimmte Normen, Orte und Zeiten gebundenen und auf bestimmte Verbände bezogenen Kultusbetrieb“ eingestellt ist: der Priesterschaft (Weber 2001, S. 159). Hierokratie sans phrase liegt vor, wenn die Priesterschaft einen nicht aus ihren Reihen stammenden „weltlichen Herrscher“ legitimiert, indem sie ihn entweder als „Inkarnation“ der höchsten Gottheit beglaubigt oder seiner Herrschaft attestiert, „gottgewollt“ zu sein bzw. „magische Qualität“ zu besitzen, welche wiederum von ihr „durch eine bestimmte Art von Hierurgie, Salbung, Händeauflegung oder andere sakramentale Akte“ übertragen wird. Im Falle der Theokratie dagegen steigert sich die „Verfügungsgewalt über die Krone, welche damit in die Hände der Priesterschaft gelegt ist, […] bis zu einem förmlichen Priesterkönigtum […], bei welchem der Chef der geistlichen Hierarchie als solcher auch die weltliche Gewalt ausübt, […] also als Priester auch die Königsfunktionen“ versieht.41 Gemeinsames Begriffsmerkmal von Hierokratie und Theokratie ist hier das Vorhandensein eines Stabes von Personen, der sich berufsmäßig und organisiert mit Kultus und Seelsorge, der Spendung oder Versagung von Heilsgütern befasst – eine Bedingung, die historisch ebenso voraussetzungsvoll ist wie die Ausdifferenzierung administrativer, militärischer oder polizeilicher Erzwingungsstäbe.

Für die meisten der in diesem Buch behandelten Fälle gilt jedoch eine andere Einsicht Webers: dass es Kultus auch „ohne gesondertes Priestertum“ gibt (Weber 2001, S. 159), getragen und unterhalten von Ältesten, moieties, Häuptlingen oder, bei vollzogener conicization des Verbandes, Herrschern, die gegenüber den Gemeinden die Götter verkörpern oder repräsentieren (Friedman 1998, S. 278). Es besteht kein Grund, nicht auch in diesem Fall von Theokratie zu sprechen. Will man diesen erweiterten Sinn gegenüber dem von Weber favorisierten engeren Sinn einer unmittelbar von Priestern/Geistlichen ausgeübten politischen Herrschaft auch terminologisch genauer fassen, bietet es sich an, in Anlehnung an einen Vorschlag von Bernhard Lang von „charismatischer Theokratie“ zu sprechen, die für das Stadium zwischen egalitären Gesellschaften und Staaten „mit ausgeprägter zentraler, militärisch gestützter Macht“ typisch ist, in welchem die sich bildende herrschende Schicht sich magisch-religiös legitimiert.42 Eine weitere Präzisierung findet sich bei Jan Assmann, der den Theokratiebegriff mit Carl Schmitts Unterscheidung von Identität und Repräsentation als grundlegenden politischen Formbegriffen kombiniert hat. Als „identitäre Theokratie“ hätte danach eine hierokratische Ordnung zu gelten, bei der der Herrscher als lebende Inkarnation Gottes vorgestellt wird, als „repräsentative Theokratie“ eine solche, in der er als Stellvertreter Gottes firmiert.43 Auf weitere Abgrenzungen, insbesondere zu Frazers Begriff des „göttlichen Königtums“, wird bei Gelegenheit zurückzukommen sein.

Seine Überlegungen zur Transformation tribaler Ordnungen hat Friedman in Zusammenarbeit mit M. J. Rowlands zu einem umfassenden multilinearen Modell der Evolution von Staat und Zivilisation erweitert. Die weitere Steigerung der Produktion und die Akquisition von Prestigegütern führten danach zu einer neuen Form von Herrschaft, die nicht mehr auf der genealogischen Nähe der Verbandsspitze zu den Göttern beruhte, sondern auf der Monopolisierung von Gütern, die für die Reproduktion – z.B. für Rituale, Brautpreiszahlungen, Begräbnisse etc. – unentbehrlich waren: zu sogenannten Prestigegüter-Systemen, bzw., wie ein anderer Begriff lautet: „dualistischen Staaten“. Verbände dieser Art erstreckten sich über ein größeres Areal als die „asiatischen Staaten“, verfügten über eine komplexere Arbeitsteilung, über Subzentren, die auf die Produktion bestimmter Prestigegüter spezialisiert waren, und über ein interlokales Austauschnetz, in dem die Peripherie anstatt nur als Quelle von Arbeits- und Naturairenten auch als Abnehmer von Produkten aus dem Zentrum fungierte (Friedman/Rowlands 1977, S. 224ff.). Dualistisch waren sie, weil der gesellschaftliche Rang nicht mehr ausschließlich durch die Beziehung zum patrilinear strukturierten Königshaus definiert wurde, sondern eine matrilineare Komponente erhielt, unter anderem durch die Intensivierung des matrimonialen Austauschs zwischen Zentrum und Peripherie. Aus diesem Austausch, so die These, resultierten matrilineare Bindungen zwischen königlichen Söhnen und den Herkunftsgebieten ihrer Mütter sowie eine Gliederung der Ersteren nach dem Rang der Letzteren, sodass die Spitzen der Hierarchie zusehends bilinear determiniert wurden. Dem entsprach eine Differenzierung zwischen Erd- und Himmelsgöttern und männlichen und weiblichen Prinzipien, und auch der theokratische Apparat spaltete sich in zwei Hälften, von denen eine die höchste rituelle Macht verkörperte, während die andere sich auf die säkularen Aufgaben konzentrierte und daraus wachsende Macht gewann (ebd., S. 227).

Der weitere Fortgang dieser Entwicklung gehört nur noch begrenzt zu dem hier interessierenden Zusammenhang und braucht deshalb nur stichwortartig skizziert zu werden. Im gleichen Maße, in dem sich das Zentrum nicht mehr darauf verlassen konnte, dass sein Platz an der Spitze der Hierarchie allein durch seine rituelle Präeminenz gesichert war, musste es alle Anstrengungen darauf richten, die Zirkulation und Produktion der Prestigegüter zu kontrollieren, um dadurch die Eliten des Systems an sich zu binden. Zu diesem Zweck wurden in unmittelbarer Nähe des Zentrums gewerbliche Produktionsstätten, Magazine und Stapelplätze errichtet und Handwerker aus allen Teilen des beherrschten Gebiets rekrutiert. Um die Zufuhr unentbehrlicher Rohmaterialien zu sichern, wurde der Außenhandel verstärkt; Handelsniederlassungen und Kolonien wurden gegründet, Sklavenjagden und Expeditionen an der Peripherie veranstaltet. Das Bestreben, die Handels- und Nachschubrouten innerhalb eines größeren Areals zu kontrollieren, führte zu kriegerischen Verwicklungen und zu einem Machtgewinn der mit den militärischen Operationen betrauten Heerführer (ebd., S. 227f.). Um den permanenten Kämpfen zu entgehen, konzentrierte sich die Bevölkerung in den zeremoniellen Zentren, die nunmehr durch Verteidigungsanlagen geschützt wurden. Zwar war der so entstehende „urban territorial state“ bzw. „urban dominated territorial state“ noch in Sektoren gegliedert, die der Anzahl der wichtigsten Lineages entsprachen, doch verloren diese nach und nach die Kontrolle über die Ökonomie.44 Reichtum wurde mehr und mehr individuell akkumuliert, privates Eigentum an Land und Arbeitskräften bildete sich, eine Klasse von wohlhabenden Individuen rückte an die Spitze der Gesellschaft, während gleichzeitig die Zahl der Arbeiter ohne Zugang zu eigenem Land wuchs. Die Fusionierung von Staat, Religion und Ökonomie löste sich auf, die Ökonomie verselbstständigte sich zu einer eigengesetzlichen Sphäre, während Politik und Religion zu ‚Überbauten‘ wurden, die sich von außen auf die Produktionsverhältnisse bezogen. Die Monopolisierung der imaginären Produktionsbedingungen implizierte nicht länger eine direkte Kontrolle über die Arbeitskräfte, sondern nur noch ein Recht auf einen Anteil am Mehrprodukt. Die Macht des Herrschers beruhte nicht mehr auf seiner Nähe zu den Göttern, auch wenn er seine Position weiterhin mit dieser legitimierte, sondern auf seiner ökonomischen Potenz, seinem überproportional großen Anteil an Land und Sklaven. Seine Macht war eine Funktion seines Reichtums. Wo dieser nicht groß genug war, um seinen Anspruch zu realisieren, sank er zum bloßen primus inter pares herab (ebd., S. 236ff.).

An diesem Konzept hat Friedman auch nach seiner späteren Hinwendung zu einer „global anthropology“ festgehalten,45 und so soll es auch hier geschehen, allerdings mit einer Modifikation und zwei Präzisierungen. Die Modifikation betrifft eine Idee, die Friedman selbst schon 1975 eher beiläufig entwickelt, in dem mit Rowlands verfassten Aufsatz aber zunächst nicht weiter verfolgt hatte. Danach sollte es für Stammesverbände nicht bloß die Alternative Evolution oder Devolution geben, sondern auch noch zwei alternative Wege der Evolution. Hierarchisierungsprozesse könnten sich auch aus der horizontalen Struktur heraus entwickeln, nämlich dann, wenn es einzelnen Personen oder Gruppen gelinge, privilegierten Zugang zu Formen des Reichtums zu gewinnen, die nicht von den lokalen Verwandtschaftseinheiten produziert werden könnten, weil dazu die nötigen Ressourcen fehlten. Während in tribalen „rank societies“ die Ergebnisse des Arbeitsprozesses in Prestige konvertiert würden, dessen ungleiche Verteilung Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse erzeuge, begründe im tribalen Prestigegüter-System der Zugriff auf externe, über den Handel akquirierte Prestigegüter Machtpositionen, die von der genealogisch vermittelten Ranghierarchie unabhängig seien. Die Zirkulation solcher Güter, schreibt Friedman sinngemäß, wird in diesem Fall zu einem Mittel zur Kontrolle von Arbeit und dominiert alle anderen ökonomischen Prozesse, sodass die rituelle Macht, die aus der vertikalen Struktur, dem Verhältnis zum Übernatürlichen, entspringt, von derjenigen Macht konterkariert wird, die sich direkt aus dem Besitz der Prestigegüter ergibt. Die Ahnen als die Garanten von Wohlstand und Fruchtbarkeit, sind nicht länger im Himmel situiert, sie werden als historische Persönlichkeiten aufgefasst, die von außerhalb kommen, Heiratsbeziehungen mit den Einheimischen eingehen und Herrschaftsfunktionen besetzen. Dies, fährt Friedman fort, sei ein verbreitetes Phänomen in vielen Teilen Indonesiens, Ozeaniens und Afrikas, wo die Ökonomie durch die Akkumulation von Prestigegütern geprägt sei.46 Der hier angedeutete Gedanke, dass die Verfügung über Prestigegüter schon in tribalen bzw. „transegalitären“ Verbänden wesentlich zur Steigerung und Verstetigung der sozialen Ungleichheit beiträgt und dabei nicht notwendig an Deszendenzgruppen wie Lineages und Klans gebunden ist, vielmehr auch einzelne Akteure zum Subjekt haben kann – aggrandizers in der englischsprachigen Forschung –, die Netzwerke, Faktionen und Gefolgschaften bilden und/oder sich in korporativer Form zusammenschließen, ist in der Folgezeit von verschiedenen Theorien mittlerer Reichweite elaboriert worden.47

Präzisierungsbedarf besteht zunächst hinsichtlich der Rolle der natürlichen Umwelt. Ökologische Faktoren kommen in der epigenetischen Zivilisationstheorie nur als ermöglichende oder restringierende Einflüsse in den Blick, nicht aber als Determinanten im Sinne eines ökologischen Materialismus, wie gegen die Einwände von Luc de Heusch festzuhalten ist.48 Gleichwohl werden sie insofern zu eng gefasst, als sie nur auf den Produktionsprozess bezogen werden. Für die soziopolitische Entwicklung ist jedoch nicht nur das Ressourcenpotenzial eines Gebietes relevant, sondern auch seine Abgrenzung durch Naturbedingungen. Robert Carneiro hat in einem bleibend wichtigen Beitrag zu dieser Thematik darauf aufmerksam gemacht, dass sich Staaten vor allem in solchen Regionen gebildet haben, die sowohl über ein hinreichendes Maß an Ackerland verfügten, als auch nach außen deutlich abgegrenzt waren, durch Berge, Meere oder Wüsten, die Exit-Optionen verhinderten. Wo immer diese Abgrenzung fehlte, in den Wäldern Nordamerikas oder den Weiten Ozeaniens, lösten Konflikte, die mit einem gewissen Dichtegrad der Bevölkerung auftraten, Abspaltungen oder Abwanderungen aus, während sie dort, wo natürliche Grenzen dies verhinderten oder erschwerten, eine vertikale Staffelung begünstigten.49 Auch wenn diese Theorie die internen Faktoren des Wandels auf Bevölkerungswachstum und Krieg reduziert und darin unterkomplex bleibt, mindert dies doch nicht die Relevanz der von ihr herausgearbeiteten Umweltbedingungen. Michael Mann hat diesen Gedanken zum Konzept des caging weiterentwickelt und am Beispiel von Mesopotamien verdeutlicht, welche Erklärungskraft ihm zukommt (Mann 1990, S. 127ff.).

Präzisiert werden müssen indes auch die Kriterien, an denen der Übergang zum Staat empirisch festzumachen ist. Wenig aussagekräftig ist etwa der Hinweis von Friedman und Rowlands auf die Zunahme der lokalen Bevölkerung, zählten doch zahlreiche Stämme in Nordamerika zwischen 4000 und 13.000 Mitglieder, etliche, wie die Creek, Cherokee oder Huronen, sogar noch weit mehr. Schätzungen für die Hispanolia Arawak gehen sogar über 100.000 hinaus, ein Vielfaches dessen, was für „konische Klanstaaten“ angepeilt wird.50 ‚Fortgeschrittene handwerkliche Spezialisierung rund um das Zentrum‘ findet sich ebenfalls bereits in Häuptlingstümern, desgleichen ein zweistufiges Siedlungsmuster, bei dem große Zentren von kleinen Dörfern oder Weilern umgeben sind.51 Zwei- und sogar dreistufige Siedlungsmuster korrelieren darüber hinaus mit Verbandsformen, in denen die Macht des Häuptlings kaum über den eigenen Haushalt hinausreicht.52 Ein weiteres Kriterium, an dem der Übergang zum Staat häufig festgemacht wird – das Vorhandensein von Monumentalarchitektur –, ist hinsichtlich des Unterschieds zum Häuptlingstum ebenfalls indifferent.53 Die Hügelplattformen von Cahokia, des größten Zentrums der Mississippi-Kultur, das heute überwiegend als Häuptlingstum und allenfalls als „Theater-Staat“ eingestuft wird, waren mit einem Volumen von über 1 Million m3 nur unwesentlich kleiner als die Pyramiden im Moche-Tal, die von einem allgemein als Staat gedeuteten Verband errichtet wurden.54 Die Megalithkonstruktionen von Ponape in Mikronesien waren mit 600.000 m3 sogar größer als die rund 400.000 m3 große Huaca La Florida in Peru oder die 300.000 m3 große Pyramide von La Venta an der mexikanischen Golfküste, die weiter unten als zeremonielle Mittelpunkte eines konischen Klanstaats interpretiert werden.55

Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass der Idealtypus bei Weber nicht nur als „monadologische, absolut vereinzelte Struktur“ vorkommt56, sondern auch als „idealtypische Entwicklungskonstruktion“, die mit einer „Reihenfolge von Typen“ operiert, wie sie beispielsweise in der Einleitung zu den Agrarverhältnissen im Altertum skizziert sind.57 Für eine solche idealtypische Entwicklungskonstruktion aber liegt der eigentliche Test nicht im Raum, sondern in der Zeit. Hält man sich an die gut untersuchten Häuptlingstümer der Mississippi-Kultur, so fallen zwei Prozesse ins Auge, an denen sich die Differenz gegenüber staatlichen Verbänden festmachen lässt. Der eine betrifft die Kultorganisation, die sich durch die Kopräsenz von exklusiven und inklusiven Kulten auszeichnet und à la longue eine Tendenz zur Rücknahme der Ersteren in die Letzteren erkennen lässt. Die Mississippi-Religion kannte neben einem um den Häuptling und seine Verwandtschaft organisierten warfare/cosmogony complex und einem von Priestern getragenen Ahnenkult einen nicht-exklusiven, ‚kommunalen‘ Kult, der hauptsächlich auf den Tempelplattformen stattfand und in periodischen Gemeinschaftsriten bestand, was darauf hindeutet, dass die Gemeinde nach wie vor einen eigenen Zugang zu den übernatürlichen (bzw. so wahrgenommenen) Quellen von Fruchtbarkeit und Wohlstand besaß und diesen auch erfolgreich zu behaupten verstand. In chronologischer Perspektive indizieren die archäologischen und ethnohistorischen Daten darüber hinaus, dass ein substanzieller Teil jener Heilsmittel, die während der frühen und mittleren Mississippi-Kultur unter exklusiver Kontrolle des Häuptlings standen, später in bestimmter Hinsicht wieder vergemeinschaftet wurden, und das, wie es scheint, noch vor Beginn des Kontakts mit den Europäern.58

Der zweite Prozess resultiert aus dem oft bemerkten Umstand, dass Häuptlingstümer aufgrund ihrer inhärenten Statusrivalität und ihres segmentären Aufbaus ständig von Abspaltungen bedroht und deshalb meist nur von kurzer Dauer sind.59 Ob es sich dabei um genuine „fission-fusioh“-Prozesse handelt (Blitz) oder um einen Vorgang, bei dem einfache Häuptlingstümer sich in komplexe verwandeln und anschließend wieder in einfache auflösen (Anderson), sicher ist, dass selbst die eindrucksvollsten Verbände der Mississippi-Kultur über eine durchschnittliche Lebensdauer von maximal 50 bis 150 Jahren verfügten.60 Auch in anderen Regionen war Instabilität ein wesentliches Merkmal, das Häuptlingstümer von Staaten trennte. In Ecuador waren die Häuptlingstümer des Hochlands ebenso ephemere und episodische Gebilde wie diejenigen der Küstenregion; in Amazonien war Zyklizität die Regel, mit wechselnden Perioden der Zentralisation und Dezentralisation, wie dies von Sahlins bis zu Marcus und Flannery immer wieder als Eigenart solcher Verbände herausgestellt worden ist.61 Die Induskultur wird heute weniger als eine Parallelerscheinung zur Entwicklung in Ägypten, Mesopotamien oder China gesehen und mehr als ein Ensemble von Häuptlingstümern, das sich zwar über ein riesiges Areal ausdehnte und über hoch entwickelte Austauschsysteme verfügte, deren Stätten jedoch keine herausgehobene Herrschafts- und Religionsarchitektur besaßen und darüber hinaus so starken Fluktuationen in der Besiedlung unterlagen, dass dafür der Begriff des „nonstate type of complexity“ vorgeschlagen wurde.62 Derartige Wechsellagen sind sicher auch bei Staaten zu beobachten,63 doch sind die Dekompositionsprodukte auf dieser Ebene meistens wieder Staaten, wenn auch in der Regel kleinere. Davon abgesehen gelten für Verbände, die auf einer Monopolisierung der politischen und hierokratischen Zwangsmittel beruhen, ganz andere zeitliche Dimensionen. Der Norte-Chico-Komplex in Peru beispielsweise weist eine kulturelle Kontinuität von 13 Jahrhunderten auf, die von verschiedenen Verbänden des Hochlands sogar noch um einige Jahrhunderte übertroffen wird.64 Der Staat ist gewiss: Herrschaft im Raum, über ein angebbares Gebiet und die darauflebenden Menschen. Wenn man jedoch wissen will, ob es sich bei einer bestimmten Gebietsherrschaft um einen Staat handelt und nicht bloß um einen politischen Verband, kommt man ohne die longue durée, und damit: die Dimension der Zeit, nicht aus. Darin liegt nach wie vor die Berechtigung und Unentbehrlichkeit einer „prozessualen Archäologie“.

1 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V, Frankfurt am Main 1982, S. 1034.

2 Ich nehme hier dankbar die Blütenlese auf, die Andreas Anter zusammengestellt hat (Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, Berlin 1995, S. 165). Dort auch nähere bibliografische Hinweise.

3 Weber 1976, S. 30. Wie sehr Webers Begriffsbildung hinsichtlich des Staates von der zeitgenössischen Jurisprudenz beeinflusst ist, zeigt Siegfried Hermes: Staatsbildung durch Rechtsbildung: Überlegungen zu Max Webers soziologischer Verbandstheorie, in: Andreas Anter und Stefan Breuer (Hrsg.): Max Webers Staatssoziologie, Baden-Baden 2007, S. 81–101.

4 Carl Schmitt: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 384.

5 Das dokumentieren die einschlägigen Buch- und Aufsatztitel, über die man sich weiter unten in Fußnoten und Literaturhinweisen informieren kann.

6 Vgl. Henri J. M. Claessen und Peter Skalnik: The Early State, The Hague etc. 1978; Henri J. M. Claessen (Hrsg.): Early State Dynamics, Leiden etc. 1987; ders. und Pieter van de Velde (Hrsg.): Early State Economics, New Brunswick etc. 1991; ders. und Jarich G. Oosten (Hrsg.): Ideology and the Formation of Early States, Leiden etc. 1996. Der Begriff des archaischen Staates begegnet u.a. bei John Gledhill und Mogens Larsen: The Polanyi Paradigm and a Dynamic Analysis of Archaic States, in: Renfrew u.a. 1982, S. 197–229; Allen W. Johnson und Timothy Earle: The Evolution of Human Societies. From Foraging Group to Agrarian State, Stanford 1987, S. 246ff.; Feinman/Marcus 1998; Robert McC. Adams: Complexity in Archaic States, in: JAA 20, 2001, S. 345–360; Norman Yoffee: Myths of the Archaic State. Evolution of the Earliest Cities, States, and Civilizations, Cambridge 2005; William A. Parkinson und Michael L. Galaty (Hrsg.) 2009: Archaic State Interaction. The Eastern Mediterranean in the Bronze Age, Santa Fe 2009.

7 Vgl. etwa Roman Herzog: Staaten der Frühzeit. Ursprünge und Herrschaftsformen, München 1988.

8 Julian H. Steward: Theory of Culture Change. The Methodology of Multilinear Evolution, Urbana etc. 19794, S. 55.

9 Vgl. Marshall D. Sahlins: Tribesmen, Englewood Cliffs 1968, S. 6f.; Fried 1967, S. 227ff.

10 Joyce Marcus und Gary Feinman: Introduction, in: Feinman/Marcus 1998, S. 4.

11 Kent V. Flannery: The Ground Plans of Archaic States, in: Feinman/Marcus 1998, S. 15–58, 17.

12 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaften, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen i. Z. m. Michael Meyer. MWG Bd. I/22–1, Tübingen 2001, S. 204.

13 Vgl. James Anderson und Liam O’Dowd: Borders, Border Regions, and Territoriality: Contradicting Meaning, Changing Significance, in: Regional Studies 33, 1999, S. 593–604; Charles Golden und Andrew K. Scherer: Territory, Trust, Growth, and Collapse in Classic Period Maya Kingdoms, in: CA 54, 2013, S. 397–435.

14 „Keine Wirtschaftsethik“, heißt es in der Chinastudie, „ist jemals nur religiös determiniert gewesen. Sie besitzt selbstverständlich ein im höchsten Maß durch wirtschaftsgeographische und geschichtliche Gegebenheiten bestimmtes Maß von reiner Eigengesetzlichkeit gegenüber allen durch religiöse oder andere (in diesem Sinn:) ‚innerliche‘ Momente bedingten Einstellungen des Menschen zur Welt. Aber allerdings: Zu den Determinanten der Wirtschaftsethik gehört als eine – wohlgemerkt: nur eine – auch die religiöse Bestimmtheit der Lebensführung. Diese selbst aber ist natürlich wiederum innerhalb gegebener geographischer, politischer, sozialer, nationaler Grenzen durch ökonomische und politische Momente tief beeinflußt“ (Weber 1989, S. 85f.). Zur Rolle dieser, wie es an anderer Stelle heißt, „äußeren Bedingungen“ im Werk Max Webers vgl. Hubert Treiber: ‚Wahlverwandtschaften‘ zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie, in: Stefan Breuer und Hubert Treiber (Hrsg.): Zur Rechtssoziologie Max Webers, Opladen 1984, S. 6–68, S. 8, 16ff. sowie meine Studie: Stromuferkultur und Küstenkultur. Geographische und ökologische Faktoren in Max Webers ‚ökonomischer Theorie der antiken Staatenwelt‘, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.): Max Webers Sicht des antiken Christentums, Frankfurt am Main 1985, S. 111–150. Zum „spatial turn“ vgl. Wendy Ashmore und Bernard Knapp (Hrsg.): Archaeologies of Landscape: Contemporary Perspectives, Maiden 1999; Adam T. Smith: The Political Landscape. Constellations of Authority in Early Complex Polities, Berkeley etc. 2003; Barney Warf und Santa Arias (Hrsg.): The Spatial Turn: Interdisciplinary Perspectives, London etc. 2009.

15 Vgl. Henry T. Wright: Recent Research on the Origin of the State, in: ARA 6, 1977, S. 379–397, 383. Dort heißt es: „Im Unterschied zu einem entwickelten Häuptlingstum kann ein Staat als ein kulturelles Produkt mit einem zentralisierten Entscheidungsprozeß betrachtet werden, der sowohl äußerlich im Hinblick auf die von ihm regulierten lokalen Prozesse spezialisiert ist, als auch innerlich in dem Sinne, daß der zentrale Prozeß in getrennte Aktivitäten teilbar ist, die an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten ausgeübt werden können.“

16 Robert L. Carneiro: The Chiefdom: Precursor of the State, in: Grant D. Jones und Robert R. Kautz (Hrsg.): The Transition to Statehood in the New World, Cambridge etc. 1981, S. 37–79, 68f.

17 Anders dagegen Stephen K. Sanderson: Social Transformations. A General Theory of Historical Development, Oxford und Cambridge/Mass. 1995, S. 56.

18 Trutz von Trotha: Ordnungsformen der Gewalt oder Aussichten auf das Ende des staatlichen Gewaltmonopols, in: Birgitta Nedelmann (Hrsg.): Politische Institutionen im Wandel. Sonderheft 35 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1995, S. 129–166, 130ff. Trotha hält freilich diese „Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe“ für den Normalfall in der Geschichte, worin ich ihm nicht folgen möchte.

19 Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, Tübingen 19922, S. 258f.

20 Vgl. in Auswahl: Eisenstadt 19672; John H. Kautsky: The Politics of Aristocratic Empires, Chapel Hill 1982; Michael W. Doyle: Empires, Ithaca 1986; Mann 1990; 1991; Carlo M. Sinopoli: The Archaeology of Empires, in: ARA 23, 1994, S. 159–180; Samuel E. Finer: The History of Government from the Earliest Times. Bd. 1: Ancient Monarchies and Empires, Oxford etc. 1997; Susan E. Alcock u.a. (Hrsg.): Empires. Perspectives from Archaeology and History, Cambridge etc. 2001; Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005; Michael E. Smith und Katharina J. Schreiber: New World States and Empires: Economic and Social Organization, in: JAR 13, 2005, S. 189–229; dies.: New World States and Empires: Politics, Religion, and Urbanism, in: JAR 14, 2006, S. 1–52; Ulrich Leitner: Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems, Frankfurt am Main und New York 2011; Jane Burbank und Frederick Cooper: Imperien der Weltgeschichte, Frankfurt am Main und New York 2012.

21 Zum Begriff des ‚religiösen Charisma‘ vgl. Weber 2001, S. 319, 322, 383; zum ‚magischen Charisma‘ vgl. ebd., S. 124, 161, 168, 179, 242, 305, 318, 442. Zur Wandlung des Buddhismus vgl. Weber 1996, S. 369ff.

22 Weber 2001, S. 157. Weil der Magiebegriff zahlreiche unterschiedliche Praktiken von der Weissagung bis zum Liebeszauber abdeckt und im Übrigen selten wertfrei gehandhabt wird, votieren manche dafür, auf ihn zu verzichten: vgl. Bernd-Christian Otto: Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit, Berlin 2011; ders. und Michael Stausberg (Hrsg.): Defining Magic: A Reader, Sheffield etc. 2013; ders.: Towards Historicizing „Magic“ in Antiquity, in: Numen 60, 2013, S. 308–347. Was der Magiebegriff nicht mehr leistet, muss dann allerdings von anderen Begriffen übernommen werden, namentlich dem der Religion in dem weiteren, auch bei Weber anzutreffenden Sinn, der auf Tylors „belief in spiritual beings“ zurückgeht, womit ein wenigstens halbwegs klarer durch einen völlig vagen Begriff ersetzt wird. Zu Webers Magiebegriff, der, contra Otto, durchaus nicht „substanzialistisch“ ist, vgl. Stefan Breuer: Max Webers tragische Soziologie, Lübingen 2006, S. 13ff.

23 Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1981, S. 71f. Vgl. konträr dazu insbesondere Weber 1989, S. 91ff. In dieser Hinsicht (wie übrigens auch in Bezug auf die Hervorhebung des zwingenden Charakters der Magie) berühren sich Webers Auffassungen mit den Darlegungen von James George Frazer: Der Goldene Zweig. Eine Studie über Magie und Religion, 2 Bde., Frankfurt am Main etc. 1977, Bd. 1, S. 65, 74f. Ein wichtiger Unterschied liegt in der von Frazer postulierten strukturellen Analogie von Magie und Wissenschaft (ebd., S. 70), die Weber nicht geteilt hat.

24 Vgl. White 1959, S. 303. Siehe dazu auch Bruce G. Trigger: The State-Church Reconsidered, in: Henderson/Netherly 1993, S. 74–111.

25 Vgl. Michael Winkelman und John R. Baker: Supernatural as Natural. A Biocultural Approach to Religion, Upper Saddle River 2010; Christopher Robert Hallpike: Die Grundlagen primitiven Denkens, Stuttgart 1984; Georg W. Oesterdiekhoff: Die geistige Entwicklung der Menschheit, Weilerswist 2012.

26 Vgl. Descola 2013, S. 197ff., 207. In den letzten Jahren ist eine Renaissance dieses von Tylor eingeführten, dann lange für überwunden geglaubten Konzepts zu beobachten: vgl. Martin D. Stringer: Rethinking Animism: Thoughts from the Infancy of our Discipline, in: JRAI 5, 1999, S. 541–556; Nurit Bird-David: „Animism“ Revisited. Personhood, Environment and Relational Epistemology, in: CA 40, 1999, Suppl., S. 67–91; Tim Ingold: Rethinking the Animate, Reanimating Thought, in: Ethnos 71, 2006, S. 9–20; ferner das Sonderheft des JAMT 15, 2008, Nr. 4: Archaeology, Animism, and Non-Human Agents (Guest Editors: Linda A. Brown and William H. Walker), die Special Section: Animating Archaeology: Of Subjects, Objects and Alternative Ontologies, in: CAJ 19, 2009, H.3 sowie Irene Albers (Hrsg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012 (u.a. mit Beiträgen von Alf Hornborg und Eduardo Viveiros de Castro).

27 Der Naturalismus findet sich ausschließlich im modernen Okzident mit seiner hochgetriebenen funktionalen Differenzierung, während der Totemismus außer bei einigen indianischen Stämmen des Südostens der Vereinigten Staaten nur in Australien vorkommt, dem locus classicus der segmentären bzw. egalitären Gesellschaften (vgl. Descola 2013, S. 222ff., 250ff.). Den Animismus lokalisiert Descola vorwiegend in Amazonien, in Südostasien und Melanesien sowie in den arktischen und zirkumpolaren Zonen, wo ebenfalls segmentäre, aber schon stärker hierarchisierte Muster dominieren (ebd., S. 198, 204, 208); den Analogismus im Europa der Renaissance, im alten China sowie bei den Nahua-Völkern Zentralmexikos z.Zt. der Conquista, die sich sämtlich durch ausgeprägte, bis in die Götterwelt reichende Formen von Stratifikation auszeichnen (ebd., S. 306ff., 339, 401ff.).

28 Vgl. Fried 1967, S. 109; Mary W. Helms: Access to Origins. Affines, Ancestors, and Aristocrats, Austin 1998, S. 97ff., 111, 116, 129 u. ö.

29 Vgl. Max Weber: Agrarverhältnisse im Altertum, in: Weber 2006, S. 362ff.; ders.: Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung, ebd., S. 266ff.

30 So aber Volker Heins: Max Weber zur Einführung, Hamburg 1990, S. 21ff., 59ff.

31 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt am Main 1984, S. 128ff.; ders.: Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1967, S. 21ff., 148ff.

32 Vgl. Marshall Joseph Becker: Moieties in Ancient Mesoamerica: Inferences on Teotihuacán Social Structure, in: American Indian Quarterly 1975, S. 217–236, 315–330; ders.: Kings and Classicism: Political Change in the Maya Lowlands During the Classic Period, in: Arthur G. Miller (Hrsg.): Highland-Lowland Interaction in Mesoamerica: Interdisciplinary Approaches, Washington, D.C. 1983, S. 159–200, 170; Rudolf van Zantwijk: Factional Divisions within the Aztec (Colhua) Royal Family, in: Brumfiel/Fox 1994, S. 103–110, 107; John W. Fox: Conclusions: Moietal Opposition, Segmentation, and Factionalism in New World Political Arenas, ebd., S. 199–206, 201. Auch für die Andenwelt hat man eine derartige Gliederung in „political moieties“ plausibel gemacht und daraus die These einer Art Doppelherrschaft bzw. eines Herrschaftskollegiums abgeleitet, das sich insbesondere für die Inkorporierung neuer Verbände als nützlich erwiesen habe: vgl. Patricia J. Netherly: The Nature of the Andean State, in: Henderson/Netherly 1993, S. 11–35; dies. und Tom Dillehay: Duality in Public Architecture in the Upper Zaña Valley, Northern Peru, in: Daniel H. Sandweiss and D. Peter Kvietok (Hrsg.): Perspectives on Andean Prehistory and Protohistory, Ithaca 1986, S. 85–114. Vgl. aber auch Jerry D. Moore: The Archaeology of Dual Organization in Andean South America: A Theoretical Review and Case Study, in: LAA 6, 1995, S. 165–181, mit der Klarstellung, dass Dualismus mit Hälftenorganisation nicht identisch ist und auch keine symmetrischen Formen der Herrschaft impliziert.

33 Vgl. für Spanien Antonio Gilman: Prehistoric European Chiefdoms: Rethinking ‚Germanic‘ Societies, in: Price/Feinman 1995, S. 235–251; für Sardinien Gary S. Webster: Social Archaeology and the Irrational, in: CA 37, 1996, S. 609–618, 612ff.; für die frühmykenische Zeit Ruppenstein 2012, S. 52f., dem ich auch diese Hinweise verdanke. Ein Panoramabild der bronzezeitlichen Kriegervergesellschaftungen mit ihren z.T. räumlich weit ausgreifenden Unternehmungen bieten Kristian Kristiansen und Thomas B. Larsson: The Rise of Bronze Age Society. Travels, Transmissions and Transformations, Cambridge 2005. Auch hier war übrigens die Verbandsleitung häufig dualistisch strukturiert: vgl. ebd., S. 232.

34 Vgl. Stefan Breuer: Zur Soziogenese des Patrimonialstaates, in: ders. und Hubert Treiber (Hrsg.): Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen 1982, S. 163–227; Der archaische Staat. Zur Soziologie charismatischer Herrschaft, Berlin 1990; Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek 1998.

35 Vgl. die Einwände von Marc R. Woodward: Economy, Polity, and Cosmology in the Ao Naga Mithan Feast, in: Susan D. Russell (Hrsg.): Ritual, Power, and Economy. Upland-Lowland Contrasts in Mainland Southeast Asia, DeKalb 1989, S. 121–142; Elizabeth M. Brumfiel: Factional Competition and Political Development in the New World: An Introduction, in: Brumfiel/Fox 1994, S. 3–13, 13.

36 Vgl. Kajsa Ekholm und Jonathan Friedman: „Capital“ Imperialism and Exploitation in Ancient World Systems, in: Mogens Trolle Larsen (Hrsg.): Power and Propaganda: A Symposion on Ancient Empires, Copenhagen 1979, S. 51–58. Hier zit. n. dem Nachdruck in: Ekholm Friedman/Friedman 2008, S. 141–162. Dieser Ansatz wurde später von Barry K. Gills und André Gunder Frank aufgenommen und zur Hypothese eines einzigen Weltsystems übersteigert, das sich aus Mesopotamien, Ägypten und der Induskultur gebildet und alsbald zu einer asiatisch-afrikanisch-europäischen Ökumene verdichtet habe. Vgl. dies.: The Cumulation of Accumulation: Theses and Research Agenda for 5000 Years of World System History, in: Dialectical Anthropology 15, 1990, S. 19–42, 19. Nur am Rande sei vermerkt, dass diese Sichtweise bei Wallerstein keine Zustimmung fand, wohl aber, trotz einiger Vorbehalte, bei Friedman. Vgl. Immanuel Wallerstein: World-System versus World-Systems. A Critique, in: CrA 11, 1991, S. 189–194; Jonathan Friedman [Kommentar zu André Gunder Frank: Bronze Age World System Cycles], in: CA 34, 1993, S. 409. Stärker distanzierend dagegen der Kommentar in Ekholm Friedman/Friedman 2008, S. 154, 156. – Auch Christopher Chase-Dunn und Thomas D. Hall wiesen wie Wallerstein die Annahme eines einzigen Weltsystems zurück, weichten den Begriff aber auf, indem sie die Gliederung in Zentrum und Peripherie nicht länger als essenzielles Merkmal ansahen und Weltsysteme stattdessen nach der jeweils dominierenden Akkumulationsweise unterschieden. Vgl. Christopher Chase-Dunn und Thomas D. Hall: Rise and Demise. Comparing World-Systems, Boulder, Colo. etc. 1997, S. 30. Jüngste Überblicke zum state of the art bei Thomas D. Hall u.a.: World-Systems Analysis and Archaeology: Continuing the Dialogue, in: JAR 19, 2011, S. 233–279; Michael L. Galaty: World-Systems Analysis and Anthropology: A New Détente? In: Reviews in Anthropology 40, 2011, S. 3–26.

37 Die Bandbreite reicht hier von Ozeanien und den Mississippi-Kulturen über die Staaten der Inka und Olmeken bis zum bronzezeitlichen Europa. Vgl. in Auswahl: Per Hage und Frank Harary: Island Networks: Communication, Kinship, and Classification Structures in Oceania, Cambridge 1996; Johnny Persson: Cyclical Change and Circular Exchange: A Re-Examination of the KUFA-Ring, in: Oceania 54, 1983, S. 32–47; ders.: Sagali and the Kula. A Regional Systems Analysis of the Massim, Fund 1999; John Liep: Great Man, Big Man, Chief: A Triangulation of the Massim, in: Maurice Godelier und Marilyn Strathern (Hrsg.): Big Men and Great Men. Personifications of Power in Melanesia, Cambridge etc. 1991, S. 28–47; Jan Hjarnø: Social Reproduction: Towards an Understanding of Aboriginal Samoa, in: Folk 21–22, 1979/80, S. 72–123; Peter Peregrine: Prehistoric Chiefdoms on the American Midcontinent: A World-System Based on Prestige Goods, in: Christopher Chase-Dunn und Thomas D. Hall (Hrsg.): Core/Periphery Relations in Precapitalist Worlds, Boulder etc. 1991, S. 193–211; David Jenkins: The Inka Conical Clan, in: JAR 57, 2001, S. 167–195; Joyce Marcus und Kent V. Flannery: Zapotec Civilization: How Urban Society Evolved in Mexico’s Oaxaca Valley, Fondon 1996, S. 93ff.; John E. Clark: Mesoamerica’s First State, in: Vernon L. Scarborough und John E. Clark (Hrsg.): The Political Economy of Ancient Mesoamerica, Albuquerque 2007, S. 11–46; Kristian Kristiansen: The Formation of Tribal Systems in Later European Prehistory: Northern Europe, 4000–500 B. C., in: Renfrew u.a. 1982, S. 241–280; ders.: Chiefdoms, States, and Systems of Social Evolution, in: Earle 1991, S. 16–43; Holly Jane Morris: An Economic Model of the Late Mycenaean Kingdom of Pylos, Minnesota, Univ. Diss. 1986; Johnny Persson: Escaping a Closed Universe. World-System Crisis, Regional Dynamics, and the Rise of Aegean Palatial Society, in: Jonathan Friedman und Christopher Chase-Dunn (Hrsg.): Hegemonic Declines. Past and Present, Boulder und London 2005, S. 7–50.

38 Vgl. Edmund Leach: Political Systems of Highland Burma, Boston 1954; Friedman 19982. Die Arbeit wurde 1972 von der Columbia University in New York als Doktorarbeit akzeptiert, fand aber erst 1979 in Copenhagen einen Verlag und wurde 1998 neu aufgelegt. Eine zusammenfassende Darstellung erschien 1975.

39 Mit der Rolle des „feasting“ für die Festlegung gesellschaftlicher Rang- und Statushierarchien haben sich zuerst soziologische und anthropologische Untersuchungen befasst. Inzwischen nehmen auch Archäologen und Prähistoriker darauf Bezug. Vgl. Michael Dietler and Brian Hayden (Hrsg.): Feasts: Archaeological and Ethnographic Perspectives on Food, Politics, and Power, Washington, D. C. 2001; Michael Dietler: Feasting und kommensale Politik in der Eisenzeit Europas: theoretische Reflexionen und empirische Fallstudien, in: EAZ 47, 2006, S. 541–568.

40 Vgl. Paul Kirchhoff: The Principles of Clanship in Human Society, in: Morton H. Fried (Hrsg.): Readings in Anthropology 2, New York 1959, S. 260–270.

41 Weber 2005, S. 580ff., 741. Historische Beispiele finden sich in Ägypten in der Herrschaft der Hohepriester des Amun z.Zt. der 21. Dynastie, im christlichen Mittelalter unter einigen Päpsten, im Täuferreich zu Münster oder zuletzt in der Mullahherrschaft im Iran. Vgl. Karl-Heinz Golzio: Art. Theokratie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Hans Dieter Betz u.a., Bd. 8, Tübingen 20084, S. 250f.

42 Bernhard Lang: Theokratie: Geschichte und Bedeutung, in: Jacob Taubes (Hrsg.): Religionstheorie und politische Theologie, Bd. 3: Theokratie, Paderborn etc. 1987, S. 11–28, 24. Lang greift hier seinerseits zurück auf Überlegungen des Mesoamerikanisten David L. Webster: On Theocracies, in: AmAnthr 78, 1976, S. 812–828.

43 Vgl. Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte, München etc. 1996, S. 212f.; weniger klar ders.: Herrschaft und Heil. Politische Theorie in Altägypten, Israel und Europa, München etc. 2000, S. 28 u. ö.

44 Friedman und Rowlands 1977, S. 234, 238. Der Ausdruck „urban territorial state“ ist zwar sachlich korrekt und angemessener als die übliche Dichotomie von „Stadtstaaten“ und „Territorialstaaten“, wie sie etwa Bruce G. Trigger verwendet (Understanding Early Civilizations. A Comparative Study, Cambridge etc. 2003, S. 92ff.). Da eine wörtliche Übersetzung ins Deutsche jedoch sprachlich unglücklich und mißverständlich ist, verwende ich in diesem Buch entweder das englische Original oder spreche, mit Blick auf die Herrschaftsstruktur, von patrimonialen Stadtkönigtümern oder Stadtstaaten.

45 Im Vorwort zur Buchausgabe seiner Dissertation ergänzte Friedman die für das Weltsystemkonzept charakteristische Gliederung in Zentrum und Peripherie durch zwei weitere Figurationen, die er als „abhängige“ und „unabhängige Strukturen“ bezeichnete. Unter den Ersteren seien spezialisierte Produzenten und Handelsstaaten zu verstehen; unter den Letzteren „expansionist tribal structures“ bzw. „predatory structures“ sowie „primitive structures“, die die Kontrolle über ihre Ressourcenbasis eingebüßt hätten. Die Kachin gehörten danach zu den „predatory structures“, für die ein hohes Maß an sozialer Schließung typisch sei. Ebendies habe längerfristig ihr Überleben sowohl im Rahmen eines vormodernen Weltsystems als auch unter den Bedingungen des modernen Weltsystems gesichert und begründe zugleich die Möglichkeit, die für sie charakteristische Entwicklungssequenz auf andere Tribalsysteme zu übertragen, die über ein ähnliches Maß an Unabhängigkeit und Geschlossenheit verfügten: vgl. Friedman 19982, S. 33ff.

46 Vgl. Jonathan Friedman: Religion as Economy and Economy as Religion, in: Ethnos 1–4, 1975; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Friedman 1998, S. 326–339, 334.

47 Besondere Anregungen kamen dabei aus der Mesoamerikanistik. Vgl. nur John E. Clark und Michael Blake: The Power of Prestige: Competitive Generosity and the Emergence of Rank Societies in Lowland Mesoamerica, in: Brumfiel/Fox 1994, S. 17–30 sowie weitere Beiträge in diesem Buch; Richard Blanton u.a.: A Dual-Processual Theory for the Evolution of Mesoamerican Civilization, in: CA 37, 1996, S. 1–14, 5; Blanton 1998; Gary M. Feinman: Mesoamerican Political Complexity. The Corporate-Network Dimension, in: Jonathan Haas (Hrsg.): From Leaders to Rulers, New York etc. 2001, S. 151–175. Aufschlussreich im Hinblick auf die Strategien der aggrandizers und die hierarchisierenden Effekte der prestige technologies sind auch die Arbeiten von Brian Hayden. Vgl. Hayden 1995 sowie ders.: Practical and Prestige Technologies: The Evolution of Material Systems, in: JAMT 5, 1998, S. 1–55.

48 Vgl. Luc de Heusch: Why Marry Her? Cambridge 1981, S. 127ff..

49 Vgl. Robert L. Carneiro: Eine Theorie zur Entstehung des Staates, in: Klaus Eder (Hrsg.): Die Entstehung von Klassengesellschaften, Frankfurt am Main 1973, S. 153–174, 160ff.

50 Vgl. Friedman/Rowlands 1977, S. 220; Feinman/Neitzel 1984, S. 69; Robert D. Drennan: Regional Demography in Chiefdoms, in: Drennan/Uribe 1987, S. 307–324. Zur Spannweite der Schätzungen vgl. Gary M. Feinman: Scale and Social Organization. Perspectives on the Archaic State, in: Feinman/Marcus 1998, S. 95–133, 97ff.

51 Vgl. Christopher S. Peebles und Susan M. Kus: Some Archaeological Correlates of Ranked Societies, in: AA 42, 1977, S. 421–448, 432; Charles S. Spencer: Rethinking the Chiefdom, in: Drennan/Uribe 1987, S. 369–389, 371; Feinman/Neitzel 1984, S. 62; Earle 1991, S. 3.

52 Vgl. Hayden 1995, S. 63; Kenneth M. Ames: Chiefly Power and Household Production on the Northwest Coast, in: Price/Feinman 1995, S. 155–187, 180.

53 Vgl. Joyce Marcus: Monumentality in Archaic States: Lessons Learned from Large-scale Excavations in the Past, in: John K. Papadopoulos und Richard M. Leventhal (Hrsg.): Theory and Practice in Mediterranean Archeology: Old World and New World Perspectives, Los Angeles 2003, S. 115–134.

54 Vgl. Cobb 2003, S. 63–84, 66; Julie Zimmermann Holt: Rethinking the Ramey State: Was Cahokia the Center of a Theater State? In: AA 74, 2009, S. 231–254; Elsa M. Redmond und Charles S. Spencer: Chiefdoms at the Threshold: The Competitive Origins of the Primary State, in: JAA 31, 2012, S. 22–37, 24ff.; Brian R. Billman: Reconstructing Prehistoric Political Economies and Cycles of Political Power in the Moche Valley Peru, in: ders. und Gary Feinman (Hrsg.): Settlement Pattern Studies in the Americas: Fifty Years since Virú, Washington, D. C. 1999, S. 131–159, 153; Michael E. Moseley: The Incas and their Ancestors. The Archaeology of Peru, London 1992, S. 163.

55 Vgl. Malcolm C. Webb: Broader Perspectives on Andean State Origin, in: Jonathan Haas, Shelia Pozorski, Thomas Pozorski (Hrsg.): The Origins and Development of the Andean State, Cambridge 1987, S. 161–167, 162f.

56 Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, hrsg. von Christoph Gödde, Frankfurt am Main 1993, S. 207.

57 Weber 1973, S. 204; ders.: Agrarverhältnisse im Altertum, in: Weber 2006, S. 362ff.

58 Vgl. Vernon James Knight Jr.: The Institutional Organization of Mississippian Religion, in: AA 51, 1986, S. 675–687, 680f., 682. Wie Knight an anderer Stelle gezeigt hat, hängt diese Tendenz mit der Eigentümlichkeit jener besonderen Organisationsform des „ranked clan“ zusammen, die bei den Indianerstämmen östlich der Rocky Mountains verbreitet war. Bei dieser Version handelt es sich nicht um Abstammungsgemeinschaften, sondern um exogame, sich auf verschiedene Stämme verteilende Gruppen, deren Hauptfunktion in der Regulierung von Heiratsbeziehungen und Konflikten sowie Formen der Lebensführung besteht. Obwohl im Prinzip egalitär, gliedern sich diese Gruppen doch in Hälften (moieties) unterschiedlichen Ranges, was sich zunächst zwar nur in Form einer zeremoniellen Hierarchie auswirkt, dennoch auf andere Beziehungen durchschlagen kann. Ist dies der Fall, kann ein gleichsam halbierter konischer Klan entstehen, ein Klan, der konisch nur in der Spitze der Ranghierarchie ist, im Übrigen aber wesentliche Merkmale des egalitären Klans behält, insbesondere die Exogamie. Das ermöglicht eine Differenzierung zwischen Adligen und Nichtadligen, bewirkt aber zugleich aufgrund der fehlenden Endogamie, dass der Adelsstatus sich mit der Zeit wieder verliert und sich auf wenige Generationen beschränkt: sozusagen ein Erbcharisma mit hoher Halbwertszeit. „Diese Beschränkungen garantierten, daß der agnatische Adel insgesamt klein blieb.“ Vgl. Vernon James Knight Jr.: Social Organization and the Evolution of Hierarchy in Southeastern Chiefdoms, in: JAR 46, 1990, S. 1–23, 5ff., 18f.

59 Vgl. Timothy K. Earle: The Evolution of Chiefdoms, in ders. 1991, S. 1–15, 4, 13; Ronald Cohen: Evolution, Fission, and the Early State, in: Henri J. M. Claessen und Peter Skalnik (Hrsg.): The Study of the State, The Hague 1981, S. 87–115.

60 Vgl. John H. Blitz: Mississippian Chiefdoms and the Fission-Fusion-Process, in: AA 64, 1999, S. 577–592; David G. Anderson: Political Change in Chiefdom Societies: Cycling in the Late Prehistoric, Ann Arbor 1990; ders.: Examining Chiefdoms in the Southeast: An Application of Multiscalar Analysis, in: Jill E. Neitzel (Hrsg.): Great Towns and Regional Polities in the Prehistoric American Southwest and Southeast, Albuquerque 1999, S. 95–107; Cobb 2003, S. 7.

61 Vgl. Maria A. Masucci: Early Regional Polities of Coastal Ecuador, in: Helaine Silverman und William H. Isbell (Hrsg.): Handbook of South American Archaeology, New York 2008, S. 489–504, 500f.; Tamara L. Bray: Late-Prehispanic Chiefdoms of Highland Ecuador, ebd., S. 527–544, 528, 530, 535; Edoardo Góes Neves: Ecology, Ceramic Chronology and Distribution, Long-term History, and Political Change in the Amazonian Floodplain, ebd., S. 359–380, 371f. Generell: Kent V. Flannery: Process and Agency in Early State Formations, in: CAJ 9, 1999, S. 3–21, 4f.

62 Gregory A. Possehl: Sociocultural Complexity Without the State: The Indus Civilization, in: Feinman/Marcus 1998, S. 261–291, 268. Vgl. auch ders.: The Indus Civilization. A Contemporary Perspective, Walnut Creek 2002; Jim G. Shaffer: Harappan Culture, in: Gregory A. Possehl (Hrsg.): Harappan Civilization. A Contemporary Perspective, Oxford etc. 1982, S. 41–50; Walter A. Fairservis: The Harappan Civilization and Its Writing. A Model for the Decipherment of the Indus Script, Leiden etc. 1992, S. 133. Dass es sich bei der viel zitierten Schrift der Induskultur um eine solche gehandelt habe, wird heute freilich aufgrund der extrem geringen Zeichenfrequenz bezweifelt: vgl. Axel Michaels: Späte Enttäuschung einer Schrifterwartung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.12.2005.

63 Vgl. Joyce Marcus: The Peaks and Valleys of Ancient States. An Extension of the Dynamic Model, in: Feinman/Marcus 1998, S. 59–94.

64 Vgl. Jonathan Haas und Winifred Creamer: Crucible of Andean Civilization. The Peruvian Coast from 3000 to 1800 BC, in: CA 47, 2006, S. 745–775, 746; Silvia Rodriguez Kembel und John W. Rick: Building Authority at Chavín de Huántar: Models of Social Organization and Development in the Initial Period and Early Horizon, in: Helaine Silverman (Hrsg.): Andean Archaeology, Malden etc. 2004, S. 51–76, 54.

Der charismatische Staat

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