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Good old Pott

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Sind Sie stolz, Deutscher zu sein?

Was würde ich antworten, falls ich auf der Straße in eine Umfrage verwickelt werde? Dieser Gedanke schoss mir immer wieder beim Lernen durch den Kopf.

»Werkstoffwissenschaften, wer braucht den Schrott überhaupt?«, fluchte ich laut. »Yttrium dotiertes Zirkonoxid in der Brennstoffzelle, ihr habt doch gelitten!«

Wenn man lernt, ist sowieso alles andere interessanter als die Materie, die vor einem liegt. Das Zimmer aufräumen macht unglaublich viel Spaß, die ARD-Nachrichten sind großartig und man muss auf jede SMS in Bruchteilen einer Sekunde antworten.

Kommt drauf an, worauf Sie abzielen. Auf die Ingenieurkunst, die Kultur, die Sozialleistungen, welche aus der deutschen Entwicklung hervorgegangen sind? Definitiv! Auf den Zusammenhalt der Deutschen eher weniger, führte sich mein Gedanken-Interview fort.

Darf man fragen, wieso Sie diesen negativ auffassen?

Auf die Frage hatte ich gewartet, jetzt konnte ich punkten! Oder? Erstmal den ganzen Mist, den du erlebt hast, erfassen, chronologisch ordnen und »interview-schön« verpacken, befahl ich meinen Gedanken. Wobei man ja auch so viel Zeit bei einem Interview hat, um nachzudenken. Spätestens nach einer Minute der Grübelei und gleichzeitigem Ins-Nichts-Starren winkt der Interviewer vor deinen Augen rum, um deine dauerhafte, geistige Abwesenheit zu überprüfen.

Nein, nix grübeln, es sind die spontanen Menschen heutzutage gefragt. Meist kommt dann nur Dünnpfiff dabei raus und man wird in einer Comedy-Sendung im Fernsehen ausgestrahlt. Aber genau diese Vorstellung, diese Angst muss man abschütteln und drauf losschießen. Das haben mein Bruder und ich auch mal sehr glorreich vermasselt, als wir auf die Frage »Was verstehen Sie unter Fernweh?« eine kompakte Analyse des Begriffes »Heimweh« einem Radiosender dargelegt haben.

Angst abschütteln!, meldet sich ein anderer Gedanke.

Das ist eine lange Geschichte!

Wir haben Zeit.

Ich hoffe, du auch …

***

Damit man sich die Gesamtsituation etwas besser vorstellen kann, liefere ich mal eine kurze Einleitung. Ich bin im schönen Nord-Rhein-Westfalen aufgewachsen. Einer kleinen Stadt nahe Dortmund. Das Tor zum Münsterlande, obwohl dies fast jede Stadt in dieser Region als Aushängeschild trägt. Da ich genau zwischen zwei Realschulen wohnte, durfte ich mir eigentlich aussuchen, welche ich besuchen wollte. Die Wahl war schnell getroffen, da die eine Realschule, die im Nachbardorf ansässig war, ihre berüchtigte Ausländerquote nicht verschweigen konnte.

»Die Fünftklässler werden von den Zehntklässlern kopfüber in die Müllcontainer gesteckt«, kam es einem zu Ohren. Und wir sprechen hier nicht von Altpapiercontainern.

Lange Rede, kurzer Sinn, auf die Schule wurde ich geschickt, Òle.

Dort lernte ich sehr schnell sehr viele Feinde kennen sowie Dominik. Der Mitstreiter, der mein bester Freund werden sollte.

Dominik war ein Gigolo, wie er im Buche stand. Etwas kleiner geraten als ich, gutaussehend, dunkle Haare, 3-Tage-Bart, die Mädels rannten ihm hinterher. Es sollte sich herausstellen, dass er unter anderem zum Amokraucher mutieren sollte.

Es war an der Zeit, mit Dominik Sammelkarten zu kaufen. Am besten an einem Kiosk, der nahe an einer Gesamtschule liegt, sodass man die frustrierten Schüler nach der Schule für ihre ganztägige Schulpflicht hänseln konnte.

Nein, hauptsächlich ging es um Sammelkarten. Das Geld war schnell ausgegeben, die Kartenpackung fix aufgerissen und man ärgerte sich mal wieder, dass man Geld für Karten ausgegeben hatte, die man schon drei Mal besaß.

Glücklicherweise hatten die Gesamtschüler zu dem Zeitpunkt Schluss, zu dem wir den nahegelegenen Park durchqueren wollten.

Es dauerte nur die Hälfte des Weges, bis Dominik die erste unreife Kastanie zwischen seinen Schulterblättern spürte. Schulterblick.

Dickes, dösig guckendes Moppelchen auf seinem Fahrrad, mit seinem nur halb so schlau aussehendem Hornbrillen-Kumpanen im Schlepptau. Schätzungsweise Anfang sechzehn.

Ich fand die Angelegenheit amüsant. So lange es einen nicht selbst trifft, ist die Schadenfreude immer groß.

Dann spürte ich einen Reifen in meiner Kniekehle und ich sackte ein wenig weg.

»Sag mal, Moppelchen, kannst du mal aufhören mit den Sperenzchen?«

Grober Fehler.

Moppelchen stieg nun nämlich von seinem Fahrrad ab und gestikulierte, Gewalt anzuwenden. Den Spruch: »Ich dachte, korpulente Menschen würden nur rollen!«, verkniff ich mir, als er auf mich zu marschierte. Hätte sowieso nix geändert. Den Gegner immer im Auge behalten, dachte ich mir. Und so wich ich mit geschmeidigen Zügen rückwärts vor dem Angreifer zurück, bis …

Baum. Ehrlich? In dem verfluchten Park stehen drei Bäume! Von außen muss es wie in einem schlechten Spielfilm ausgesehen haben. Oh nein, ich steh mit dem Rücken zum Baum, rechts und links sind minderwertige Ausweichmanöver, die wendet man nicht an.

So blieb ich hilflos am Baum stehen und kassierte ein Knie nach dem anderen in meinen Bauch. Fang bloß nicht an zu grinsen!, befahl mir mein Gehirn. Dem zugrunde lag, dass Moppelchen seine Knie so hoch ziehen konnte, wie mein Bauchnabel tief war. Trotzdem war es eine unangenehme, prekäre Situation. Ich setzte den wehleidigsten Ausdruck auf, den mein Gesicht zu bieten hatte.

Da nach zwei Minuten der Spaß noch immer nicht aufgehört hatte, fing ich an, Leute, die derweil den Park durchquerten, anzuflehen, mir zur Hilfe zu eilen.

Na gut, einmal erwischte ich eine um die achtzig geratene Dame, die nur verängstigt hochschaute und dann so schnell wie möglich mit ihrem Krückstock davonhumpelte. Hehe Kobolt!, kam es mir in den Sinn. Dann Schmerz.

Stattliche Männer kümmerte es einen feuchten Furz, was die Jugend unter sich ausmachte. Deinen Enkeln werde ich auch nicht zu Hilfe kommen, Arschloch!, dachte ich.

Im Nachhinein hätte ich alle auf unterlassene Hilfeleistung verklagen sollen.

Irgendwann ließ er ab.

Nach der Tortur waren meine Sinne total überreizt. Nicht nur, dass er mein Augenlicht mit seiner gottgleichen Erscheinung geblendet hatte. Nein, Fettwanst hatte anscheinend nach drei Jahren wieder eine sportliche Bewegung ausgeübt und dementsprechend nach Rosenblättern geduftet, was meinen Geruchssinn überflutete.

Die schwabbeligen nassen Hände hatten alle Nervenbahnen in einer Eindringtiefe von zwei Zentimetern unter meiner Haut lahmgelegt. Und das unterbelichtete Geschwafel hallte immer noch in meinen Ohren.

Zum Glück hatte er mich nicht abgeknutscht! Trotzdem wäre ich wahrscheinlich für die Notaufnahme bereit gewesen.

Zu Hause angekommen fragten mich meine Eltern, warum ich so verstört wäre.

»Ein quadratisch, praktisch, gutes Walross hat mich gerade verkloppt!«, antwortete ich.

»Papa, gib mir deine alten Fitnessgeräte, ich fang an zu trainieren.«

Und das tat ich auch! Ich stand morgens extra eine Stunde eher auf, um vor der Schule zu trainieren. Abends dann noch mal zwei Stunden Training, jeden Tag.

***

Ähm … Aha, ich glaube, wir schweifen hier ein wenig ab. Und deswegen sind Sie der Auffassung, die Deutschen hätten keinen Zusammenhalt?, meldet sich der Interviewer aus meinen Gedanken.

Neheeee, da kommt noch was!

***

Zehnte Klasse, Dominik und ich hatten uns mit Andre angefreundet, der wohnte im Nachbardorf. Andre hatte mit der heißesten Braut unserer Schule ein Verhältnis/Beziehung, ich weiß nicht, wie man das in diesem Alter nennt. Auf jeden Fall kam uns dies nicht zugute.

Da der Großteil der minderjährigen, türkisch abstammenden Bevölkerung im Nachbardorf der Meinung war, dass die attraktivsten, deutschen Mädchen in ihre Obhut gehörten, hatten sie einen Grund mehr, uns dreien die Hölle heiß zu machen.

Wir waren zäh. Diverse Hetzjagden an Wochenenden, an denen Dominik und ich Andre besuchten und dort übernachteten, hatten wir um die Mitternachtsstunden erfolgreich überlebt. Das hält einen in Form, sag ich Ihnen.

Wahrscheinlich wäre es jedoch schöner gewesen, nicht jedes Mal, mit Todesangst geplagt, durch die dunklen Gassen zu sprinten.

Zum Glück hatten wir damals noch Informanten, die als eine Art Schnittstelle agierten. Sie sprachen mit den Peinigern und informierten uns über deren Kenntnisse. So war es üblich, dass man einen Anruf, wie: »Eh, die wissen, dass ihr euch an den Schrebergärten aufhaltet, die sind auf dem Weg!«, bekam und mal wieder lossprinten durfte.

Es war ein warmer Sommertag, an dem ich mir am Schulhofkiosk ein Käsebrötchen von Mums hart erarbeiteten Geld gönnte. Es dauerte nicht lange, da war ich schon von einer Meute aggressiven, zähnefletschenden Mitbürgern umzingelt.

»Gib mal Käsebrötchen ab!«, kam es über die sanften, zarten Lippen eines Mitgliedes der Eliteschüler. Zu zart, dachte ich, die Lippen sind zu zart. Die sollte man mit stumpfer Gewalteinwirkung entzarten!

Ich aß mein Brötchen in Weltfrieden-Seligkeit weiter, bis die Anspannung und die damit einhergehenden Reaktionserwartung der Schachkursprofis ihre Augen aus den Augenhöhlen quellen ließ.

Mit vollem Mund sprach ich: »Mnö moan, dfas hab ich gekauft!«

Grober Fehler.

In dem Moment, in dem ich wieder vernünftig zu sprechen vermochte, flog ein Speichel getränktes Stück Käsebrötchen gegen die Wange des Labello-Trägers. Stefan, du wirst auch nicht klüger, oder?, fragte ich mich selbst, obwohl es schon längst eine Feststellung war.

»Das wirst du bereuen!«, kam es von der Rückzug antretenden Genossenschaft rübergehallt.

Toll.

Das eine Ich meinte: Hahaaaaah! Schlacht gewonnen! Während die andere Hälfte in meinen Gedanken die Hand vor den Kopf klatschte: Schlacht gewonnen, Krieg verloren, du Idiot!

Da könnte was dran sein … Mist, das eskaliert immer so schnell bei denen.

Ich erinnerte mich vage, dass wegen eines Aufmüpfigen, was ich sehr gerne war, auch mal ein Brüderchen mit Schusswaffe auf unseren Schulhof gekommen war. Die Lehrer hatten sich natürlich im Sekretariat verbarrikadiert und ließen die Schüler alleine auf dem Pausenplatz. Was für Memmen.

Der Tag, an dem ich es bereuen sollte, sollte schnell folgen. Wir waren jung, wir waren naiv und begaben uns in die Höhle des Löwen, also in das Schwimmbad des Nachbardorfes. Dominik, Andre und ich wollten unsere Haut mit UV-Strahlung speisen. Hautkrebs ist ein Problem von Zukunfts-Stefan, dachte ich und legte mich mit meinen Freunden uneingecremt in die pralle Sonne.

Kurze Zeit später verdunkelte sich meine, schon durchs Augenlid im Dimmmodus befindende Sicht ein wenig mehr. Blinzeln. Och nee, Lippenstiftträger, du schon wieder?, dachte ich mit schrecklicher Vorahnung.

»Abrechnung, Junge!«, sagte der aus Froschperspektive riesig aussehende Normalsterbliche. Der Typ spart aber auch keine Worte!, dachte ich. Einen Aufsatz von dem würde ich ungern lesen.

»Ja, was ist denn los?«, fragte ich zögernd.

»Nicht hier, wir sprechen da vorne!«, erwiderte er und zeigte zu dem Sonnenplatz seiner fünfhundertzwei Freunde. Dumm, Stefan, dumm! Warum springt man denn eigenhändig in eine Schlangengrube? Nein, kein Ausweichen mehr! Zusammenreißen und durch! Die Gedanken sprühten nur so durch den Kopf.

Auf dem Weg zum Fußballlager der Allstars kam mir ein regelrechtes Gejodel der dort Anwesenden entgegen.

»Abrechnuuung, Abrechnuuung!«

Mir graute es, Furcht kam auf! Wenn die durch meine Angst ausgeschütteten, biochemischen Botenstoffe atomare Strahlung freisetzen würden, wäre nun ganz Deutschland tot. Andererseits erinnerte mich das Gejodel an eine hyperintelligente Affenspezies, die sich darüber freute, ein neues Wort kennengelernt zu haben. Hehe Gollum!, kam es mir in den Sinn.

»Was sollte das in der Schule?«, fragte mich der Abzurechnende.

»Was für Schule?«, antwortete ich. Ich muss meinen Sprachgebrauch anpassen. Vielleicht denken sie dann, ich wäre ein Verbündeter!, fiel mir instinktiv ein. Der Überlebenssinn des Menschen ist doch viel einfältiger, als man denkt.

Und dann sah ich ihn, 1,90 Meter pures Kampfgewicht, scheiße, Kickbox-Yasin. Vielleicht muss man an dieser Stelle erwähnen, dass dieser Kerl eine halbe Legende ist.

Dass so ein winzig kleines Dorf einen, in seiner Gewichtsklasse, hohen Ranglisten-Kickboxer hervorgebracht hatte, war einfach nur … scheiße. Zumindest für mich, in meiner Situation.

»Du hast mich angespuckt!«, führte er die Konversation weiter.

»Eh, eh, ja, das war ein Versehen und außerdem hast du mir da an dem einen Tag ein Bein gestellt«, brachte ich deutlich unzuversichtlicher hervor, als ich vor einer Minute noch gewesen war.

Klatsch.

»Das war ein Fehler, mein Freundchen!«

Wut kam auf. Stefan, sei nicht irrsinnig, es war eine Backpfeife! Wenn du jetzt konterst, kloppt dich die zweite Abwehrreihe der Allstars windelweich. Bedenke Torwart Kickbox-Yasin.

Mein Furcht-Ich hatte recht. Man lässt sich lieber von einem Inline-Skater umfahren, als diesen mit einem Roundhouse-Kick umzunieten, das Gleichgewicht zu verlieren und auf der Straße liegend von einem Lkw überfahren zu werden. Oder eine Flosse von einem, im Boot herumspringenden Fisch abzubekommen, anstatt einer mutierten Seeschlange in den Rachen zu gucken. Wahrscheinlich tut seine Hand mehr weh, als mein Gesicht, dachte ich mir. Hehe, Karpador hat sich selbst verletzt.

***

Okeeee, was hat das alles jetzt mit …

Bin gleich fertig!, unterbrach ich hastig meinen imaginären Interviewer.

***

Ich stand da und wartete auf den Schlusspfiff. Die Liberos freuten sich über die Gerechtigkeit, die zu Tage gelegt wurde.

»Mach das nicht noch mal!«, tadelte mich der Angreifer und bezog sich auf die ungewollte Spuckattacke.

»Nee nee, ich hab es verstanden, kann ich gehen?«, fragte ich nun mit vollkommener Ruhe.

Da anscheinend alles ausgesprochen wurde, was ausgesprochen werden sollte, machte ich mich fix vom Acker. Im Nachhinein hätte ich niemanden verklagen können, da ich keine Hilfe angefordert hatte. Allerdings hätte ein wenig Rückendeckung bestimmt nicht weh getan.

Zu Hause angekommen bat ich meine Eltern, mir eine Hantelbank zum nächsten Geburtstag zu schenken und die bekam …

***

Ich glaube, das läuft hier alles ein wenig aus dem Ruder. Diese Geschichte zeigt nur auf, dass Sie sich durch Ihre eigene Geschicklichkeit immer aufs Neue in Gefahr begeben, wies mich der Interviewer zurecht.

Vielleicht war die Geschichte nicht ganz passend, aber das beste Argument kommt ja angeblich immer zum Schluss.

***

Es war Freitagabend. Die Jugend weiß nicht, wohin mit sich selbst. Im Allgemeinen will man sich sowieso nur besaufen. Man ist jung und will seine Grenzen kennenlernen und unter anderem Spaß haben. Eltern haben dafür ein zu großes Gespür. Sie wissen, worauf es hinauslaufen kann, und wollen deshalb ihre Kinder von jeglicher eigenen, schlimmen Erfahrung entbehren.

»Aus Fehlern lernt man« oder »lieber Praxis als Theorie« enthalten sie ihren Allerheiligsten lieber vor. Dabei ist es genau das, was einen von Zurückgebliebenen unterscheidet. Die Erfahrung. Selbstfindungsprozess nenne ich das. Umso schneller man weiß, woran man ist, desto schneller wird man erwachsen.

Ich kann nur aus meiner Sicht sprechen. Ich weiß, dass Väter sich mehr um Töchter sorgen als um Söhne.

»Ein Stefan kommt immer nach Hause!«, erklärte ich damals meinen Eltern mit geschwollener Brust. Bisher war es auch so, eher komatös als nüchtern, aber ich kam zu Hause an.

Bei Töchtern, gerade im Entwicklungsalter, in dem Alter, in dem sie noch keine Wortgewandtheit aufweisen. In dem Alter, in dem sie sich nicht belanglos gegen Fremdeinwirkungen mit Elektroschockern wehren können, wäre ich auch vorsichtiger.

Ich denke häufig daran: meine Tochter in der zarten pubertierenden Phase.

»Du willst raus? Mit wem?« Das Vater-Ich.

»Ich hab jemanden kennengelernt, der mich heute ausführen will« Imaginäre Tochter.

»Ausführen? Der will dich doch nur besoffen machen!«

»Dad, sei nicht immer so fies!« Tochter.

»So lange der sich nicht vorgestellt hat, bewegt sich hier keiner aus dem Haus … Außer es gibt ein Erdbeben Stärke 7!« Mein Super-Vater-Ich. Tochter läuft mit einem Wasserfall-Ausscheidungs-Syndrom ins Bad.

Genau in diesem Moment gibt es wieder Geschrei, Mutter und Tochter halten zusammen. Auf den Satz der Ehefrau: »Guck, was du wieder angestellt hast!«, kann man auch gerne verzichten und man widmet sich lieber seinem Bier.

Auf jeden Fall hatten wir einen guten Aufenthaltsort für unser Unterfangen gefunden. Der Aldi-Parkplatz neben der Halde. Dominik, Nikolaj und diverse andere Saufkumpanen waren mit reichlich Alkohol angerückt, um den Parkplatz zu besetzen.

Nikolaj war mein 1,90 Meter großer, glatzköpfige Nachbar, der einer der lustigsten Menschen war, die ich bis dahin in meinem Leben getroffen hatte. Zu viele Zeichentrick- und Comedy-Sendungen hatten im Wesentlichen zu dieser Charakterstärke beigetragen. Um eins klarzustellen: Er war keineswegs ausländerfeindlich. Obwohl jeder Fremde ihn vermutlich als Reinkarnation eines SS-Offiziers angesehen hatte.

Der Abend verging, der Alkohol lief in Strömen und es sammelte sich eine weitere Jugendgruppe, circa vierzig Meter von uns entfernt, an. Es dauerte nicht lange, bis mein Name von einer fremden Stimme fiel.

»Jo, Stefan, komm mal rüber zu uns, wir wollen dich was fragen!«

Erstens, woher kennt der meinen Namen? Zweitens, irgendwoher kennst du das doch noch mit dem »eben rüber kommen« … Schlangen … Schlangengrube … Ah, was auch immer! Besoffen-Ich hatte jegliche Kontrolle über Erinnerungen verloren. So folgte ich dem Fremden zu der nahe gelegenen Truppe.

Dort angekommen stellte sich schnell heraus, um welche Frage es sich handelte.

»Du hast doch dieses goldene Handy, oder? Kannst du das mal zeigen?«, fragte mich der Macker, der mich rüberbeordert hatte.

Mh, denken die ehrlich, dass das aus Gold ist? Sind die so blöd? Das Moped ist gelb-glänzend, kam ich ins Grübeln. Es handelte sich um das S500i! Da kann sich jeder seine eigene Meinung bilden, aber meiner Ansicht nach sieht Gold anders aus.

»Jops, selbstverständlich!«, antwortete ich und holte mein Handy aus meiner Hosentasche.

»Zeig mal!«, wiederholte er und streckte seine Hand dabei aus.

»Nehe, da hab ich diverse schlechte Erfahrungen mit gemacht, also mein Handy anderen Leuten zu geben. Kannst du dir aus sicherer Entfernung ansehen.«

Derweil er argumentierte, ich könnte ihm mein Handy ohne Bedenken anvertrauen, sah ich aus dem Augenwinkel jemanden hinter meinen Rücken schleichen.

Bei jedem normalen Menschen würden die Alarmglocken mit hundertzwanzig Dezibel anschlagen und zur Unterstützung eine fünfhundert Schuss Feuerwerk-Batterie losgehen. Bei mir hingegen war es eher ein China-Cracker, der nach dem Abbrennen der Lunte ein leises »Pffff« von sich gab und nicht explodierte.

Grober Fehler.

Den nächsten Moment nahm ich folgendermaßen wahr:

Ein stumpfer Schlag auf meinen Hinterkopf brachte meine Augen dazu, mir vorzugaukeln, dass ich gerade mit Warpgeschwindigkeit durch das Universum fliegen würde. Dies allerdings nur für ein Zehntel einer Sekunde.

Danach flatterten grob geschätzt 589.254.231 kleine Sternchen vor meinen Augen auf und ab. Entweder hatte sich gerade eine NASA-Rakete auf meinen Kopf verirrt oder ich hatte eine Flasche abbekommen. Letzteres war wahrscheinlicher.

Es lief kein Blut über mein Gesicht, also hatte ich auch keine Platzwunde. Und hätte ich eine gehabt, dann wären von den achthundert Millilitern, die meinen Kopf pro Minute durchströmen sollten, wahrscheinlich in diesen Sekunden nur ein Milliliter vorhanden gewesen. Die restlichen stauten sich förmlich in meinen Muskeln. Adrenalin. Ich hasse Adrenalin! Das Zeug macht einen ganz kirre!

Mein Handy befand sich nicht mehr in meiner Hand. Ich vermochte, wieder vernünftig zu sehen, obwohl noch immer ein paar hartnäckige Sterne vor meinen Augen umherhüpften. Nicht wissend, was ich überhaupt tat, schmiss ich meinen Arm um den vermutlichen, noch immer vor mir stehenden Dieb und lud ihn so in meinen Schwitzkasten ein. Seitlich von mir bildete sich ein Halbkreis der anderen Anwesenden und beförderte mich so in einen Hundertachtzig-Grad-Stellungskrieg.

»Gebt mir mein Handy wieder oder ich bring ihn um!«, schrie ich total hysterisch und hob dabei meine Bierflasche an, welche sich noch immer in meiner linken Hand befand.

»Hilfe Jungs!«, versuchte ich meine Freunde zu alarmieren. Allerdings war meine Stimme so piepsig, dass noch nicht mal ein Hund in fünf Metern Entfernung diese wahrgenommen hätte. Scheiß Adrenalin.

»Stell die Flasche weg und wir stecken die hier auch weg!«, sagte einer der Umzingelnden mit russischem Akzent. Es war mir gar nicht aufgefallen, dass drei Messerspitzen auf mich gerichtet waren. Das sieht scheiße für dich aus!, dachte ich mir. Mit Russen spaßt man nicht, die stechen dich ab.

Mein Adrenalinausstoß war so hoch, dass meine Beine wie Presslufthammer anfingen zu vibrieren. Die tektonisch, eurasische Kontinentalplatte empfand meine Fußmassage wahrscheinlich als Anreiz, ein Erdbeben achter Magnitude am Zipfel des italienischen Stiefels freizulassen. Hätte meine imaginäre Tochter dort gewohnt, hätte sie das Haus verlassen dürfen.

Des Weiteren blockierte das unerwünschte Hormon meine Denkvorgänge, welche ohnehin schon mager meinen Kopf durchströmten. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und die Ausgangsmöglichkeiten dieser Situation durchzuspielen.

Die »Geh-ins-Gefängnis-Karte«-Möglichkeit

Ich schlage kreisförmig mit meiner Bierflasche um mich. Den Ersten im Halbkreis erwischt es am Kopf, die Flasche zersplittert und er geht zu Boden. Mit der spitzen, bodenlosen Flasche treffe ich die restlichen sieben Pitbulls auf Augenhöhe. Alle blind. Polizei kommt, ich werde festgenommen. Auf Grundlage der deutschen Rechtslage und dem überwiegenden, mich belastenden Beweismaterial durch die augenlosen Opfer komme ich auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis.

Die »Lauf-Forrest-Lauf«-Möglichkeit

Ich hab fünf Monate im American-Football-Team gespielt. Nicht sehr lange, allerdings sollte ich von meinem Wide-Receiver-Trainingseinheiten noch ein paar Ausweichmanöver auf die Kette bekommen. Ich sprinte los, weiche den Messerattacken mit einer gekonnten Dreihundertsechzig-Grad-Drehung aus, flitze wie der Wind und finde mich in der Obhut meines Freundeskreises wieder. Allerdings würde ich dann bedingungslos auf mein Handy verzichten.

Die »Nahtoderfahrungs«-Möglichkeit

Ich schlage kreisförmig mit meiner Bierflasche um mich. Den Ersten treffe ich nicht, die Restlichen auch nicht. Aggressiv stürzt sich die Bande auf mich. Diverse Messerstiche bringen mich zu Boden. Ich wache im Krankenhaus auf, lebensnotwendige Organe wurden schwer beschädigt, aber ich komme durch. Trotzdem werde ich mein Leben lang Folgen davontragen. Die Täter werden wahrscheinlich nicht gefasst. Kein Schmerzensgeld.

Die »Glimpflich-davongekommen«-Möglichkeit

Ich gebe ihnen meine Bierflasche, die Messer verschwinden vielleicht und es kommt zu einem Faustkampf. Ich rufe meine Freunde nochmals zu Hilfe …

Ich entschied mich für die letzte Möglichkeit. Auch aus dem Grunde, da ich die anderen Alternativen schon wieder vergessen hatte.

Eins musste man der Truppe vor mir lassen, sie hielten ihr Wort. Ich reichte einem der Messerhalter meine leere Bierflasche, er stellte sie auf den Boden und die Messer verschwanden in den Hosentaschen der Eigentümer.

Blitzschnell befand ich mich wieder mit Warp-geschwindigkeit im Universum. Die Fäuste donnerten nur so auf mich ein.

Ich merkte, wie mein Schwitzkasten sich lockerte und der Gefangene mir entglitt. So hatte ich zumindest eine weitere Hand zur Verteidigung. Steigerung der Kampfkraft um hundert Prozent, würde ich mal sagen!, freute sich ein Gedanke. Ein sehr kleiner Freudentanz, denn die Situation hatte sich kein Stück verbessert. Wenn man schon drei Schläge im Kopfbereich einstecken musste, ist es schwer, überhaupt die Deckung noch aufrecht zu erhalten. Mein Vater meinte damals zu mir, es wäre ihm in Prügeleien egal, ob er draufginge, aber einen würde er mitnehmen.

Etwas übertrieben, aber die Richtung stimmte. Scheiß auf Deckung, jetzt kommen die Nuklear-Fäuste!, sammelte ich mir Mut für meinen bevorstehenden Angriff an. Wenn man einen ausknockt, am besten den Anführer, kriegen die anderen Schiss oder werden noch aggressiver. Fünfzig/Fünfzig-Chance.

Der in der Mitte des Halbkreises präsentierte sich förmlich als Zielscheibe. Den nehm wa!, bereiteten meine Gedanken meine Brust-, Schulter- und Trizeps-Muskulatur vor.

Ich holte Schwung und warf alles nach vorne, was ich an Kraftreserven übrig hatte.

Die Zielscheibe bewegte sich, damit hatte ich nicht gerechnet! Eine Dreißig-Grad-Neigung seines Kopfes ließ meine Faust an ihm vorbeizischen. Ich schwöre, ich habe sein Ohrläppchen getroffen. Half trotzdem nichts.

Meine Freunde hatten den Tumult anscheinend mitbekommen. Sie kamen gerade angerannt, als der letzte Schlag des Abends meine Schulter streifte.

»Vollidiot, kannst noch nicht mal deine Schläge platzieren!«, lachte ich leise vor mich hin. Dabei war ich im Wesentlichen nicht gerade treffsicherer. Zu meiner Verteidigung, ich hatte ja auch diverse Discokugelreflexionen vor meinen Augen.

Beim Anblick meiner auf sie zustürmenden Verbündeten flohen die Küchenutensilien-Besitzer in den nah gelegenen Wald. Alle bis auf einer. Er hatte auch nicht auf mich eingeschlagen. Er wollte mit dem Vorgefallenen nichts zu tun haben und sagte mir, dass er kooperationswillig war, die Beteiligten beim Namen zu nennen, sie zu verpfeifen.

Ich rief die Polizei. Kurze Zeit später fuhr eine Streife am Parkplatz vorbei und machte sofort wieder kehrt.

»Wollen die mich verarschen? Warum kommen die denn nicht rüber, ich hab denen doch gesagt, wo wir sind!«, ärgerte ich mich mal wieder über die Freunde und Helfer. Beim zweiten Anruf baten sie mich dann, ich solle vorne an der Straße auf sie warten. Also lief ich beim nächsten Erscheinen eines Polizeiautos diesem entgegen.

»Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte mich einer der aussteigenden Polizisten.

»Guten Abend, ja, das habe ich! Ich habe da vorne …«

»Nächstes Mal bitte sofort an einem zugänglichen Ort stehen, wo wir Sie sehen können!«, unterbrach mich der Polizist.

»Tut mir leid, nur mir wurde gerade mein Handy geraubt und ich konnte einen da vorne dingfest machen. Deshalb dachte ich, Sie würden zur Befragung zu uns rüberfahren!« Ich kochte innerlich. Die Schranke des Parkplatzes war oben, man hätte in sieben Sekunden den Parkplatz mit dem Auto überqueren können. Sind die mittlerweile so faul? Oder wurden ihnen die Mittel für Sprit gekürzt?

»Sie wissen schon, dass Sie sich hier unbefugt aufhalten?«

Gedanklich stand mir die Kinnlade offen. Die wollten mir doch nicht nach den Geschehnissen einen Vortrag halten oder mir einen mündlichen Platzverweis erteilen.

Ich wusste nicht, was ich auf diese Frage antworten sollte. Vorschriften hin und her, ein wenig entgegenkommender kann man ja wohl sein.

»Wir nehmen Ihre Daten auf, wenn Sie Anzeige erstatten wollen, können Sie das bei uns tun!«

»Ja, aber ich habe da vorne einen Zeugen!«, argumentierte ich hilflos.

Die Polizisten nahmen dies gar nicht zur Kenntnis und stiegen wieder in ihren Streifenwagen.

Und dann waren sie auf einmal weg. Ich war perplex. Nackt in einer Gummizelle ohne Erinnerungen aufzuwachen, ist nichts dagegen. Da hätten mir ja die zwei kleinen Eichhörnchen Chip und Chap, Die Ritter des Rechts, mehr helfen können. Ich hätte am liebsten das ganze Polizeipräsidium verklagt.

Dass die Polizei was Besseres zu tun hat, als sich mit kleinen Plagen rumzuärgern, die mal wieder nicht auf ihr Handy aufpassen konnten, wusste ich. Ich hatte mal einen Freund, der hatte einen Bruder, der hatte einen … Nein, Spaß. Also der Bruder wurde von einer Bande Rowdys krankenhausreif geschlagen. Unter den Verletzungen waren z. B. Jochbeinbruch, Kieferbruch, Schädelbasisbruch usw.

Obwohl seine beiden Eltern im Polizeipräsidium gearbeitet haben, wurde dieser Fall nicht wirklich nachverfolgt. Sie hatten anscheinend zu viel zu tun. Schlimmere, wichtigere Fälle. Doch frage ich mich manchmal:

Wo fängt meine Gerechtigkeit an?

***

Ich denke, wir beenden hier das Interview!, meinte der Interviewer und steckte das Mikrofon ein.

Wooow, nicht so hastig! Sehen Sie denn nicht, was ich Ihnen damit andeuten will?

In unserer Branche nennt man das Meckern auf hohem Niveau!

Hey! Ich kann auch ganz andere Geschichten auspacken. Und dann sprechen sie von Chancengleichheit? Von Menschen, die die Hälfte der Woche daran arbeiten, nicht im Krankenhaus zu landen. Ich will hier kein Friede-Freude-Eierkuchen-Exempel errichten, doch kann man …

Lassen Sie mich bitte los!

Ich bin noch nicht fertig!

Einen schönen Abend noch!, rief der Interviewer, der sich kopfschüttelnd immer weiter in einem Tunnel entfernte.

Courage ist doch ein Scheinwort der deutschen Sprache!

Kameramann und Interviewer waren fort.

Die Klausur war scheiße!

Herzerwachen - Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen!

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