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Von Kindern und Zwergen

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Glaube ist kein Zustand, sondern ein Weg. Der Glaube entwickelt sich im Laufe des Lebens. Bleibt ein Mensch auf einer bestimmten, meist frühen religiösen Stufe stehen, spricht man vom Kinderglauben. Wenn ein Kind nicht wächst, wird aus ihm weder ein erwachsenes Kind noch ein kleiner Erwachsener, sondern ein Zwerg. Ich betone, dass es sich hierbei um eine Metapher handelt: Mit dem Zwerg ist selbstverständlich nicht die physiologische Kleinwüchsigkeit gemeint, sondern eine ver­zögerte oder gar zum Stillstand gekommene religiöse Entwicklung. Man sollte den Kinderglauben deshalb nicht romantisieren, so als habe eine solche Entwicklungsstufe mit unver­dorbenem Vertrauen zu tun, gar mit unverbrauchter und unangezweifelter Gottunmittelbarkeit. Es ist ein Zwergenglaube, der bei der erstbesten Lebenskrise wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Wer aus seinen religiösen Kinderschuhen nicht herausgewachsen ist, wird bald aus allen Latschen kippen.

Nach meiner Erfahrung gehen menschliche und geistliche Reife Hand in Hand, Beziehungsfähigkeit und Spiritualität sind ein und dasselbe. Wer mit einem Menschen keine verlässliche Beziehung leben kann, wird auch Gott nicht die Treue halten; wen das Schicksal von Menschen unberührt lässt, der lässt sich auch von Gott nicht berühren; an der Nächstenliebe kann man die Gottesliebe exakt ablesen – und umgekehrt. Insofern sorgen autoritäre Strukturen einerseits und kindliche Frömmigkeit andererseits in der Kirche dafür, dass Menschen, insbesondere Amtsträger, nicht reifen können und dann später selbst die Entwicklung anderer Christen behindern. Sie sind selbst nicht beziehungsfähig, was auch noch spirituell überhöht wird. Pastoraltheologen sprachen schon vor Jahrzehnten von der Infantilität des Gottesvolkes und dessen Unmündigkeit im Glauben.

Wie sieht er denn aus, der Glaube in Kinderschuhen? Wenn Erwachsene ihren Kinderglauben nicht abgelegt haben, dann glauben sie meistens mehr an Magie als an Jesus. Gott ist dann ein Wundertäter, der zuständig ist für alles, was ich nicht verstehe, und der überall dort anzutreffen ist, wovon ich noch nichts weiß. Der Gott, der in dieser Lücke sitzt, wird zwar der liebe Gott genannt, aber man traut seiner Liebe doch nicht so recht über den Weg. Deshalb muss man sich bei ihm absichern, denn für gute Taten gibt es Lohn, für schlechte eben Strafe. So lieb ist der liebe Kindergott also doch nicht! Er ist nur ein Buchhalter, der zusammenrechnet und später im Himmel auszahlt, was man für sich selbst erarbeitet hat. Der Glaube in Kinderschuhen findet niemals wirklich zu Jesus Christus. Es geht zumeist bloß um irgendeinen Naturgott – »Herrgott« genannt –, nicht aber um den Vater Jesu Christi.

Johannes vom Kreuz, der große spanische Mystiker, sagt es so: »Nur ein Mensch, der seine hergebrachten religiösen Gewissheiten verloren hat, ist fähig zur Begegnung mit dem lebendigen Gott.« Mit anderen Worten: Nur wer seinen Kinderglauben in Frage stellt, wer ganz bewusst vor und mit Gott zu leben beginnt, findet zu einer persönlichen Gottesbeziehung. Ich bin davon überzeugt: Wer sich wirklich auf Jesus einlässt, gelangt zu einer ganz neuen Freiheit. Wer in dieser Freiheit lebt, kann fröhlich seinen Glauben bezeugen.

Der Kinderglaube ist für Kinder durchaus wichtig, man soll ihn deshalb nicht von vornherein schlechtmachen. Erwachsene können von Kindern viel lernen: Vertrauen haben, die Zeit vergessen, absichtslos neugierig sein, ganz bei einer Sache bleiben, nicht nach Anerkennung und Erfolg schielen, sich nicht mit anderen vergleichen. Der Kinderglaube ist für Kinder durchaus wichtig, denn ohne natürliche Religiosität findet niemand zum Glauben. Im Erwachsenenalter jedoch ist der Kinderglaube kontraproduktiv, denn einen Zwergenglauben will man irgendwann nicht mehr haben, sondern unbedingt loswerden.

Die religiöse Entwicklung vom Kinder- zum Erwachsenenglauben ist der Weg von der Magie zur Mystik. Wie jeder Mensch im Mutterleib Stufen der biologischen Evolution durchläuft, so durchlebt und durchleidet er biografisch den Fortgang der geistig-geistlichen Evolution der Menschheit von einer naiv-magischen Religiosität hin zum aufgeklärt-mystischen Glauben. Es gibt ja nicht nur die biologische, sondern auch die geistige und spirituelle Evolution. In der Frühzeit der Menschheit geht es ums nackte Überleben und entsprechend um die Befriedigung von Urbedürfnissen. Erst später entstehen Rituale, vor allem um die Ereignisse der Lebenswenden herum: Geburt, Heirat, Tod. Solche Rituale geben Sicherheit und Halt, sie verleihen Identität. Denn die Welt wird als magisch empfunden, sie ist unberechenbar und bedrohlich. Deshalb muss man sich wehren gegen böse Geister und gegen ein schlimmes Schicksal. Erst mit der Erfindung der Schrift entstehen Gesetze und Regeln; Könige sorgen für Ordnung, Moralvorstellungen und Traditionen für ein reibungsloses Zusammenleben. Das verheißene ­Jenseits bringt den Lohn für ein moralisch gutes Leben, entsprechend wird Ausreißern und Bösewichten die Hölle heiß gemacht. Durch die Wissenschaft lernt die Menschheit erst sehr viel später, sich von einer religiös legitimierten Ordnung zu emanzipieren; seit der Aufklärung muss niemand mehr an Gott glauben, um einen gesellschaftlich anerkannten Platz einzunehmen. Die Welt ist mündig geworden, sie braucht Gott nicht mehr, weder als Welterklärungsmodell noch als Moralinstanz; kein Machthaber ist mehr »von Gottes Gnaden«, kein Problem wird mehr mit der Hypothese eines Gottes, der in der Lücke menschlicher Begrenztheiten oder wissenschaftlich noch ungeklärter Probleme sitzt, zu lösen versucht.

Mit dieser kurz skizzierten geistigen Evolution ist jeweils auch ein Wandel im Gottesbild verbunden. Ist Gott zunächst der Versorger von Urbedürfnissen, so stehen später Stammesgötter am Ahnenhimmel. In kriegerischen Gesellschaften, die sich durch Abgrenzung definieren, sind Macht- und Kriegsgötter gefragt, in Königreichen eher göttliche Vaterfiguren, Gesetzgeber und Richter. Erst mit der Hinwendung zum Diesseits durch die Naturwissenschaften wird das Gottesbild transzendent und mystisch; jetzt geht es um einen verborgenen Urgrund in der Tiefe des Seins. Nach der Erfahrung der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert wurde Gott häufig als Freund bezeichnet, er war jetzt barmherzig und lahm wie ein zahmer Tiger, »er« war jetzt eine »Sie«, nicht mehr nur Vater, sondern auch Mutter. Jede Zeit hat also ihr Gottesbild, das zugleich ­Inbegriff einer großen Sehnsucht und Legitimation des Bestehenden oder auch Kritik daran ist. Diese Entwicklung, die über mehr als 50.000 Jahre geht, ist ein Weg von der Magie zur Mystik, also von den allerersten religiösen Stufen bis heute. Und diese Entwicklung muss jeder Mensch durchlaufen, will er nicht im Kinderglauben, also in den ganz frühen Stufen, steckenbleiben.

Magie ist dabei die archaische Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt und man nur die richtigen Mittel anwenden muss, um das Göttliche nach eigenem Gutdünken zu beeinflussen. Da diese Mittel jedoch auch anderen zur Verfügung ­stehen, geht mit der Magie immer auch die Angst einher, das Göttliche könne einem Schaden zufügen. Magische Vorstellungen sind demnach immer angstbesetzt und von großer existenzieller Unsicherheit geprägt – das Göttliche erscheint einerseits unheimlich groß, dann aber wieder nützlich und brauchbar und damit klitzeklein, es bleibt unberechenbar und ambivalent.

Mystik ist demgegenüber kein Feld für religiöse Hochleistungssportler oder besonders begabte Gläubige, sondern schlichtweg die konsequente Pflege einer persönlichen Gottesbeziehung. Der Mystiker, die Mystikerin erfährt Gott als ein liebendes, aber auch herausforderndes Du, dem er/sie sich in Freiheit anvertrauen kann. In der Mystik ist Gott der immer Größere, er spricht und hört, er zwingt zu nichts, lässt sich aber auch nicht für eigene Zwecke gebrauchen und damit kleinmachen. Gott ist geheimnisvoll, aber nicht unheimlich; er ist eindeutig, nicht ambivalent. Jeder Mensch, der betet, ist in diesem Sinn ein Mystiker, da er sich auf eine persönliche Beziehung zu Gott einlässt und aus dieser heraus lebt und handelt. Wie gesagt: Beziehungsfähigkeit und Spiritualität sind im Grunde genommen ein und dasselbe, Mystik ist Gottesbegegnung auf Augenhöhe und per Du.

Von der Magie zur Mystik

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