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Kapitel 2

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Bei Frau von Berneis, Witwe des ehemals im ganzen Reich bekannten und angesehenen Großkaufmannes Fritz von Berneis – Hauptsitz in Dresden, Dependancen in Hamburg, Prag und Wien – begann wieder jene Unruhe, die in gewisser Regelmäßigkeit von ihr Besitz ergriff.

Nicht etwa, dass sie ansonsten als ruhig oder gar besonders ausgeglichen zu bezeichnen gewesen wäre. Weit gefehlt! Sie hatte das Temperament ihrer argentinischen Mutter geerbt – und dazu die Sturheit ihres Vaters, der beharrlich, verbissen und rücksichtslos gegen andere wie gegen sich selbst eine kleine Reederei in Warnemünde zu einigem Erfolg gebracht hatte.

Als ihr Gemahl starb – vor nunmehr fast sieben Jahren – da war sie gerade erst fünfunddreißig. Er hinterließ ihr ein enormes Vermögen, eine herrschaftliche Villa samt Personal an den Elbwiesen östlich der Stadt Dresden und, wie es schien, jede Menge Langeweile. Die Ehe war ja kinderlos geblieben. Die Ärzte hatten nie herausfinden können, woran es lag. Ob sie unfruchtbar war? Ob er mit seinen mehr als sechzig Jahren nicht mehr zeugungsfähig war? Aber, ich bitte Sie, Herr von Berneis, Sie sind doch in den allerbesten Jahren. Vielleicht, so vermutete einer der zu Rate gezogenen Spezialisten, vertrugen sich einfach ihre Säfte nicht wie es erforderlich wäre, um das harrende Ei zu befruchten.

Die Firma war an den Bruder gegangen, und das war ihr nur Recht gewesen. Sie wollte mit alldem auch gar nichts zu tun haben. Aber, was wollte sie tun?

Es war ihr unruhiges Gemüt, das ihr die Entscheidung, fortan einen ganz erheblichen Teil des Jahres auf Reisen zu verbringen, leicht machte. So besah sie sich die großen Städte Spaniens, war in Madrid und Barcelona, in Malaga und Sevilla. Sie verbrachte Wochen in Rom, in der Toskana und, von der Spiritualität des Ortes tief beeindruckt, am Fuße des umbrischen Monte Subasio, wo der heilige Franz von Assisi gewirkt hatte. Sie fuhr mit dem Schiff auf dem Rhein von der Schweiz bis nach Holland, ohne je das Verlangen zu haben, irgendwo zu bleiben. Am ehesten noch stellte sich dieses Empfinden ein, wenn sie in den Bergen war, tief im südlichsten Bayern, im sogenannten Werdenfelser Land.

Noch zu Lebzeiten ihres Mannes war es üblich, einmal im Jahr nach Partenkirchen zu reisen und dort, in der heimeligen Villa Alpenblick, zwei oder drei Wochen zur Sommerfrische zu residieren.

Oh, es gab mondäne Hotels in Partenkirchen und im Nachbarort Garmisch. Es gab Kurhäuser und Residenzen. Aber ihr Gemahl bevorzugte zumindest während dieses Erholungsaufenthaltes einen etwas reduzierten Komfort, ein etwas weniger öffentliches Leben. Zu gut Deutsch: Er wollte seine Ruhe haben. Was er so ähnlich gern auch zum Ausdruck brachte: »Weißt du, meine Liebe«, pflegte er zu sagen, »ich bin so froh, endlich mal meinen Frieden zu haben.«

Auch nach seinem überraschenden Tod hatte Frau von Berneis – Lidia, wie sie mit vollem Namen hieß, oder, noch genauer gesagt: Lidia Anna Mercedes – die Tradition der Alpenreise an den Fuß des wuchtigen Zugspitzmassivs fortgesetzt. Sie mochte diese Berge, denn sie waren wie der geahnte Hauch einer Erinnerung an die argentinischen Anden und, vielleicht mehr noch, an die Felstürme des patagonischen Hochlandes, das sie, als Kind noch, bei einer weiten Reise mit Eltern und Hauspersonal zu sehen bekommen hatte.

Als ihr Gemahl noch lebte, hatten sie sich manchmal einen heimischen Bergführer engagiert und waren in das Wettersteingebirge vorgedrungen. Nicht auf die kühnen Gipfel! Das wäre Herrn von Berneis nun doch zuviel gewesen. Zu mühsam und letztlich auch zu gefährlich. Sie, die junge Gemahlin, wäre freilich schon gerne so wo hinauf, um alles einmal von oben zu sehen.

Aber es hatte nicht sollen sein. Der Führer hatte sie zum Schachen geführt, durch die Höllenthalklamm zur Hütte und aus dem Höllenthal heraus übers Kreuzeck, einmal auch durch die Partnachklamm und über den »Bauern am Eck« und das Bergbauernnest Wamberg wieder hinab nach Partenkirchen. Alles schön, alles faszinierend – aber das besondere Prickeln, diese Momente der Spannung fehlten doch fast völlig.

Seit sie allein hierher kam, hatte sie sich keinen Bergführer mehr genommen. Sie erachtete es als unschicklich. Und außerdem hätte sie sich nicht wohlgefühlt in der alleinigen Begleitung eines solch grobschlächtigen Menschen. Sie hatte kleinere touristische Ausflüge auf eigene Faust unternommen, war vor allem dort wieder entlanggewandert, wo sie mit Mann und Führer vor Jahren schon gewesen war, hatte zudem den unschwierigen Wank bestiegen, um von dort eine wirklich unvergleichlich schöne Aussicht zu genießen, und war sogar bis Mittenwald marschiert, ganz allein mit sich, der Sonne, dem Wind, den Düften des Waldes und ihren Träumen, die Welt ganz tief begreifen zu können.

An ruhigeren Tagen wie dem heutigen genoss sie das Frühstück in der Villa. Durch die Fensterscheiben wärmte selbst die Herbstsonne noch sehr angenehm. Und Lidia von Berneis gab sich der Muße hin, im Loisachboten nicht nur Neues aus aller Welt zu lesen, sondern auch »Vermischtes« aus dem Leben und der Gesellschaft in der Provinz.

Danach rüstete sie sich für einen ausgiebigen Spaziergang. Wie so oft, ganz ohne eigentliches Ziel. Sie schlenderte durch die Ludwigstraße mit den Geschäften und den paar Wirtshäusern zur Rechten und zur Linken, blieb, wie jedes Mal, vor den Auslagen der Buchdruckerei Ostler & Bierprigl stehen, und bog bei der Pfarrkirche in die Ballengasse ein. Sie staunte über die grindigen Bauernhäuser mitten im Ort, über die Kargheit des Lebens, das man den Kindern hier ansehen konnte: Barfuß stapften sie durch Matsch und Kuhdreck, aus ihren Hosen waren sie herausgewachsen, die Jacken saßen zu knapp, und dass ihnen der Rotz aus der Nase hing und allmählich in den Mund lief, das schien niemanden zu kümmern.

Sie spazierte auf St. Anton zu, ließ das hoch gelegene Wallfahrtskirchlein dann aber sein, machte mehr oder weniger eine Spitzkehre und nahm den gar nicht so kurzen Weg nach dem Nachbarort Garmisch.

Wie ein Magnet schien der Bahnhof auf sie zu wirken. Er zog ihre Schritte an, sodass sie Partenkirchen verließ und durch abgemähte Wiesen hinüberwanderte, um wenigstens eine Viertelstunde lang den einfahrenden und viel mehr noch den abfahrenden Zügen zuzusehen.

War es Fernweh? Oder lag es einfach nur daran, dass sie den Dampf, den Rauch und den Ruß der Lokomotiven so liebte?

Fernweh allein konnte es gar nicht sein. Schließlich fuhren die Züge von Garmisch aus nicht gerade in die große ferne Welt. Hier hielt kein Orient-Express. Nach Murnau fuhren sie. Und nach München.

Und doch: Sie ertappte sich immer wieder dabei, lustvoller auszuschreiten, je näher sie dem Bahnhofe kam. Sie mochte es, die Fahrpläne zu studieren. Und es machte ihr Freude, jene Menschen zu beobachten, die oft mit viel Gepäck aus den Abteilen stiegen und sich in der neuen Umgebung erst einmal mit gewisser Hilflosigkeit umsahen. Gern besah sie sich die Frauen, ihre üppigen Kleider, ihren Kopfputz und ihre Besorgnis, sich beim Verlassen eines Waggons irgendwo schmutzig zu machen.

Natürlich hatte sie auch ein heimliches Auge für die Männer, die mit den Zügen ankamen oder abreisten. Die strammen und stolzen und dabei doch in ihrer Eitelkeit unerträglichen Herren Offiziere zum Beispiel. Die Sommerfrischler aus den flachen Regionen des Landes, von denen sich manche den Aufenthalt im Gebirge von der Suppe abgespart hatten. Hin und wieder auch Herren von Stand. Bisweilen erschienen ihr gerade die unfreiwillig komisch. Kaum einer aber entlockte ihr ein zweites Hinsehen, gar den Gedanken, wie so ein Herr wohl ohne sein teures Gewand, ohne die zünftige Lodenhose, ohne das Jägerjackett und ohne den Hut samt prächtiger, steil aufgerichteter Feder aussehen würde.

Gern sah sie die Bergsteiger, die mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen über den Perron klackerten, pralle Leinenrucksäcke und derbe Hanfseile über den Schultern. Ihre Gesichter und ihre ganzen Erscheinungen legten Zeugnis davon ab, dass diese Welt voller Abenteuer war – man musste nur aufbrechen, hinaus und hinauf.

Und ganz besonders gern beobachtete sie die Kinder. Wenn sie voller Begeisterung ankamen oder wenn sie beim Losfahren die Gesichter gegen die Scheiben drückten und irgendjemandem winkten. Ja, dachte sie dann, für die Kinder ist alles noch Abenteuer.

Und dann war sie immer ein wenig traurig, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war.

Ein Kind wenn ich hätte, dachte sie. Aber sie führte diesen Gedanken nie bis zu einem Ende. Nur einfach: Ein Kind wenn ich hätte …

Auch heute nicht.

In melancholischer Stimmung spazierte sie weiter. Die mondänen Quartiere, die in Garmisch entstanden waren, interessierten sie nicht. Das alles hatte sie andernorts bis zum Überdruss genossen. Sie schaute zu den Bergen, die heute nicht ganz klar vor einem milchig bedeckten Himmel standen. Selbst auf den höchsten Gipfeln lag noch kaum Schnee. Die Zugspitze war von Norden her weiß angezuckert, da hatte beim letzten Unwetter Schnee die Felsen verpappt. Aber mehr war es noch nicht. Sie hatte die Berge schon mal im August winterlicher gesehen als nun im vorgerückten Herbst.

Sie musste daran denken, wie am Tag zuvor der Wetterwart verabschiedet worden war. Ein ganz fescher junger Mann. Die Blasmusik hatte gespielt. Der Bürgermeister von Partenkirchen hatte gesprochen und ein Herr von der Meteorologischen Zentralstation München. Die Reden waren langweilig. Aber die Musik war schmissig. Und wenigstens war überhaupt etwas los.

Als der Tross losgezogen war, der Wetterwart, der Bergführer, die Träger und ihre Maultiere, da hatte sie die Männer beneidet um den Aufstieg zur Zugspitze. Ja, da wäre sie am liebsten mit. Wie sie überhaupt nur zu gerne einmal auf die Zugspitze, die höchste Erhebung des ganzen Reiches, hinaufgestiegen wäre. Einmal das Land von ganz oben sehen, wo nichts Höheres mehr ist.

»Wer weiß«, hatte Karl Schaffler, ihr Hauswirt, am Morgen gesagt, »wie lange der Winter noch hinterm Berg hält. Der Himmel … ich weiß net … er macht mir den Eindruck, als wenn der Herbst jetzt bald vorbei wäre.«

Am frühen Nachmittag trank sie ein Kännchen Tee. Sie konnte dabei windgeschützt auf der Veranda sitzen, wo auch einige andere Gäste der Villa Alpenblick die Sonne des späten Jahres auskosteten.

Der Blick war herrlich: Das ganze Massiv lag als malerisch ausgebreitetes Gebirgspanorama vis-à-vis: Die formschöne Alpspitze, die hohe Zugspitze, ein markanter, geradezu Ehrfurcht gebietender Anblick.

»Darf man fragen, gnä Frau, was Sie heut noch vorhaben?«, fragte die immer neugierige, dabei aber gründlich verschwiegene Frau Schaffler.

Lidia von Berneis hatte gar nichts gegen eine kleine Konversation mit den Hausleuten. Schließlich kannte man sich seit etlichen Jahren. Hierher zu kommen war für sie – und für die Schafflers auch – immer mit einer ehrlichen Wiedersehensfreude verbunden.

»Ich werde mir nun endlich mal diese Villa Orient ansehen«, gab Lidia lächelnd zurück. »Seit Jahren weiß ich davon, hab oft davon reden gehört. Und jetzt, am Bahnhof, da hing sogar ein Plakat.«

»Aber was G’scheites ist das nicht«, sagte die Frau Schaffler. »Man hört nicht nur Gutes über den Mann, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Aber das macht doch nichts«, sagte Lidia mit einem breiten Lächeln. »Es geht ja gar nicht darum, das wirklich ernst zu nehmen. Aber es mag doch immerhin ein wenig unterhaltsam sein. Glauben Sie nicht, liebe Frau Schaffler?«

»Ich weiß net«, sagte die Hauswirtin. »Ich weiß net. Mir wär’s schad ums Geld. Er verlangt ja doch fünfzig Pfennig Eintritt dafür …«

»Aber Sie wissen doch: Wer sich nichts gönnt …«

Aus ihrer kleinen, in Brokatarbeit gefertigten Handtasche zog Lidia eine Postkarte. Vorne drauf war eine Abbildung der Villa Orient zu sehen. Auf der Rückseite pries ein Text die wahrhaft wundersamen Sehenswürdigkeiten und empfahl den Besuch dieses privaten Museums ganz nachdrücklich:

»Sehr reichhaltige Sammlung fremdländischer Gegenstände, Kostüme verschiedener Nationen, sehr wertvolle Waffensammlung. Seidenstickereien, Musikinstrumente. Geweihe, Holzschnitzereien. Perlmutteinlagen. Muschelarbeiten. Indische Götzen und Götzentempel. Großartige Käfer- und Schmetterlingssammlung. Mehrere hundert ausgestopfte und präparierte fremdländische Tiere. Reptilien in Spiritus. Völkergalerie (zwanzig verschiedene Menschenrassen in Wachs). Mumien. Lebende Leoparden, lebende Schlangen, lebende Affen. Jeder Besucher wird überrascht sein …«

Sie steckte die Karte wieder weg und sagte: »Ich schau mir das an.«

Und so schlenderte sie dann am Nachmittag unter rost- und gelbfarbenen Bäumen ins sogenannte Hasenthal und zur schon von weitem überaus ungewöhnlich wirkenden Villa Orient. Dabei wäre diese Anmutung mit orientalisch gar nicht so richtig beschrieben gewesen. Eine Skurrilität war es, ja, genau. Eine Mischung aus kindlicher Märchenwelt und exotischem Sammelsurium. Ein maurischer Turm, angelehnt an eine umgebaute Partenkircher Villa. Ein orientalischer Torbogen, so bunt bemalt wie Teile der Hausfassade. Palmen im Park, die dem hier doch oft rauen Klima zu trotzen schienen. Und all das inmitten einer voralpinen Umgebung, wo auf freiem Hang verstreut noble Anwesen thronten. Musste schon ein sonderbarer Kauz sein, der Mann, der das alles geschaffen hatte.

Lidia hatte durchaus ein Faible für die Sonderlinge und für die kleinen Absonderlichkeiten im Leben. Es mochte von ihrer Herkunft herrühren, dass sie dem nur geordneten, oft tristen und oft grauen Deutschsein nicht immer viel abgewinnen konnte. Sie mochte das Bunte lieber, jede verspielte Farbenpracht erinnerte sie auch an die Papageienvögel ihrer Kindheit, die den Patio ihres argentinischen Elternhauses in eine gitterlose Voliere verwandelt hatten.

Im Sächsischen, wo sie nun ihren Stammsitz hatte, gab es solche Sonderlinge zuhauf. Allen voran jener in Mode gekommene Schriftsteller Karl May, um den sich manch ein Skandal rankte. In Radebeul bei Dresden hatte er mit großen glänzenden Lettern den Schriftzug »Villa Shatterhand« an der Fassade seines Anwesens anbringen lassen. Angeblich soll er in seinem Arbeitszimmer wie ein amerikanischer Fallensteller herumlaufen, manchmal auch wie ein arabischer Nomade. Angeblich will er all die Abenteuer, die in seinen zahllosen Büchern niedergeschrieben sind, höchstpersönlich und genau so erlebt haben. Angeblich aber soll er ein Stubenhocker sein, vorbestraft zudem, aber ausgestattet mit einer überbordenden Phantasie und ganz gehörigem Fleiß.

Ein alles in allem harmloser Spinner, der mit seinen Kopfgeburten die Jugend – und nicht nur die – zu begeistern wusste. Sie selbst hatte drei oder vier seiner Werke gelesen oder zumindest angefangen: »Durch die Wüste« und »Der Schatz im Silbersee« – diese beiden hatten sie zu fesseln vermocht. Aber ein anderes, in dem es um die Kordilleren ging, war ihr dann doch mehr als abstrus erschienen und sie hatte es nach kaum hundert Seiten weggelegt.

Aber sei’s drum.

Sie entrichtete an der Villa Orient den Eintrittspreis von fünfzig Pfennig und schmunzelte über die protzige Werbetafel, die das nun Folgende als »Erste Sehenswürdigkeit Partenkirchens« anpries. Sie brauchte sich nur umzudrehen und zu den Bergen zu schauen: Da waren die ersten Sehenswürdigkeiten von Partenkirchen und von Garmisch. Majestätisch, gewaltig, fast dreitausend Meter hoch. Dagegen wäre diese Tier- und Monströsitätenschau gewiss nichts anderes als eine kleine Volksbelustigung irgendwo auf einem Rummelplatz …

Ganz so war es dann aber nicht. Der Park war mühevoll angelegt, und bestimmt herrschte hier in den heißen Monaten Juli und August eine üppige Blüte. Denn es gab hier Rankgewächse und Stauden, Büsche und Bäume aus aller Herren Länder. Und es war schon ein Wunder, dass die sich hier, in fast neunhundert Metern über dem Meer, überhaupt halten konnten, dass ihnen der Schnee, der in den Wintern überaus reichlich fiel, nichts anzuhaben vermochte.

Beeindruckt war sie von den Leoparden. Noch nie war sie diesen Tieren so nahe gekommen wie hier an dem Gehege, das allerdings dem Bedürfnis dieser Wildtiere nach Auslauf und nach Bewegung nicht entsprach. Eingepfercht war das Paar. Eingesperrt auf engem Raum. Eines der Tiere schlief, seitwärts hingestreckt. Das andere saß aufrecht und fixierte sie, die im Augenblick einzige Besucherin in der orientalischen Villa. Wunderbar war die Zeichnung des Fells. Rötlichgelb die Grundfärbung, tiefschwarz die unendlich vielen Flecken, die darin verstreut waren. Die Augen, mit denen der Leopard sie ansah, schienen zu leuchten. Sie erinnerte sich an ein Buch, das alle Tiere des Erdkreises behandelte, und worin so oder ähnlich geschrieben stand: »Der Leopard mordet alle Geschöpfe, welche er bewältigen kann, ob groß oder klein, ob sie in der Lage sind, sich zu wehren oder ob sie ihm widerstandslos zum Opfer werden …«

Es hatte etwas Beunruhigendes, von diesem Raubtier durchdrungen zu werden, als wäre sie ein Opfertier. Und doch war es vor allem Mitgefühl, das Lidia für diese eingesperrten Wesen aufbrachte. Sie wandte sich ab und ging davon und versuchte, diese Begegnung rasch zu vergessen.

Sie ging durch die Ausstellungsräume im Haus, fand aber weder an den mit Nadeln aufgespießten Schmetterlingen noch an den präparierten Säugetieren Gefallen. Der Leopard hatte sie erschüttert. Sein Schicksal hinter diesen Gittern, die er wohl kaum lebend hinter sich lassen würde. Eingesperrt bis ans Ende seiner trübseligen Tage.

Als sie schon im Begriff war, die Villa Orient wieder zu verlassen, entdeckte sie im Park etwas, das sie doch noch auf andere Gedanken bringen konnte. Auf ganz andere Gedanken! Auf Gedanken, die schließlich ihr weiteres Leben verändern würden. Wie das manchmal eben so geht, dass einem das Schicksal von einer Sekunde auf die andere auf völlig neue Wege schickt. Wege ohne Wiederkehr.

Unter einem Baldachin stand auf einem dreibeinigen Stativ ein Fernrohr von mindestens einem Meter Länge. Es zeigte in ungefährer Richtung zu den Dreitorspitzen, gewaltigen Felszacken, die sich im Süden über den bewaldeten Vorbergen erhoben. In die Ferne sehen, das Ferne sich ganz nah heranholen, die Distanzen aufheben, hier sein und dort und alles zugleich.

Lidia trat an das Fernrohr heran. Sie steckte sich die schwarzen Haare hinters Ohr, drückte ein Auge zu und das andere nah an das Okular.

Die Optik war wie auf ihre Augenstärke eingestellt. Sie musste das Rohr nur ein wenig nach oben und ein wenig nach rechts schwenken, schon hatte sie die gefurchten Felsen der Dreitorspitzen ganz nah vor Augen, sah den Schnee, der sich in den nordseitigen Rinnen bereits festgesetzt hatte, sah den Himmel darüber.

Sie schwenkte weiter nach rechts, erfasste die Alpspitz-Pyramide, deren letzter Gipfelaufschwung von steilen Felsbändern gebildet wurde; auch hier hatte sich schon erster Schnee abgelagert, dazwischen aber war noch reichlich nackter und bedrohlicher Fels zu sehen. Sie machte sich einen Spaß daraus, den Grat von der Alpspitze über die Höllenthalspitzen und hinüber zur Zugspitze gleichsam mit dem Fernrohr entlang zu klettern. Sie schwenkte ein wenig nach unten, suchte den Höllenthalferner, von dem sie schon so manches gehört hatte, und tastete sich dann nach oben, nach oben und immer weiter nach oben, bis Fels und Schnee aufhörten, bis der höchste Gipfel erreicht war.

Die Zugspitze, dachte sie. Eindrucksvoll, wirklich eindrucksvoll.

Und weiter dachte sie: Da oben möchte ich jetzt sein. Einen Tag und eine Nacht auf dem Berg verbringen, so wie der Wetterwart in seiner Station. Es muss einfach köstlich sein, in völliger Einsamkeit und völliger Stille die Sonne unter- und wieder aufgehen zu sehen. Was gäbe ich dafür.

Sie ruckte am Fernrohr, drehte an den Ringen aus Messing, hoffend, sich den Gipfel noch näher heranzuziehen, vielleicht sogar die Wetterstation ins Bild zu bekommen.

Aber sie war nicht zu sehen. Nicht von diesem Standort aus. Die Station und die gleich daneben errichtete Bergsteigerunterkunft, Münchner Haus genannt, waren von Felszacken verdeckt.

Aber da war das Gipfelkreuz, nicht mehr von der Sonne beschienen, aber doch metallisch glänzend. Es auch nur zu sehen, vermittelte schon ein erhabenes Gefühl.

Nach allem, was sie bis jetzt so gehört hatte, bei dem Bergführer beispielsweise, mit dem sie früher unterwegs waren oder auch bei den Bergsteigern, die nach vollbrachter Tour am Bahnhof ihren Zug erwarteten, konnte der Aufstieg durch das Reinthal nicht allzu schwierig sein. Lang soll er sein, dachte sie. Ein ganz, ganz weiter Weg. Aber nicht sehr schwer.

Nach einem letzten Blick zum Gipfel der Zugspitze ließ sie vom Fernrohr ab und machte sich, nachdenklich und unternehmungsfroh zugleich, auf den Rückweg zu ihrem Quartier.

Es müsste doch möglich sein, da hinaufzugehen, dachte sie. Ohne Führer. Auch für eine Frau.

Und während sie es dachte, war ihr Entschluss tief drinnen in ihrem Herzen schon gefallen. Nur, dass sie es sich selbst noch nicht eingestand.

Auf dem hohen Berg

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