Читать книгу 2034 - Stefan Koenig - Страница 11
Gießen, Pathologie, Raum 508
ОглавлениеIch denke im Moment weder an den großen Crash noch an die große Erlösung durch die großartigen Erlöser Gates, Schwab, Rockefeller, Bezos, Musk, Zuckerberg und die anderen multimilliardenschweren US-Weltenlenker. Ich bin ganz bei mir, hier in diesem kalten Raum, auf diesem kalten Seziertisch. Ich höre die erste Stimme: „Unterschreiben Sie bitte hier, Frau Doktor? Aber gut aufdrücken – es sind drei Durchschläge.“
Das Geräusch eines Kugelschreibers auf Papier. Ich stelle mir vor, wie der Besitzer der ersten Stimme der Ärztin ein Schreib-Brett hinhält.
Oh Heiliger Bimbam, komme über mich und lass mich bitte nicht tot sein!, versuche ich zu schreien und bringe keinen Ton heraus. Immer noch sehe ich ein Bild vor mir: Wie mich der beratende Impfarzt desinteressiert anschaut, wie er mich mit seinem harmlosen Allerwelts-Lächeln darauf aufmerksam machen will, dass alles gut geht.
Ich versuche erneut, etwas hinauszubrüllen, doch kein Laut kommt über meine bewegungslosen Lippen.
Aber ich atme doch ... stimmt‘s? Ich meine, ich kann nicht spüren, dass ich‘s tue, aber meine Lunge scheint in Ordnung zu sein, sie pocht nicht oder schreit nach Luft, wie sie‘s manchmal tut, wenn ich zu lange unter Wasser war, also muss mit mir alles in Ordnung sein, nicht wahr?
Wärest du tot, murmelt die Stimme in meinem Unterbewusstsein, hättest du den Leichensack aus Vinyl nicht gerochen. Eine Leiche kann nicht riechen, oder kann sie?
Pit: „Was machen Sie nächsten Samstagabend, Verehrteste?“
Wenn ich tot wäre, kann ich dann wirklich hören, was Pit sagt? Und kann ich die Sprache der Lebenden, zu denen ich nicht mehr gehöre, dann noch verstehen? Ich höre doch (und verstehe) die Antwort der Ärztin, die jetzt sagt, dass sie nächstes Wochenende ihren Hund badet, der auch Pit heißt. Was für ein Zufall! … Worauf wieder alle lachen. Wenn ich tot bin, warum bin ich dann nicht entweder gefühllos oder in das blendend weiße Licht eingehüllt, von dem in Nahtod-Berichten so oft die Rede ist? Wo ist das Licht am Ende des Tunnels?
Wo bleibt das Auge Gottes? Und was habe ich zuletzt wirklich gesehen, wenn ich etwas gesehen habe?
Dann ist ein scharfes Reißen zu hören, und plötzlich bin ich in jenes weißes Licht eingehüllt, an das ich gerade gedacht habe. Es ist blendend hell wie die Sonne, wenn sie an einem Wintertag durch die Wolkendecke bricht. Ich versuche meine Augen schützend zusammenzukneifen, aber nichts passiert. Meine Lider gleichen Jalousien, deren Mechanik defekt ist.
Ein Gesicht beugt sich über mich, verdeckt einen Teil des grellen Lichts, das nicht von irgendeinem gleißend hellen Himmelskörper, sondern von in Reihen angeordneten Leuchtstoffröhren an der Decke über mir kommt. Das Gesicht gehört einem gut aussehenden jungen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Er sieht aus wie einer dieser Muskelmänner, die in Baywatch oder Melrose Place die Strände bevölkert haben. Jedoch geringfügig intelligenter. Eine Menge schwarzes Haar quillt unter seiner achtlos getragenen Chirurgenhaube hervor. Er trägt auch den dazu passenden Kittel. Seine Augen sind kobaltblau, genau die Farbe, auf die angeblich alle Frauen fliegen. Kleine Sommersprossen übersäen seine Wangen.
Ich stelle mir vor, dass sich gleich eine ganze Schar junger Medizinstudenten über mich beugt, um mich neugierig zu mustern, damit sie abends in ihrer Stammkneipe über mich ablästern können, von wegen alter Knochen mit Piercing an der Brustwarze und Tattoo auf der Leiste („Schuster bleib bei deinen Leisten, ha ha ha) und so weiter …
„He, Mann“, sagt der Baywatch-Athlet. Ihm gehört die dritte Stimme. „Dieser Kerl sieht wirklich wie Stephan Remmler aus! Vielleicht nicht mehr gerade der Jüngste …“ Er beugt sich tiefer über mich. Eines der flachen Bänder, mit denen sein grüner Kittel am Hals zugebunden wird, kitzelt mich an der Stirn. „… aber yeah, ich sehe die Ähnlichkeit. He, Stephan, sing uns was!“
Hilf mir!, ist es, was ich zu singen versuche, aber ich kann nur mit meinem starren Totenblick in seine dunkelbraunen Augen sehen; ich kann mich nur fragen, ob ich tot bin, ob die Sache wirklich so abläuft, ob es jedem so ergeht, nachdem die Pumpe versagt hat. Wenn ich noch lebe, wie kommt es dann, dass er nicht gesehen hat, wie meine Pupillen sich verengt haben, als das Licht sie getroffen hat? Aber ich weiß die Antwort darauf … glaube sie jedenfalls zu kennen. Sie haben sich nicht zusammengezogen. Deshalb ist das grelle Licht der Leuchtstoffröhren so schmerzhaft.
Das Kittelband kitzelt meine Stirn wie eine Feder.
Hilf mir!, kreische ich den Baywatch-Mucki-Man an, der vermutlich ein Assistenzarzt oder vielleicht bloß ein Medizinstudent ist. Hilf mir, bitte!
Meine Lippen zittern nicht einmal.
Das Gesicht des jungen Mannes weicht zurück, das Band kitzelt nicht mehr, und all dieses weiße Licht flutet durch meine Augen, die nicht wegsehen können, flutet direkt in mein wehrloses Gehirn. Das ist ein höllisches Gefühl, eine Art Vergewaltigung. Muss ich noch lange hineinstarren, werde ich blind, denke ich, und diese Blindheit wird eine Erleichterung sein.
KLACK! Das Geräusch des einrastenden Anschnallgurtes.
Jetzt beugt sich ein weiteres Gesicht in mein Blickfeld. Darunter ein weißer Kittel statt eines grünen, darüber ein üppiger, zerzauster orangeroter Haarschopf. Ausverkaufs-IQ, das ist mein erster Eindruck. Das kann nur Pit sein. Er trägt ein breites dämliches Grinsen zur Schau, die Art Grinsen, die ich als Oberstufen-Grinsen bezeichne, das Grinsen eines Jungen, der auf einem vergeudeten Bizeps die Tätowierung GEBOREN, UM BÜSTENHALTER ZU ZERREISSEN tragen sollte. Er erinnert mich zudem aber auch an jenen unsäglichen Ewig-Abiturienten-CDU-Zappel-Philipp-Großmaul-Amthor.
Wo haben mich diese Blödmänner aufgegabelt und wie haben Sie mich transportiert? In einem dieser hässlich-grauen Minnas der Pathologen?
„Stephan!“, ruft Pit aus. „Jesus, du siehst guuuut aus! Das ist echt ‘ne Ehre! Sing für uns, großer Junge! Sing, Stephan, sing um dein Leben!“
Irgendwo hinter mir erklingt die Stimme der Ärztin, kühl, nicht einmal mehr vorgebend, diese Possen amüsant zu finden: „Schluss jetzt, Pit.“ Dann in eine andere Richtung: „Was ist mit ihm passiert, Tim?“
Tims Stimme ist die erste Stimme – Pits Partner. Ihm scheint es etwas peinlich zu sein, mit einem Kerl zusammenzuarbeiten, der gerne Oliver Pocher wäre. „Ist im Impfzentrum zusammengeklappt, einfach vom Stuhl gefallen und war sofort mausetot, Herztod. Die Sanis meinen, so schnell könne eine Spritze nicht wirken, wie er vom Stuhl gesegelt wäre, vielleicht vorgeschädigt. Herzdruckmassage habe nicht gefruchtet. Wahrscheinlich hätte ihn sowieso bald irgendein kleiner Schock einfach umgehauen.“
Noch einmal rekapituliere ich: Ich liege hilflos und starr in einem Leichensack, wahrscheinlich in einem Autopsie-Raum. Irgendwelche Idioten erlauben sich Scherze auf meine Kosten, und ich glaube, dass ich atme, aber es nicht merke. Wie sollen es da die Knallköpfe merken, die mich für Stephan Remmler halten? Nur die Aufschnitt-Ärztin („Dürfen es 50 Gramm Aufschnitt mehr sein?“) scheint noch einen Funken Respekt vor meiner Leiche zu haben.
Pit schaut noch immer auf mich herab, blöde und fasziniert. Nicht mein Tod interessiert ihn, sondern meine Ähnlichkeit mit TRIO-Sänger Stephan Remmler. Oh ja, ich bin mir dieser Ähnlichkeit bewusst, bin nicht darüber erhaben gewesen, sie bei bestimmten Gesangsgelegenheiten auszunützen. Ansonsten ist nicht viel damit anzufangen. Und unter diesen Umständen … mein Gott!
„Wer hat den Totenschein ausgestellt?“, fragt die Ärztin.
„Der Impfarzt, Dr. Widuweit, und der herbei gerufene Kollege, ein Notarzt namens Dr. Schlauer. Die beiden haben ihm die Absolution zur Himmelfahrt erteilt“, sagt Tim und blickt dabei kurz auf mich herab. Mindestens zehn Jahre älter als Pit. Schwarzes, an einigen Stellen grau meliertes Haar. Brille.
Wie kommt’s, dass keiner dieser Leute sehen kann, dass ich nicht tot bin?
„Das hier ist Schlauers Unterschrift auf Seite eins … sehen Sie?“, fährt Tim fort.
Das Rascheln von Papier, dann: „Jesus, Maria und Josef! Schlauer! Den kenne ich. Der hat Noah untersucht, nachdem die Arche am Berg Ararat gestrandet war.“
Pit sieht nicht so aus, als habe er den Scherz verstanden, aber er lacht mir trotzdem schallend ins Gesicht. Ich rieche Zwiebeln in seinem Atem, ein kleiner Rest Mundgeruch von einem Döner, und wenn ich Zwiebeln riechen kann, muss ich atmen. Das muss ich, nicht wahr? Wenn ich nur …
Bevor ich diesen Gedankengang zu Ende bringen kann, beugt Pit sich noch tiefer über mich, und mich durchzuckt ein Hoffnungsstrahl. Er hat etwas gesehen und will mich mit Mund-zu-Mund-Beatmung wieder beleben. Gott segne dich, Pit! Gott segne dich und deinen Zwiebel-Atem!
Aber das blöde Grinsen verändert sich nicht, und statt seinen Mund auf meinen zu drücken, ergreift er mit einer Hand meinen Unterkiefer. Jetzt hält er die eine Seite mit seinem Daumen und die andere mit seinen Fingern fest.
„Er lebt!“, plärrt Pit. „Er lebt, und er wird für den Stephan-Remmler-Fanclub von Raum 508 singen!“
Seine Hand packt fester zu – das tut entfernt weh wie das Abklingen einer örtlichen Betäubung mit Novocain. Er fängt an, meinen Unterkiefer so auf und ab zu bewegen, dass meine Zähne klappern. Plötzlich fängt er mit schrecklich atonaler Stimme zu singen an:
„Was ist los mit dir mein Schatz, aha?
Geht es immer nur bergab, aha?
Geht nur das, was du verstehst, aha?
This is what you got to know:
Let you go, it didn’t show.”
Mein Mund öffnet und schließt sich unter dem groben Druck seiner Hand; meine Zunge steigt und fällt wie ein auf der Oberfläche eines schwankenden Wasserbetts liegender toter Hund.
Ich weiß nicht warum, aber ich muss jetzt an eine TV-Krimiserie denken.
„Schluss damit!“, faucht die Ärztin ihn an. Das klingt ehrlich schockiert. Pit, der das vielleicht spürt, hört keineswegs auf, sondern macht fröhlich weiter. Seine Finger graben sich jetzt in meine Wangen. Meine unbeweglichen Augen starren blind nach oben, direkt in sein blödes, singendes Maul:
„Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da“
Ich glaube, ich muss kotzen. Aber nichts passiert. Ich lenke mich mit einem Erinnerungsversuch ab: Was war eigentlich vor dieser Impfung geschehen? War ich nicht mit Ben bei Freunden eingeladen gewesen? Doch, da war etwas. Meine Erinnerung wird sehr konkret. Meine Freunde, ein Pärchen um die sechzig Jahre alt, hatten Ben und mich ausgeladen, weil wir uns noch nicht hatten impfen lassen …
Endlich hört der Schwachsinnige mit seinem schwachsinnigen Song auf, und doch erinnert er mich damit an eine schöne Zeit in den Achtzigern. New Wave, Neue Deutsche Welle, Fehlfarben, Spider Murphy Gang, Geier Sturzflug, Hubert Kah.
Unangenehm spüre ich die Sprengsel seiner feuchten Aussprache auf Stirn und Wangen, aber ich kann nichts wegwischen. Scheiße. Plötzlich beugt er sich wieder über mein Gesichtsfeld und starrt mich wie ein wildgewordener DJ an und singt mit seiner schrägen Stimme weiter:
„Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht – Aha!
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht – Aha!
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht – Aha!
Soso, du denkst, es ist zu spät, aha!
Und du meinst, dass nichts mehr geht, aha!
Und die Sonne wandert schnell, aha!
After all is said and done”
Mir gruselt’s. Werde ich gleich in ein Kühlfach geschoben, zu all den anderen?
Plötzlich muss ich an HIT RADIO FFH denken. Ist das hier alles nur ein Hörspiel? Aber das kann nicht sein!
„Schluss hab ich gesagt!“, zischt die Ärztin jetzt mit einem ganz entschlossenen Unterton. Dann ist sie da, eine Frau in einem grünen Arztkittel, deren Mütze an einem Band um den Hals und wie Cisco Kids Sombrero über ihren Rücken herabhängt. Sie trägt kurzes, aus der Stirn zurückgekämmtes Haar, ist gut aussehend, aber ein wenig streng – eher apart als hübsch. Sie packt Pit mit einer Hand, deren Nägel sehr kurz geschnitten sind, und zerrt ihn von mir weg.
„He!“, sagt Pit empört. „Hände weg von mir!“
„Dann lassen Sie Ihre Hände von ihm“, sagt sie unüberhörbar verärgert. „Ich habe Ihre Dummenjungenstreiche satt, Pit, und wenn Sie nächstes Mal wieder damit anfangen, erstatte ich Meldung.“
„He, nur nicht aufregen“, sagt der Baywatch-Typ (ihr Assistent). Er sagt es offenbar in Richtung von Pit. Das klingt besorgt, als fürchte er, Pit und seine Chefin könnten ihren Streit auf der Stelle mit den Fäusten austragen. „Schluss jetzt, okay?“
„Warum ist sie so eklig zu mir?“, fragt Pit. Er versucht noch immer empört zu wirken, aber tatsächlich winselt er jetzt. Dann in eine andere Richtung: „Warum sind Sie so eklig zu mir? Haben Sie Ihre Tage, liegt’s daran?“
Frau Doktor, hörbar angewidert: „Schaffen Sie ihn hier raus.“
Tim: „Komm jetzt, Pit. Wir müssen uns die Einlieferungspapiere quittieren lassen.“
Pit: „Yeah. Und ein bisschen frische Luft schnappen.“
Ich höre mir das alles an, als käme es aus HIT RADIO FFH jenem Sender, den ich bald schon als private Aktiengesellschaft mit meinen Bücher-Fans betreiben würde. Fabulieren und Rekapitulieren ist hier in diesem schrecklich langen Moment meine einzige geistige Nahrung: Ich liege hilf- und reglos wie ein Toter in einem Leichensack auf einem Stahltisch. So fühlt es sich zumindest an. Depperte Medizinmänner machen sich über meine Leiche lustig, und ich starre ununterbrochen in die grellen Neonröhren über mir und kann die Augen nicht schließen und hoffe, dass ich erblinde, um diese Augenlicht-Folter nicht länger ertragen zu müssen. Die pathologischen Idioten, die sich mit mir beschäftigen, merken nicht, dass ich noch lebe – aber ehrlich gesagt, bin ich mir selbst nicht ganz sicher …
Jedenfalls halten sie mich für Stephan Remmler, den TRIO-Sänger, dessen Hit „Da Da Da“ sie mir laut und respektlos und mit feuchter Aussprache mitten ins Gesicht singen. Und dann gibt’s da noch diese Ärztin, die mich bisher noch nicht einmal richtig angeschaut hat … und jetzt endlich schmeißt sie Pit und seinen Kumpel raus.
Raus mit euch, ihr schrecklich unfähigen, ihr schrecklich ungerechten Pathologen …
Ich sehe jetzt keine Person mehr, kein dämliches oder beleidigtes Gesicht, aber ich kann mir denken, dass Pit ziemlich beleidigt sein muss. Er (oder Tim) gibt ein Räuspern von sich, dann schlurfen Schritte. Sie schlurfen Richtung Ausgang, nehme ich an. Tatsächlich, Pit ist offensichtlich eingeschnappt, denn nun fragt er die Ärztin aus einiger Entfernung, warum sie nicht einfach ein rotes Bändchen um den Arm trägt, wenn sie ihre Tage hat, damit die Leute wissen, woran sie sind. Ich höre noch, wie sie ein wirklich wütendes „RAUS!“ brüllt. Dann ist wieder ein leises Zischen zu hören und wahrscheinlich öffnet sich in diesem Moment die Druckluft-Tür, aber all diese Geräusche vermischen sich in meinem Gehör zu einer völlig neuen und doch irgendwie bekannten Szenerie.
Ich höre mit einem Mal (Vergangenheit, ick hör dir trapsen!), wie es bei mir zuhause im Erdgeschoss klingelt, während ich oben im Badezimmer noch unter der Dusche stehe. Ich erinnere mich jetzt, wie ich mich eilig abrubbelte und an die Sprechanlage eilte. Es war mein Hausarzt, ein guter Bekannter, der mich seit einigen Wochen bekniete, ich möge mich unbedingt impfen lassen. Er meinte es zweifellos gut mit mir. Ich hatte mir schnell einen Trainingsanzug angezogen – so ein Teil war neuerdings kein modisches Verbrechen mehr, vielmehr ein must have.
„Aha“, sagt Dr. Neumann. „Du hast schon dein Krankenhaus-Outfit angezogen.“
Wir hatten gelacht. Dann habe ich ihm ein weiteres Mal erklärt (es war wohl schon mein dritter Versuch), warum ich mich in meinem besonderen Fall nicht mit einem völlig neuartigen, durch keinerlei Langzeitstudie abgesicherten Grippeimpfstoff impfen lassen wollte.
Während ich im Moment immer noch den eiskalten Stahl des Seziertisches unter mir spüre, bin ich mir der damaligen Situation und meiner Argumentation voll bewusst. Das ermutigt und erschüttert mich zugleich. Ich bin mir jetzt sicher, dass ich zwar lebe und dennoch dieser Situation, in die ich geraten bin, hilflos ausgeliefert bin.
Meine Erinnerung trügt mich nicht, mein Gehirn funktioniert noch einwandfrei. 1970 war ich zwanzig Jahre alt und lebte in Westberlin. Damals war in Funk und Fernsehen und von der BILD-Zeitung bis zum SPIEGEL vor einer schrecklichen Infektion, der Hong-Kong-Grippe, gewarnt worden. Deshalb hatte ich mich im Frühherbst 1970 von meiner Hausärztin mit dem gerade ein Jahr zuvor in Europa zugelassenen neuen Influenza-Impfstoff impfen lassen. Innerhalb eines Tages erkrankte ich schwer mit Dauerfieber über vierzig Grad. Meine normale Körpertemperatur beträgt 36,5 Grad. Meine damalige Ärztin in Berlin-Charlottenburg war täglich in unsere Wohngemeinschaft gekommen, um mich mit Fieber senkenden Mitteln zu behandeln. Aber sie schlugen nicht an. Das Fieber zehrte acht lange Tage immer mehr an mir. Dann konnte ich nicht mehr essen und litt abwechselnd unter Dauerschüttelfrösten und enormem Schwitzattacken.
Schlafanzug und Bettwäsche mussten mehrmals am Tag gewechselt werden. Schließlich wies mich die Hausärztin in das Martin-Luther-Krankenhaus ein. Von ursprünglich 78 Kilo war mein Gewicht innerhalb von zehn Tagen auf 54 Kilo heruntergegangen. Meine Muskeln degenerierten zu wabbeligem Pudding. Im Krankenhaus rang ich vier Wochen lang um mein Leben und hing Tag und Nacht an Infusionen. Nachdem ich entlassen worden war, hatte ich für ein halbes Jahr ein durchgehendes Schlappheits- und Mattigkeitsgefühl und keinen Geschmackssinn. Das alles kehrte erst im Laufe des kommenden Jahres langsam und etappenweise wieder zurück.
„Sehr bedauerlich, wirklich, dem ist nichts hinzuzufügen … aber …“, hatte Dr. Neumann meinen Krankenbericht von damals kommentiert, bevor er kurz darauf fortfuhr: „… aber wenn du einmal ein Auto kaufst, dass schon nach einigen Kilometern einen Motorschaden hat, wirst du dir dann niemals mehr ein Auto anschaffen?“
Ich hatte Rainer Neumann, meinen lieben Bekannten, den Arzt meines Vertrauens, mit dem ich in einem gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von Flutopfern im Ahrtal zusammenarbeitete, erstaunt angeschaut. Ich war erst einmal ob dieses hanebüchenen Vergleichs sprachlos. Dann setzte ich uns einen grünen Tee auf und sagte nur einen Satz: „Rainer, glaubst du im Ernst, dass dein Vergleich auf die Sache zutrifft?“
Er hatte mich gutgläubig, von seinem Argument absolut überzeugt, angeschaut und mir eine Gegenfrage gestellt: „Was sollte an dem Vergleich falsch sein?“
„Bleiben wir bei den Autos!“, antwortete ich ihm. „Stell‘ dir vor, du fährst auf der Autobahn und hast es satt, von den hinter dir fahrenden Geschossen gejagt zu werden und möchtest entspannt fahren. Du siehst auf der rechten Fahrspur eine große Lücke zwischen zwei LKW, die beide mit ihren angenehmen 100 Stundenkilometern dahinfahren. Freiwillig wechselst du zu ihnen auf die Spur.
Nach einer Weile bremst der vordere Lastwagen langsam ab, du ebenso, aber der hinter dir fahrende LKW-Fahrer reagiert nicht zeitig und du siehst ihn näher kommen und links neben dir schießen die Geschosse vorbei und du kannst nicht ausweichen und wirst in Sekundenschnelle zusammengequetscht.
Dein Auto ist futsch, aber das ist das Wenigste. Du selbst wirst gerade noch lebend aus dem Auto gezerrt, bevor es lichterloh brennt; du hast zahlreiche Knochenbrüche, überstehst das Ganze, auch wenn du noch monatelang darunter körperlich und psychisch leidest und nicht voll funktionsfähig bist. Du zweifelst, ob du jemals wieder gesund wirst, ob du jemals studieren und jemals deinen Lieblingsberuf als Journalist ausüben kannst
Und jetzt meine Frage an dich: Würdest du dich nach einem solchen Erlebnis jemals wieder freiwillig und ohne Not in die rechte Autobahnspur zwischen zwei LKW einfädeln?“