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PROLOG JULI 1939, IM ORKAN VOR KAP HOORN
AN BORD DER VIERMASTBARK »PRIWALL« DER ZORN GOTTES

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Seit zwei Wochen halten wir nun nach Westen und kreuzen gegen den Sturm. Das Ölzeug ziehen wir nicht mehr aus, dazu fehlt uns die Kraft. Wir legen uns mit der Kleidung in unsere Kojen, auf dünne Matratzen aus Stroh, die völlig durchnässt sind. Eisiges Wasser schwappt durch das Logis. Es ist kalt in den Kammern, so kalt wie draußen an Deck, denn es gibt keine Heizung und keinen Ofen und keine Wärme in den Unterkünften der Mannschaft. An Schlaf ist kaum zu denken. Schlaf? Wenn es überhaupt eine Pause gibt, dauert sie höchstens drei Stunden, die sich anfühlen wie drei Minuten. Bis wir wieder den Befehl hören: »Reise, Reise! Alle Mann an Deck!«

Uns bleibt nicht mal Zeit für Albträume.

Brecher überspülen das Deck, und man muss aufpassen, dass immer eine Leine in der Nähe ist, an der man sich festhalten kann. Wir klettern an der Seite, die dem Sturm zugewandt ist, die Wanten hinauf. Der Orkan drückt uns an die Rahen, was es leichter macht, wenn sich die Priwall in einer großen See neigt. Über Bord zu gehen, das bedeutet in diesem Wetter den sicheren Tod, weil es für den Kapitän unmöglich ist, sein Schiff zu wenden oder ein Rettungsboot aussetzen zu lassen.

Der Sturm wirft die Viermastbark hin und her. Brecher überspülen das Deck, über das zur Sicherheit für die Besatzung zusätzliche Taue und »Leichennetze« gespannt sind. Ich liege hoch oben auf den Rahen und versuche mit den anderen Schiffsjungen und Matrosen, die schlagenden Segel zu bergen. Meine Fingerbeugen sind vor Kälte und Anstrengung aufgeplatzt. Das nasse Ölzeug hat meine Handgelenke und den Nacken blutig gescheuert.

»Gott hat Kap Hoorn im Zorn erschaffen«, meinte unser Kapitän, Adolf Hauth. In keinem anderen Gebiet der Weltmeere verloren so viele Seeleute das Leben. Mehr als 800 Schiffe – so schätzt man – sanken im Sturm oder zerschellten an den Klippen. Mehr als 10000 Männer ertranken. »Wenn du alt werden willst«, so heißt es in einer alten Seemannsweisheit, »dann meide Kap Hoorn und reffe rechtzeitig die Segel.«

An mehr als 300 Tagen im Jahr toben schwere Stürme dort, wo der Atlantische und der Pazifische Ozean aufeinander treffen. Die Wucht der westlichen Luftströmungen türmt die Seen zu gewaltigen Höhen auf, wie sie nirgendwo sonst in dieser Regelmäßigkeit zu beobachten sind. Wellenwände von 20 Metern Höhe und mehr sind nichts Besonderes, Brecher, hoch wie mehrstöckige Häuser. Eine weitere Gefahr sind Eisberge, die vom südpolaren Packeisgürtel abbrechen. Sie sind unberechenbare Gegner und machen besonders die Navigation der Segelschiffe zu einem Glücksspiel.

Vor allem in der Nacht. Vor allem im Sturm.

Kap Hoorn: ein Ort der Legenden und das am meisten gefürchtete Seegebiet der Welt. Willem Cornelisz Schouten, ein niederländischer Kapitän, hatte das verlorene Land als Erster erreicht, am 24. Januar 1616. Mit seinem Schiff Eendracht fand er eine Durchfahrt zwischen dem Festland und einer vorgelagerten Insel, die er »Le Maire« nannte, nach dem Kaufmann, der seine Expedition ausgerüstet hatte. Ein zweites Schiff, die Hoorn, geführt von seinem Bruder Jan Cornelius Schouten, war durch ein Feuer verloren gegangen. Sechs Tage nachdem die Eendracht die Le-Maire-Straße durchsegelt hatte, passierte sie ein gewaltiges Felsenkap, das Schouten in Gedenken an seine Heimatstadt im Norden der Niederlande Hoorn taufte.

Zunächst wagten nur Freibeuter die gefahrvolle Reise, wie Woodes Rogers, der 1708 die Umrundung schaffte und wenig später Alexander Selkirk an Bord nahm, den man auf einer Insel ausgesetzt hatte. Selkirks Schicksal diente Daniel Defoe als Vorlage für eine der bekanntesten Figuren der Literaturgeschichte: Robinson Crusoe.

Von einer Expedition des englischen Kommodore Anson, der 1740 mit einem Geschwader von sechs Schiffen in den Krieg gegen die Spanier segelte, kam nur das Flaggschiff Centurion zurück. Vier Jahre später. Mehr als 900 Besatzungsmitglieder hatten durch Skorbut oder nach Havarien ihr Leben verloren. Amerikanische Walfänger riskierten die Reise, um in die pazifischen Jagdgründe zu gelangen. Und auch immer mehr Handelsschiffe, nachdem in Kalifornien der Goldrausch ausgebrochen war. Es musste gute Gründe geben, das Kap herauszufordern. Die Aussicht auf Tran und Gold reichte offenbar aus.

Als erstes deutsches Schiff passierte die Hamburger Fregatte Hammonia 1799 das Kap, auf einer Reise von Kalkutta nach Rio de Janeiro. Jede Passage ums Kap der Stürme glich einem Abenteuer mit offenem Ausgang. Mancher Kapitän brach nach mehreren Wochen den Kampf gegen den Sturm ab, drehte bei und zog den weiten Weg über drei Ozeane und die ganze Welt vor, um den Bestimmungshafen an der Pazifikküste Amerikas zu erreichen.

1905 benötigte die Susanna – ebenfalls ein Schiff mit dem Heimathafen Hamburg – wegen eines fehlerhaften Chronometers, der eine genaue Positionsbestimmung unmöglich machte, 99 Tage um Kap Hoorn. Wie durch ein Wunder kam während der Irrfahrt kein Besatzungsmitglied ums Leben, aber die Berichte der Seeleute handeln von unmenschlichen Entbehrungen, von Hunger, von Skorbut, von Verletzungen, wenn Matrosen von Wellen erfasst und gegen die Aufbauten geschleudert wurden. Von der gemeinen Kälte, die dazu führte, dass einigen an Bord Hände und Füße erfroren. Als das Schiff nach mehr als 600 Stunden im schweren Sturm in den Hafen von Caleta Buena einlief, konnten noch acht der 24 Besatzungsmitglieder arbeiten.

An Bord der Admiral Karpfanger, einem anderen Segelschulschiff der Hamburg-Amerika-Linie, das mit 60 Mann Besatzung und einer Ladung Weizen auf der Reise von Australien nach Europa auf Höhe von Kap Hoorn verschwand, überlebte niemand. Nur eine Tür und ein Rettungsring wurden später an der Küste von Feuerland angetrieben. Vermutlich kollidierte das Schiff in schwerer See mit einem Eisberg.

Die Admiral Karpfanger sank 1938, ein Jahr vor unserer Reise.

Unsere Erschöpfung ist nach Wochen im Orkan in einer Sphäre angelangt, in der das Unterbewusstsein das Kommando über den Körper übernimmt. Wir sind mit unseren Kräften am Ende. Wir funktionieren nur noch, irgendwie, um die Strapazen zu beenden. Um das Kap zu überleben.

Das Meer kocht regelrecht, und die Priwall, einer der berühmten Flying P-Liner, wie die Schiffe der Reederei F. Laeisz wegen ihrer schnellen Reisen genannt werden, rollt schwer in der See. Es ist anstrengend, sich auf den Beinen zu halten und nicht mitgespült zu werden, wenn eine große See überkommt. Wieder und wieder müssen wir hinauf in die Rahen, um Segel zu bergen. Sicherheitsleinen gibt es dort oben nicht. Aber Angst? Angst spüre ich nicht, das ist seltsam. Ich denke nur an den Augenblick. Daran, wie es in der nächsten Minute weitergeht. Wie ich die nächste halbe Stunde überlebe. Ich hoffe, dass mein Körper nicht einfach versagt, nicht aufgibt vor Müdigkeit.

In manchen Momenten frage ich mich: Kann ich das noch ertragen?

Es wäre so einfach: nur die Hände von der Rahe nehmen. Die Augen schließen. Mich nach hinten fallen lassen.

Soll ich die Qual beenden?

Sturmkap

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